Anna-Konstantina Richter

EMDR bei Sozialen Angststörungen

Unter Mitarbeit von Mira-Lynn Chavanon, Hanna Christiansen und Sabine Röcker

Mit einem Vorwort von André Maurício Monteiro

Impressum

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Printausgabe: ISBN 978-3-608-96388-5

E-Book: ISBN 978-3-608-11559-8

PDF-E-Book: ISBN 978-3-608-20409-4

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Im April 2018

wurde das Verfassen

dieses Buches begonnen,

und es ist

Irmela Florin

(1938 – 1998)

Professorin für Klinische Psychologie

der Philipps-Universität Marburg

gewidmet, die im April 2018

80 Jahre alt geworden wäre

und von der ich in

ihrer letzten Vorlesung das erste Mal

von EMDR hörte.

»Die Psychologie und Psychotherapie wird auf Irmela Florins Einsichten und experimentelle Befunde zurückkommen, auch wenn die Zeit dafür noch nicht reif ist. Dies wird spätestens unter dem Druck der Betroffenen und ihrer Angehörigen und der Kosten ineffizienter Verbalpsychotherapie geschehen.«

Niels Birbaumer (1999), Nachruf auf Irmela Florin

»Ich habe nachträglich entdeckt, dass Lakatos (1976) und mutmaßlich Popper selbst später das Vertrauen in die Falsifikation aufgegeben haben, indem sie argumentierten, dass das Kennzeichen einer guten Theorie sein sollte, dass sie produktiv ist, indem sie nicht nur vorhandenes Wissen wiedergibt, sondern auch fruchtbare Fragen aufwirft, die unser Wissen vergrößern werden. Diese eher landkartenartige Sichtweise auf Theorie an sich ist eine, die ich fortsetze einzunehmen.«

Alan Baddeley (2012), S. 4
(Übers. A.-K. Richter)

Abkürzungsverzeichnis

ÄP Ärztliche/r Psychotherapeut/-in

ADS Allgemeine Depressions-Skala

AIP-Modell Modell der adaptiven Informationsverarbeitung (Adaptive Information Processing Model) nach Shapiro

Baby-DIPS Diagnostisches Interview bei psychischen Störungen im Säuglings- und Kleinkindalter

BDI-II Beck-Depressions-Inventar Revision

BIT_CP_D Berner Inventar für Therapieziele Therapiezielcheckliste Patientenversion

DIPS Open Access Diagnostisches Interview bei psychischen Störungen

DSM-5 Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders, Fifth Edition

EG Experimentalgruppe

EMDR Eye Movement Desensitization and Reprocessing

ICD-10 Kapitel V (F) Internationale Klassifikation psychischer Störungen

IRRT Imagery Rescripting & Reprocessing Therapy

KG Kontrollgruppe

Kinder-DIPS Open Access Diagnostisches Interview bei psychischen Störungen im Kindes- und Jugendalter

KJP Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeut/-in

KVT Kognitive Verhaltenstherapie

LAST Lübecker Alkoholabhängigkeits- und -missbrauchs-Screening-Test

LSAS Liebowitz-Soziale-Angst-Skala (Liebowitz Social Anxiety Scale)

Mini-DIPS Open Access Diagnostisches Kurzinterview bei psychischen Störungen

N Stichprobenumfang gesamt

n Stichprobenumfang Teilgruppe

NK negative Kognition

NSI Negative Distorted Self-Image (negativ verzerrtes Selbstbild)

NSBS Negatives-Selbstbild-Skala

NSPS Negative Self-Portrayal-Scale

PDP Psychodynamische Psychotherapie

PK positive Kognition

PP Psychologische/r Psychotherapeut/-in

RCT randomisierte kontrollierte Studie (randomized controlled trial)

SAS Soziale Angststörung

SET Supportiv-expressive Therapie

SIAS Soziale-Interaktions-Skala (Social Interaction Anxiety Scale)

