Über Beate Rygiert

Beate Rygiert wurde in Tübingen geboren und wuchs im Nordschwarzwald auf. Mit zwölf schrieb sie in ihr Tagebuch: »Eigentlich möchte ich Schriftstellerin werden!« Diesen Traum verwirklichte sie nach dem Studium der Musik- und Theaterwissenschaft und der italienischen Literatur in München und Florenz und nach einigen Jahren als Operndramaturgin an verschiedenen deutschen Bühnen. Heute lebt sie mit ihrem Mann im Schwarzwald, in Andalusien und immer wieder in Frankreich.

Informationen zum Buch

»Ach Paris, mein Paris, wo man frei ist zu lieben und zu fühlen.« George Sand

Paris, 1831: Eine junge Frau in Männerkleidern betritt die Redaktion des renommierten Le Figaro. Ihre adelige Herkunft und die unglückliche Ehe hat sie hinter sich gelassen, sie ist bereit für den Neuanfang. Georges Leidenschaft sind die Worte: Mit ihrem jüngeren Liebhaber Jules lernt sie das Leben der Pariser Bohème kennen, gemeinsam verfassen sie ihren ersten Roman. Doch George erwartet noch mehr vom Leben, sie ist mutig und wissbegierig, immer bereit, Tabus zu brechen. Voller Leidenschaft stürzt sie sich in die Beziehung mit dem berühmten Komponisten Frédéric Chopin. Denn sie ist vor allem eines: eine bedingungslos Liebende.

Die Geschichte einer der größten Vordenkerinnen unserer Zeit – authentisch und hochemotional erzählt

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Beate Rygiert

Georg Sand und die Sprache der Liebe

Roman

Inhaltsübersicht

Über Beate Rygiert

Informationen zum Buch

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I. Teil

1. Kapitel – Paris, Frühjahr 1831

2. Kapitel – Paris, Frühjahr 1831

3. Kapitel – Paris, Frühjahr 1831

4. Kapitel – Paris, Dezember 1831

5. Kapitel – Paris, April 1832

6. Kapitel – Paris, Ende Mai 1832

7. Kapitel – Paris, Anfang Juni 1832

II. Teil

8. Kapitel – Paris, Januar 1833

9. Kapitel – Paris, Juni 1833

10. Kapitel – Paris, Juli 1833

11. Kapitel – Paris, August 1833

12. Kapitel – Paris, Herbst 1833

13. Kapitel – Venedig, Januar 1834

14. Kapitel – Venedig, Februar 1834

15. Kapitel – Venedig / Paris, Sommer 1834

16. Kapitel – August 1834

III. Teil

17. Kapitel – Chamonix, September 1836

18. Kapitel – Paris, November 1836; Frühjahr 1838

19. Kapitel – Paris – Mallorca, November 1838

20. Kapitel – Mallorca, November 1838

21. Kapitel – Mallorca, Anfang Dezember 1838

22. Kapitel – Valldemossa, Mallorca, Mitte Dezember 1838

23. Kapitel – Valldemossa, Mallorca, Anfang Januar – Ende Februar 1839

Epilog Nohant, August 1839

Nachwort

Dank

Impressum

Die wahre Liebe, das ist, wenn Herz,
Verstand und Körper miteinander in Einklang sind.
Das geschieht nur einmal in tausend Fällen.

George Sand

I. Teil

»Aurore Dudevant ist tot – Es lebe George Sand«

1831  1833

1. Kapitel
Paris, Frühjahr 1831

Aurore betrachtete sich kritisch im Spiegel. Die Mühe hatte sich gelohnt, Herrenhose und Weste aus grobem Wollstoff saßen perfekt. Zufrieden stellte sie fest, dass die Wölbung ihrer Brüste kaum ins Auge fiel. An einem der obersten Westenknöpfe hing noch ein Faden, rasch biss sie ihn ab, so, wie damals in der Klosterschule, wenn Schwester Madeleine gerade nicht hergesehen hatte. Was die Nonne wohl sagen würde, könnte sie ihre ehemalige Schülerin jetzt sehen?

