Illustration

Illustration

informationen zur deutschdidaktik
Zeitschrift für den Deutschunterricht
in Wissenschaft und Schule

Deutschunterricht 4.0

Herausgegeben von
Lisa Pardy und Wolfgang B. Ruge

Heft 1-2019
43. Jahrgang

StudienVerlag Innsbruck

Editorial

LISA PARDY, WOLFGANG B. RUGE:
Deutschunterricht 4.0:
Die Zukunft des Lernens ist digital

 

 

 

 

 

 

 

Magazin

Kommentar

LARISSA KRAINER:
Unterricht im Kontext
moderner Medienwelten

Neu im Regal

 

Keynote

CHRISTIAN SWERTZ: Schule in der digitalen Kultur.
(Online: www.aau.at/ide)

Medienkompetenz für die Schule 4.0: Grundlegendes

LISA PARDY, WOLFGANG B. RUGE: Medienkompetenz 4.0 für die Schule 4.0

KAI-UWE HUGGER: Mediatisierung und entgrenztes kommunikatives Handeln von Jugend und Jugendkulturen

SVEN KOMMER: Alles digital – oder lieber doch nicht?
Warum digitale Medien es im Schulalltag so schwer haben

WALTER FIKISZ: Das Kompetenzmodell digi.kompP

Deutschunterricht 4.0: Media Literacy

ULRIKE KRIEG-HOLZ, CHRISTIAN SCHÜTTE: Digitale Textsorten.
Formate des Schreibens in der computervermittelten Kommunikation – ein Überblick aus linguistischer Perspektive

CLAUDIA RITTMANN-PECHTL: Booktubes, Fanfiction und Apps im Deutschunterricht? Überlegungen zur praktischen Umsetzung von digi.komp (integrativ)

HEIDELINDE NEUBURGER-DUMANCIC: Kollektive Bilderwelten / alles vernetzt / vernetzte Bilderwelten

MARKUS MESCHIK, GERHARD PÖLSTERL: Deutschunterricht und digitale Spiele – ein möglicher Weg?

MATTHIS KEPSER: Computerspielbildung als Auftrag für die sprachlichen Fächer in der Schule. Versuch eines neuen Kompetenzmodells

THOMAS HUTTER: Computerspielbiographien

Service

THOMAS FILEK: Medienkompetenz und Digitalisierung im Deutschunterricht. Bibliographische Notizen

 

 

 

»(Digitale) Medien« in anderen ide-Heften

ide 1-2018

Literaturvermittlung

ide 4-2016

New Literacies

ide 1-2016

Schule in Literatur und Film

ide 1-2015

Bewegte Bilder

ide 2-2013

Musik

ide 1-2013

Literale Praxis von Jugendlichen

ide 2-2012

Kultur des Sehens

ide 3-2010

Lernräume

ide 2-2009

Internet

ide 2-2006

Fernsehen

ide 4-2003

Film im Deutschunterricht

 

Das nächste ide-Heft

ide 2-2019

Verbalisieren. Zur Sprache kommen erscheint im Juni 2019

 

Vorschau

ide 3-2019

Maximilian I. und seine Zeit

ide 4-2019

Inklusion

 

www.aau.at/ide

Besuchen Sie die ide-Webseite! Sie finden dort den Inhalt aller ide-Hefte seit 1988 sowie »Kostproben« aus den letzten Heften. Sie können die ide auch online bestellen.

www.aau.at/germanistik/fachdidaktik

Besuchen Sie auch die Webseite des Instituts für GermanistikAECC, Abteilung für Fachdidaktik an der AAU Klagenfurt:
Informationen, Ansätze, Orientierungen.

Deutschunterricht 4.0: Die Zukunft des Lernens ist digital

Die digitale Revolution und ihre Folgen schaffen veränderte Lebens- und Arbeitsbedingungen, die alle unsere Lebensbereiche betreffen. Die Zukunft ist unvermeidbar digital – ein Fakt, der sich auch in unserer Bildungslandschaft immer stärker abzeichnet. Die digitalen Veränderungen in Arbeitswelt und gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen zeichnen das Bild einer Zukunft, in der Medienkompetenz von größter Bedeutung erscheint: Sie ist als integrativer Bestandteil jedes Unterrichts zu sehen und in ihren vielfältigen Aspekten als Medienbildung, Media Literacy, Medienkritik und Medienreflexion zu berücksichtigen.

Die Digitalisierungsstrategie des österreichischen Unterrichtsministeriums »Schule 4.0« zielt auf eine verstärkte Medienbildung auf mehreren Ebenen ab: als digitale Grundbildung für Lernende, Fort- und Weiterbildung für PädagogInnen sowie Investitionen in technische Infrastruktur und digitale Lehr- und Lernmaterialien. Diese Entwicklungen wollen wir zum Anlass nehmen, in der vorliegenden Ausgabe der ide zu fragen, welche Konsequenzen hieraus für den Deutschunterricht folgen.

Das Heft beginnt mit einer online veröffentlichten schriftlichen Keynote von Christian Swertz, der die Einführung digitaler Grundbildung aus medienpädagogischer Perspektive kommentiert. Die Print-Ausgabe orientiert sich daran anschließend an zwei Schwerpunkten. Im ersten Teil dieses Themenheftes sollen die technologischen und gesellschaftlichen Einflüsse der Digitalisierung auf Bildung, Schule und Unterricht grundlegend dargestellt werden: Die Mediensozialisation Jugendlicher ist heute eindeutig von digitalen Medien geprägt, ihre Kommunikation, ihre Sprache, ihre Kultur. Die Schule kann sich diesen Tatsachen nicht mehr länger verweigern, weil die Phänomene digitaler Kinder- und Jugendkulturen Lehr- und Lernprozesse gleichermaßen beeinflussen wie sie die Rolle der Lehrenden neu definieren.

