I.

Angefangen hatte es mit der Frau im blauen Mantel.

Im Rückblick erschien ihm seine amateurhafte Vorgehensweise fast lächerlich. Wie verängstigte Vögel hüpften seine Augen von Detail zu Detail, saugten sich für Augenblicke an dem Saum des Mantels fest und stießen sich unzufrieden davon ab, um die Umgebung zu kontrollieren. Gesichter flogen vorbei und Gesprächsfetzen verwehten. Der Platz mit dem Marktbrunnen verengte sich zu einer Gasse, vor der der Autoverkehr nach links wich, weil rotbäuchige Schilder mit weißen Balken die Einfahrt verweigerten.

Pflastersteine wetteiferten darum, es den modischen Absätzen der krampfhaft um Haltung bemühten Damenschuhe schwer zu machen und bildeten eine strenge Grenze zu der willfährigen Kolonie schmuckloser grauer Platten, die sich den Tritten der Fußgänger ohne Widerstand ergaben.

Er war sich nicht sicher, was seine besondere Aufmerksamkeit erregt hatte, glaubte aber, dass es das Blau des Mantels war, der sich um die Waden der Frau bauschte. Selbst an Tagen, die er in selbstzufriedener Gelassenheit verbrachte, war blau nicht seine Farbe. Am ehesten zu ertragen gewesen wäre ein gedecktes Dunkelblau, das bescheiden und seriös daherkam. Für Kinder mochte auch ein unschuldiges Hellblau angemessen sein, das ihre Unvoreingenommenheit kundtat. Was sich allerdings vor ihm seinen Weg bahnte, war ein stechendes Stahlblau, kompromisslos und Übelkeit erregend, weder fröhlich und unbekümmert wie ein flatterhaftes Gelb noch beruhigend und matronenhaft wie ein Tannengrün.

Er scherte im Strom der Flanierenden nach rechts aus, was ihn einige Anstrengung kostete, da er sich unbewusst gerne nach links hielt. In einem Kneipengespräch hatte ihn ein flüchtiger Bekannter darüber belehrt, dass wissenschaftliche Experimente den Beweis erbracht hatten, dass die Anhänger von Verschwörungstheorien immer einen Hang zur Abweichung nach links verspürten, während nüchterne Charaktere auch mit verbundenen Augen eine gerade Linie zu halten vermochten. Seltsamerweise hatte ihn die Bemerkung stärker getroffen, als er sich zugestehen wollte und so stellte er sich bei jeder Gelegenheit auf die Probe.

Er redete sich ein, dass seine inzwischen beträchtlichen Kenntnisse über Beschattungstechniken danach verlangten, von Zeit zu Zeit Stellungswechsel vorzunehmen, um nicht die Aufmerksamkeit des Objektes zu erregen. Er beschleunigte seinen Schritt und klopfte mit der Hand zum wiederholten Mal auf seine Jackentasche. Sein wichtigstes Werkzeug für diesen Tag war an seinem Platz und mit einem Griff sicher zu erreichen. Wenn es soweit war, musste es schnell gehen. Es musste natürlich aussehen und durfte keinen Verdacht erregen.

Die Frau im blauen Mantel fädelte mit kurzen energischen Schritten in eine Gruppe müßig tratschender Hausfrauen mit prall gefüllten Einkaufstaschen ein und drehte sich ruckartig um. Seine Augen hafteten gerade an den unmodischen Keilabsätzen ihrer Schuhe, die den militärisch präzisen Schwenk mit vollzogen. Die richtige Reaktion wäre gewesen, mit gesenktem Kopf im gleichen Rhythmus wie bisher an dem Objekt vorbeizuschlendern, ohne es eines Blickes zu würdigen oder aber die fortgeschrittene Version zu bemühen und den Blick über den Scheitel ihres dunklen Haares zu heben und angelegentlich suchend in die Ferne zu schauen, während man den Gesamtausdruck ihres Gesichtes auf sich wirken ließ, um zu entschlüsseln, welche Motivation hinter ihrem plötzlichen Manöver stand.

Seine Gedanken beschäftigten sich noch mit den formlosen Waden unter den cremefarbenen Strümpfen, die beim Gehen nicht die Teilung in separate Muskelbündel aufwiesen, aus denen man auf die sportliche Betätigung des Objektes schließen konnte. Er blieb mit der gleichen unnatürlichen Heftigkeit stehen wie die Verfolgte und verkrampfte sich augenblicklich, als ihm klar wurde, dass er sich mit der Bewegungslosigkeit entblößte und preisgab, bar jeder natürlichen Deckung. Im Widerstreit mit seinem Fluchtinstinkt schlenkerte er hilflos mit den Armen und brachte schließlich einen hilflosen Vertuschungsversuch zustande, der darin bestand, dass er umständlich nach einem Taschentusch kramte und sich ohne ersichtlichen Grund die Oberlippe abwischte, während er den Blick von dem Objekt abwandte.

Ihm war nicht entgangen, dass ihn die Frau forschend musterte, ihn taxierte und wieder losließ, um ihre hellbraune Handtasche zu durchsuchen, die sie beim Gehen unnatürlich weit von ihrem Körper weg hielt, als habe sie der Tasche die Zusage gemacht, dass diese keinesfalls mit dem Mantel in Berührung kommen müsse.

Tief Luft holend wandte er sich um und ging einige unschlüssige Schritte, bis er ein Schaufenster fand, das es ihm erlaubte, das Spiegelbild des Objektes in Augenschein zu nehmen. Die Frau fingerte eine Zigarette aus einer Schachtel und steckte sie unangezündet zwischen ihre Lippen. Ihr Gesicht war ein bleiches Oval ohne besondere Ausdruckskraft bis auf die entschlossen zusammengepressten Lippen, die die schlanke Zigarette malträtierten. Dem Verfolger fiel auf, dass er die Frau nur mit Mühe identifizieren könnte, wenn sie sich des Mantels entledigte, dessen marktschreierische Präsenz wie ein Leuchtturm hervorragte.

Seine Versäumnisse wogen nicht weniger schwer, wenn man zu seinen Gunsten in Betracht zog, dass er das Objekt schon eine geraume Zeit verfolgt und niemals aus den Augen verloren hatte. Es war ihm auch gelungen, die Handtasche als hochpreisige Ware zu identifizieren, die sich in ihrer gediegenen Langweiligkeit an das graue Kostüm anpasste, das der monströse Mantel bei jedem Schritt für kurze Augenblicke freigab.