Die junge Frau lachte leise in sich hinein. Dann schob sie ihr schwarzes Haar unter die faluche der Pariser Studentenschaft. Das Samtbarett war ein Geschenk von Jules und, wie sie fand, eines der schönsten, das man ihr je gemacht hatte.

Verschwörerisch grinste ihr völlig verwandeltes Spiegelbild sie an. War das wirklich sie, Baronesse Aurore Dudevant, sechsundzwanzig Jahre alt, Mutter eines siebenjährigen Jungen und einer zweijährigen Tochter, von den Kindern und ihrem Mann Casimir getrennt lebend, der auf ihrem Landsitz in der Provinz wahrscheinlich gerade einem der Dienstmädchen nachstellte? Aurore Dudevant, voller Träume und Ideale, die trotz oder vielleicht wegen der vielen Enttäuschungen, die sie hinter sich hatte, noch immer an die ganz große Liebe glaubte?

Sie hatte sich nie für schön gehalten, trotz ihrer prächtigen schwarzen Locken und der großen dunklen Augen mit dem intensiven Blick unter den schweren Lidern, trotz ihres makellosen Teints und der schön geschwungenen Augenbrauen. Ihre lange schmale Nase konnte man bestenfalls charaktervoll nennen. Und wenn ihre Lippen auch voll waren, so war ihr Mund im Vergleich zum Rest des Gesichts einfach zu klein.

Nein, niemand hatte sie bislang als schön bezeichnet. Das kam ihr jetzt zugute, sie sah tatsächlich aus wie ein Mann in diesen Kleidern. Oder eher wie ein ganz junger Student. Jetzt noch die Lederstiefel, Gott, wie sie sich darauf freute, in ihnen Paris zu erobern, denn ihre zarten Stoffballerinas, die die gegenwärtige Mode Frauen aufzwang, waren schon nach wenigen Wochen auf dem Pariser Pflaster zerrissen und verschmutzt gewesen. Mit großen Schritten ging sie im Zimmer auf und ab. So fühlte sich Freiheit an.

Es klopfte.

»Herein«, rief Aurore und versteckte noch rasch eine vorwitzige Locke unter dem Barett. Dann wandte sie sich um, gespannt, was Madame Bonnet sagen würde, die Concierge, mit der sie sich angefreundet hatte und die ihr und Jules den bescheidenen Haushalt machte.

»Bonjour, Ma…«, begann die Hausmeisterin, stockte aber mitten im Satz und starrte Aurore überrascht an. »Monsieur«, sagte sie verwundert und runzelte die Stirn. »Ich hab sie überhaupt nicht ins Haus kommen sehen! Ist Madame Dudevant … ähm … Ist sie nicht da?«

»Aber Madame Bonnet«, antwortete Aurore lachend. »Erkennen Sie mich wirklich nicht?«

»Mon dieu«, entfuhr es der Frau. Sie musterte Aurore von Kopf bis Fuß. »Sie wollen doch so nicht etwa auf die Straße gehen?«

Aurore konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. »Es bleibt unser Geheimnis, nicht wahr?« Sie nahm den Überrock vom Bügel, den sie sich aus demselben Stoff genäht hatte wie Hose und Weste. »Sie werden das doch für sich behalten?«

»Natürlich!«, antwortete Madame Bonnet. »Ich schweige wie ein Grab. Aber hören Sie doch, man wird Sie ins Gefängnis werfen!«

Aurores Lächeln vertiefte sich, ihre schwarzen Augen blitzten.

»Vielleicht«, sagte sie, zog die Redingote über, den knielangen Herrenmantel und nahm Jules grauen Wollschal vom Haken. »Vielleicht aber auch nicht.«

Im Treppenhaus wickelte sie sich den Schal gleich dreimal um den Hals. Er roch vertraut nach Tabak und Sandelholz. Ob einer der Nachbarn sie erkennen würde, wenn sie ihm jetzt begegnete? Ihr Zimmerchen lag unter dem Dach. Früher oder später würde sie zwangsläufig einem Mitbewohner über den Weg laufen. Und was Madame Bonnet gesagt hatte, stimmte. Seit 1799 gab es ein Gesetz, das Frauen das Tragen von Männerkleidung bei Gefängnisstrafe verbot.

