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Georg Seeßlen

IS THIS THE END?

Pop zwischen Befreiung

und Unterdrückung

 

 

 

 

 

 

 

FUEGO

- Über dieses Buch -

Zeit meines Lebens habe ich Pop geliebt und gehasst. Pop war hier Befreiung und da Unterdrückung, hier Explosion der Wahrhaftigkeit und dort implosion der Verlogenheit. Pop bewahrte das innere Kind und förderte die Vergreisung, Pop rebelliert und korrumpiert. Pop konstruiert die kleinen Unterschiede der Klassen und setzt sich über die gesetzten Grenzen hinweg. Pop ist universal, regional und national; Pop macht einfach alles mit, denn es ist der ausdruck des Kapitalismus in der demokratie, wie es der ausdruck der demokratie im Kapitalismus ist.

WAS BISHER GESCHAH

I

Zeit meines Lebens habe ich Pop geliebt und gehasst. Pop war hier Befreiung und da Unterdrückung, hier Explosion der Wahrhaftigkeit und dort Implosion der Verlogenheit. Pop bewahrte das innere Kind und förderte die Vergreisung, Pop rebelliert und korrumpiert. Pop konstruiert die kleinen Unterschiede der Klassen und setzt sich über die gesetzten Grenzen hinweg. Pop ist universal, regional und national; Pop macht einfach alles mit, denn es ist der Ausdruck des Kapitalismus in der Demokratie, wie es der Ausdruck der Demokratie im Kapitalismus ist. Ohne Pop würde es diese prekäre Einheit gar nicht geben, und ohne Pop wären die Spannungen zwischen beidem nicht auszuhalten. Zugleich aber reagiert Pop auf die Brüche und Widersprüche, wie es keine »Hochkultur« und keine Wissenschaft kann. Jede Erkenntnis und vor allem Selbsterkenntnis einer Gesellschaft ist in ihrem popkulturellen Sektor »irgendwie« schon da. Pop ist das Klügste und das Dümmste, was wir haben.

Irgendwann entzog man sich dem Dilemma, indem man einen Unterschied machte zwischen »Kulturindustrie« und Pop. Was hatte schließlich Frank Zappa mit Dieter Thomas Heck zu schaffen, was »Krazy Kat« mit Margarine-Rekla­me, was Woody Allen mit dem Bergdoktor? Pop sollte der dynamische Zwischenraum von Kunst und Alltagsverstand sein, Pop war auf der richtigen, auf unserer Seite, Kultur­industrie auf der falschen, der Seite der Ausbeuter und Unterdrücker. Pop war vor allem Musik und Freiheit, dann kamen Film, Comics und eine spezielle Art von Literatur. Ob Fernsehen Pop sein konnte? Vielleicht einmal aus Versehen. Pop war Aufstand und Emanzipation, Subversion und Ironie in den Traumfabriken. Pop war Veränderung, Fortschritt, Verbesserung. Mit Pop erwachsen zu werden war toll. Vielleicht auch ein bisschen schwierig. Weil Pop ja immer irgendwie jung war. Oder wenigstens gegen irgendwas Altes, Dumpfes, Mächtiges und Langweiliges gerichtet. Und gegen Kulturindustrie.

»Meint Kulturindustrie, dass alle Kultur zur Ware wird, so hebt die Popkultur das durch die Umkehrung auf, dass sukzessive alle Ware zur Kultur wird«, so beschreibt Roger Behrens diese Umkehrung. Schön wär’s! Das gute am Pop ist, dass man es sich holen muss, dass man darum kämpfen muss, dass es einem auch genommen werden kann; das schlechte an der Kulturindustrie ist, dass es immer schon da ist, dass man es bekommt, auch wenn man es gar nicht will, dass man sich ihm nicht entziehen kann. Popkultur wäre dann der Widerstand und die Selbstschöpfung der demokratischen Zivilgesellschaft (und vor allem ihrer Nachwuchs-Nicht-Organisation) gegen den Zugriff der Kulturindustrie. Das ist eine schöne Idee und hilft im Einzelfall auch weiter, im großen und ganzen aber ist es nicht so einfach.

Denn wenn es richtig ist, dass Pop eine kollektive Kultur ist, die sich vom Staatlichen und (damit) Nationalen löst, um gesellschaftlich und individuell zu werden, so ist es eben auch richtig, dass sie sich dabei dem Ökonomischen nähern muss: Pop drückt also nicht nur den Widerspruch zwischen Politik und Gesellschaft, sondern auch den zwischen Staat und Markt aus, und entsteht in ihm. Im Dreieck Staat, Ökonomie und Gesellschaft hängt Pop immer dort, wo die
stärks­­ten Kräfte wirken, und deswegen gibt es eben auch Diktatorenpop und Diktaturenpop (zwischen Nazi-Deutschland und Kim Jonguns nordkoreanischem orbis pictus, der poppiger ist als Pop je sein möchte), gibt es auch Staat-Markt-Pop (wie das Mainstreamangebot des deutschen Fernsehens) oder reinen Marktpop (der das Äquivalent eines 1-Euro-Ladens produziert, nämlich etwas, das niemand will und niemand braucht, das aber doch gekauft wird, weil es in Mengen da und immer noch besser als nichts ist).