Sie hatten gemeinsam Boutiquen besucht und Kaufhäuser durchwandert, wobei er stets eine respektvolle Entfernung einhielt. Nur ein einziges Mal war er weniger zaghaft gewesen und hatte die Distanz zwischen ihnen rasch verringert, um noch die Duftwolke zu erreichen, die sie aus einem umständlich ausgewählten Probefläschchen in Richtung ihres Halses gesprüht hatte, bevor sie zwischen den Werbewänden ihren Zickzacklauf fortsetzte. Jede Vorsicht außer Acht lassend hatte er unter dem missbilligenden Blick einer maskenhaft geschminkten Verkäuferin genießerisch die sich verflüchtigenden Reste von Nelke und Johannisbeere erschnuppert. Die Frau hatte ihn nicht enttäuscht. Sie hatte weder zu einer unpassenden sportlichen Note gegriffen, die einen jugendlich sehnigen Typus vorzuspiegeln versuchte, noch zu einer blumig unbeschwerten oder gar betäubend vulgären Mischung Zuflucht gesucht, wie es Frauen taten, die im Verblühen begriffen waren und sich eine Ausdünstung schufen, die vorspiegelte, dass auch sie noch vom Leben zum Tanz aufgefordert würden.

Abgesehen von dem unkleidsamen Mantel und der Tatsache, dass sie im Begriff stand, einen erneuten Selbstmordversuch zu unternehmen, verhielt sie sich in der Einkaufsumgebung in­stinktsicher wie jede andere Frau und blieb von Zeit zu Zeit stehen, um Waren prüfend zu betrachten oder zu betasten. Vielleicht erlahmte ihr Interesse ein wenig zu schnell, vielleicht verrieten ihre Gesten die tiefe Resignation, die sich in ihrem Inneren eingenistet hatte – er hätte es nicht mit Gewissheit sagen können.

Es war mehr eine Ahnung, die aus dem Wissen entsprang, dass die Frau mit dem unpassend zusammengestellten Ensemble aus Kostüm, Mantel und Tasche vor wenigen Tagen ihren Sohn verloren hatte, der sich in einem Moment der Unachtsamkeit von ihrer Hand losgerissen hatte und vor eine Straßenbahn gelaufen war. Eine Zeitung hatte ein Bild von der zusammengesunken Dasitzenden veröffentlicht. Sie hatte ein gelbes Minikleid getragen, das zu dem Anlass, einen Einkaufsbummel zu machen und ihren Sohn in den Tod zu schicken, schlecht gewählt war.

Dieses Mal hatte er die aufsteigende Erregung nicht ignoriert und den Fotografen kontaktiert, der ihm nach anfänglichem Sträuben gegen eine großzügige Vergütung eine Adresse nannte. Für die Welt war der Vorfall eine Momentaufnahme gewesen, die alsbald dem Strudel des Vergessens anheimgefallen war. Anders war es für die Frau im blauen Mantel und ihren Schatten, der getreulich in der Nähe des Reihenhauses mit dem unfertigen Garten wartete. Sie war die einzige Bewohnerin und er hatte keine Sorge, dass er sie nicht erkennen würde.

Er wusste, dass er lange warten würde, denn die Frau hatte sich noch am Unfallort mit einer Nagelfeile die Pulsadern aufgeschnitten, ohne sich um die Überreste ihres Kindes zu kümmern. In ihrer Betäubung war sie handlungsfähig geblieben und hatte die Konsequenz gezogen, bevor man sie versorgte und am Abend in die Obhut ihres geschiedenen Mannes übergab, der sein überhebliches Lächeln gegen eine Miene feindseliger Besorgnis eintauschte. Ein zweites Bild zeigte sie schweigend gegeneinander gelehnt wie erschöpfte feindliche Kämpfer, die sich auf eine Waffenruhe geeinigt hatten. Schon am nächsten Tag fuhr ein Krankenwagen vor dem Haus vor und entführte die von Beileidsbesuchen und einem Medikamentencocktail zu Tode Geschwächte auf die Intensivstation eines Krankenhauses, wo man die zum Selbstmord Entschlossene reanimierte.

Was ihn fesselte, war die Geduld, mit der die Frau ihre systematische Selbstzerstörung betrieb. Sie war erfüllt von einer zähen Sturheit, die ihre Handlungen diktierte und ein Aufweichen der bürgerlichen Konventionen nur an den Rändern der Existenz zuließ, wo es um passende Kleidung oder gesellschaftlich akzeptierte Verhaltensmuster ging. Er sah den blauen Mantel und die unangezündete Zigarette als Indizien an. Ganz sicher war er sich seiner Sache, als keine der Stationen, die sie bei ihrer Stadtbegehung gestreift hatten, Kaufinteresse auslöste. Natürlich hätte es geholfen, wenn sich die Frau im blauen Mantel auffällig verhalten hätte, wie jene es tun, die ihren Verstand auf eine publikumswirksame Art verlieren und sich laut klagend in Fußgängerzonen ihrer Kleidung entledigen, sich die Haut zerkratzen oder sinnlos alkoholisiert vor sich hin brabbeln.

Die äußerlich Funktionalen jedoch, die mit einer stupiden Effizienz zerbrachen, ohne eine Scherbe zu verlieren, waren schwer aufzuhalten, denn sie verhielten sich allenfalls ein wenig sonderbar wie vorübergehende Randexistenzen, denen man zutrauen konnte, dass sie sich bald wieder fangen würden.

Die Frau im blauen Mantel hatte ihren Weg fortgesetzt und strebte einer Stichstraße zu, die sie an einigen Antiquitätenläden vorbei zur lärmenden Betriebsamkeit der Hauptstraße bringen würde. Er konnte sich nur schwer aus seinen Gedankengebäuden lösen und war froh, dass er ihr wegen der beinahe erfolgten Enttarnung ohnehin einen Vorsprung gewähren musste. Aus den Augenwinkeln verfolgte er den Mantel. Er drehte sich einmal um die Achse wie ein Tourist, der sich nicht sicher ist, auf welchem Weg er seinen Müßiggang fortsetzen soll und schaute wieder in ihre Richtung. Die Gasse lag wie ausgestorben da. Er verfiel in einen hektischen Trab und stieß gegen einen Stapel Bücher, die ihre fleckigen Einbände präsentierten wie Wundmale. Er fluchte. Der ältliche Ladenbesitzer schüttelte hinter seinem Rücken mit geübter Geste eine Faust und stimmte ein undefinierbares Gezeter an, als seine Schätze auf die Erde polterten. Hektisch blickte er um sich. Er hatte sie verloren.