Sie hatte gerade die vierte Etage erreicht, als sie das wohlbekannte Dröhnen vernahm, mit dem die schwere Eingangstür ins Schloss fiel, dann entschlossene Schritte, die sich von unten näherten. Aurores Herz schlug heftiger. Sie beugte sich über das Treppengeländer und erkannte den Zylinder von Monsieur Raymond, der mit Frau und Tochter direkt neben ihr wohnte. Monsieur Raymond arbeitete bei der Stadtverwaltung, es war noch nicht lange her, dass sie sich über die neuesten politischen Ereignisse unterhalten hatten. Sie fühlte, wie ihr die Hitze ins Gesicht stieg und vergrub ihr Kinn noch tiefer in Jules’ Schal. Kurz widerstand sie dem Impuls, zurück in ihre Mansarde zu fliehen und zwang sich stattdessen, ruhig weiterzugehen. Mitten auf der Treppe kam es zur Begegnung. Aurores Nachbar sah ihr scharf ins Gesicht, während sie höflich beiseitetrat und »Bonjour, Monsieur« murmelte. Der Mann musterte sie erneut, dann nickte er kurz und wandte sich ab. Aurores Herz machte einen Sprung vor Erleichterung. Unten auf der Rue de Seine atmete sie tief durch. Wenn Monsieur Raymond sie nicht erkannte, dann brauchte sie sich keine Sorgen zu machen.

Als sie den Fluss erreichte, dämmerte es bereits. Im Palais du Louvre auf der gegenüberliegenden Seite der Seine waren zwei Fensterreihen erleuchtet, das goldene Kerzenlicht aus vielen Lüstern spiegelte sich im Wasser des Flusses und erhellte ihr den Weg über den Pont des Arts. Es war ein kühler Frühlingsabend, den ganzen Tag über hatte es geregnet, und die Haushalte, die es sich leisten konnten, heizten ihre Kamine noch ein. Der Rauch aus den vielen Schloten verpestete die Luft und trieb Aurore Tränen in die Augen. Dennoch war sie erfüllt von einer wilden Freude. Die metallbeschlagenen Absätze ihrer Herrenstiefel knallten auf das Pflaster, keiner beachtete sie, sie war frei, wenn sie wollte, konnte sie an diesem Abend ganz Paris von einem Ende bis zum anderen durchqueren und wieder zurück, ohne fürchten zu müssen, sich ihre teure Garderobe zu ruinieren.

»In Paris braucht eine Dame 25 000 Francs im Jahr nur für Kleidung, Schuhwerk und Kutschen«, hatte Zoe, ihre Freundin aus der Klosterschule nach ihrer Verheiratung geklagt. Exakt dieselbe Summe erhielt Aurore nach der Trennung von ihrem Ehemann nicht nur für Kleidung, sondern auch für Miete und Verpflegung und alles andere, was sie brauchte. Deswegen hatte sie sich Männerkleidung genäht.

Doch ihre finanzielle Situation war nicht der einzige Grund dafür gewesen. Sie wollte tun und lassen können, was ihre männlichen Freunde auch taten. Nachts auf die Straße gehen, ohne belästigt zu werden. Ihrem Bewegungsdrang nachgeben, immerhin war sie auf dem Land aufgewachsen und als kleines Mädchen mit den Bauernkindern über die Felder getollt. Sie wollte jene Clubs frequentieren, die nur Männern vorbehalten waren. Und vor allem wollte sie die Möglichkeit haben, sich die neuesten Stücke auf den günstigen, Studenten vorbehaltenen Stehplätzen in den Pariser Theatern anzusehen. Und da Frauen der Zugang zur Universität verwehrt war, musste sie sich eben als Mann verkleiden …