Pop, den sich Gesellschaft (oder wenigstens ein aktiver, energetischer und bewusster Teil der Gesellschaft: also WIR) sowohl von der Politik als auch von der Ökonomie zurückerobert, ist vielleicht ein wiederkehrendes Ereignis, aber keine verlässliche Zone der Produktion. Gesellschaftlich produzierter Pop wird blitzschnell vom einen oder vom anderen Ende des besagten Dreiecks her aufgefressen, oder von beiden gemeinsam. Paradoxerweise müsste man also, was wirklich sozial an Pop wäre, sowohl vor dem Staat als auch vor der Ökonomie geheim halten oder es sonstwie vor dem Zugriff schützen. Ich vermute, dass solche Dinge tatsächlich im Pop transportiert werden, als Schmuggelware, als Subversion, als Konnotation. Allerdings: Das muss nun keineswegs in »unserem Sinne« sein. Popkultur in einem weiteren und nicht allein von UNS besetzbaren Sinne, transportiert ebenso verschüttete revolutionäre Hoffnungen wie reaktionäre Entladungen. Die mehr oder weniger fa­schis­tische Schmuggelware im Pop versuche ich seit langem aufzudecken. Vermutlich hat es wenig bewirkt?

Einen Gegensatz von Popkultur und Kulturindustrie zu postulieren erwies sich rein lebenstechnisch als Vorteil. Zugleich für Pop und gegen die Kulturindustrie zu sein, war trotzdem nicht immer leicht. Kulturindustrie war der Arsch, der alles wieder eingerissen hat, was die Hände und Stimmen des Pop vollbracht hatten, an Freiheit, Gerechtigkeit und Geschwisterlichkeit. Im Pop waren Arbeiter- und Bürgerkinder, Männer und Frauen, Migranten und »Eingeborene« mehr oder weniger gleich; die Kulturindustrie aber teilte ihre Konsumenten sorgfältig, hierarchisch, sexistisch, rassis­tisch, klassistisch, wieder ein. Pop ist kreolisch, utopisch, liberal, Kulturindustrie ist nationalistisch, reaktionär, »faschistoid«. Das funktioniert immer so lange, als man wegen der Le­bens­praxis und wegen der Sorge um die eigene seelische Gesundheit nicht gar zu genau hinschaut. Klar ist aber: Ohne Kulturindustrie gibt es keinen Pop. Aber ohne Pop auch keine funktionierende Kulturindustrie.

Im Alltagsverstand, im Geschmack und in den Moden, in der Sprache und in den Diskursen kommt das alles doch wieder zusammen, und da ist möglicherweise ein und dasselbe »Pop-Phänomen« Teil des Problems und Teil der Lösung. Ist zugleich Befreiung und Unterdrückung. Ist zugleich Veränderung und Verhinderung von Veränderung. Das macht: Pop ist immer zugleich von Hysterie und Depression bedroht. Pop-Helden und -Heldinnen fallen so leicht tief in ihre eigenen Abgründe hinein, wie sie außer sich geraten. Es sind die Leute, die den Widerspruch zwischen Pop und Kulturindustrie am eigenen Leib aushalten müssen. Und dann müssen sie aus diesem Widerspruch auch noch »Modelle« werden, müssen Vorschläge machen oder sein, wie man richtig leben könnte, welche Haltung man zu all dem haben könnte, wie man mit dieser Scheißwelt umgehen soll. Aber dafür kriegen sie im besten Fall ja auch einen Haufen Kohle, und mehr noch: Sie kriegen unsere Liebe dafür.

Und dann… Die Verhältnisse änderten sich nicht nur im Pop. Bestimmte Orte verschwanden, von den »Beatschup­pen« über die Konzertbühnen bis zu den Clubs, in denen man mehr oder weniger Zuhause sein konnte. Oder die Kinos, in denen man sich zur Nachtvorstellung traf. Die Plattenläden und wohlig vermüllten Buchhandlungen. Comic-Läden, in denen Sammler-Nerds anderen Sammler-Nerds Fetisch-Preise für Fetisch-Ware aus der Tasche ziehen. Nicht, dass Pop einmal richtig unschuldig gewesen wäre, höchstens in ein paar Millisekunden der Kulturgeschichte. Aber was die Ökonomie mit Pop seit den neunziger Jahren macht, ist nicht mehr komisch.

Pop wurde gespenstisch, nicht bloß wegen der immer schnelleren Wiederholungs-, Revival- und Vermarktungszyklen, sondern auch, weil Pop diesen Frei- und Zwischenraum, der nur in Hinblick auf eine Verbesserung der Welt existieren kann (es lässt sich auch »Utopie« dazu sagen, oder jugendlicher Optimismus), nicht mehr herstellen konnte und stattdessen selber immer mehr fiktional wurde. Eine Simulation der Simulation der Simulation. Authentisch war allenfalls der Weg nach rechts, den immer mehr Szenen, Moden und Stile nahmen. Aber wer hatte gesagt, dass Pop auf ewig links, liberal, tolerant und kritisch sein muss?

Wäre man im Jahr 1940 eingefroren worden und in Jahr 1970 wieder erweckt, dann hätte man, wenn man Popkultur geliebt hätte, wahrscheinlich nur ausgerufen: Wow! Wäre man im Jahr 1990 eingefroren worden und im Jahr 2020 aufgewacht, und man hätte sich nach der Entwicklung der Popkultur umgesehen, dann würde man wahrscheinlich sagen: Was? Mehr hat sich nicht getan? Das, ungefähr, ist die Vorstellung, die Mark Fishers Lamento über die »Haun­tologie« des Pop zugrunde liegen. Aber dass etwas passiert hat Gründe, und genau so hat es Gründe, wenn nichts passiert oder eben, schlimmer noch, nur noch Gespenster sind, wo einst das Leben war.