Frustriert stocherte er mit einer Hand hinter sich herum, bis er mit dem wackligen Büchertisch Kontakt hatte, der ihn daran zu hindern wagte, die Früchte seiner mühevollen Arbeit zu genießen. Ohne seinen Blick von den reglosen Schatten der Gasse abzuwenden, stieß er in den verbliebenen Bücherstapel hinein, der sich in schiefer Formation auf der Sperrholzplatte festkrallte. Zwölf Bände einer bei Touristen beliebten Esoterikreihe von zweifelhaftem intellektuellem Niveau rutschten über die Kante des provisorischen Tisches. Mit einem Wehlaut raffte der Antiquar, der seine zur Verkaufsförderung zur Schau getragene gelassene Bohemien Attitüde verlor, die Druckwerke an sich, kaum dass sie den Boden berührten. Er strich über ihre gekrümmten Rücken und inspizierte ihre Seiten, nicht ohne giftige Blicke in den Rücken des rücksichtslosen Fremden zu senden und halbherzig Verwünschungen zu murmeln, die aus merkantilen Gesichtspunkten die naheliegende Forderung nach Schadensersatz beinhalteten.

Die Wut des Verfolgers war noch nicht verraucht. Vorsichtig setzte er einen Fuß vor den anderen, ohne sich um den Alten zu kümmern oder daran zu denken, dass die ersten Gaffer in die Gasse schauten, um sich das Schauspiel nicht entgehen zu lassen. Die Frau musste den Augenblick der Unaufmerksamkeit genutzt und sich im Laufschritt entfernt haben, als er sich noch gockelhaft drehte. Ein Windstoß fegte an den unscheinbaren Läden entlang und trieb Papier und Laub vor sich her wie eine Lumpenarmada. Der Verkehrslärm der nahen Hauptstraße schwoll in unregelmäßigen Abständen zu einem dissonanten Klangbrei an und zerfiel wieder in gut unterscheidbare Melodien aus Rattern, Klingeln und Hupen.

Der Verfolger schaute im Vorwärtsgehen nach oben, als könnte der schmale Ausschnitt aus jagenden Wolkenformationen eine Quelle der Inspiration sein. Er fühlte, wie die Niedergeschlagenheit in seinen Körper kroch, und spürte die tiefe Müdigkeit, die die Reste von Adrenalin verdrängten.

Die Hand war ansatzlos aus dem Halbdunkel eines Treppenabsatzes geschnellt und hatte ihm eine schallende Ohrfeige versetzt. Er hielt sich sein Gesicht und rieb sein Ohr, während sich Taubheitsgefühl und Scham ein Stelldichein gaben. Die energische Hand holte erneut aus und hielt inne, als sie gewahr wurde, dass sich der Gezüchtigte in einem Reflex ängstlich duckte und hinter seinem angewinkelten Ellenbogen unzureichenden Schutz suchte. Die Hand sank herab und der blaue Mantel löste sich aus dem Hauseingang. Das ovale blasse Gesicht der Frau schwebte die ausgetretene Sandsteintreppe herab und beugte sich zu dem Gesicht des Mannes. Die Zigarette war verschwunden.

Die Augen der Frau waren grau und intensiv. „Perverser“, sagte der Mund und betonte jede Silbe mit schneidender Schärfe. Er sagte es noch einmal, dieses Mal lauter und bestimmter. Das böse Wort prallte gegen eine gelbliche Hauswand und füllte die Gasse mit seinem Klang. Der Ladenbesitzer griff es eilfertig auf, ohne der Frau zu Hilfe zu eilen. Mit in die Hüften gestemmten Ärmchen wiederholte er eifrig nickend „So ein Perverser“, als ob die plakative Anschuldigung die Erklärung für vieles wäre, was jemandem an einem solchen Tag widerfahren könne. Neugierige Passanten kamen vorsichtig näher, um die Szenerie in Augenschein zu nehmen. Jemand rief nach der Polizei. Erste Andeutungen von einer versuchten Vergewaltigung machten die Runde. Der Antiquar hob den näher Tretenden eine Auswahl Bücher entgegen. Mit Perversen verkaufte man Bücher.

„Tun Sie es nicht!“

Es war mehr ein Flüstern, tonlos und brüchig. Noch immer seine Wange massierend wiederholte er sich in bittendem Tonfall, als müsse er in der Anzahl der Äußerungen mit ihr gleichziehen.

Ihre Haltung änderte sich und das Leben in ihren Augen erlosch. Ohne ein Wort wehte ihr Duft an ihm vorbei, der Mantel streifte seinen Kopf. Er wagte es nicht sie festzuhalten. Seine linke Hand hatte sein Mobiltelefon ertastet, aber es war zu spät, das Foto zu machen. Es wäre ein annehmbares Foto gewesen, en passant aus der Hüfte geschossen, mit ihren zu Eis erstarrten Gesichtszügen und einem Teil des Mantelkragens als Motiv. So aber blieb ihm nichts weiter als die öffentliche Demütigung und das Gefühl des Versagens. Die Frau im blauen Mantel gehörte ihm nicht mehr. Er würde nicht zu einem neuen Versuch ansetzen, denn er hatte das unsichtbare Band zwischen ihnen zerstört. Die Zeit verrann ungenutzt.

Das Kreischen der Straßenbahn übertönte die gellenden Rufe, die die Hauptstraße in Aufruhr versetzten. Verwirrt erhob er sich und schüttelte seine Benommenheit ab. Martinshörner mischten sich mit ihrer penetranten Zweitonmelodie in die Geräuschkulisse ein und übernahmen die Vorherrschaft. Er stürzte vorwärts. Eine schwache Sonne wetteiferte mit pulsierenden blauen Lichtern, die Notfallmedizinern und Polizei ihre Autorität verliehen.

Mit groben Armbewegungen zerteilte er eine reglose Menschenmenge, die beständig zunahm und einen Halbkreis um ein Knäuel von Schienensträngen bildete. Hände überdeckten zum Zeichen des Entsetzens die Münder und ein gut gekleideter Mann besaß den Anstand, aus Ehrerbietung seinen Hut zu ziehen. Sein dünnes graues Haar zauste im auffrischenden Wind.