Als sie die Tür zum Café de Paris an der Ecke Boulevard des Italiens und Rue Taitbout öffnete, schlug ihr der Lärm einander überbietender Stimmen und Gelächter entgegen. Feuchte Wollmäntel dampften in der Hitze, vermischten ihre Ausdünstung mit dichtem Tabakqualm. Wandspiegel reflektierten das Licht der Petroleumlampen, die pastellfarbenen Garderoben der Damen mit ihren Spitzen und Rüschen kontrastierten zu den dunklen Anzügen der Herren. Die Oper war nur wenige Schritte entfernt, der Montmartre mit seinen unzähligen Varietés nicht weit, und so traf sich hier die sogenannte demi monde mit der besseren Gesellschaft, Künstler mit ihren Modellen, Sänger mit Komponisten, Ballettmädchen und Revuetänzerinnen mit ihren reichen Verehrern. Vor allem aber trafen sich hier Schriftsteller und solche, die es werden wollten, so wie sie selbst, Jules Sandeau, sein Freund Émile Regnault, Gustave Papet, Alphonse Fleury, Félix Pyat und der Rest ihrer Clique der südlichen Provinz des Berry, drei Reisetage entfernt, die Aurore jetzt unter den bläulichen Schwaden zu entdecken versuchte. Schließlich fand sie die Studenten in einer der hinteren Ecken um einen Tisch gedrängt, die Köpfe dicht zusammengesteckt. Zuerst nahm keiner von diesen jungen Männern, mit denen sie schon seit ihrer Kindheit befreundet war, von ihr Notiz, zu sehr waren sie in ihre Diskussion vertieft, und Aurore wurde es langsam heiß unter ihrem Mantel und der ungewohnten Mütze.

»Was ist«, fragte sie und drängte sich neben Jules auf die mit rotem Samt bespannte Bank, »gehen wir ins Theater? Ich möchte das neue Stück von Alexandre Dumas sehen, und zwar vom Studentenparkett aus.«

Jules Sandeau, acht Jahre jünger als sie und Jurastudent, sah irritiert auf, dann brach er in schallendes Gelächter aus, legte seinen Arm um sie und zog sie zärtlich an sich.

»Seht sie euch an«, rief er und schlug mit der Hand auf den Tisch, dass die Gläser darauf nur so klirrten. »Schaut doch mal her«, schrie er noch lauter, als die anderen nicht gleich hörten. »Ich will euch unseren neuen Freund vorstellen! Wie heißt du, Kleiner?«, wandte er sich neckend an Aurore.

»Lass den Unsinn«, antwortete sie lächelnd, zog sich das Barett vom Kopf und schüttelte ihre Mähne zurecht. Auf einmal war es mucksmäuschenstill am Tisch geworden. »Mach den Mund zu, Émile«, sagte sie mit einem gutmütigen Grinsen. »Und du, Gustave, pass auf, dass dir die Augen nicht aus dem Kopf fallen. Na, wie gefall ich euch?«

»Himmel«, brachte Félix endlich heraus. »Du siehst verdammt nochmal aus wie ein sechzehnjähriger Schüler, keinen Tag älter. Aber das lange Haar, das solltest du dir abschneiden. Die Leute schauen schon.«

»Kommt nicht infrage«, widersprach Jules und strich zärtlich über ihre schwarzen Locken. »Nur über meine Leiche. Wenn du unbedingt als Student durchgehen willst, meine Liebe, dann musst du eben als Hitzkopf leben. Sollte dir ja nicht gerade neu sein.«

»Na schön«, antwortete Aurore und verstaute ihr Haar wieder unter dem Barett. »Können wir jetzt gehen? In einer halben Stunde beginnt die Vorstellung.«

»Worüber habt ihr denn so heiß diskutiert?«, erkundigte sich Aurore auf dem Boulevard und hakte sich bei Jules unter. Inzwischen brannten die Gaslaternen und erleuchteten schwach die Straße, auf der dichtes Gedränge herrschte.