In ihrem Basisbeitrag skizzieren Lisa Pardy und Wolfgang B. Ruge die fachwissenschaftlichen Grundlagen des vorliegenden Heftes. Hierzu rufen sie zunächst medienerzieherische Zielvorstellungen ins Gedächtnis, um anschließend nach ihrer Relevanz in einer sich verändernden Medienlandschaft zu fragen. Den Abschluss des Beitrages bildet eine Diskussion der (un)genutzten Möglichkeiten des Deutschunterichts 4.0.

Kai-Uwe Hugger beschreibt fünf wesentliche Veränderungen im kommunikativen Handeln Jugendlicher, die Schule berücksichtigen muss, wenn sie den Kontakt zu der Alltagswelt ihrer Klientel nicht verlieren möchte. Sven Kommer zeigt über den digitalen Habitus der Lehrenden den Kontrast zwischen medienkompetentem Anspruch und Schulrealität. Die institutionelle Unterstützung der Unterrichtenden beschreibt Walter Fikisz in dem Modell digi.KompP, das Lehrerinnen und Lehrer auf mehreren Ebenen an digitale Bildung heranführen soll.

Eine zentrale Frage in diesem Setting wäre: Welche Kompetenzen soll bzw. kann die Schule ihren AbsolventInnen vermitteln, damit sie in einer digitalen Zukunft erfolgreich sind und ihre eigenen Ziele erkennen und erreichen können? Wie sollen sie digitale Bildung erwerben?

Der Deutschunterricht ist mehrfach stark von der Digitalisierung betroffen: Die Digitalisierung betrifft sprachliches Lernen und verändert es. Lernprozesse werden vielfältiger, können von Zeit und Ort unabhängig gestaltet werden. Hierauf reagieren u. a. die New Literacy Konzepte. Diese kommen dem Deutschunterricht 4.0 in ihrer Theorie entgegen, wobei sie von soziokulturellen Gegebenheiten ausgehen: Lesen und Schreiben als literale Praxis sind als soziales und situiertes Handeln zu verstehen. Die Vermittlung dieser Kompetenzen ermöglicht gesellschaftliche Teilhabe in einer digitalen globalen Welt. Digitale Medien bewirken vielfältige Veränderungen der Schriftlichkeit, die Multimodalität von Texten in zahlreichen Repräsentationsmodi erweitert den Fokus des Deutschunterrichts: neben der verbalen steht zunehmend die visuelle Kompetenz.

Diese Prozesse sollen im zweiten Teil des Heftes aus fachdidaktischer Sicht untersucht werden. Ulrike Krieg-Holz und Christian Schütte untersuchen digitale Kommunikationsformen und Formen der digitalen Textproduktion. Es zeigt sich, dass zu den Merkmalen digitaler Textsorten ein breites Spektrum von Gestaltungsmöglichkeiten zählt, welche von den Anwendern individuell und differenziert eingesetzt werden. Claudia Rittmann-Pechtl setzt den Fokus auf digitale Kompetenzen in der Sekundarstufe I und zeigt exemplarisch unterschiedliche didaktische Möglichkeiten für einen sinnvollen Einsatz digitaler Medien im Zusammenspiel mit nichtelektronischen Medien zur Förderung von digitaler Kompetenz und Medienkompetenz der Schüler und Schülerinnen im Deutschunterricht. Viele Beispiele zeigen, wie digitale Unterrichtsarbeit, die von den Lernenden und ihren Interessen ausgeht und ihre Lebensrealität einbezieht, eben auch dieselben digitalen Kommunikationsmedien benutzt, die Jugendliche für ihre sozialen Beziehungen verwenden. Die Filmwissenschafterin und Medienpädagogin Heidelinde Neuburger-Dumancic nähert sich mit diesem Zugang über bild- und bewegtbildbasierte soziale Medien. Sie stellt die wesentlichen sozialen Bildmedien überblicksmäßig vor, thematisiert ihre Angebote und ihre Schattenseiten für NutzerInnen und zeigt, wie bzw. auf welche Weise sich diese Medien in den Unterricht integrieren lassen. Neben visuellen Kompetenzen stehen zunehmend interaktive Kompetenzbereiche: Digitale Spiele sind zum einen das wichtigste Freizeitmedium der SchülerInnen und erweitern zum anderen das didaktische Handlungsspektrum. Markus Meschik und Gerhard Pölsterl beschreiben positive Aspekte und Chancen von digitalen Spielen aus pädagogischer Perspektive. Dazu wird zunächst auf vermutete Gefährdungsmomente wie die auch medial immer wieder präsenten Themen Sucht und Gewalt bei digitalen Spielen eingegangen, anschließend wird das große Potenzial dieser Spiele aufgezeigt. Hilfestellung zur Bewertung digitaler Spiele gibt die Arbeit der Bundesstelle für die Posititivprädikatisierung von digitalen Spielen (bupp), die von den Autoren vorgestellt wird.

Den hohen Stellenwert von Computerspielen betont Matthis Kepser, er bezeichnet sie als »Pflichtprogramm für den Deutschunterricht«. Computerspielbildung vereint sprachliche und medienbezogene Kompetenzen und schafft emotionale, kognitive und pragmatische Zugänge für Schüler und Schülerinnen. Digitale Interaktionsund Handlungsmedien gelten als eigenständige erzählende Medienform, charakteristisch ist die spielerische Auseinandersetzung der Akteure mit dem Stoff und die Vielzahl der Kompetenzbereiche, die durch diese gefördert werden. Thomas Hutter fordert demgemäß eine Entstigmatisierung dieses Genres im schulischen Diskurs und stellt die Methode der Computerspielbiographien vor. Die vielfachen Potenziale der Arbeit mit Computerspielen zeigen sich nicht nur in schreib- und sprechdidaktischen Elementen eines sprachfördernden Unterrichts, sondern auch in der Vermittlung von literarischen und filmischen Kompetenzen bei buchfern sozialisierten Jugendlichen: Die bewusste, interaktive Auseinandersetzung mit dem Stoff erlaubt individuelles Lerntempo und schafft Motivation durch Belohnung der Fortschritte.