Ein Notarzt nahte von der anderen Seite. Die grell orangefarbenen Streifen auf seiner Jacke leuchteten voller Hoffnung, während sein Gesicht ausdruckslos und professionell war. Einige Polizisten versuchten die Menge zurückzudrängen. Ohne Murren folgten sie mit einiger Verzögerung den lauten Anweisungen der Ordnungshüter, um an anderer Stelle wieder in die Gafferstellungen zu drängen wie ein gärender Teig.

Der Verfolger aber trat mit gemessener Autorität an den blauen Mantel heran, der von den stählernen Radreifen der Bahn mit tonnenschwerer Zärtlichkeit festgehalten wurde. Er schwenkte mit geistesabwesender Geste seinen Bibliotheksausweis, um den Eindruck zu verfestigen, dass er in offizieller Ermittlungsfunktion und nicht als sensationsgieriger Leichenfledderer am Ort sei. Niemand würde dies in einem solchen Moment infrage stellen. Und mehr als einen Moment würde er nicht brauchen.

Die Frau im blauen Mantel lag in der Pose einer Gekreuzigten unter der Straßenbahn, die sie noch ein Stück mitgeschleift haben musste. Der Notarzt sah sich nach seinen Helfern um, denen er rasche Befehle zubellte. Infusionsbeutel und dickbäuchige Plastikkoffer wurden herbeigeschleppt. Der Verfolger beugt sich nach vorn. Er hatte keinen Blick für den abgetrennten Fuß, der noch im unversehrten Schuh stak. Er interessierte sich nicht für die unnatürlich verkrümmte Haltung der Schwerverletzten. Er war immun gegen die hastige Stimme der Marktfrau in seinem Rücken, die ihrer schockierten Nachbarin zum wiederholten Mal versicherte:

„Sie ist mit ausgebreiteten Armen vor die Straßenbahn gelaufen. Mit ausgebreiteten Armen, als wolle sie sie umarmen.“

Er interessierte sich nur für das Gesicht der vom Tod Gezeichneten, bevor ihre Züge hinter einer Sauerstoffmaske verschwinden würden.

Mit geschäftsmäßiger Routine und ohne den Kopf zu heben, blaffte ihn der Arzt an, er behindere die Rettungsmaßnahmen, wenn er hier herumlungere. Es gäbe noch nichts zu ermitteln. Er zeigte alle Anzeichen einer in vielen Einsätzen geübten Empörung, die keine weiteren Konsequenzen haben würde.

Mit einem Seitenblick vergewisserte sich der Verfolger, dass die Aufmerksamkeit der Menge auf eine lärmend heranrückende Journalistenmeute gerichtet war. Der Verkehr war vollkommen zum Erliegen gekommen. Die weiter hinten eingekeilten Autofahrer hupten ihren Zorn quer über die breite Straße. Eine bleigraue Wetterwand hatte sich vor die Sonne geschoben und es begann unaufgeregt zu nieseln. Dünne Regenfäden luden ein Heer verschiedenartiger Schirme dazu ein, sich wie ein Flickenbaldachin über die wartende Menge zu schieben.

Scheren hatten die Liegende von der blauen Mantelhülle befreit. Das blasse Oval ihres Gesichtes war nicht in Mitleidenschaft gezogen. Sie stöhnte. Infusionsnadeln bissen sich in ihre Arme. Der Beschatter hatte die Kamera seines Mobiltelefons mit steifem Arm auf sie gerichtet und drückte ab. Ihre Augen trafen sich und er sagte so laut er es wagte:

„Tun Sie es nicht … ohne mich.“ Er wiederholte sanft: „Ohne mich, hatte ich vorhin gemeint.“ Sie schloss die grauen Augen. Sie schien keinen Schmerz zu verspüren. Auch der Ausdruck von Trauer und Bitterkeit war aus ihrem Gesicht gewichen. Als sie die Augen öffnete, lächelte sie.

Es war ein denkbar ungeeigneter Moment für eine Erektion, aber es gelang ihm sie zu ignorieren. Es war ein Moment der Zwiesprache mit einer fußlosen sterbenden Frau, die jeglicher Würde beraubt in einem besudelten grauen Kostüm inmitten zerschnittener Streifen eines geschmacklosen blauen Mantels in einem schmutzigen Gleisbett lag und Buße tat für den Tod ihres kleinen Jungen. Der Mann mit dem Mobiltelefon griff nach seinem Werkzeug. Das handliche Teppichmesser in der Hand, trat er rasch einige kleine Schritte näher und bückte sich. Die Sanitäter hielten irritiert inne, als er ein herrenloses Stück Saum des Mantels an sich zog und mit einem kräftigen Schnitt einen Teil davon abtrennte.

Das Unfallopfer war zum Abtransport bereit. Sie hatte viel Blut verloren. Der Mann mit dem Teppichmesser hatte eine letzte Aufgabe zu erfüllen. Ohne sich um die ärgerlichen Zwischenrufe der Sanitäter zu kümmern, tastete er nach dem Probefläschchen des Parfums, das die Frau im blauen Mantel im Kaufhaus ausprobiert hatte. Er hatte es unbemerkt eingesteckt, ohne zu wissen, wofür er es brauchen würde. Jetzt wusste er es. Der Nieselregen und der Tod hatten den angenehmen Geruch der Frau weggewischt. Es roch feucht und erdig und nach Vergänglichkeit. Der Mann wischte sich die Regenspuren aus der Stirn.

Er lief dicht neben der Trage her und es gelang ihm, das kleine Gefäß über ihren Oberkörper zu halten. Der Sprühstoß blieb fast unbemerkt, zumal es einigen Journalisten gelungen war, die löchrige Absperrung zu überwinden und mit Kameras und Mikrofonen bewaffnet am Maul des Krankenwagens zu ihnen zu gelangen. Befriedigt ließ sich der Mann aus der Phalanx der Nachrichtenhändler herausfallen. Es roch nach Nelken und Johannisbeere. Lediglich einer der Sanitäter, der mehrfach versucht hatte den Arm des Mannes zur Seite zu drücken, glaubte zu wissen, was geschehen war und rief wütend über seine Schulter hinweg:

„Du Perverser!“

Der Mann lächelte und drehte das Stück blauen Stoff zwischen seinen Fingern, während er mit weit ausholenden Schritten davonlief. In Zukunft würde er seine Sache besser machen.

II.