»Über den Figaro«, antwortete er.

»Du meinst, diese schreckliche Zeitung?«

»Es ist eine satirische Zeitung und sie ist ziemlich erfolgreich.« Beinahe wäre Aurore mit einem älteren Herrn zusammengestoßen. Sie musste sich erst noch daran gewöhnen, dass man ihr als Dame nicht auswich. »Der Herausgeber ist der Journalist Henri de Latouche«, berichtete Jules. »Er kommt auch aus dem Berry. Alphonse war schon bei ihm. Er sagt, de Latouche sucht noch Leute. Das wär’ doch was für uns, meinst du nicht?«

Sie wichen einem Betrunkenen aus, der unsicher hin- und herschwankte und etwas von Gottes Gericht murmelte.

»Ich weiß nicht«, sagte Aurore schließlich. »Ich hab so gar kein satirisches Talent. Du weißt, wie humorlos ich bin.«

Jules Sandeau lachte.

»Wenn du willst, Aurore, kannst du alles. Du kannst phantastisch malen, Herrenanzüge schneidern, du reitest besser als so mancher Mann, hast einen unfehlbaren Geschmack, das sieht man schon an mir. Also kannst du auch für de Latouche schreiben. Und wenn nicht, dann lernst du es eben.« Er warf ihr von der Seite einen Blick zu, und als er sah, wie sie nachdenklich ihre Unterlippe nach vorn schob, wie sie es immer tat, wenn sie an etwas zweifelte oder ihr irgendetwas nicht passte, fügte er hinzu: »Wir wären nicht die ersten Schriftsteller, die über den Umweg des Journalismus’ zum Erfolg kämen.«

»Bezahlt er gut?«, fragte Aurore. Vor ihnen lag das hell erleuchtete Théâtre de la Porte-Saint-Martin. Bettler versuchten ihr Glück bei den Droschken, aus denen elegante Herrschaften ausstiegen. Die Studenten würdigten sie keines Blickes, wussten sie doch, dass bei ihnen nichts zu holen war.

»Was heißt schon gut«, antwortete Jules vage. »Heutzutage müssen wir froh sein, eine solche Gelegenheit zu bekommen.«

»Wirst du hingehen?«

»Auf alle Fälle«, antwortete Sandeau, nahm sie bei der Hand und zog sie die Stufen zum Eingang hinauf. »Komm, mein kleiner Studentenfreund. Heute lade ich dich zur Feier des Tages ein. Aber dass du dich nicht mit den großen Jungs anlegst.«

»Mit wem?«

»Mit den Claqueurs«, erklärte ihr Gustave gutmütig, der an der Kasse direkt vor ihnen in der Schlange stand. »Die kennen nämlich kein Pardon, wenn sie der Meinung sind, du applaudierst den Falschen.«

Aurore hatte das Théâtre de la Porte-Saint-Martin schon oft zuvor besucht und sich notgedrungen teure Karten für einen der kleinen Logensessel kaufen müssen. Auf den billigen Stehplätzen unten im Parkett kam sie sich nun jedoch vor wie in einem Paralleluniversum. Unter den Studenten herrschte ein ihr bislang völlig unbekanntes Gedränge und Gerangel um die beste Sicht zum Bühnengeschehen, und mehr als einmal fühlte sie einen spitzen Ellbogen zwischen ihren Rippen. Ehe sie es sich versah, spuckte ihr ein langer Kerl seinen Kautabak auf die neuen Stiefel und brach in schallendes Gelächter aus, als er ihren empörten Blick auffing. Jules zog sie weiter und bahnte ihnen beiden mit sanftem Nachdruck einen Weg durch die Menge. Aurore war nicht besonders groß und fürchtete bereits, von der Vorstellung nichts weiter als die Rücken abgetragener Studentenjacken zu sehen, doch Émile und Gustave hatten ihnen in der ersten Reihe ein wenig Raum freigehalten.

