Christoph Möllers

Freiheitsgrade

Elemente einer liberalen politischen Mechanik

Suhrkamp

Ich wollte herausfinden, ob es möglich ist, weiterhin ehrlich
und intelligent ein Liberaler zu sein, und im Fall einer positiven
Antwort wissen, welche Art liberaler Überzeugung man heute
annehmen sollte.

John Dewey

Aber wenn die Worte ›frei‹ und ›Freiheit‹ auf irgendwas anderes angewendet werden als auf Körper, werden sie missbraucht;
denn was sich nicht bewegt, kann nicht behindert werden.

Thomas Hobbes

Freiheit kann, und das kann man heute wissen, nicht durch einen Gegenbegriff definiert werden, sondern nur durch die kognitiven Bedingungen ihrer Möglichkeit.

Niklas Luhmann

Einführung

Bei historischer Betrachtung wird deutlich, dass jeder Entwurf von Freiheit immer relativ zu den Kräften ist, die zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort zunehmend als unterdrückend empfunden wurden.

John Dewey

Das Nachdenken über dieses Buch begann aus dem diffusen Bedürfnis, die gegenwärtige politische Situation zu betrachten, ohne noch einen Text über Orbán, Trump oder das Ende der Demokratie zu verfassen.1 Mehr interessiert mich die – mitunter mit falscher Selbstverständlichkeit behandelte – Frage, was genau gegen eine solche Politik in einem historischen Augenblick verteidigt werden soll, in dem Mussolinis Feststellung, alle politischen Experimente der Gegenwart seien antiliberal,2 wieder zutrifft. Demokratische Rechtsstaaten müssen mit ihren Ordnungen im Ganzen auch vielerlei im Einzelnen verteidigen, das sich schwerlich überzeugend verteidigen lässt. Wenn ich versuche zu zeigen, dass es sich lohnt, bei dieser Verteidigung an die liberalen Traditionen anzuknüpfen, so ist dies auch die Übernahme rechter und linker Gegnerbeschreibung. Wenn ich versuche, das liberale Projekt fortzudenken, dann auch, weil der Liberalismus aus einer bloß defensiven Haltung nicht zu retten ist.3 Das ist keine neue Einsicht, aber eine, die schon einmal dabei geholfen hat, die verbreitete Erwartung seines Endes zu widerlegen.4 Damit steht das Buch in einer Reihe mit anderen Versuchen, die liberale Tradition gegen ihre allgegenwärtige Diskreditierung neu zu finden oder zu erfinden.5

Wie andere wird auch dieses Buch am Dilemma der Geschichtlichkeit politischer Theorie leiden. Setzt man einfach einen eigenen Entwurf als »liberal«, der unter Umständen auch anders heißen und den man eng6 oder weit7 fassen kann? Oder sucht man nach historischer Akkuratesse, um die Geschichte des Liberalismus als eine solche beliebiger Umdeutungen8 oder einer weiten, aber widerspruchsreichen liberalen Ökumene9 zu beschreiben? Dieses Buch wird den ersten Weg einschlagen, ohne aber die vielfältige Geschichte aus den Augen zu verlieren, aus der es sich bedienen wird. Der Umgang mit dem Begriff Liberalismus ist auch deswegen schwierig, weil er nicht nur historisch, sondern auch kulturell, sowohl diachron als auch synchron, so verschieden gebraucht wird. Richten sich die rechten Kritiker des Liberalismus10 ebenso gegen amerikanische Linke, die sich »liberals« nennen, wie gegen neoliberale Ökonomen, gegen Bernie Sanders wie gegen Friedrich August von Hayek? Teilen diese beiden gehaltvolle politische Inhalte? Die Frage lässt sich nur beantworten, wenn man das Verhältnis der Liberalismen zur Politik genauer untersucht.