Die Dialektik von Pop und Kulturindustrie findet sich in einer Idee Antonio Gramscis wieder, in der Konstruktion von Alltagsverstand und den Kämpfen um Hegemonie, und mit Gramsci will ich auch versuchen, den Beziehungen von Pop und Politik auf die Spur zu kommen. Popkultur ist unter anderem, was einst Religion war. Das heißt ein Wahnsinnsvorrat an Poesie, Phantasie und Vergnügen, und ein Wahnsinnsvorrat an Verblödung, Unterdrückung und Angst. Wenn man das eine anschaut, ohne vom anderen zu wissen, begeht man einen Riesenfehler. Aber beides geht, womit wir an Mark Fisher anknüpfen, in einen Zustand des Gespenstischen über. Neben die Eroberung des Wirklichen tritt die Entwirklichung. Pop und/oder Kulturindustrie haben nicht nur die Welt, sondern auch den Himmel und vor allem die Hölle besetzt. Sie wollen den Alltagsverstand, den sie formten, einfach nicht mehr loslassen.

Also geht es um einen Versuch, mit erhobenem Haupt durch die von Pop besetzte und von Pop beseelte Welt zu gehen. Durch eine konstruierte Welt. Und sich den Gespens­tern zu stellen. Es ist ein Versuch, ein Essay, eine Skizze, eine Sammlung von »Vorschlägen«, wie Bert Brecht so etwas genannt hätte. Hier geht es nicht ums Rechthaben oder ums Sortieren der Guten und Bösen (ein paar von den Bösen werden auch beim Namen genannt), sondern darum, auszuprobieren, wohin und wodurch man noch frei denken kann. Mit Pop. Trotz Pop.

II

Unterdrückung lässt sich nur schwer erkennen in solchen Systemen, wo sie total ist. So konnte kaum ein kritischer Geist in der Glanzzeit des römischen Reiches das Imperium statt als Weltordnung als Unterdrückungsapparat beschreiben, kaum einer konnte im christlichen Mittelalter die Religion als Herrschafts- und Machtinstrument erkennen, statt als kosmologische Wahrheit (mit prekären Elementen, um die es zu kämpfen gilt, und wenn man dabei ein paar Ketzer ermorden und ein paar Hexen verbrennen muss), oder, um ein Beispiel aufzugreifen, das Michel Foucault verwendet: Die Biologie des 19. Jahrhunderts war unfähig, die Wahrheit der Mendelschen Erbgesetze zu erkennen, weil sie dazu nicht einmal die begrifflichen Instrumente hatte. Mendel sagte die Wahrheit, schreibt Foucault, »aber er war nicht ›im Wahren‹ des biologischen Diskurses seiner Epoche«.

Wenn man etwas verändern will, genügt es also nicht, eine Wahrheit auszusprechen, so sehr diese auch den Grundgesetzen von Logik und Erfahrung entsprechen mag, sondern man muss zur Konstruktion des Wahren in seiner Zeit und seiner Gesellschaft vordringen. Nun ist allem Anschein der Neoliberalismus als politisch-ökonomische Weltanschauung drauf und dran, eine solche Totalität zu entfalten, der gegenüber die Wahrheit nichts ausrichtet, weil man sich damit nicht im Wahren der Diskurse und der Bilder – nicht im Pop – befindet. Wie kann man seine Herrschaft als etwas anderes als das Normale begreifen, ob man es nun mag oder nicht, das »Alternativlose« und das auf ewig kleinere Übel? Wie das römische Imperium oder das Christentum oder dass alte biologische Weltbild, muss man auch den Neoliberalismus nicht einmal besonders mögen, um an ihn zu »glauben«, man muss nicht einmal den Namen nennen (und der Neoliberalismus ist selber, wie alle Religionen um ein Nicht-Sagbares und Unsichtbares aufgebaut) und für das, was zwischen Abscheu und Fatalismus an Energie entwi­ckelt wird, gibt es den Karneval und das Militär bzw. die Polizei.

Im Neoliberalismus, dem Imperium des Kapitals, dem kapitalistischen Totalitarismus, wird die Klassengesellschaft von ehedem in der bürgerlichen Gesellschaft nicht aufgehoben, sondern transformiert. Das Triumvirat der Eliten, die ökonomischen, die politischen und die kulturellen Eliten, hat sich aufgelöst, und nicht anders erging es ihren Objekten, euphemistisch »das Volk« genannt, besser beschrieben als das Durcheinander der Unterdrückten und der Ausgebeuteten zwischen Angestellten, Lohnabhängigen und Prekariat. Eine Klassenzugehörigkeit zum Kleinbürgertum beispielweise sagt allein nicht mehr viel aus; politischer Einfluss, ökonomischer Anteil und kulturelle Distinktion lassen sich nicht mehr synchronisieren. Naheliegenderweise erhalten Kultur im allgemeinen und Popkultur im besonderen in dieser Post-Klassengesellschaft (die zugleich eine aufgelöste und eine verschärfte Variante der Klassengesellschaft ist) eine andere Funktion. Das versprochene Ideal war es, dass sich Kultur nun in einen solch gewaltigen Selbstbedienungsladen verwandeln würde, dass sich jeder daraus holen könnte, was er oder sie braucht, um mit sich und anderen »identisch« zu werden oder wenigstens genug Spaß zu haben, um weitermachen zu können. Das hieß praktisch: Man muss es sich natürlich leisten können. Deswegen kann sich der eine auf dem hysterischen Kunstmarkt bedienen und die andere muss sich, was sie an Kultur braucht, aus dem 1-Euro-Laden holen. Nur ohne eine solche Kultur kann und darf niemand leben. Diese Welt ist im Innersten davon zusammengehalten.