Abgerundet werden die Ausführungen mit einer ausführlichen Bibliographie von Thomas Filek, die zur weiterführenden Auseinandersetzung mit dem Thema einlädt. Welche Veränderungen »Unterricht im Kontext moderner Medienwelten« mit sich bringt, kommentiert Larissa Krainer aus der Perspektive der Medien- und Kommunikationswissenschaft. Die Rezensionen interessanter Neuerscheinungen zum Thema und darüber hinaus wurden von Matthias Leichtfried, Nicola Mitterer und Ursula Esterl verfasst.

Deutschdidaktik und Deutschunterricht thematisieren den medial bedingten radikalen Wandel, dem die zentralen Bereiche Sprache und Literatur unterliegen. Digitale Medien repräsentieren den Wandel von literalen zu multimedialen Paradigmen: Wenn wir es so nennen wollen, das nahe Ende der Gutenberg Galaxis?

In diesem Themenheft wünschen wir uns mehr integrative Medienkompetenz, alternative Zugänge und neue Perspektiven. Wir hoffen, dass Deutschdidaktik und Medienpädagogik den hiermit begonnenen Diskurs fortsetzen.

LISA PARDY
WOLFGANG B. RUGE

 

LISA PARDY ist Lehrerin für Deutsch und Englisch an einer HTL und Leiterin der Bundes-ARGE Deutsch an Höheren technischen und gewerblichen Lehranstalten Österreichs. Sie lehrt Fachdidaktik Deutsch an der Universität Wien. Arbeitsschwerpunkte sind Mehrsprachigkeit, Media Literacy und fachdidaktische Methoden und Konzeptionen.

E-Mail: elisabeth.pardy@univie.ac.at

WOLFGANG B. RUGE ist selbständiger Medienpädagoge und Lektor an der Universität Wien. Seine Forschungs- und Arbeitsschwerpunkte umfassen u. a. disziplintheoretische Betrachtungen der Medienpädagogik, die bildungswissenschaftliche Medienanalyse und die Vermittlung von Medienkompetenz in Zeiten einer tiefgreifenden Mediatisierung.

E-Mail: wofgang@ruge.at

Lisa Pardy, Wolfgang B. Ruge

Medienkompetenz 4.0 für die Schule 4.0

Diese Einführung diskutiert die unter dem Stichwort »Schule 4.0« stattfindenden Reformbemühungen aus medienpädagogischer und fachdidaktischer Perspektive. Dazu werden zunächst klassische Zielvorstellungen wie Media Literacy und Medienkompetenz herangezogen. Daran anschließend wird vor dem Hintergrund aktueller jugendlicher Mediennutzung die Frage gestellt, wie ein zeitgemäßer Deutschunterricht aussehen könnte, der sowohl den Zielvorstellungen als auch dem aktuellen Mediatisierungsschub gerecht wird.

 

1. Schule 4.0 – die digitale Bildungsoffensive

Dem österreichischen Schulsystem steht eine erneute Reform bevor. Grundlage hierfür ist der »Masterplan Digitalisierung« für den Einsatz digitaler Medien an Schulen, dessen Umsetzung unter Bildungsministerin Sonja Hammerschmid begann und von ihrem Nachfolger Heinz Faßmann fortgeführt wird (BMBWF 2018).

Der Titel des Strategiepapiers – »Schule 4.0« (BMB 2017) – verweist dabei direkt auf die zugrundeliegenden Ziele. Die Schule soll sich an die Veränderungen der Arbeitswelt anpassen, die unter dem Stichwort »Industrie 4.0« subsummiert werden. Hinter der Übernahme des Prinzips der Versionsnummer, welches ursprünglich aus der Softwareentwicklung stammt, steht der Gedanke, neue Technologien würden gesellschaftlichen Wandel mitkonstituieren oder gar auslösen. Dass in der 4.0-Rhetorik die Hauptversionsnummer geändert und nicht nur eine Stelle hinter dem Komma erhöht wird, deutet auf einen vermuteten qualitativen Sprung hin, einen »Major Release« mit signifikanten Änderungen, der auf Kosten der Kompatibilität zu früheren Versionen gehen könnte. Neue Technologien und die daraus resultierenden Möglichkeiten scheinen vollkommen neu zu sein.

Worin diese neuen Möglichkeiten genau bestehen und was genau die der Industrie 4.0 vorangegangenen Formen der Arbeitsorganisation unterscheidet, bleibt dabe nebulös im Dunkeln. Dies mag daran liegen, dass die Verwendung des Begriffes vor allem von Regierungen westlicher Staaten forciert wurde und die Differenzen eines heterogenen Forschungs- und Entwicklungsfeldes vereinfachend zusammengefasst wurden. Den aktuellsten Überblick über die Forschungslandschaft geben Liao u. a. Sie können in ihrem systematischen Literature Review aufzeigen, dass sich der akademische Diskurs vor allem um technische Fragen und die Integration verschiedener automatisierter Prozesse rankt. Somit stehen vor allem informatische und elektrotechnische Probleme im Mittelpunkt und weniger Veränderungen in der sozialen Organisation von Arbeitsprozessen (Liao u. a. 2017)

Dennoch herrscht innerhalb der Kultur- und Sozialwissenschaften Konsens darüber, dass neue technologische Entwicklungen zu gesellschaftlichen Veränderungen führen, auch wenn anstatt der politisch dominierenden »4.0«-Rhetorik andere Begrifflichkeiten gewählt werden. Felix Stalder konstatiert aus medienwissenschaftlicher Perspektive zum Beispiel eine »Kultur der Digitalität« (Stalder 2016), der Soziologe Steffen Mau erkennt zunehmende Tendenzen der Quantifizierung (Mau 2017) und Dirk Baecker sah schon vor zwölf Jahren eine neue Gesellschaft entstehen (Baecker 2007). Innerhalb der bildungswissenschaftlichen Medienforschung hat derzeit das Konzept der »tiefgreifenden Mediatisierung« (Hepp 2018) Konjunktur, dessen Kernidee von Andreas Hepp folgendermaßen zusammengefasst wird:

Tiefgreifende Mediatisierung heißt, dass die grundlegenden Elemente der Konstruktion der sozialen Wirklichkeit selbst medial vermittelt sind. Anders formuliert: Die soziale Welt, in der wir als Menschen leben, kann in ihrer spezifischen Form nicht losgelöst von Medien als technischen Mitteln der Kommunikation und Produktion von Daten gedacht werden. (Hepp 2018, S. 35)

Auch wenn aus medienwissenschaftlicher Perspektive gefragt werden muss, inwiefern der aktuelle Mediatisierungsschub tiefgreifender ist als vorherige, gelingt es Hepp u. a., aktuelle Tendenzen präzise zu beschreiben. Ein zentraler Punkt ist hierbei eine durch Konvergenz geprägte Veränderung der Medienlandschaft, die Konsequenzen für die Konzeption medienpädagogischer Zielvorstellungen wie Medienkompetenz oder Media Literacy hat.

2. Zielvorstellungen medienpädagogischer Arbeit: Medienkompetenz und Media Literacy

Sowohl im aktuellen politischen als auch im wissenschaftlichen Diskurs findet sich für die Zielvorstellungen medienpädagogischer Arbeit eine unüberschaubare Anzahl an Begriffen. Die Klassiker Medienkompetenz, Informationskompetenz und Media Literacy wurden ergänzt um Konzeptionen, die den Anspruch erheben, stärker auf vernetzte Lebenswelten (21st Century-Skills, Jenkins u. a. 2009) oder die zugrundeliegenden technischen Strukturen einzugehen (Digi.komp, BMBWF 2016), Computer and Information Literacy (ICILS, Bos u. a. 2014).

Die Vielfalt an Modellen beruht unseres Erachtens auf zwei wesentlichen Faktoren. Einerseits führt die strategische Partnerschaft, die Schulinformatik und Medienpädagogik etwa im Dagstuhl-Prozess (Gesellschaft für Informatik o. J.) eingegangen sind, zu einer Übernahme informatischer Zielvorstellungen in die medienpädagogische und didaktische Arbeit. Andererseits handelt es sich bei vielen Modellen lediglich um Variationen der bekannten Konzepte, bei denen nur die Akzentuierungen verschoben werden. Daher lassen sich die genuin medienpädagogischen Zielvorstellungen trotz verschiedenster Verästelungen auch heute noch in zwei wesentlichen Traditionslinien beschreiben. Im englischen Sprachraum und innerhalb literatur- und sprachwissenschaftlichen Fachdidaktiken lässt sich eine Orientierung am Modell der Media Literacy feststellen, innerhalb der deutschen Medienpädagogik überwiegt eine Orientierung am Modell der Medienkompetenz. Um Gemeinsamkeiten und Unterschiede herauszuarbeiten, sollen beide Traditionslinien im Folgenden kurz skizziert und auf ihre Aktualität hin befragt werden.

Sonia Livingstone definiert Media Literacy folgendermaßen: »media literacy – indeed literacy more generally – is the ability to access, analyze, evaluate and create messages in a variety of forms« (Livingstone 2004, S. 3). Schon in dieser kurzen Definition lassen sich die wesentlichen Charakteristika des Konzeptes erkennen. Livingstone beginnt damit Media Literacy im generellen Literacy-Diskurs zu verorten und stellt das Konzept somit in eine Reihe mit anderen Kulturtechniken. Ziel ist es, Medien »lesen« zu lernen. Diese Fähigkeit wird in einem vierstufigen Prozess erworben, der beim Zugang zu den Medien beginnt und über die Analyse und Evaluation schließlich in der eigenen Erstellung von Medieninhalten mündet. Dabei geht es jedoch nicht um technische Infrastrukturen, sondern um »messages«, weshalb das Konzept der Media Literacy vor allem auf eine Medieninhaltskompetenz abzielt.

Die deutschsprachige Tradition der Medienkompetenz zielt ebenso auf die Produktion von Medien ab, folgt dabei aber einer anderen Begründungslogik als die Media-Literacy-Tradition. Sie wendet sich – wenn auch nicht immer explizit – gegen eine konservative und bewahrpädagogische Pädagogik, die Medien vor allem als Gefahr betrachtet. Ebenso unterscheidet sich Medienkompetenz im bildungswissenschaftlichen Sinn von neueren Ansätzen, die Medienkompetenz auf eine notwendige Fähigkeit zur Employability reduzieren. Zusammenfassend lassen sich die verschiedenen Zielvorstellungen folgendermaßen gegenüberstellen (vgl. ausführlich Ruge 2015):

Haltung

Konservatismus

Sozialdemokratie

Neoliberalismus

Medien

Schädlicher Einfluss / Bedrohung der Kultur

Mittel zur Emanzipation

Zur Produktivitätssteigerung nutzbare Technik

Bildungsziel

Bewahren der (Hoch-)Kultur

Bürger*innen einer demokratischen/egalitären Gesellschaft

Employability

Individuum

Opfer von Medien

Bürger*in

Arbeitskraft

Beispiele

Schundkampf im Kaiserreich, Digitale Demenz

Medienkompetenz i. S. aktiver Medienarbeit

Positionspapiere der Realpolitik

Medienkompetenz

Jugendschutz

Voraussetzung zur Emanzipation

Schlüsselqualifikation

Tab. 1: Gegenüberstellung der impliziten Politiken der Medienkompetenz (Ruge 2015)