Auch viele Kryptoliberale denunzieren den »Liberalismus«, ohne sich von als liberal angesehenen Positionen loszumachen, etwa der Verteidigung individueller Rechte.11 Ihnen wäre zu zeigen, dass sich aus dem Liberalismus mehr machen lässt, als sie ahnen. Sie müssten sich aber auch fragen lassen, welche politischen Risiken sie mit ihrer eigenen Inkonsistenz eingehen. Heute gibt es nach meinem Eindruck in westlichen Gesellschaften deutlich mehr in der Sache liberale Bürger und Politikerinnen als solche, die sich einzugestehen bereit wären, dass sie liberal sind. Ob dies eine gute Nachricht ist, ist offen. Die Selbstbeschreibung als antiliberal kann sich auch dann politisch verselbstständigen, wenn sie in der Sache nicht zutrifft.

Ein Problem gibt es aber auch mit denen, die sich zum Liberalismus bekennen. Bei der Beschäftigung mit angeblich liberalen Positionen fällt auf, dass sie häufig an einem Punkt die Debatte beenden, der sich aus ihren Grundbegriffen nicht rechtfertigen lässt: bei einem statischen Konzept individueller Freiheit, bei pauschaler Kritik an der Reichweite des Staates oder in einer linken Variante bei einem allgemeinen Verdacht gegen den Wert wirtschaftlichen Handelns. Die Beobachtung, dass der Liberalismus im Namen der Freiheit bestimmte Formen anstrebt und dann aufhört zu fragen, unter welchen Bedingungen diese Formen noch der Freiheit dienen, ist nicht neu. Er findet sich bei John Stuart Mill, bei der ersten Generation des britischen »neuen Liberalismus«12 und vielleicht am schönsten in einem kleinen Buch von John Dewey ausbuchstabiert.13 Auch die nonchalante Feststellung des erzliberalen Kommunitaristen Michael Walzer, in letzter Konsequenz führe der Liberalismus in den demokratischen Sozialismus,14 entstammt einem angelsächsischen Kontext, der immer offener dafür war, Liberales radikal zu Ende oder ganz anders zu denken.15

Liberale reagieren zudem auf die Herausforderungen aktueller Politik häufig damit, sich in eine imaginierte politische Mitte zu setzen – um damit im Ergebnis Politik zu vermeiden.16 Diese Geste stand bereits am Anfang des politischen Liberalismus. Dabei kann diese Mitte auf ganz unterschiedliche Pole hinweisen. Sie kann die Mitte zwischen rechts und links in einem demokratischen System bezeichnen oder die Mitte zwischen Kommunismus und Faschismus als liberal-demokratisches System17 oder die Mitte zwischen sozialistischem und kapitalistischem Wirtschaftssystem.18 Heute ist die Lage zusätzlich dadurch unübersichtlich, dass sich eine ausdrücklich als liberal bezeichnende Politik jedenfalls im europäischen Kontext häufig als rechtsliberal erweist, ohne dies anzuerkennen, während liberale politische Theorien Liberalismus ebenso implizit mit Linksliberalismus gleichsetzen. Die Zurückweisung der Rechts-links-Unterscheidung dürfte aber, so eine Vermutung, dem Liberalismus politisch im Ganzen nicht guttun.

Die liberalen Traditionen stecken voller Widersprüche – und das ist für eine politische Ideologie gar nicht schlecht. So wird es möglich, das genuin politische Feld der Koalitionsbildung zu betreten, in der Widersprüche zurückgestellt werden können. Sie müssen in Politik aufgelöst werden, deren Inhalte sich nicht einfach aus liberalen Doktrinen ergeben, diese aber auch nicht widerlegen.

Dieses Buch wird keine Erklärungen für die Krise des Liberalismus liefern, sondern eine Folie, vor deren Hintergrund sich Argumente für die Beurteilung der politischen Verhältnisse entwickeln lassen. Es ist kein wissenschaftliches, schon gar kein politikwissenschaftliches Buch, sondern ein politischer Reiseführer, der ein liberales Orientierungsmuster entwirft; der Versuch eines Teilnehmers, sich einen Reim auf die Verhältnisse zu machen, der kohärent genug ist, um durch die politische Landschaft der Gegenwart zu führen. Dies bringt keine starke Anleitung zu richtiger Politik, sondern eine an eigenen liberalen Grundsätzen orientierte Beobachtung, die ihrerseits nicht politisch neutral (dieses liberale Unwort) operiert. Die Traditionen des Liberalismus erwiesen sich im Übrigen bei der Lektüre als so reichhaltig, dass nichts, was sich hier findet, Originalität beanspruchen kann.