Sie sah auf ihre Hände. Sie lagen vor ihr wie zwei Fremdkörper, rot aufgedunsen und knotig, als ob sie sich in harter Fron Erfrierungen, rheumatische Verformungen und eine schorfige Haut erarbeitet hätten und jetzt ihren Ruhestand genössen. Die eingekerbten Fingernägel waren kurz geschnitten und hatten schon lange keine Feile mehr gesehen. Sie waren bäuerlich breit, aber die Nagelbette präsentierten sich sauber geschrubbt hinter milchigen Halbmonden.

Die Finger trommelten nervös auf die graue Tischplatte. Bläuliche Venen rollten auf den Handrücken. Die Hände waren erst Mitte dreißig, genau wie die Frau, die steif auf einem Stuhl saß und auf ihre unruhigen Finger herabsah, die keinem bestimmten Rhythmus folgten. Die Frau und ihre Hände hielten sich in einem kleinen Raum auf, einer spärlich eingerichteten Zelle, nur mit dem Nötigsten ausgestattet. Es war nicht klar, ob es ihnen bewusst war, dass sie sich im Gefängnis befanden, denn sie waren in ihre eigenen Welten versunken, die Hände in eine Welt leichter Erschütterungen, die sich beruhigend fühlbar über ihre Haut fortpflanzten und die Frau in eine Welt, die im Wesentlichen aus zwei Briefen bestand, die sie von einer Aufseherin erhalten hatte.

Selbstverständlich hatte sie nach der Dokumentation, die in einem anspruchsvollen Nachtprogramm eines überregionalen Fernsehsenders ausgestrahlt wurde, körbeweise Post bekommen, die von der Gefängnisleitung mit zähem Missvergnügen zensiert und missbilligend weitergegeben wurde, bis das Interesse an ihrer Person auströpfelte und nur noch die Straffälligenhilfe ihren zweifelhaften Prominentenstatus durch vermehrte Hilfsangebote anerkannte.

Man hatte die Bilder mit erigierten Schwänzen, die emotional gestörten Elegien spät pubertierender Männer, die kommerziellen Angebote dubioser Verlage und Filmgesellschaften zur Vermarktung ihrer Lebensgeschichte und viele andere außergewöhnliche Ergüsse sorgfältig gefiltert, geschwärzt und entfernt, bis die Zensur einen leicht verdaulichen Einheitsbrei fabriziert hatte, der ohne Schaden an die Inhaftierte zur weiteren Verdauung weitergereicht werden konnte.

Sie hatte sich Zeit genommen und die Umschläge studiert, denen ein automatischer Öffner Gewalt angetan hatte. Manche der Umschläge waren cremefarbig und schwer. Zumeist trugen sie Sondermarken in Form farbenprächtiger Vögel, imposanter Schiffe oder ernst blickender Persönlichkeiten, von denen sie keine erkannte.

Missfallend ballten sich die Hände, wenn sie auf plakative Unterstreichungen oder fett gedruckte Worte fielen, die das besonders betonte Attribut vollkommen unglaubwürdig machten und ein verächtliches Fingerschnippen ernteten Streichungen, die den Autor der Zeilen als wankelmütigen Wortklauber ohne Verve entlarvten.

Schließlich hatte sich der Postberg auf ein kleines Häuflein versprengter Briefe reduziert, die wieder in ihren Hüllen staken und ungeduldig warteten, dass sie mit einer Antwort gewürdigt wurden. Die Frau allerdings wartete mit akkurat nebeneinander abgelegten Händen. Sie hatte das Warten perfektioniert, denn es war alles, was ihr vom Leben verblieben war. Ihre Leidensgenossinnen im Trakt gingen an ihrer offenen Zellentür vorbei, ohne ihre Neugier offen zur Schau zu tragen, denn sie wussten um ihre Verfassung und ihre Fähigkeit das in sich gekehrte Brüten in ein aggressives Zischen zu verwandeln, das von einem bösartigen Starren begleitet wurde.

Ansonsten war die Frau ein Geist in Anstaltskleidung, die sich in das Unvermeidliche fügte und die unbeugsamen Regeln einhielt, die den Alltag beherrschten. Sie zeigte wenig Regung und antwortete einsilbig und nichtssagend, wenn jemand das Wort an sie richtete. Nach ihrer Inhaftierung war sie von einer schlanken Frau zu einer hageren mutiert, die außer einer unparfümierten Fettcreme keine Kosmetika benötigte. Dennoch war sie von einer unterschwelligen Schönheit, die sich erst auf den zweiten Blick erschloss, wenn ihre schwarzen Haare einen langen Hals freigaben oder ihr abgewandtes Gesicht ein Profil offenbarte, das man bei vielen Mannequins schon einmal gesehen zu haben glaubte.

Wäre ihre Beckenpartie nicht eine Spur zu breit gewesen, um den knabenhaften Modelmaßen zu entsprechen, wäre sie geradezu perfekt gewesen. Eine Vorsehung hatte für die Frau einen solchen Weg nicht im Sinn und so kam es, dass sie vor einigen Jahren nach einer großen Tasse Kakao ihre erste alte Frau umbrachte.

Als der zweite Brief des gleichen Absenders eintraf, erwartete sie ihn mit einer scheinbar ruhigen Gelassenheit. Lediglich ihre Hände, die für den gesamten Rest des Körpers Strafarbeit zu verrichten schienen, verknoteten sich ineinander und straften ihre stoische Ruhe Lügen. Aus der kargen Auswahl potenzieller Brieffreundschaften war niemand verblieben, der ihr Schweigen als Aufforderung zu einem erneuten Versuch begriff. Alle hatten kapituliert bis auf den einen, der sein erstes Anschreiben mit einer selbst gemalten, unbeholfen wirkenden Lakritzschnecke verziert hatte. Neben wohlgesetzten höflichen Worten, die weder in ihren Intimbereich drängten, noch abgedroschen oder mitleidig wirkten, teilte er nur mit, dass er seine demenzkranke Mutter pflege und seine wahre Berufung nach frustrierenden Studien- und Berufsjahren in der Süßwarenindustrie gefunden habe.