Aber nicht einmal dieses ideale und zynische Modell von (Pop-)Kultur im Neoliberalismus stimmt. Denn Kulturwaren sind eben nicht nur Produkte, die man verbraucht, wie die Cornflakes aus der Schachtel mit den Spiderman-Figuren, sondern es sind Praxis-Zeichen, mit denen man mit anderen kommuniziert. Klar kann ich Chopin oder Throbbing Gristle hören, wenn sonst niemand da ist, aber die Räume, die das eine wie das andere aufmacht, sind doch immer gemeinsame Räume, und nichts kann mir etwas sagen, was nicht wenigstens imaginär auch anderen etwas sagt. Natürlich ist Pop daher immer auch ein Wir-und-die-anderen. Das Problem aber liegt genau in diesem »und«. Es kann von wütender Exklusion bis zur Lust am Vieldeutigen reichen, temporär (wir Jungen), dispositiv (wir Kenner) oder auch kategorisch sein (Nationalpop, Ultra etc.), es kann spielerisch oder militant, dynamisch oder verpanzert, offen oder geheim sein. Aber jedes noch so kleine Stück Popkultur ist gleich auf zwei Arten politisch. Zum einen, indem es eben diese Differenz zwischen den Angesprochenen und Nicht-Ange­sprochenen (den Eingeweihten oder Nicht-Eingeweihten), zwischen einem Innen und einem Außen erzeugt, im schlimmsten Fall den zwischen Freunden und Feinden, und zum anderen, indem es Teil der Alltagswahrnehmung, des alltäglichen Wissens und der alltäglichen Diskurse wird: Teil dessen, wovon man sprechen kann (im Gegensatz zu den Dingen, über die man einverständig schweigt), Teil dessen, worin man sich verständigt, was richtig, schön, vernünftig und akzeptabel ist und was nicht, Teil des Wissens, aus dem am Ende die Verteilung der Macht entsteht, als Zuschreibung oder als Akzeptanz (billigend oder in diesem eben durch die populäre Kultur erzeugten Wissen von der eigenen Ohnmacht), als Erwartung, als Hoffnung und als Definition eines Raums der möglichen Kritik.

Pop also bildet den Alltagsverstand und begrenzt ihn zugleich; und daher heißt es, wenn man behauptet, Pop und Politik seien mehr oder weniger die zwei Seiten ein und derselben Sache geworden (Pop als politisches Steuerungsmittel, Politik als popförmiges Edutainment), beides dialektisch zu trennen: Eine endgültige Verschmelzung – wie in einem Trump-Wahlkampf – findet dort ihre Grenzen, wo beides ihr Außen, ihre Wildnis, ihre Metaphysik aufweist. Pop ist zugleich Politik und die Erlösung von Politik; Politik ist zugleich Pop und die Erlösung von Pop. Ein Seitenprodukt dieser Beziehung ist: Anti-Politik und Anti-Pop. Man kann auch sagen: Gespenster-Politik und Gespenster-Pop.

Ein Erbe der bürgerlichen Gesellschaft ist die Einteilung von »Hochkultur« und »Massenkultur«; in der simplen Abbildung sieht das so aus: Die einen lesen Thomas Mann und die anderen die »Lore-Romane«, die einen hören Wagner und die anderen die Zillertaler Schürzenjäger, die einen gehen ins Theater und die anderen glotzen fern. Und zwischen beiden gibt es nichts als Verachtung; es ist keineswegs so, dass nur die »Hochkulturler« die »Massenkulturler« verachten, mindestens genau so groß ist die Verachtung, die das Populäre gegenüber dem Gebildeten entfaltet; da bildet sich der Gegensatz zwischen Volk und Elite noch einmal ab. Bloß dass die »Hochkultur« eben nicht mehr dringlich an eine politische und (vor allem) ökonomische Elite gebunden ist, sondern viel eher an eine hoffnungslos veraltete, halbfiktionale und lächerliche Minderheit des »Bildungsbürgers«. Ein Bekenntnis zum »Bildungsbürgertum« ist unmöglich geworden; es ist historisch abgeschlossen, es ist der fatale Versuch, etwas besseres zu sein, es ist ein Affront gegen »das Volk«, und für die Karriere ist es auch eher hinderlich als förderlich. So wie also »das Linke« sich von einem sozialen Erfahrungs- und Handlungsort entfernt hat, um zu einem abstrakten moralischen Gegenstand von »Haltung« zu werden, so hat sich Kultur – als Medium von Aufklärung und Kritik vom Bürgertum einst modernisiert – von einem Klassenbewusstsein (und hier und da sogar Klassengewissen) zu einem mehr oder weniger folgenlosen und mehr oder weniger ausgelagerten Minderheitskult gewandelt. Natürlich kann sich auch dieser Restposten des einstigen dynamischen Bildungsbürgertums nicht »entpolitisieren« (Kultur ist eine Art Aussteigerdroge geworden), sie ließ sich aber durchaus entmachten, so wie umgekehrt der populären Kultur (»den« Medien) immer mehr der Status eines Machtfaktors in der Demokratie und Postdemokratie eingeräumt wurde. Im Gegensatz zum klassischen Unternehmerkapitalismus ist der Neoliberalismus nicht mehr auf »Fortschritt«, sondern nur noch auf Wachstum aufgebaut, und in der Hochkultur wie in der Popkultur herrscht daher schon seit geraumer Zeit fundamentale Abneigung gegen »Zukunft«. Ewige Gegenwart, ewige Wiederkehr von Regressionsschüben ist das Versprechen.