SKID-I Strukturiertes Klinisches Interview für DSM-IV, Achse I: Psychische Störungen

SKID-II Strukturiertes Klinisches Interview für DSM-IV, Achse II: Persönlichkeitsstörungen

SORKC-Modell verhaltenstherapeutisches Modell nach Frederick Kanfer, bestehend aus Stimulus (S), Organismusvariable (O), Reaktion (R), Kontingenz (K) und Konsequenz (C – consequence)

SOZAS Skalen zur Sozialen Angststörung

SPIN Soziale-Phobie-Inventar (Social Phobia Inventory)

SPS Soziale-Phobie-Skala (Social Phobia Scale)

SUD  Subjective Units of Disturbance nach Wolpe, 1969 (Skala von 0 »neutral« bis 10 »maximal vorstellbare Belastung)

WIMI Waterloo Images and Memories Interview

ZBKT Zentrales Beziehungskonflikt-Thema

Vorwort

Wir schreiben das Jahr 2014. Ich besuche die EMDR Europe-Konferenz in Edinburgh. Es ist das erste Mal, dass ich einem größeren Publikum etwas auf Englisch vortrage. Ich bin nervöser als sonst. Als ich mit dem Vortrag der Präsentation beginne, wird mein Mund trocken. Ich habe Probleme bei dem Versuch, mit der Flasche Wasser auf dem Rednerpult klarzukommen bei gleichzeitigem Präsentieren meiner PowerPoint-Folien. Die Strahler beleuchten das Podium besonders hell. Ich fühle mich, als ob ich an emotionaler Taubheit leide und niemanden vor mir erkenne. Ich kann die Buchstaben im gedruckten Text kaum unterscheiden. Das Verteidigungs-Aktions-System ist voll im Gange. Ein großartiges Beispiel dafür, was für ein Spiel soziale Ängste treiben!

Ich verlasse die Bühne, und meine Augen passen sich an die dunklere, behaglichere Umgebung an. Das ist der Moment, in dem Konstantina zu mir hochkommt, sich vorstellt, etwas Ermutigendes sagt und sich über das Thema meines Vortrags interessiert äußert. So lernen wir uns das erste Mal kennen. Es scheint, als ob das subjektive Drama auf dem Podium gut genug verborgen war. Der bedauerliche Vorfall ist kein Thema mehr.

Das ist die Light-Version eines Moments, den wir möglicherweise alle erleben können. Er bietet einen kurzen Blick darauf, wie furchtbar es sein muss, diese Gefühle und körperlichen Wahrnehmungen jedes Mal zu empfinden, wenn der Scheinwerfer bedrohlich auf uns gerichtet wird.

Wir blenden ein paar Jahre vor, und Konstantina lädt mich ein, ein Vorwort für dieses großartige Buch über EMDR und soziale Ängste zu schreiben, das sie gerade fertigstellt. Nichts passt besser zu der Erfahrung unseres ersten Kennenlernens!

Als ich das Manuskript bekomme, dauert es nicht lange, um zu erkennen, dass Konstantinas Werk ein geborener Klassiker über das Thema ist. Es ist, als ob sie die Hand des Lesers ergreift und uns einen sanften Rundgang bezüglich des Themas »soziale Angst« anbietet. Wir als Therapeuten werden erkennen, dass wir das Buch im Einklang mit den Schritten lesen können, die wir intuitiv im Alltag unserer Praxis unternehmen.

Es beginnt mit dem Rapport, wenn wir den Klienten anfangs kennen lernen, den Symptomen, die üblicherweise auftauchen, noch bevor der Klient fähig ist, mit uns eine therapeutische Beziehung einzugehen. Der Klient trägt seine Klagen direkt vor, insbesondere wenn Angst im Spiel ist. Der erste Kontakt aktiviert unsere theoretischen Modelle. Konstantina setzt Symptomatik, relevante Literatur und Forschung mit Anmut und Leichtigkeit miteinander in Beziehung. Das Adaptive Information Processing (AIP)-Modell, welches EMDR zugrunde liegt, wird von ihr auf eine sehr didaktische Art und Weise vorgestellt.