So argumentiert Dieter Baacke, der als Begründer des Konzeptes der Medienkompetenz gilt, in seiner Habilitation (Baacke 1973) vor allem gesellschaftstheoretisch und geht der kritischen Theorie folgend von Emanzipation als Ziel aus. Damit Kommunikation das Versprechen der Emanzipation einlösen könne, müsse sie selbst schon emanzipativ sein und dürfe vorhandene Abhängigkeitsverhältnisse nicht perpetuieren. Dies geschehe jedoch derzeit, weshalb der Erziehungswissenschaft die Aufgabe zufalle, ihrer Klientel Räume öffentlicher Artikulation zu öffnen:

Ist Öffentlichkeit in allen ihren Erscheinungsformen ein System, mehr und mehr produziert und beherrscht von Public-relation-Managern und Meinungsmachern, so ist die Organisation von Erziehungsprozessen so anzulegen, daß wir unseren unmittelbaren Erfahrungen und die aus ihnen resultierenden Interessen gegen die gemachte Kommunikation zu halten und behaupten lernen. Dafür Möglichkeiten und Mittel bereitzustellen erfordert nicht nur Korrekturen in den Erziehungsstrategien des »Bildungssystems« und des »Systems der Massenkommunikation«, sondern die Eröffnung von neuen Räumen kommunikativer Teilhabe. Erziehungswissenschaft ist in diesem Sinn eine intentional gerichtete Gesellschaftswissenschaft: Zum einen als Analyse gestörter Kommunikation auf den Ebenen der Intra-, Inter- und der Kommunikation der Gesellschaft, die als Beeinträchtigung kommunikativer Kompetenz zu korrigieren ist. Zum andern ist das Bewußtsein von dieser Notwendigkeit der Korrektur wie »Bedürfnis und Notdurft des Verkehrs mit anderen Menschen« nicht nur ein ideelles, vielmehr als »gesellschaftliches Produkt« (Marx) Resultat und Movens materieller Bedingungen – der homo educandus und communicator kommt zu sich selbst als homo politicus. (Baacke 1973, S. 363 f.)

In der Habilitation verwendet Baacke den Begriff Medienkompetenz noch nicht und spricht allgemeiner von Kommunikativer Kompetenz. Im späteren Verlauf verdichtet er seine Überlegungen und kommt 1996 letztlich zu einer Definition von Medienkompetenz, die bis heute Gültigkeit besitzt: »Medienkompetenz meint grundlegend nichts anderes als die Fähigkeit, in die Welt aktiv aneignender Weise auch alle Arten von Medien für das Kommunikations- und Handlungsrepertoire von Menschen einzusetzen.« (Baacke 1996, S. 119)

Wesentlich für dieses Verständnis von Medienkompetenz ist eine Orientierung am Individuum, das stets als Bürger*in einer demokratischen Gesellschaft gedacht ist und am öffentlichen Diskurs partizipiert. Als Königsweg galt hierfür über Jahrzehnte hinweg die Methode aktiver Medienarbeit, in der Kinder und Jugendliche Medien produzierten und – meistens über Bürgermedien – der Öffentlichkeit zugänglich machten. Hierin war die Medienpädagogik in den letzten Jahren durchaus erfolgreich und YouTube und Co. bieten vielfältige Möglichkeit der Partizipation, wodurch bedenkliche Meinungen und Handlungsweisen wie Hate Speech oder Fake News zu Tage treten. Der Anteil von Medienkompetenz und Media Literacy hieran wird durchaus kritisch diskutiert, etwa bei Danah Boyd (2017), die ein »Zurückschießen« medienkompetenter Nutzer*innen ausmacht. Ob die zentrale Idee, den Rezipienten zum Produzenten zu machen, auch dem aktuellen Mediensystem gerecht wird, soll nun mit Blick auf die aktuellen Lebenswelten von Kindern und Jugendlichen diskutiert werden.

3. Mediennutzung Jugendlicher: Kompetenz oder Demenz?

Aus pädagogischer Perspektive stellt sich nun die Frage, inwiefern die Schülerinnen und Schüler bereits Medienkompetenz erworben haben und wo Förderbedarf besteht. Der Wandel zu einem digital-vernetzten Mediensystem, in dem jeder Nutzer auch Sender sein kann (und es im technischen Sinne auch ist, da die Smartphone- Nutzung viele Daten sendet), lässt die Annahme plausibel erscheinen, dass informelle Lernprozesse zu verändertem Vorwissen bei Kindern und Jugendlichen führen. In zuspitzender Manier fragte die Gesellschaft für Medienpädagogik und Kommunikationskultur (GMK) am Beginn des aktuellen Jahrzehnts, ob die nachfolgende Generation aus »Digital Natives« bestehe oder die Kinder und Jugendlichen vor allem digital naiv seien (Ganguin/Meister 2012), auch im anglo-amerikanischen Sprachraum wurde die Diskussion geführt (Hargittai 2010). Die Konjunktur des Begriffes ist dabei nur durch das Stille Post-Prinzip zu erklären, da Marc Prensky, der als Begründer des Begriffes (Prensky 2001a, 2001b) gilt, keineswegs über Medienkompetenz oder Media Literacy schreibt. Seine zentrale These besteht darin, dass sich bei Schüler*innen aufgrund höheren Bildschirmkonsums die Gehirnstrukturen veränderten und Lehrerinnen und Lehrer ihre Unterrichtsmethoden anpassen müssten, um ihre Klientel noch zu erreichen. Als Königsweg schlägt Prensky Konzepte des Game Based Learning vor, was in Anbetracht der Tatsache, dass er eine Firma zu dem Thema betreibt, nicht sonderlich verwundert. In einer verqueren Rezeption, die Lernen mit Medien und Lernen über Medien nicht systematisch trennte, wurde daraus die These, die aktuelle Generation der Schüler*innen sei medienkompetenter als die vorherige.

Wie alle allgemeinen Zuschreibungen an »die Jugend« ist weder die These eines generellen Anstiegs noch die eines Abfalls der Medienkompetenz empirisch belegt, was u. a. auch an fehlenden Messinstrumenten liegt. Studien, die bestimmte Teilbereiche abdecken, wie etwa die ICILS (Bos u. a. 2014), deuten jedoch darauf hin, dass die medienbezogenen Fähigkeiten innerhalb der Generation stark divergieren.