Die Lakritzschnecke verbarg sich am oberen Rand des Briefes unter einem Passbild, das einen gutmütigen Blonden mit Nickelbrille und wachen Augen zeigte. Die vollen Wangen lächelten gehorsam dem Objektiv der Kamera entgegen und gehörten sicher zu einem wohlgenährten Körper, der eher vordergründigen Vergnügungen nachging als sich asketisch zu kasteien. In einer ersten Reaktion schlug die Frau eine Hand vor ihren Mund und verzog das Gesicht zu einem Grinsen, als sie die Zeichnung unter dem Bild entdeckte. Ihre hohen Wangen glühten und die dunklen Augen flogen über die Zeilen des Briefes bis zu der Stelle, an der der Mann schrieb, die Schnecke sei ein Ersatz, falls das Bild abhanden gekommen sei. Er offerierte keine weitere Erklärung für seine sonderbare Auswahl und Handlungsweise, sondern schilderte mit viel Enthusiasmus seine Hingabe an die immense Vielfalt von Süßigkeiten und deren segensreiche Gabe, das Glück in die Gesichter von Kindern und Erwachsenen gleichermaßen zu zaubern.

Ohne sie wie die meisten anderen aufzufordern, bestimmte weitere morbide Details über ihre Karriere als Mörderin preiszugeben oder stark verfrühte Hingabegelübde vor ihr auszubreiten, ihren straffen Körper betreffend, schloss er seinen Brief lediglich mit dem Satz: „Ich kann Sie verstehen. Meine Mutter leidet an Alzheimer. Bestimmt verstehen Sie auch mich.“

Sie hatte dem Impuls widerstanden, über die Herstellung von Lakritz nachzudenken oder dem Geheimnis des bittersüßen und auch salzig herben Geschmacks der schwarzen Delikatesse mithilfe der beschränkten Mittel der Leihbücherei nachzugehen. So war sie schon immer gewesen und sie hatte bereits als Kind gelernt, diesen Hang zur Besserwisserei zu bedauern.

„Das Mädchen ist verrückt“, seufzte die Mutter, wenn sie Fragen über den Inhalt der Höcker der Kamele stellte. „Das Kind ist verrückt“, zuckte der Vater mit den Achseln und bediente sich aus einer Flasche Korn, die so unweigerlich zu ihm gehörte wie seine übrigen Gliedmaßen. Auf die eindringliche Frage, wie wohl der Mond rieche, wusste er keine Antwort. „Da kommt die Verrückte“, unkten die Schulkameraden, wenn das hoch aufgeschossene Mädchen mit Zahnspange im Biologieunterricht zu dem Thema referierte: „Das partnerschaftliche, instinktgelenkte Jagdverhalten von Zackenbarsch und Muräne am Rande der Korallenriffe.“ „Du kannst einen wirklich verrückt machen“, stöhnte ihr Mann, wenn er nach ihr griff, um seinen Anspruch auf den Vollzug der ehelichen Pflichten zu demonstrieren und sie sich mit einem geübten Manöver entwand, auf seine brennende Zigarette wies und ihn mit ernstem Unterton fragte, ob er dem Forschungsergebnis glaube, dass 221 Gene den Unterschied zwischen Rauchern, die aufhören können und solchen, die scheitern, ausmachen.

Und so war es mit ihr geblieben. Alles, was sie hörte und las, musste sie auf Waagschalen legen, in einen Fragenkokon einspinnen, drehen und wenden wie einen wertvollen Stein, der durch das Schleifen mit Wissbegierde und das Polieren mit Wahrheit erst den richtigen Glanz erhielt.

Fast hätte sie diese Prozedur auch der Lakritzschnecke angedeihen lassen. Vielleicht hätte sie es noch getan, weil sie es gewohnt war, keine Antworten von anderen zu erhalten. Und dann kam der zweite Brief.

Er war im gleichen vertraulichen Plauderton gehalten, als hätte sich die Frau nicht in Schweigen gehüllt, das leicht als Ablehnung verstanden werden konnte. Ohne belehrend zu wirken, ließ der Schreiber einige Ideen zur Lakritzherstellung folgen und reicherte die bekannten Tatsachen zur Verwendung der Süßholzwurzeln mit kleinen Anekdoten an, die sich um die Zugabe von Salmiak in nordischen Ländern bis zur Befürchtung, die Nascherei rufe wegen ihrer hormonähnlichen Struktur Impotenz hervor, rankten. Zwischen zwei Abschnitte des Briefes hatte sich die Zeichnung einer Nase geschmuggelt, die bei der Leserin einen Heiterkeitsausbruch auslöste, den sie erst unterdrückte, als sie sich beobachtet fühlte. Sie kramte das Passbild des Mannes hervor und konnte genau erahnen, wie seine Augen schalkhaft blitzten, als er die Nase als Symbol des überragend wichtigen Geruchssinns für die Süßwarenherstellung einfügte. Sein Name war Mark und der Vertrieb von Süßigkeiten passte zu ihm.

Sie glaubte nicht, dass sich der Schreiber tief greifende Gedanken über ihre Gefühlswelt und Befindlichkeiten gemacht hatte. Er schien von einem Mittelungsbedürfnis beseelt zu sein, das sich mit ihren Informationsinteressen deckte, denn er fabulierte in lockerem Ton und ohne Angst, die Angeschriebene zu langweilen oder abzustoßen. Ernster wurde sein Stil, als er erneut auf die Motivation zu sprechen kam, die ihn dazu gebracht hatte, sie anzuschreiben.

Schnörkellos verzichtete er auf die üblichen Beteuerungen, dass er kein verschrobener Sonderling sei, der den Kontakt mit einer Gefangenen als besonderen Kick erlebte. Er wies auch kein Helfersyndrom auf, das viele Gutmenschen auszeichnete, die sich gesellschaftlich engagieren wollten und sich heute für die Rettung der Flussauen, morgen für den in seiner Existenz bedrohten Feldhamster und später für die Resozialisierung von Strafgefangenen einsetzten. Solche Menschen waren edel und sie wollten, dass dieses Prädikat öffentlich bekannt wurde, um sich in aller Bescheidenheit damit schmücken zu können.

Mark dagegen war erfrischend anders. Er erwähnte die Dokumentation des Fernsehsenders und schilderte die Schlüsselszene, die ihn dazu gebracht hatte, ihr zu glauben. Die Einstellung war eine Halbtotale, die die Frau in der Wäscherei zeigte. Ihre Hände hantierten ungeschützt mit einer Lauge und schweren Bottichen. Ihr Gesicht war friedlich und die Schatten des Verlustes ihrer Existenz umgaben sie wie Gespenster der Vergangenheit. In den feuchten Dunst hinein kommentierte ein Sprecher die Geschehnisse in dem Altenheim in kirchlicher Trägerschaft, das die bürgerliche Gesellschaft erschauern ließ und die Sensationsgier vieler befriedigte.