Während wir im Geiste mit einer Sitzung voranschreiten, könnten wir bestätigende Informationen durch die Nutzung von psychometrischen Tests benötigen, die die Diagnose bekräftigen. Das Buch bietet Beispiele für psychometrische diagnostische Möglichkeiten. Die gesamte Fallkonzeption führt auf natürliche Weise zur therapeutischen Intervention. Und das genau ist der Moment, in dem das Buch sich entfaltet. Konstantina versorgt uns mit klärenden Fallvignetten, die die theoretischen Konzepte erhellen und eine verständliche Integration von Theorie und Phasen der EMDR-Therapie bringen.

Dann erweitert Konstantina den Geltungsbereich des Buches, indem sie historische und regionale Charakteristika der EMDR-Therapie in Deutschland gemäß dem three-pronged approach, dem dreigliedrigen Ansatz des EMDR beschreibt: Sie beginnt damit, wie die Dinge entstanden sind, fährt fort mit dem augenblicklichen Status im deutschsprachigen Raum und einigen zukünftigen Möglichkeiten.

Oft mahnt die Entwicklerin der EMDR-Therapie, Dr. Francine Shapiro, zu forschen und ein systematisches Studium der EMDR-Anwendung auf verschiedene Störungsbilder zu verfolgen. Dieses Buch ist mit größter Sicherheit eine Antwort auf Dr. Shapiros Forderung, präsentiert auf eine zugängliche Art und Weise, durch die EMDR-Therapeuten das Schicksal der Klienten mit Sozialer Angststörung besser verstehen und behandeln.

Dr. André Maurício Monteiro

Brasília, im August 2018

EMDR Trainer of Trainers EMDR Institute (USA)

EMDR-Trainer (akkreditiert durch EMDR Europe und EMDR Ibero-América)

Gründungspräsident der brasilianischen EMDR-Fachgesellschaft

Ehrenmitglied der portugiesischen EMDR-Fachgesellschaft

Ehemals Professor der katholischen Universität Brasília

1

Einleitung: Warum es dieses Buch gibt – Anliegen, Zielgruppen und Spoiler

Silk or leather or a feather

Respect yourself and all of those around you

Prince Charming

Prince Charming

Ridicule is nothing to be scared of

»Prince Charming«, Adam and the Ants, 1981

Es gibt dieses Buch aus zwei Gründen.

Erstens gibt es zwar Psychotherapien für Soziale Angststörungen (kurz SAS) mit hohen Effektstärken für kognitive Verhaltenstherapie (kurz KVT) und Psychodynamische Psychotherapie (kurz PDP), die Nonresponderquote mit bis zu 48 % (Leichsenring et al., 20131) ist aber so hoch, dass die Autor/-innen u.a. ergänzend eine andere Art Psychotherapie in Betracht ziehen (S. 765). Eine Diskussion zu diesem Thema anzustoßen, Psychotherapeut/-innen Wissen und Handlungsvorschläge mittels einer anderen Art der Psychotherapie, nämlich EMDR, für die Behandlung Sozialer Angststörungen anzubieten und weitere Forschung zum Thema anzuregen – das ist ein Ziel dieses Buches.