Schon in den siebziger Jahren war dem deutschen Bundeskanzler Schmidt öffentlich klar geworden, dass in Deutschland keine Regierung gegen die Bild-Zeitung möglich ist, und heute gehört es zum Grundwissen des politischen Nachwuchses, dass man ohne Fernsehen nichts wird. Diese Bewegung der Macht von der »Hochkultur« zur »Populärkultur« als Demokratisierung oder gar als Überwindung der elitären Legitimationsinstrumente der herrschenden Klasse zu feiern, ist grundfalsch. Denn einerseits sind die Fabrikationsanlagen der populären Kultur ja so fest in den Händen der ökonomischen Elite wie die bürgerliche Kultur nie war, und andererseits ist der Verzicht auf die »Hochkultur« auch nichts anderes als ein Verzicht auf Emanzipation und Fortschritt. Denn diese Hochkultur enthält unter vielem anderen auch das Archiv der Befreiungskämpfe, sie enthält die Instrumentarien der Kritik, und sie ist das Transportmittel zwischen dem Allgemein- und Alltagswissen und dem »Geheimwissen« von Wissenschaft und Expertentum. Wenn »das Volk« auf eine Kultur hereinfiele, die behauptet, man brauche nicht mehr als »Traumschiff«, Bild-Zeitung, Oktoberfest und Internet-Pornos und ein Mehr an Kultur und Kunst sei nur »elitär« und »abgehoben«, dann hätte dieses Volk alles für seine Selbstentmachtung getan. Glücklicherweise aber ist dieses Volk nur eine Erfindung von Wurstreklame und Rechtspopulismus. (Unglücklicherweise bilden sich eine Menge Menschen in sehr verschiedenen Lebensumständen genau so ihr Selbstbild.)

Populäre Kultur, also die ästhetische Materie, aus der Kulturindustrie wie Popkultur schöpfen, ist nur einerseits eine industrielle Nachfolge jener Volkskultur, die man als sekundären Code für eine Aufhebung von Lust und Ordnung hinlänglich beschrieben hat. Sie benötigt andererseits die industrielle Produktionsweise, was unter vielem anderen die Gegenwart von Maschinen und Fabriken beinhaltet, die extreme Arbeitsteilung, die Normierung, die Trennung zwischen primären, sekundären und tertiären Produzenten (Maschinisten, Erfinder und Fabrikherren), und bislang ist noch keine Traumfabrik abzusehen, in der etwa diese Teilung aufgehoben wäre: die Leute, die Musik machen, die Leute, die sie verarbeiten, und die, die sie vermarkten. Die Schauspieler, die Regisseure und die Harvey Weinsteins.

Antonio Gramsci hat deshalb stets darauf bestanden, dass man nicht nur die populäre Kultur als Produktion des Alltagswissens ernst nehme, ihre ganz eigene Semantik und Ästhetik würdige, sondern stets auch einen Dialog mit der traditionellen Hochkultur (die ja einen solchen Namen erst durch die kulturellen Klassenkämpfe erhielt), am Ende Übernahme und Versöhnung anzustreben habe. Im Pop der sechziger und siebziger Jahre schien sich eine solche Möglichkeit durchaus anzubahnen. Es war möglich, Rolling Stones und Chuck Berry zu hören, und zugleich Rilke und Marx zu lesen. Bei Bob Dylan kam das alles ohnehin wieder zusammen, und bei Frank Zappa auch, ebenso aber auch bei Andy Warhol, der den Künstler als Pop-Star gab und die Techniken von Hoch- und Massenkultur bewusst miteinander kurzschloss. Pop, Politik und »Hochkultur« verschmolzen nun keineswegs miteinander, so wenig sie das im Hades der »Klassik light« oder der »Kunst am Bau« taten, aber sie verloren ihren Hierarchie- und Distinktionswert. Desgleichen sang Aretha Franklin auch für rebellische weiße Frauen aus dem Mittelstand von Veränderung und Respekt. Man hörte Jimi Hendrix in Autowerkstätten und Universitäten; Donald Duck wurde in Kinderzimmern und Republikanischen Clubs gelesen, kurzum: Im Pop sollte Kultur ihren Klassen-, Rassen- und Gender-Charakter überwinden und in den Dienst allgemeiner Erneuerung und Befreiung gestellt sein. Vor allem, um gemeinsam Spaß zu haben.

Der Rückschlag kam viel früher, und er wurde nicht zuletzt von einer Kulturindustrie betrieben, der an einer Vervielfältigung der Märkte und an verstärkter Kontrolle ihrer primären Produzenten lag. Elvis Presley war ja noch ein in sich durchaus rebellisches Produkt dieser Industrie gewesen, aber die Beatles griffen selbst in die Produktionsmaschine ein und machten sich über die Macht ihrer Vermarktung lustig, sie ließen erahnen, dass sich Besitzverhältnisse ändern können. Und Kontrollinstanzen.

Bei Elvis Presley erinnern wir uns freilich schon an die widerwärtigsten Machenschaften in dieser Pop-Industrie, als eine von Weißen für Schwarze produzierte Zeitschrift ein »Zitat« publizierte, demzufolge Elvis gesagt haben solle, ein Schwarzer sei für ihn gerade gut genug, die Schuhe zu putzen. Natürlich hat er so was nie gesagt, aber anders als die Beatles war er nie Herr seines Materials noch seines Images. Er konnte nur der Elvis sein, den man aus ihm machte, was für seine Zeit schon eine Menge war. Dieses Beispiel zeigt, wie sehr Rassismus immer auch ein Produkt ist, das zugleich Politik und Markt bedeutet. Es ist eben nicht nur das Schuhputzerbild des Afroamerikaners, sondern auch das des weißen Rassisten ein Produkt der Kulturindustrie. Und wie alle Produkte der Kulturindustrie schöpfen sie aus einer sozialen Realität und dem Alltag, lassen sich aber nach Bedarf manipulieren.