Es ist also davon auszugehen, dass Lehrerinnen und Lehrer weiterhin die Aufgabe zur Medienkompetenzförderung wahrnehmen dürfen. Damit sie dieses Unterfangen erfolgreich angehen können, bedarf es der Kenntnis der aktuellen medienkulturellen Praxen der Klientel, die sich von denen vorheriger Generationen stark unterscheiden (siehe dazu auch Hugger in diesem Heft).

Welche Anwendungen und Plattformen sich gerade großer Beliebtheit erfreuen, ist einem stetigen Wechsel unterworfen und die hier präsentierten Zahlen sind alsbald überholt – die generellen Trends haben jedoch über Jahre hinweg Gültigkeit. Einen guten Überblick über die aktuellen Präferenzen von Kindern und Jugendlichen liefern für Deutschland die KIM- und JIM-Studien des Medienpädagogischen Forschungsverbundes Südwest.1 Für Österreich empfiehlt sich ein Blick in die OÖ. Kinder- bzw. Jugend-Medien-Studie der Edugroup2 und der von Safer Internet herausgegebene Jugendinternetmonitor.3 Letzterer zeigt in seiner aktuellen Version entscheidende Tendenzen auf (siehe Abb. 1).

Abb. 1: Jugend-Internet-Monitor (https://www.saferinternet.at/jugend-internet-monitor; Zugriff: 13.1.2019)

Illustration

So zentriert sich die Mediennutzung der Jugendlichen auf Soziale Netzwerke. Die Marktmacht hat dabei der Facebook-Konzern, der neben der in der Beliebtheit sinkenden Plattform Facebook mit WhatsApp und Instagram vertreten ist. YouTube gehört wie auch Google zum Konzern Alphabet. Snapchat gehört zwar keiner der großen Firmen an, hat aber auch als Einzelanbieter eine große Nutzerbasis.

Auch wenn sich die prozentuellen Anteile jedes Jahr ein wenig verschieben, lässt sich eine zentrale Tendenz erkennen. Im Mittelpunkt stehen Angebote, die der Kommunikation dienen, Mediennutzung ist stets mehr als reine Rezeption – wobei dies natürlich nicht bedeutet, dass diese vollkommen an Bedeutung verlieren würde. Aber auch innerhalb der »klassisch«-rezeptiven Nutzung lassen sich Veränderungen feststellen – etwa in der wachsenden Bedeutung von Video-on-Demand-Diensten und Videoplattformen wie YouTube. So ist die zentrale Anlaufstelle für die Informationssuche nicht mehr Google (oder gar ein gedrucktes Lexikon), sondern YouTube. In dieser singulären Beobachtung kulminieren zwei weitere Tendenzen: Erstens wird Mediennutzung zunehmend (audio-)visuell. Neben YouTube stehen mit Instagram und Snapchat zwei Dienste im Vordergrund, die explizit Bilder und Videos in den Mittelpunkt stellen: WhatsApp startete zwar als Textmessenger, zog in den letzten Jahren aber mit vielen Funktionen nach, die auf Visualität fokussieren. Zweitens: Mit dem Wechsel der Kanäle ist auch eine Verschiebung innerhalb der Frage verbunden, welche Informationen und Quellen als glaubwürdig gelten. Eine zentrale Quelle der Orientierung sind für die nachwachsende Generation die You-Tuberinnen und YouTuber (JFF – Institut für Medienpädagogik o. J.).4 Innerhalb des Marketings hat sich für die besonders Erfolgreichen der Begriff »Influencer« eingebürgert, der im Wesentlichen besagt, dass die Platzierung von Produkten in den Streams der beliebten Akteur*innen einen starken Einfluss auf Kaufentscheidungen verspricht (vgl. einführend für die wirtschaftlichen Hintergründe: Jahnke 2018; Schach/Lommatzsch 2018). Eine präzise Beschreibung der pädagogischen Qualität des Phänomens steht noch aus (Ruge 2018). Daten über die derzeit beliebten Kanäle sind aber schon zu finden, etwa bei Safer Internet5 oder über das Portal socialblade.com, das die wesentlichen Kennzahlen der beliebtesten YouTube-Kanäle sammelt.6 Auch wenn Inhalte der Influencer*innen auf den ersten Blick unbeholfen inszeniert wirken, handelt es sich doch um teilweise höchst professionelle Produktionen, die von großen Mediennetzwerken verwaltet werden (Kohout 2017). Darüber aufzuklären wäre eine Aufgabe einer modernen Medienpädagogik.

Neben einem Blick auf die populären Netzwerke bedarf es jedoch auch einer Beschäftigung mit den spezifischen Nutzungsweisen der Jugendlichen. Neue (i.d.R. digitale) Medien ergänzen das Spektrum jugendlicher Lebenswelten nicht einfach um einen neuen Aspekt. Vielmehr verändern sich auch andere Praxen der Vergemeinschaftung, wie die gegenwärtige Mediatisierungsforschung aufzeigen kann.

So ist zum Beispiel die Gestaltung von Freundschaft und Beziehungen unter den Bedingungen eines ubiquitär verfügbaren Internetzugangs eine andere – nicht umsonst trägt Danah Boyds zentrale Studie zum Beziehungsverhalten Jugendlicher mit It’s Complicated (Boyd 2014) einen Titel, der direkt auf einen möglichen Facebook-Status verweist (für den deutschsprachigen Raum vgl. u. a. Trost 2013). Für beide Studien muss aber festgehalten werden, dass die Orientierung auf das Format »Soziale Netzwerke« derzeit nachlässt und Instant-Messenger wieder an Bedeutung gewinnen. Dennoch finden sich andere Formen der Vergemeinschaftungen als im ICQ-Zeitalter. Ein Beispiel hier ist die relativ neue Funktion des »Streak« bei Snapchat.7 Hierbei handelt es sich um ein Flammensymbol, das anzeigt, wie viele Tage in Folge mit der/dem jeweiligen Chatpartnerin oder Chatpartner kommuniziert wurde. Wenn an einem Tag keine Nachricht gesendet wird, wird der Streak wieder auf Null zurückgesetzt. Gerade bei aktiven Snapchat-Nutzer*innen steht die Zahl natürlich als Indikator für die Qualität der Freundschaft, und eine Vernachlässigung kann ernsthafte Konsequenzen haben.