Beiträge wie die von Ströhle und Fydrich (2018) bedürfen einer deutlichen Ergänzung über das Wesen der Störung, die sich eben nicht nur durch Vermeidungsverhalten und »negative, selbstbezogene und generalisierte Gedankenmuster« (S. 272) auszeichnet und sich daher nicht nur durch Verhaltensexperimente und kognitive Interventionen behandeln lässt – sonst gäbe es die hohe Nonresponderquote nicht. In den verhaltenstherapeutischen und psychodynamischen Manualen zur Sozialen Angststörung von Stangier, Clark, Ginzburg und Ehlers (2016) sowie Leichsenring, Beutel, Salzer, Haselbacher und Wiltink (2015) ist von der hohen Nonresponderquote nicht die Rede, lediglich in der o. g. Publikation der Erstautoren der Manuale, so dass es für die Kliniker/-innen in der Praxis, die eher die Manuale als die Publikationen in den Journals lesen, schwer ist, von der Lücke in der Wirksamkeit zu wissen. Im neuen Manual von McEvoy, Saulsman und Rapee (2018) über mit Imagery (zu deutsch »bildliche Vorstellung, Imagination«) verbesserte KVT wird das Problem offen genannt, bisher steht dieses Werk jedoch nur in englischer Originalfassung zur Verfügung.

Ein weiteres Ziel ist es, mit diesem Buch für strukturierte Psychodiagnostik zu werben, denn bei meinen Recherchen zu diesem Thema ist mir ein weiteres eklatantes Problem aufgefallen: Patient/-innen mit SAS werden oftmals nicht als solche erkannt. Wenn man das weiß, wundert es einen auch nicht, denn es ist störungsimmanent, nicht peinlich auffallen zu wollen. Als Verfechterin einer strukturierten Psychodiagnostik sehe ich hier einmal mehr, dass es wichtig ist, diesen Sachverhalt zu verbessern – daher enthält dieses Buch aktuelle Hinweise auf Material, das den Kolleg/-innen dabei helfen möge, in der probatorischen Phase in der ambulanten Praxis bzw. bei der stationären Aufnahme zu erkennen, welche der depressiven oder alkoholabhängigen Patient/-innen nicht eventuell SAS als Indexdiagnose haben (s. Kap. 4).

Strukturierte Psychodiagnostik stellt immer wieder ein Reizthema unter Kolleg/-innen dar; so erinnere ich eine Supervision, in der mir als Psychotherapeutin in Ausbildung (kurz PiA) gesagt wurde, strukturierte Diagnostik wie mit dem DIPS-Interview mache man nur in der Forschung, und mein damaliger Supervisor stelle nach der zweiten probatorischen Sitzung die Diagnose(n) sowie den Antrag auf Psychotherapie. »Wie willst du Störungen erkennen, die mit Vermeidung einhergehen, wenn du nicht mit einem Interview danach fragst?« fragte ich meinen Supervisor, der mir Recht gab. Und genau vor diesem Problem stehen wir bei unseren Patient/-innen mit SAS. An dieser Stelle wird Birbaumer mit obigem Zitat über zum Teil ineffiziente Verbalpsychotherapie und Druck, der von Betroffenen und deren Angehörigen kommen wird, Unrecht haben, denn sozial ängstliche Patient/-innen werden keinen Druck machen, diagnostische und psychotherapeutische Herangehensweisen zu ergänzen bzw. zu ändern: Störungsimmanent tarnen sie sich, um Peinlichkeit zu entgehen. Der Druck, den er prognostiziert, und die Wahl der richtigen Konsequenzen werden von uns Behandler/‑innen ausgehen müssen. Als akkreditierte verhaltenstherapeutische und EMDR-Supervisorin ist es mir mit diesem Buch ein Anliegen, meine Kolleg/‑innen nach Kräften zu unterstützen, in der Praxis gut einsetzbares Diagnostik-Material zu implementieren und die Wirksamkeit von Psychotherapien zu verbessern.