»Der Kleine sieht doch sonst überhaupt nichts«, wehrte Jules den Protest derjenigen ab, vor die sie sich nun platzierten. »Er ist zum ersten Mal dabei. Gönnt ihm die Freude.«

Es gab noch einige Widerworte und Schubsereien, dann hob sich der Vorhang, und Aurore vergaß alles um sich herum.

Denn auf der Bühne entfaltete sich ein Liebesdrama, das sie zu ihrer Bestürzung mehr und mehr an ihre eigene Situation erinnerte. Sie wusste nicht, was sie mehr berührte: Antonys Leidenschaft, der nicht bereit war, aufgrund seiner Herkunft auf die Liebe seines Lebens zu verzichten, oder Adèles Zerrissenheit, die genau wie sie selbst in einer unglücklichen, kalten Ehe gefangen war. Leidenschaftliche Gefühle prallten gegen die Barrieren einer sinnentleerten Konvention, ein tragisches Ende war unvermeidlich. Als Antony, um die Ehre seiner Geliebten wiederherzustellen, sie auf ihren eigenen Wunsch hin tötete und Adèles Ehemann den blutigen Dolch mit den Worten: Elle me résistait, je l’ai assassinée! vor die Füße schleuderte, war sie nicht die Einzige, die sich die Tränen vom Gesicht wischen musste. »Sie hat mich zurückgewiesen! Ich habe sie getötet« würde noch wochenlang als geflügeltes Wort in allen Kreisen der Gesellschaft zitiert, so sehr bewegte dieses Drama die Menschen. Und während das Premierenpublikum um sie herum tobte vor Begeisterung, wurde Aurore schmerzhaft bewusst, dass es genau das war, was ihr noch immer fehlte, trotz Jules fröhlicher und zärtlicher Zuneigung, trotz der wenigen kurzen Affären, die sie sich nach jahrelangem Leiden an der Seite von Casimir endlich erlaubt hatte: Die eine, große, leidenschaftliche Liebe, für die es sich zu leben und sogar zu sterben lohnte, hatte sie noch nicht erlebt.

Der Applaus dauerte endlos, zwölf Mal mussten die Akteure vor den Vorhang treten, und Aurore konnte sich nicht entscheiden, welchem der beiden Hauptdarsteller sie den Vorzug geben sollte – Marie Dorval als Adèle oder diesem hinreißenden Schauspieler mit dem Künstlernamen Bocage, der den Antony mit unfassbarem Furor gegeben hatte. Als sich endlich der wirre Rotschopf von Alexandre Dumas auf der Bühne zeigte, trampelten die Studenten um sie her mit ihren Stiefeln derart auf das Holzparkett, dass das gesamte Theater erbebte.

»Ich finde, Bocage hat ein bisschen zu dick aufgetragen«, meinte Gustave, als sie sich schließlich zum Ausgang durchdrängten.

»Für Dumas war es zweifellos ein Triumph«, warf Alphonse ein. »Ganz schön mutig, ein Prosastück zu schreiben.«

»Wahrscheinlich sind ihm die Reime ausgegangen«, spottete Gustave, doch Félix gab ihm einen freundschaftlichen Klaps auf die Schulter.

»Die Verse haben ausgedient, Herr Medizinstudent«, sagte er. »Sprichst du etwa in Versen, wenn du es deiner kleinen Manon besorgst?«

Aurore schwieg zu alldem, noch immer war sie völlig benommen von der Wucht der Worte und der Leidenschaft. Einmal so schreiben zu können wie dieser Dumas, dachte sie. Ausdrücken, was in ihrer Seele brannte. Die unerträgliche Doppelmoral ihrer verkrusteten Gesellschaft in ein Liebesdrama zu packen und die Menschen derart aufzuwühlen, dass sie beinahe ein Theater zerlegten. Wenn sie das einmal könnte …

Ein feiner Regen setzte ein, und alle waren sie froh, als sie das Café de Paris wieder erreichten. Sie hatten Glück und eroberten einen der letzten Tische. Aurore nahm mutig ihr Barett ab und fasste ihr Haar mit einem Band fest im Nacken zusammen, in der Hoffnung, auch so von niemandem erkannt zu werden. Es war einfach viel zu heiß unter dieser Samtmütze.