Wochenlang zeigten die Nachrichtensender die gleiche Verhaftungsszene. Zwei Polizisten und mehrere wichtig aussehende Männer in Zivil führten die Altenpflegerin in Handschellen ab. Ihr Kopf war gesenkt, aber man konnte erahnen, dass sie eine Schönheit war. Aus ihren leicht erhobenen Händen, die noch schwanenweiß und jungfräulich wirkten, machten die Gazetten die bittende Geste einer Verzweifelten, obwohl sie nur nach einer Zigarette gefragt hatte und dabei war, diese entgegenzunehmen. So wurde sie in ständiger Wiederholung bis zu ihrem Prozess in einer Endlosschleife derselben Aufnahmen verhaftet. Ihre Hände hoben sich immer aufs Neue der Zigarette entgegen. Die Verhaftete wurde dieser Sequenz bald überdrüssig, die sie zu einer öffentlichen Person und dem ‚Todesengel‘ machte, bildlich reduziert auf zwei gefesselte Hände, die sich wie Komplizen der Presse in das Bild schoben, das für sich in Anspruch nahm, die ganze Wahrheit zu erzählen. In der Haft würde sie die vorwitzigen und gedankenlosen Hände mit harter Arbeit und Nichtachtung strafen, denn sie warf ihnen Verrat und Illoyalität vor.

Acht Heimbewohner waren während der Schichten des Todesengels ums Leben gekommen. Es waren allesamt Frauen, schwere Pflegefälle mit leeren Augen und verwirrten Gesichtern. Man schätzte, dass die Pflegerin Dutzende alter Menschen umgebracht haben könnte und nahm umfangreiche Exhumierungen vor. Eine Überprüfung ergab, dass erhöhte Mengen an Insulinen, Neuroleptika und Tranquillantien aus den Beständen des Altenheims angefordert wurden, wenn der Todesengel Schicht hatte, ohne dass medizinische Notwendigkeiten vorlagen. Eilig herbeizitierte Experten überschlugen sich in Wertungen und Kalkulationen, stellten für die Kameras tödlich wirkende Medikamentencocktails zusammen und schwelgten in der Motivsuche, nur um zu dem Schluss zu kommen, dass man es mit einem Monster in Engelsgestalt zu tun habe.

Der Todesengel stritt nicht ab, die Demenzkranken, die Hinfälligen und Bettlägerigen besonders intensiv betreut zu haben. Gefasst schilderte sie ihre Zuneigung zu ihren Schutzbefohlenen, die umso mehr zunahm als sie hilfloser und schwächer wurden.

Was blieb ihr anderes übrig als die körperlich agile Alzheimer Patientin mit Gummischläuchen an ihr Bett zu fesseln, die beständig auf der Wanderschaft war, medizinische Geräte mit der immer gleichen Bemerkung „Geht nicht, geht nicht!“, ausschaltete, auf Notknöpfe drückte und sich in fremde Flure verlief, bevor sie mit einem markerschütternden „Geht nicht, geht nicht!“, schluchzend in ihr Zimmer abgeführt wurde.

Wer konnte eine bessere Lösung für die Gehbehinderten und durch Dekubitus Geschädigten finden als das Anlegen von Windeln, in die sie sich erleichtern konnten, so oft sie wollten, bis die richtige Zeit gekommen war, die besudelten Beweise ihrer Inkontinenz in Reichweite moderner und heller Bäder von den nörglerischen Alten zu reißen und fahlgelbe, rissige Haut und wund gescheuerte Stellen mit Schwämmen und Tüchern zu reinigen. Man hatte die Handgriffe perfektioniert, packte Gelenke, drehte Extremitäten und ignorierte das undankbare Gejammer der infantilen Alten, die zappelten und strampelten wie ungehorsame Kinder.

Wie konnte man individueller auf unbotmäßiges und aufsässiges Verhalten reagieren, als die Schnabeltasse mit Tee außerhalb der Reichweite der dehydrierten Rollstuhlfahrerin zu stellen, die mit zeternder, durchdringender Stimme zur Unzeit forderte, dass man ihr Kissen aufschüttele, das sie als Rückenstütze benutzte, dabei aber die Agilität besaß, jeden erreichbaren Gegenstand mit ihrem Kot zu beschmieren, um ihren Standpunkt zu untermauern.

Wie anders war ein geregelter Ablauf möglich, als die besonders Aufsässigen mit Medikamenten ruhig zu stellen und sie von geifernden, nach Menschenmüll stinkenden Ungeheuern zu verzückt sabbernden fügsamen Alten zu machen, denen man nicht gram war und die man frisierte, wusch und fütterte, wie es der Plan vorsah.

Was war dagegen einzuwenden, den Widerstand der fetten Cholerikerin mit der Magensonde durch das Anlegen von Bauchgurten zu brechen, die mit hervorquellenden Augen und Wahnsinn in der überschnappenden Stimme ihre Obszönitäten herausschrie und erst aufhörte, ihr Geschlecht zu stimulieren, wenn man ihr einige Ohrfeigen zur Ernüchterung verabreichte.

Der Todesengel war viel zu klug, um sich in diesem Sinne zu äußern. Eine zu große Dosis Wahrheit macht unsympathisch und nutzte niemandem. Besser war es, die in der Hauptverhandlung gezeigte Haltung zu perfektionieren und trotz offenkundiger depressiver Kraftlosigkeit die volle Verantwortung für das eigene Tun zu übernehmen.

All das kam in dem einen von ihr selbst geäußerten Satz in der Filmsequenz aus der Waschküche der Haftanstalt zum Ausdruck. Ihre Haltung straffte sich und ihr entschlossener Mund schloss einen Pakt mit ihren Augen, die ihre nachdenkliche Sanftheit verloren hatten. Ihre Hände verbarg sie auf dem Rücken. „Ich weiß jetzt, dass meine Art der Hilfeleistung gegen das Gesetz war, aber von einem moralischen Standpunkt aus würde ich es noch einmal tun.“ Der Todesengel trat zur Seite und wurde von der Kamera verfolgt. Noch einmal nahm die Frau Stellung. Dieses Mal schoss eine gerötete Hand nach vorne und stach mit dem Zeigefinger zu. „Wer tatenlos zusieht, wie Menschen unrettbar leiden, handelt verwerflich.“ Die Frau machte eine effektvolle Pause. „Mein Leben ist verpfuscht – wenn es aber den Sinn gehabt haben sollte, dass über die Erlösung als Akt der Barmherzigkeit ernsthaft nachgedacht wird, bin ich gerne bereit, den Preis zu zahlen.“ Der Mund schloss sich und wirkte zufrieden. Die Augen nahmen den gewohnten sanften Glanz an und über das Gesicht breitete sich Melancholie.