Wahrscheinlich ist dies das weltweit erste Buch überhaupt zum Thema EMDR bei SAS. Mein persönlicher Weg zur Autorinnenschaft eines solchen Buches sah folgendermaßen aus: Als Psychotherapeutin in Ausbildung in der Klinik Hohe Mark in Oberursel bei Frankfurt am Main habe ich begeistert auf unserer Station das verhaltenstherapeutische Gruppentraining sozialer Kompetenzen (GSK-Training) von Hinsch & Pfingsten kennengelernt. An unserem Verhaltenstherapie-Ausbildungsinstitut, der GAP (Abkürzung für »Gesellschaft für Ausbildung in Psychotherapie«) in Frankfurt am Main, haben mein Kollege Dipl.-Psych. Jörg Stenzel und ich GSK-Gruppen auch ambulant angeboten, um unsichere oder aggressive Menschen dabei zu unterstützen, selbstsicherer zu werden.

Ich hatte zuvor Verhaltenstherapie im Studium an der Philipps-Universität Marburg in der letzten Vorlesung »Klinische Psychologie« von Irmela Florin kennengelernt (das muss im WS 1997/1998 gewesen sein), bevor sie viel zu früh verstorben ist, und es gab für mich zu diesem Zeitpunkt nie die Frage, etwas anderes zu lernen als Verhaltenstherapie. Verhaltenstherapie war das, was wirkte, und man sollte für seine Patient/-innen Therapieverfahren lernen, die wirken, so bin ich in Marburg sozialisiert worden (ab meinem ersten Semester, WS 1995/96, war Tiefenpsychologie aus dem Studienplan verschwunden). Jedoch berichtete Frau Florin uns in ihrer letzten Vorlesung »Klinische Psychologie« auch von EMDR, dieser wirksamen neuen Therapie, von der man nur noch nicht wisse, warum sie wirksam sei.

Als PiA kam ich der EMDR-Therapie deshalb näher, weil die Klinik Hohe Mark die deutsche Keimzelle des EMDR-Verfahrens ist – dort tätige Psychotherapeut/‑innen hatten in den 90er Jahren in den USA von Francine Shapiro EMDR gelernt und in Deutschland verbreitet (s. Kap. 6). Der damalige Verhaltenstherapie-Supervisor aller PiA der Klinik, Dipl.-Psych. Dieter Herrmann, ist auch ein EMDR-Therapeut, aber was dieses EMDR genau war, erschloss sich mir damals noch nicht, ich bekam nur mit, wenn unsere Patient/-innen auf unserer allgemeinpsychiatrischen Privatstation von einer Sitzung bei ihm kamen, weil sie bei ihm z. B. Traumata mittels EMDR bearbeitet hatten. Ich gehörte nicht zu den PiA, die an der Reihe waren, bei einer EMDR-Sitzung zu hospitieren, so hatte ich keine Ahnung, was dieses EMDR genau war. Genau das war der Grund, weshalb ich in der Zeit meines Staatsexamens in der Klinik Hohe Mark im dortigen Kirchsaal sofort den ersten EMDR-Baustein lernte (das sogenannte EMDR Level 1), obwohl sich an meinem Verhaltenstherapie-Institut eine Dozentin heftig gegen EMDR ausgesprochen hatte: Ich war total gespannt darauf, was dieses EMDR denn nun war; intuitiv zog es mich zu EMDR, und es folgten sukzessive die Zertifizierungen als EMDR-Therapeutin und später als EMDR-Supervisorin durch die Dachgesellschaft EMDR Europe.

Ich lernte EMDR von einem tiefenpsychologisch fundierten Psychiater und Psychotherapeuten (was sehr spannend war – das waren Termine, auf die ich mich immer freute), und es sollte lange Zeit so bleiben, dass ich kaum auf Kolleg/-innen traf, die wie ich Verhaltenstherapeut/-in und EMDR-Therapeut/-in waren. Das brachte mir zwar ergänzendes psychodynamisches Wissen, das ich noch nicht hatte, aber mir fehlte jemand, der mir in Sachen KVT und EMDR »Entweder-oder«-Fragen beantworten konnte.