Mit diesem Buch schließe ich an eigene Vorüberlegungen an, inhaltlich ist ein Aufsatz zur Lage des liberalen Bürgertums im Merkur zu nennen.19 Wer den Aufsatz gelesen hat, kann dieses Buch als Versuch nehmen, die Position darzulegen, aus der der Aufsatz geschrieben wurde. Die Form dieses Buchs orientiert sich an einem über zehn Jahr alten Band zur Demokratie.20 Die folgenden Überlegungen sind pessimistischer, weniger didaktisch, erratischer und mögen darin auch die Zeiten reflektieren, in denen der Verfasser lebt. Dass seine Fertigstellung mit einer Pandemie zusammenfiel, hat diese Tendenzen vermutlich verstärkt. Für freiwillige und unfreiwillige Anregungen danke ich herzlich Isabelle Ley, Christian Neumeier, Florian Meinel, Carlos Spoerhase und besonders Anette Fasang und Nils Weinberg. Heinrich Geiselberger schließlich hat sich als Lektor um dieses Projekt noch mehr bemüht als ohnehin üblich.

Zu Konzeption und Lektüre

Dieses Buch muss nicht linear von Anfang bis Ende gelesen werden. Die Querverweise sollen es erleichtern, an verschiedensten Stellen die Lektüre zu beginnen und fortzusetzen. Warum aber seine mosaikhafte Form? Für mich stellt sie die einzige Möglichkeit dar, Probleme in eine äußere Ordnung zu bringen, ohne einen starken systematischen Anspruch zu erheben. Einen solchen könnte ich intellektuell ohnehin nicht einlösen, er würde aber auch der grundlegenden Intuition dieses Buchs entgegenstehen, dass nämlich systematische philosophische Entwürfe politischer Herrschaft nicht in der Lage sind zu verarbeiten, wie Politik funktioniert oder funktionieren sollte.

Dazu versuche ich zunächst, die historische Vielfalt liberaler Entwürfe aufzufächern und für die Gegenwart zu aktualisieren (1.). Es verstand und versteht sich nicht von selbst, was gemeint wird, wenn von »Liberalismus« die Rede ist (1.1). Diese Traditionen des Liberalismus sind widerspruchsreich, und diese Widersprüche begleiten uns bis in die Gegenwart (1.2). Der erste Teil endet mit der Entwicklung eines Konzepts von »Freiheitsgraden« (1.3): Mit diesem aus der Mechanik kommenden Begriff sollen drei Dimensionen der Freiheitswahrnehmung bezeichnet werden: Freiheit kann sowohl individuell als auch gemeinschaftlich, sowohl rational gerechtfertigt als auch willkürlich, sowohl durch Regeln formalisiert als auch außerhalb einer formalisierten Ordnung wahrgenommen werden. Damit steht der Rekurs auf die Mechanik für einen reduktionistischen Freiheitsbegriff, der Beweglichkeit beschreibt, ohne an eine ausgebaute Theorie der Subjektivität anzuknüpfen – ganz im Sinne des Eingangszitats von Thomas Hobbes, der eben auch ein bedeutender Mechaniker war.21 Zu bewahren sind von Hobbes der Verzicht auf gesteigerte Erwartungen an die Rationalität innerer Willensbildung und der körperliche Ausgangspunkt aller Arten von Freiheit. Dem aber muss eine Abkehr vom Naturalismus der hobbesschen Formulierung auf dem Fuß folgen. Freiheit knüpft an physische Bewegung unvermeidbar an, sie wird aber unter modernen Bedingungen zu einer »heuristische[n] Konstruktion von Alternativen«,22 die in manchen Gesellschaften eine größere Rolle spielt als in anderen.23 Freiheit setzt freiheitsbegünstigende Situationen voraus, die sich gestalten lassen.24 Das bedeutet nicht, Freiheit, nur weil sie sich nicht beweisen lässt,25 als Illusion zu verstehen, die es erlaubt, determinierte Abläufe anders nachzuerzählen. Solange sich Kontingenzen auch empirisch aufzeigen lassen, kann von Freiheit in einem beschreibenden Sinn die Rede sein.26 Mehr ist für eine politische Konzeption von Freiheit nicht nötig. Wenn man bestimmte Ereignisse wie namentlich Revolutionen voraussehen kann, verliert die Kategorie der Freiheit freilich ihre Plausibilität.27