Der Kampf war lange nicht geschlagen mit der Gegenreformation der popkulturellen Industrieprodukte in den siebziger und achtziger Jahren, er dauert, genau besehen, bis heute an und bringt auch immer wieder heroische Szenen (Do it yourself-Punk) und Einzelkämpfer hervor, die sich nicht vollständig in den Dienst der neuen, neoliberalen Populärkultur stellen lassen. Die Mainstream-Variante ist der nachdenkliche Pop-Star. Aber die eben auch politisch »gefährliche« Mittlerposition zwischen »Hochkultur« und »Populärkultur«, die ein Erobern der kulturellen Bastionen durch die Kids, die Frauen, die Arbeiter, die Dissidenten, die Nomaden und Kreolen möglich machte (oder das we­nigs­tens als utopischen Traum erscheinen ließen, was störend genug ist), dieser Schlüssel zu einem universalistischen und offenen Kulturverständnis (von Nietzsche zu den Beach Boys und zurück, und es ist überhaupt nicht ausgemacht, was von beiden »schwieriger« ist; schließlich ist egal, ob ich etwas »richtig verstehe«, wenn es keine Autorität gibt, die behauptet zu wissen, was »richtig verstehen« bedeutet), nebst der Entmachtung einer alten kulturellen Elite, er wurde aus politischen wie aus ökonomischen Gründen begraben. Denn es liegt im Interesse der Macht wie im Interesse des Profits, dass sich Hochkultur und populäre Kultur wider strikt trennen und sich anstelle des verlorenen utopischen Pop-Segments ein dezidiertes »postmodernes« Angebot setzt: Ein bisschen was von beidem. Das Pop/Hochkultur-Hybrid, das exakt dem neuen Kleinbürgertum entsprach, dem Hochkultur zu unmodern und Pop zu schmutzig war. Oder die Fetischisierung des Trash, in dem sich die postliberale akademische Jugend mit Russ-Meyer-Filmen, Motorhead-Platten und Loser-Fußballvereinen ihrer sinnlichen Qualitäten versicherte. Aber selbst dies ist schon wieder Vergangenheit. In der Welt von Helene Fischer und »Fack Ju Göthe« ist Pop im Wesentlichen bereits eine Art innere Emigration, eine Subkultur, die nun zumindest wieder darum kämpft, Begleitmusik zur Verteidigung der Demokratie zu sein. Was im übrigen verdammt nicht wenig ist.

III

Was wir von Antonio Gramsci gelernt haben, das ist, dass in den westlichen Industriestaaten der Kampf nicht so sehr ums Überleben, nicht einmal allein um die Macht geht, sondern vor allem um die Gestaltung des Alltags. Nicht ums Sein oder Nichtsein geht es der Mehrzahl der arbeitenden Menschen, sondern ums Wie-Sein, ums Mehr- oder Anders-Sein. Das verändert auch die Bedingungen des Links-Seins. Nach wie vor ist es gespalten in ein moralisches und ein politisches Verhalten; links mag der dissidente Bürger auf andere Weise sein als sein proletarischer oder postproletarischer Genosse, und darin eingelagert mag auch eine höchst unterschiedliche Art wirken, feministisch zu sein. Nicht nur weil es einen Unterschied macht, auf Privilegien zu verzichten oder sie gar nicht erst zu haben, sondern auch, weil es einen noch erheblicheren Unterschied macht, Verhältnisse als allgemein falsch oder persönlich unerträglich zu empfinden. Je mehr es indes um den Alltag und seine Ausgestaltung – also um Pop – geht, desto mehr verliert der Widerspruch von moralischem und politischem Antikapita­lismus an seiner Ausweglosigkeit. Im Kampf um die Qualität des Alltagslebens heben sich die Widersprüche zwischen den beiden Klassen, Bürgertum und Proletariat, der Mittelklasse und den blue collar workern auf, und zwar in doppeltem Sinne: Sie setzen sich auf der Ebene der Zeichen, Symbole, Narrationen und Bilder fort, und sie verbinden sich zu etwas Neuem, zu einem meta-klassenhaften Konglomerat von Information und Unterhaltung.

Popkritik ist also immer auch die Kritik des Alltagslebens und dessen, was in es »hineinregiert«, die Interessen von Staaten und Ökonomien, die Interessen von Gruppen und Personen. Der Alltag ist nicht nur Widerschein des Politischen, der Alltag ist das Politische schlechthin. Es gibt in ihm und um ihn herum nichts Unpolitisches, wohl aber eine Unzahl von Elementen des Anti-Politischen, das heißt von Elementen, die die Verbindungen zwischen dem Alltag und der Geschichte, dem täglichen Leben und der Wirkung der Macht, unterbrechen wollen. Dreimal dürfen wir raten, wer davon profitiert, wenn die Kultur des Alltags sich von der Kultur der Entscheidungen und der Repräsentationen entfernt, und sei es, indem sie »Sprachen« entwickelt, in denen Alltag und Politik nicht mehr miteinander sprechen können. Statt also eine Möglichkeit zu entwickeln, Alltag und Geschichte miteinander kommunizieren zu lassen (das Ideal der Aufklärung in einer Industrie- und Post-Industrie­ge­sell­schaft), durch Information ebenso wie durch die Entwicklung von Projekten und Narrativen, hat sich Main­stream-Pop zu einer Sprache entwickelt, in der sich ökonomische und politische Interessen der Subjekte bemächtigen: Populäre Kultur soll ihre Adressaten auf eine Weise an ihren Alltag binden, dass sie beidem nichts mehr entgegensetzen. Pop heißt Profit, und Pop heißt Propaganda, und das Profitinteresse und den Propagandaeffekt herauszustellen, ist eine erste Aufgabe von Kritik.