Im Jahre 2014, anlässlich der 15. Europäischen EMDR-Konferenz in Edinburgh, saß ich in einem Vortrag am Ende der Konferenz und schon mehr auf Abflug eingestellt, als ich auf einmal hellwach war, denn der Redner, EMDR-Trainer Prof. Dr. Ad De Jongh von der Universität Amsterdam, brachte in seinem Vortrag über »Treatment of Fears and Phobias with EMDR« Fragen aufs Tapet, die auch mich immer wieder beschäftigt hatten: Sollte ich für die Behandlung meiner Angstpatient/-innen EMDR oder KVT anwenden? Ad, zu Beginn seines Berufslebens Zahnarzt und später als Psychologe Spezialist für die Behandlung spezifischer Phobien (er war über die Schnittstelle »Zahnarztangst« zu dem Thema gekommen), exerzierte mit dem Publikum durch, wann man nach Verständnis des Wesens einer Störung Verhaltenstherapie und wann EMDR anwenden sollte, und obschon er nicht für alle Angststörungen EMDR empfahl, zeigte er dem Publikum etwas, das ich als Paradigmenwechsel verstand: dass der Kern der meisten psychischen Störungen, in denen Angst eine Rolle spiele, Erwartungsangst sei, ein »Flashforward« (als Gegenbegriff zum bekannten Flashback, s. Abschnitt 3.4), den es mit EMDR zu behandeln gelte, und dass es etliche Studien gebe, die zeigten, dass EMDR Ängste und Phobien schneller behandle als KVT und dass die Follow-up-Werte besser seien. Zudem seien die Verhaltenstherapie-Studien überaltert, die die Dominanz der Verhaltenstherapie begründen sollten. Er forderte mehr Studien zu EMDR bei Angststörungen.

Dieser Vortrag hat mich zutiefst beeindruckt, denn dass jemand für mich sortierte, wann man was anwendet, wo EMDR erwiesenermaßen überlegen sei oder überlegen sein könnte, das hat mich seither bewegt. In späteren Gesprächen mit Ad und anderen Forscher/-innen zu diesem Thema, sei es aus verhaltenstherapeutischer oder EMDR-Sicht, hat sich für mich dann herauskristallisiert, mich mit diesem Sachverhalt bezüglich SAS zu beschäftigen und meinen Beitrag zu leisten zu Ads Forderung, in diesem Bereich mehr zu forschen.

»Wieso?«, hat mich vor einigen Monaten eine Kollegin gefragt. SAS sei doch gut behandelbar. Leider nicht ohne Einschränkungen, wie die o. a. Studie von Leichsenring et al. (2013) zeigt. Ich denke, dass es sich bei der dort von den Autor/‑innen vermuteten anderen Psychotherapieform, die nötig sei, (auch) um EMDR handelt, und daher habe ich zusammengetragen, was man bisher darüber weiß (Kap. 3 und Kap. 6) und wie meine und die Erfahrungen anderer erfahrenen Kolleg/‑innen sind, SAS mit EMDR zu behandeln (Kap. 5).

Dieses Buch richtet sich also an approbierte Kolleg/-innen als Hilfe für ihre diagnostische und psychotherapeutische Arbeit (Kap. 3, 4 und 5); es richtet sich an Kolleg/-innen, die in der Forschung arbeiten, um zu zeigen, wo EMDR bezüglich Wirksamkeitsnachweisen zum Thema SAS steht (Kap. 6) und welcher Art weiterer Studien es bedarf. Psychotherapeut/-innen in Ausbildung (hoffentlich bald Psychotherapeut/-innen in Weiterbildung) und Assistenzärzt/-innen sind als Leser/-innen ebenso willkommen wie wissbegierige Studierende der Studienrichtung Klinische Psychologie und Psychotherapie (demnächst: Psychotherapie-Studierende).

Lassen Sie sich bitte nicht von meinem Einstieg abschrecken, wenn Sie kein(e)EMDREMDReigener und anderer