Jugendliche Lebenswelten haben also sowohl in der Freizeit als auch in schulbezogener Nutzung wie zum Beispiel der Informationssuche einen Mediatisierungsschub erlebt. Diese »tiefgreifende Mediatisierung« (Hepp 2018) betrifft jedoch auch die spätere Arbeitswelt, in der sich die wachsende Bedeutung von Daten in der Diskussion einer Industrie 4.0 wiederfindet. Dieses »4.0« fungiert auch als Namenspate für die aktuellen Reformbestrebungen, weswegen im folgenden Kapitel danach gefragt werden soll, inwiefern der »neue Deutschunterricht« den gestellten Anforderungen gerecht werden kann.

4. Schule und Unterricht: der »neue« Deutschunterricht 4.0

4.1 Digitale Medien und Unterricht

»Digitalisierung« als verordnete Strategie des Bildungsministeriums setzt zum Ziel, digitale Medien sinnvoll in den Unterricht zu integrieren, sodass für Schülerinnen und Schüler ein pädagogischer Mehrwert entsteht. Der Fokus liegt augenscheinlich auf Technologieeinsatz im Unterricht, ein Ansatz, der weder dem Potenzial der neuen digitalen Medien noch den Anforderungen an Leben und Arbeiten in einer digital geprägten Gesellschaft durch den rasanten Wandel in der Arbeitswelt gerecht wird. Digitalisierung hat nachhaltige Wirkung auf alle Lebensbereiche, auch auf Bildung und Ausbildung. Die privilegierte Stellung der Schule als Vermittlerin von Wissen, Fähigkeiten und Fertigkeiten, Kompetenzen und Qualifikationen wird durch digitale Plattformen in Frage gestellt; die Bedeutung informellen Lernens und autonomer Lernender steigt rasant. Digitale Endgeräte sind erschwinglich, Smartphones und Tablets als unterstützende Werkzeuge für den Unterricht verfügbar (vgl. dazu u. a. die Beiträge in Bastian/Aufenanger 2017).

Es steht außer Frage, dass die Rolle der Lehrerin/des Lehrers und die didaktische Konzeption des Unterrichts im Lehr-/Lernprozess unersetzbare Faktoren sind, doch ist es ebenso unverzichtbar, die relevanten Lebensweltbezüge der Schülerinnen und Schüler in diesen Prozess zu integrieren. Im Fokus stehen neue Formen des Lernens und die Effizienz des Lernens: Wenn der Einsatz digitaler Medien diese Effizienz erhöhen kann, wird individueller, schneller, nachhaltiger und motivierter gelernt. Jugendliche nutzen unterschiedliche mediale Angebote nach Bedarf, sie agieren und interagieren selbstverständlich in einer vermischten Realität: Das Verschmelzen unterschiedlicher medialer Formen, zum Beispiel Bild-Wort-Ton zu symmedialen Verbünden (vgl. Frederking 2014; Frederking/Krommer 2013; Lobin 2014) ist gewichtiger als die Summe ihrer Einzelkomponenten.

Fakt ist: Es gibt keinen Unterricht ohne Einbeziehung von Medien. Jeder Lernprozess erfolgt über mediale Vermittlung, die Verwendung von Medien ist abhängig vom didaktischen Setting. Es wäre klärend, den Begriff »Medien« in diesem Szenario vorerst zu differenzieren: Medien als Gegenstand des Unterrichts beträfe die inhaltliche Komponente, etwa Unterricht zum Thema »Tageszeitungen« etc. Dies umfasst integrativ die Bereiche Medienkritik, kritische Medienkompetenz etc. Diese Kompetenzen sind hier an Inhalte gebunden, also an Medienformen per se und ihre Präsenz am Medienmarkt. Unterrichtsmedien sind Hilfsmittel, die im Lehr-/Lernprozess je nach Methode eingesetzt werden. Sie sind Teil einer Unterrichtsform oder Methode, die nach didaktischen Grundsätzen ausgewählt wird, um den Lernerfolg zu erzielen oder zu verstärken. Wenn Medien als Hilfsmittel definiert werden, ergeben sich daraus Konsequenzen für ihren Stellenwert im Unterricht:

Medien sind nicht Selbstzweck, sie haben eine dem Ziel untergeordnete Funktion.

Sie sind Teil und Hilfsmittel im Lernprozess, um übergeordnete Kompetenzen zu erwerben.

Sie sind an Methoden gebunden, und damit nicht universal einsetzbar.

Sie sind Teil dieser Methode, um einen Mehrwert im Unterricht zu erzielen.

Sie sind grundsätzlich durch andere Medien ersetzbar. Genau genommen ist der Gebrauch von Wörterbüchern oder Wörterbuch-Apps synonym zu sehen, relevant wären die Kenntnisse der Methode des Einsatzes, Anwenderkenntnisse und die Verfügbarkeit des jeweiligen Mediums (vgl. Lindenhahn.de).

Von diesen Prämissen ausgehend lässt sich der »Unterricht 4.0« diskutieren und vielleicht werden vorwegnehmend auch einige Einwände gegen den Einsatz digitaler Medien im Klassenzimmer obsolet.