Aber nun lassen sich Profit und Propaganda immer nur so weit synchronisieren, wie es keinen Widerspruch zwischen Ökonomie und Politik gibt, das heißt in unserem Fall, dass der Kapitalismus vollkommen demokratieförmig, bzw. die Demokratie vollkommen kapitalförmig geworden wäre. Das freilich scheint genau so wenig möglich wie eine vollständige Kontrolle der Popkultur durch Markt und Zensur. Wir, die »subalternen Schichten«, das Gemisch von mehr oder weniger prekarisierten Lohnabhängigen und Alltagsmenschen, deren Klassenlage sich zunehmend nicht mehr ökonomisch, sondern kulturell bestimmt (reiche Prolls und arme »Bildungsbürger«, Milliardäre, die mit Hilfe des »Volkes« das »Establishment« stürzen wollen), wir sind immer noch ein undisziplinierter und widerspenstiger Haufen, aus dem immer wieder neben dem Hunger nach Unterhaltung auch ein Hunger nach Wahrheit aufscheint. Die ökonomische Struktur der Popkultur macht uns zu bedeutenden Mitproduzenten. So wenig sie »frei« und »demokratisch« produziert wird, so wenig kann sie uns einfach vorgesetzt werden. Man kann uns nicht zwingen, man muss uns verführen; man kann uns nicht mehr disziplinieren, man muss uns kontrollieren; man kann uns nicht ausschließlich belügen und verblöden, denn die Brüche, Widersprüche, Entblößungen und Demaskierungen lauern an allen Ecken und Enden. Gramsci forderte uns auf, eine »komplizierte, ideologische Arbeit« zu verrichten, um die Brüche und Widersprüche in der Alltagskultur, die verborgenen Wahrheiten und Enttarnungen, aber auch die verborgenen Wünsche und Hoffnungen ebenso sichtbar zu machen, wie Werbung und Propaganda.

Die Herstellung des Alltagsverstands durch Popkultur und Warenwelt ist der Gegenstand meiner Idee von Popkritik, die weder von außen noch von oben kommt, sondern aus der Mitte von Empathie und Erschrecken, aus Nähe und intellektueller Distanz. Auch darin stimme ich mit Gramsci überein: Dieses »Intellektuelle« ist nur einerseits ein Berufsmerkmal, auf der anderen Seite ist es eine mögliche Haltung in jeder Lebenssituation, in jedem Arbeitsfeld, in jeder Kultur und Subkultur, in jeder Klassenlage. Mit den Intellektuellen verhält es sich wie mit der Kunst: Dass es berufsmäßige Künstler gibt, widerspricht nicht dem Statement, dass in jedem Menschen der Künstler als Möglichkeit steckt. Intellektuelle in diesem Sinn sind das Gegenteil von Experten, Wissenschaftlern oder Priestern, es handelt sich vielmehr um Menschen, welche die Felder der intellektuellen Auseinandersetzung zu erweitern und zu beschreiben haben. Die Intellektuellen haben nicht die Aufgabe, über den Alltagsverstand hinaus zu führen, sondern im Gegenteil, in ihn hineinzuarbeiten und, wie Gramsci das gefordert hat, eine Verbindung zu schaffen zwischen der Alltagskultur von uns gewöhnlichen Leuten und der »Hochkultur«, die angeblich oder tatsächlich sowohl Privilegien ausdrückt als auch an die Anwendung von Privilegien gebunden ist.

Dabei gilt es, zwei Mythen zu entlarven. Der erste Mythos besagt, dass Popkultur simpel, kindlich und »volkstümlich« ist, leicht zugänglich und »leicht verdaulich« in ihrer seriellen Redundanz letztlich leer oder beliebig füllbar, tautologisch und unreflektiert. Das ist Quatsch, oder schlimmer, es ist Ideologie. Der zweite Mythos besagt, dass Hochkultur kompliziert und schwierig, prätentiös und hermetisch ist, schwer zugänglich und schwer verdaulich. Das ist genauso Quatsch und genauso ideologisch. Es ist gewiss kein Zufall, dass es in den rebellischen Zeiten, in den Zeiten einer stärkeren Präsenz von linker Kultur, zwischen Pop und Hochkultur keine unüberbrückbaren Grenzen gibt, die eine Seite nicht nur von der anderen profitiert, sondern beide Seiten von einer lustvollen Vereinigung träumen, während in den Zeiten der rechten Hegemonie taktisch und strategisch die volkstümliche gegen die elitäre Kultur ins Feld geführt werden. Die Differenz zwischen Popkultur und Hochkultur ist einerseits Ausdruck einer historischen und sozialen Entwicklung (man kann den Klassencharakter von Kultur nicht einfach leugnen, und eine Amalgamierung zum Beispiel in musikalischem Klassik-Kitsch ist das Letzte, was uns vo­ran­bringt), sie ist andererseits aber auch ein ideologisches Konstrukt. Vor allem aber entspricht sie Marketing-Interessen; beides verkauft sich besser als Abwehrzauber gegen das jeweils andere.