Dieser Ansatz soll es ermöglichen, ein bestimmtes Verständnis von Liberalismus mit einem Begriff von Politik zusammenzuführen, der diese nicht auf öffentliche Vernunft reduziert, sondern der verarbeiten kann, dass gemeinschaftliches Handeln eigenen Mechanismen folgt, die sich nicht als Aggregation individueller Handlungen und ihrer Rechtfertigung verstehen lassen. Politik ist eine Praxis, in der Gemeinschaften ihre eigene Vergemeinschaftung nicht hinnehmen, sondern denaturalisieren: beobachten, bewerten und als veränderbar behandeln (2.).

Das Verhältnis von Politik und Freiheit, das sich aus dem Ansatz der Freiheitsgrade ergibt, auszubuchstabieren ist Gegenstand des zentralen Teils des Buchs (3.). Wenn Freiheit auf so unterschiedliche Arten ausgeübt werden kann, dann ergeben sich daraus zunächst Konsequenzen für einige klassische Elemente der politischen Theorie (3.1). Freiheit besteht dann auch darin, die Form ihrer Inhaberschaft offenzuhalten, also Individuen (3.1.1) und Gemeinschaften (3.1.2) als gestaltbare Einheiten zu verstehen. Dazu gehört auch, die Güterzuordnung samt der ihr zugrunde liegenden Kriterien wie beispielsweise Verdienst zu öffnen (3.1.3). Schließlich relativiert sich damit auch die Bedeutung von Gründen (3.1.4), einem großen Thema zeitgenössischer liberaler Theorie, für die Politik.

Wie politische Vermittlung (3.2) im Angesicht des Anspruchs auf Freiheitlichkeit funktionieren kann, untersuche ich zunächst mit Blick auf ihre räumliche (3.2.1) und ihre zeitliche Dimension (3.2.2). Dem Liberalismus wird nachgesagt, er habe keinen Sinn für örtliche Verwurzelung. Dieser Einwand verflüchtigt sich, wenn man gemeinschaftliche Freiheit individueller Freiheit gleichstellt. Liberale Politik hat allerdings eine charakteristische Vorliebe für eine gegenwartsnahe Lösung von »Sachproblemen«, die sie oft dazu führt, die politische Seite von Politik zu verdrängen. Die zentrale Form politischer Vermittlung in der Moderne wird mit dem Begriff der Öffentlichkeit beschrieben (3.2.3). Ein nicht zu kategorial argumentierender Liberalismus wird die Erwartungen an deren Funktionieren bescheiden formulieren und Fragmentierung für ein mitunter nützliches, jedenfalls unvermeidliches Phänomen halten. Dass politische Vermittlung nur über ideologische Positionen verläuft (3.2.4), die mit Mitteln von Macht und Gewalt (3.2.5) operieren, wird von liberalen Modellen zu oft mit Schrecken oder normativer Ablehnung zur Kenntnis genommen. Es lässt sich für Politik aber nicht überwinden.

Politik geht nicht in Organisation auf, sie ist allerdings auf eine Form der Organisation, auf Herrschaft (3.4), angewiesen, die, auch wenn sie nicht liberal ist, doch stets durch Normen verfasst wird, ohne welche die Organisation von Ämtern und die Übernahme politischer Verantwortung nicht möglich wären (3.4.1). Für liberale Herrschaft spielt Recht eine herausgehobene Rolle, freilich weniger als eine von außen kommende Begrenzung denn als eine interne Ausdifferenzierung der politischen Organisation (3.4.2). Auch wenn der Liberalismus spätestens seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts seinen Frieden mit der Demokratie gemacht hat, kann er bis heute mit einem operativen Modell wenig anfangen, das sich nicht anders denn als Mehrheitsherrschaft denken lässt. Systematisch zwingend ist das nicht (3.4.3). Ein zentrales politische Problem unserer Zeit liegt im Verhältnis von Demokratie und Kapitalismus. Dass der Liberalismus in dieser Debatte auf der Seite des Kapitalismus steht, wird gerne behauptet, ist aber keineswegs selbstverständlich (3.4.4). Schließlich spiegeln sich die Widersprüche des Liberalismus auch in seinem Verhältnis zur internationalen Politik, etwa darin, dass er die Rechtfertigung für kriegerisches Handeln einerseits zu rationalisieren sucht, diese Ratio aber andererseits mehr Kriegsgründe anzubieten weiß als die klassische Machtpolitik (3.4.5).