Das System Schule ist in seinen Einzelteilen mehrheitlich eher von Beharrung und Verhinderung als von Veränderung geprägt. Strukturelle Rahmenbedingungen aus längst vergangenen Tagen prägen den Schulalltag, hierarchische Strukturen hemmen Innovation, Lehrpläne und Organisationsformen sind bildungspolitische und nicht immer bildungswissenschaftliche Entscheidungen. Die Haltung der Obrigkeit ist selten von Vertrauen und Großzügigkeit geprägt, zu oft von Misstrauen und Verordnungen. In diesem Setting werden Strategiepapiere oder Masterpläne der obersten Bildungskohorte selten mit interessierter Neugier verfolgt, eher mit abwartender Resignation: Die Angst vor zusätzlichen Belastungen im Lehreralltag steht in Zusammenhang mit dem Anstieg der täglichen Verwaltungsarbeit, auch durch die Digitalisierung der Organisationen (vgl. hierzu u. a. Böhme 2006). Und: Digitalisierung bedeutet auch Beschleunigung …

Der Unterricht hat sich der Selbstverständlichkeit des Gebrauchs digitaler Medien bislang eher entzogen. Durch den Umstand, dass Lernprozesse durch Digitalisierung zeit- und ortsunabhängiger werden können oder neue zusätzliche Methoden entstehen, entwickeln sich vielerorts Unsicherheit und Zweifel am bestehenden System. Eine Folge davon wäre eine Abwehrhaltung oder versuchte Verhinderung von Veränderungen. Argumente im Verhinderungsdiskurs zum Einsatz digitaler Medien im Unterricht entstehen oft aus Ängsten vor zusätzlichen Belastungen bzw. Mehraufwand, aus Berührungsängsten zu neuen Medien, deren Nutzung nicht oder zu wenig vertraut ist, ein Faktor, der zur LehrerInnenrolle in Widerspruch steht etc. Die oft nicht ausreichend vorhandene digitale Infrastruktur oder datenschutzrechtliche Bedenken werden als Vorwände herangezogen, um sich der Auseinandersetzung mit digitalen Medien zu entziehen. Es ist müßig, sich reinen Verhinderungsdiskursen zu stellen, sinnvoller ist, sich mit neuen Methoden auseinanderzusetzen und sie einzusetzen, wenn der Einsatz digitaler Medien den Unterricht verbessern kann (vgl. Döbeli Honegger 2016, S.176). Alle diese Einwände sind nur beschränkt gültig, seit Jahrhunderten wurden Verhinderungsdiskurse bei Erscheinen eines neuen Mediums geführt, sei es das gedruckte Buch, das Fernsehen, Computerspiele.

4.2 Lernen 4.0

Generell sollten wir zu den Fakten zurückkehren:

Es gibt keinen Unterricht ohne Einbeziehung von Medien. Jeder Lernprozess erfolgt über mediale Vermittlung, die Verwendung von Medien ist abhängig vom didaktischen Setting.

Die Fragen, die wir uns dazu stellen sollten, sind: 1. Was bewirkt der Einsatz neuer Medien bei Lerner*innen? Können digitale Medien Lernprozesse intensivieren und neu ausrichten, mit dem Ziel selbstbestimmten, autonomen Lernens? 2. Erzielen Lehrende durch den Einsatz digitaler Medien einen Mehrwert ihres pädagogischen Handelns? (Oder soll der Einsatz der digitalen Medien den Nutzen per se darstellen? – vgl. hierzu auch Brandhofer 2017.) Um Lehrziele zu erreichen, Kompetenzen zu erwerben, Wissen aufzubauen ist eine Vernetzung von Wissen, Mediennutzung und Medienreflexion erforderlich. Der Mehrwert besteht in der erweiterten Kombination von Methoden, Inhalten und Medien durch Lehrende, denen diese Möglichkeiten bewusst sind.

Der Einsatz digitaler Medien erweitert das methodische und didaktische Repertoire der Lehrenden und schafft einen direkten Bezug zum Lernen und der Lebenswelt der Schülerinnen und Schüler. Im digitalen Umfeld erleben wir die Veränderung aller Lebensbereiche, der Umgang mit digitalen Werkzeugen gilt als neue Kulturtechnik. Ein weiterer Aspekt betrifft alternative Formen des Lernens: Die Nutzung digitaler Werkzeuge impliziert informelle und selbstbestimmte Formen des Lernens, die ihren Ausgangspunkt in alternativen Lehrer-Schüler-Konstellationen haben, die die Rolle des Unterrichtenden neu definieren. Eine lernerbezogene Perspektive schafft neue Blickwinkel auf Lernprozesse und damit einen Paradigmenwechsel von traditionellen didaktischen Konzeptionen, die den Inhalt/Stoff ins Zentrum stellen, zu einer lernzentrierten Perspektive, die digitales Lernen als Zugang zu Wissen, Kompetenzerwerb und Selbstreflexion versteht.

Universitäten nutzen digitale Technologien in Lehre und Organisation des akademischen Betriebs. Digitale Technik dezentralisiert und beschleunigt Prozesse und ermöglicht Ausbildungsangebote für zahlreiche Studierende über Lernplattformen mit mobilem Zugang, und das mit relativ geringen finanziellen Ressourcen. Die ersten Massive Open Online Courses (MOOC) starteten 2011 in Stanford, Kalifornien, und Modelle der Online Lernangebote für große Teilnehmerzahlen und nahezu ohne persönliche Betreuung verbreiteten sich schnell auf zahlreichen Hochschulen. In Österreich bietet zum Beispiel die TU Graz mit imoox.at eine Plattform für Onlinekurse an. Digitalisierung am Arbeitsmarkt erzeugt auch einen steigenden Bedarf an berufsbegleitenden Studien, sie werden an Universitäten und Fachhochschulen durch digitale Angebote, die keine physische Präsenz erfordern, ermöglicht – sie bieten einen ortsungebundenen, zeitlich uneingeschränkten mobilen Zugang zu weiterführenden Qualifikationen. Von diesen Formen informellen, autonomen mobilen Lernens ist die Schule noch weit entfernt.

4.3 Deutschunterricht 4.0