Zweifellos unterscheidet sich eine Kritik des Pop-Pro­dukts von einer Kritik eines Kunstwerkes, nicht so sehr in Bezug auf die Qualität (was immer das sein mag), sondern in Bezug auf die Zeit. Sucht die Kunstkritik nach dem »Bleibenden«, dem, was Kulturen und Epochen miteinander gemeinsam haben, so spürt die Popkritik dem Gegenwärtigen nach. »Musik zur Zeit« lautet der treffende Untertitel der Zeitschrift Spex. Es geht darum, herauszufinden, was »signifikante Äußerungen zu einem bestimmten Zeitpunkt« (Ralf Hinz) sind. Das ist eine etwas abstraktere Bezeichnung des Umstands, dass man Pop immer nur aus dem Leben heraus kritisieren kann, und die Frage nach der bedeutenden Äußerung ist immer die Frage nach dem, was es mit uns zu tun hat (wer immer »wir« gerade sind). Ich kann also einen Beatles-Song mit Mitteln der Kunstkritik beschreiben (und bemerken, wie nahe er an einem Schubert-Lied ist), wie ich umgekehrt eine Botticelli-Ausstellung mit den Mitteln der Popkritik beschreiben kann (wie sehr uns solche Schönheit in den Alltag scheint oder auch nicht); Kunstkritik und Popkritik unterscheiden sich weder durch ihre Gegenstände – denn so, wie alles als Pop gesehen werden kann, kann auch alles als Kunst gesehen werden – noch durch ihre Haltung (Kunstkritik und Popkritik können beide demokratisch-kritisch oder reaktionär-mythisch sein, kann sich an linke wie rechte Diskurs-Modelle anlehnen, sie unterscheiden sich durch Absichten und Methoden. Jede Kunst enthält Pop, und etliches an Pop enthält Kunst.

Dabei sind der chaotische, spontane, unbekümmerte und skizzenhafte Pop und die kohärente, systematische, homogene Hochkultur (um Gramscis Begriffe zu benutzen) auf­einander angewiesen, wenn es um Möglichkeiten von Wirkung und Veränderung geht; das eine ohne das andere ist kulturelles Gefängnis, Glocke, Tautologie, Entmachtung. Alles, was geschieht, ist im Übersprung zwischen Hochkultur und Pop, und umgekehrt ist nur zu leicht zu beschreiben, wem die strikte Trennung zwischen beidem nutzt. Pop (das Jetzt) und Hochkultur (das Archiv des Wissens) sind nicht als Verschmelzung, sondern im Dialog fruchtbar. Denn so wie Pop den Alltag und seinen Verstand (Verstehen und Verständnis) konstruiert, konstruiert die Hochkultur die großen Systeme, Staat, Bildung, Wissenschaft etc. Popkultur, die sich als Widerpart zur Hochkultur versteht, schneidet ihre Adressaten von den großen Systemen und ihren »Narrativen« ab; sie erzeugt ein wohliges Empfinden der Ohnmacht in der Geborgenheit, aber sie bündelt dieses Ohnmachtsempfinden auch wieder und erzeugt die Energien politischer Bewegung. Der schlimmste Fall ist jener Mensch, der sich in seiner »volkstümlichen Unterhaltung« von der demokratischen Teilhabe abkapselt, um dann gegen eine Demokratie zu Felde zu ziehen, die ihm vermeintlich diese Teilhabe verweigerte.

Unglücklicherweise spielt die Kritik zu oft dieses Spiel mit. Wenn Popkritik da hingeht, wo es weh tut, ist sie schnell mit dem Vorwurf »elitärer Arroganz« konfrontiert, und umgekehrt werden die Pop-Bekenntnisse von ansonsten eher akademischen Denkerinnen und Denkern rasch als modische Anbiederung markiert. Als gälte es, die Denkfigur von Elitarismus und Populismus hier fortzusetzen. Aber worum es geht, ist dies: Weder ist die sogenannte Hochkultur ein privilegierter Besitz einer kulturellen Seitenklasse des Establishments, noch ist Pop das intellektuelle und
ästhetische Gefängnis, in das die Unterhaltungsindustrie »das Volk« einsperrt. Beides aber ist in einem ideologischen, ökonomischen und politischen Interesse durchaus zu konstruieren. Wenn ein Volksmusik-Fuzzi erklärt, seine Musik und seine Texte repräsentierten eben das Leben der »kleinen Leute«, von dem die intellektuellen Kritiker keine Ahnung hätten, dann lügt er nicht nur, sondern er konstruiert auch die kulturelle Basis für den politischen Populismus. »Volkstümliche Unterhaltung« schuf die Basis als kulturelle Hegemonie für eine neo-völkische Bewegung in der Politik. Beides kommt nicht ohne die Konstruktion von Feindbildern aus, und sie ähneln sich erschreckend.

Pop ist emotional. Hochkultur ist rational, jedenfalls wird sie allgemein so gesehen. Demnach müsste also Pop anti-rational, und intellektuelle Kritik anti-emotional sein. Wer sagt das? Wie alles, was gesagt wird, wird es vor allem von jenen gesagt, denen es nutzt. Jenen also, die das Rationale aus dem Pop und das Emotionale aus der Hochkultur heraus­halten wollen. So begreifen wir allerdings auch wieder, welche Widerstände sich dabei auftun, wenn das eine zur Eroberung des anderen aufbricht, während sich das andere zugleich gegen das eine verteidigen zu müssen glaubt. Veränderungen aber, vielleicht sogar einfach Erkenntnis, gibt es nur, wenn das Emotionale und das Rationale ineinander wirken. Eine Revolution – oder auch nur ein verändernder Eingriff in die großen Systeme von Politik, Wirtschaft und Wissenschaft –, die ausschließlich rational vonstatten ginge, ist ebenso zum Scheitern verurteilt, wie eine ausschließlich emotionale Bewegung etwas verändern kann.

Die Rechte hat längst erkannt, dass der politische Kampf auch durch kulturelle Hegemonie entschieden wird, und der popkulturelle Mainstream hat dieser Strategie des »Rechtsgramsciismus«, der von den Vordenkern der französischen Nouvelle Droite als erste zum Programmpunkt erhoben wurde, erstaunlich wenig entgegengesetzt. Hat die Linke, auch in der Popkritik, »versagt«? War sie zu hochnäsig oder traditionalistisch, zu ökonomistisch oder ignorant? Hat sie nur abgelehnt, als es darum ging, zu verstehen?