Das Buch endet mit praktischen Ausblicken (4.) zur Frage, wie sich Politik heute beschreiben lässt (4.1), wie sich die politische Lagerbildung darstellt (4.2), zwei Exkursen, die die Kategorien des Buchs auf ökologische Fragen und auf die Bedingungen der Pandemie anwenden (4.3, 4.4), und einem kleinen Katechismus dazu, welche praktischen Konsequenzen all dies für ein liberales Politikverständnis heute haben könnte (4.5).

Eine der Thesen dieses Buches lautet, dass sich der Liberalismus auf linke und rechte Positionen verteilen sollte, statt den Versuch zu unternehmen, diese Unterscheidung zu unterlaufen.28 Was bedeutet das für die Position des Verfassers? Man könnte sie als sozialliberal bezeichnen in einem doppelten Sinn, der sich nicht direkt auf parteipolitische Größen bezieht. Das Attribut sozialliberal verweist zum einen auf die soziale Gemachtheit von Freiheit, die nicht als natürliches Phänomen behandelt werden kann. Es verweist zum anderen darauf, dass Freiheit von Gemeinschaften in Gemeinschaften wahrgenommen werden kann und diese Formen der Freiheitswahrnehmung nicht abgeleitet oder sekundär sind. Ob ein sozialliberales Modell notwendig auch ein linksliberales impliziert, mag das Publikum beurteilen, falls es denn von Interesse ist (→ 318).

1. Symptome des Liberalen

1. Ein politischer Liberalismus? Liberalen Theorien wird gerne vorgehalten, sich für »politische Realitäten« nicht zu interessieren,1 sich mehr damit zu beschäftigen, ob eine Gemeinschaft eine Entscheidung rechtfertigen kann, als wissen zu wollen, wie sich für diese Entscheidung Mehrheiten organisieren lassen. Auch wenn man genauer klären müsste, was in diesem Vorwurf unter »Realität« zu verstehen ist,2 fällt auf, dass namentlich die im Gefolge von John Rawls als liberal bezeichneten Theorien mehr an begrifflicher Konsistenz denn an der Beobachtung historischer oder politischer Praktiken orientiert sind. Das unterscheidet sie von Vorläufertheorien, etwa bei Montesquieu, Spinoza, Hume, Locke oder Mill. Die Bedeutung politischer Auseinandersetzungen ist in der liberalen Theorie schmal geworden. Politik kommt in ihnen als die Lücke vor, in die »das liberale Regiment der Vernunft«3 nicht vordringen kann. Sie gilt nicht als der Raum, der Vergemeinschaftung konstituiert. Dies erkennt man auch daran, wen diese Theorien adressieren: weniger Bürgerinnen, die sich politisch in einem Gemeinwesen orientieren wollen,4 als Verfassunggeber oder Verfassungsrichter, die neue Ordnungen im Ganzen entwerfen oder beurteilen sollen.5 Ob sich die heutigen Theorien des Liberalismus mit der Logik politischer Prozesse systematisch versöhnen lassen, ist ungewiss. Doch wäre es den Versuch wert, sich nicht damit abzufinden, dass Liberalismus mit Abwesenheit oder Verdrängung von praktischer Politik gleichgesetzt wird. Dazu wäre zunächst zu zeigen, wie schwer es ist, eine liberale Tradition auf den Begriff zu bringen, um anschließend eine Perspektive darauf zu gewinnen, wie diese weiterentwickelt werden könnte.