Genau diese Szene war es, die den Briefpartner von ihrer Aufrichtigkeit überzeugt hatte. Wie oft hatte er die Erfahrung gemacht, dass die mobilen Pflegekräfte, die er für seine Mutter engagierte, überfordert waren. Es hatten sich die Vorkommnisse gehäuft, bei denen fremde Menschen mit einem verlegenen Lächeln oder die Polizei mit einer markigen Ermahnung zu mehr Sorgfalt seine hohlwangige, gebeugte Mutter von einem ihrer Ausflüge zurückbrachten und sie ihn zitternd in die Arme schloss wie einen verloren geglaubten Schatz, um kurz darauf mit Argwohn in der Stimme zu fragen, ob er auch in diesem Haus wohne. Er ahnte wie ein Mensch an einer Aufgabe, die sich täglich vor ihm auftürmte wie ein unüberwindliches Hindernis, zerbrechen konnte.

Die Dokumentation des Fernsehsenders hieß „Wer ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein“ und verkürzte die Tötungen zu der von Mitleid getragenen, aus einer tiefen seelischen Erschöpfung geborenen Euthanasie. ‚Burn-out‘ war das Modewort der Saison, lediglich überflügelt von ‚Stress‘. Die Dreharbeiten wurden in dem Bewusstsein genehmigt, dass man mit dem Aufdecken alltäglicher Gewalt gegen Ältere ein dringend der Lösung harrendes Problem identifiziert habe. Der Todesengel war eine bestens geeignete Person die Mischung aus emotionaler Leere, täglich neu erlebten Frustrationen und kaum kontrollierbarer Gereiztheit zu verkörpern. Natürlich konnte man die Handlungsweise nicht für Gut heißen, aber verstehen, ja verstehen konnte man sie. Wieder ein Täter, der zugleich Opfer war. Wieder ein Schlachtopfer herzloser Abläufe, diktiert von Einsatzplänen, Pflegehandbüchern, Uhren, Vorgaben und Verwaltungsarbeit.

Niemand wusste von den verschwundenen Gegenständen, die die attraktive Pflegerin mit geduldigem Lächeln oder einem verstohlen zugefügten Schmerz von den Pflegebedürftigen erpresste. Uhren, Geld und Wertpapiere. Es gab nichts, was sie verschmäht hätte, denn sie hatte Zukunftsvisionen, für die sie Geld benötigte. Niemand schenkte den weinerlichen Geschichten der Alten Glauben, die in Angstzustände verfielen, wenn sie der Pflegerin ansichtig wurden und erstarrt verstummten, wenn sie ihnen begütigend über die fahlen Wangen strich, während ihre Augen ihnen den nahen Tod verhießen.

Sie achtete sorgfältig darauf, sich vor dem Verabreichen der Todesspritzen eine Unterschrift unter vorbereitete Dokumente geben zu lassen, die Vermächtnisse für sie aussetzten. Unglück­licherweise konnte sie davon nie Gebrauch machen, da die Erben eine listige Bande raffgieriger Erbschleicher waren, die unter dem Deckmantel familiärer Fürsorge Nachtschränkchen und Schubladen durchwühlten und jeden Ring und jede Brosche beim Namen riefen.

Mehrfach erregte sie den Argwohn spitzzüngiger Verwandter, die mit immer neuen Forderungen das Personal piesackten und sich mit der verschwörerischen Übergabe einer Packung Kaffees oder einer Schachtel Pralinen der besonderen Dienstfertigkeit einer Fachkraft versichern wollten.

Neulich habe die Großmutter noch eine größere Geldsumme in ihrem Nachttisch verwahrt, äußerte eine picklige Göre mit abgeknabberten Fingernägeln und einem penetrant brombeerfarbig geschminkten Mund. Sie riss die Augen auf und ließ die unausgesprochene Anschuldigung im Raum schweben. Wo denn wohl die Brosche abgeblieben sei, fragte zögernd ein wohlerzogener Mann, der älter wirkte als seine Mutter, die zu jedem seiner Besuche ihrer Fesseln entledigt und frisiert wurde. Seine Finger beschrieben einen Halbkreis und er erläuterte umständlich die Porzellanarbeit, die seiner Mutter so viel bedeutete. In Wirklichkeit bedeutete die Brosche dem Wrack aus gelblichen Hautfalten und porösen Knochen nichts, denn sie hatte sich in bunten Träumen verloren, in Welten, die nur Psychopharmaka auslösen konnten, in weit entfernten Welten, die ein Lächeln auf ausgetrocknete Lippen zauberten. Lange nachdem sich der Sohn mit einer liebevoll hilflosen Geste verabschiedet hatte, würde die alte Frau wieder fahrig und verwirrt in die Realität eintauchen, mit welken Händen um sich tasten und kleine Schreie ausstoßen, weil sie sich erinnerte. Dann wurde es Zeit für die Gurte und die erzieherischen Mittel, um sie in den Griff zu bekommen, denn die Abläufe durften unter keinen Umständen gestört werden.

Der Todesengel hatte die Pose der hoffnungslos Überlasteten perfektioniert und schenkte den Angehörigen, die Ihre Unsicherheit hinter einer Mischung aus Aggressivität und Hilflosigkeit verbargen, achselzuckende Sympathie. Sie entkrampfte deren schlechtes Gewissen mit beruhigenden Bemerkungen, die sie mit Anteil nehmender Schwermut und einer Portion Fachbegriffe würzte. Wie ein verständiger Dozent berührte sie verspannte Arme und drehte starre Rücken in die Richtung eines Zimmers, in denen Bewohner wie mumifizierte Puppen saßen und lagen, einige geschäftig murmelnd, andere mit abwesendem Blick. Sie verstand sich auf die Erläuterung der Krankheitsbilder, die das Alter mit sich brachte und warb für Verständnis, dass die flehentlichen Bitten der Alten, ihre Wahnvorstellungen und Erpressungsversuche Teil eines normalen Ablaufes waren, dem man mit Nachsicht und einer gnädigen Ignoranz begegnete.