»Was ist denn deine Meinung?«, riss Jules sie aus ihren Gedanken. »Wie hat dir das Stück gefallen?«

»Ich fand es großartig«, sagte sie schlicht und blickte in die Runde. Sie war die Älteste mit ihren sechsundzwanzig Jahren, die meisten ihrer Freunde waren gerade mal zwanzig, Jules war erst neunzehn. »Und was diesen Bocage anbelangt«, fügte sie hinzu, »hab ich nie einen besseren Schauspieler gesehen.«

»Er gefällt dir, was?«, warf Jules sanft ein.

»Und ob er das tut. Und die Dorval gefällt mir ebenso. Eine großartige Frau.«

In diesem Moment betrat ein elegant gekleideter Herr mit modischem Oberlippen- und Backenbart das Café. Während er dem herbeigeeilten Kellner Mantel und Zylinder übergab, ließ er seinen Blick über die Anwesenden gleiten.

»Das ist er«, raunte Alphonse den Freunden zu, »de Latouche«, und hob grüßend die Hand. Der Verleger erkannte ihn, nickte gnädig in seine Richtung und wandte sich dann einem anderen Tisch zu.

»Man hat ihn vom Konservatorium geworfen, diesen Bocage«, nahm Gustave den Faden wieder auf, und bestellte für sie alle eine Runde Absinth. Er stammte als Einziger der Clique aus einer reichen Familie und gab seinen Freunden gerne etwas aus.

»Ja, weil er aus armen Verhältnissen stammt«, ergänzte Jules. »Sein Vater war Leinenweber in Rouen. Er konnte sich die Gebühren nicht leisten und musste deshalb die Schauspielklasse verlassen.«

»Das ist eine Schande«, empörte sich Aurore. »Künstler sollten nach Talent beurteilt und gefördert werden. Und nicht nach ihrer Herkunft oder ihrem Vermögen.«

»Hört, hört«, erklang eine spöttische, tiefe Stimme hinter ihr. Henri de Latouche war zu ihnen getreten. »Dann finden Sie also, das conservatoire sollte Freiplätze an arme Schlucker vergeben?«

»Wenn die armen Schlucker Talent haben, dann sollte es das unbedingt«, gab Aurore zurück, während sich Alphonse beeilte, einen Stuhl für den Verleger heranzurücken. Tatsächlich ließ sich de Latouche nieder und hörte nicht auf, Aurore aufmerksam zu mustern. »Und nicht nur Freiplätze«, fuhr sie ungerührt fort. »Die Akademien sollten der Begabung ihrer Studenten grundsätzlich mehr Beachtung schenken als ihrem Geldbeutel oder gar den persönlichen Beziehungen. In der Kunst sind wir alle gleich …«

»Nur in der Kunst?«, unterbrach sie der Verleger und machte dem Kellner ein Zeichen, um eine Tischrunde zu bestellen.

»Nein, nicht nur in der Kunst.« Sie entdeckte sich auf einmal schräg gegenüber in einem Spiegel, eine zierliche, schwarzhaarige Gestalt zwischen breiten Männerrücken, und fragte sich, ob de Latouche sie bereits durchschaut hatte. Zu ihrem eigenen Erstaunen war ihr das auf einmal vollkommen gleichgültig. Sie hob den Blick und sah in die wasserblauen Augen des Verlegers. »Alle Menschen sind gleich«, fuhr sie ruhig fort. »Wir kommen nackt auf die Welt, und wenn wir tot sind, tragen wir alle dasselbe letzte Hemd. Es ist nichts weiter als Willkür, die Menschen zu ihren Lebzeiten immerfort zu unterteilen in arme und reiche …«

»… und in Männer und Frauen?«

Aurore lächelte. De Latouches Augen blitzten.

»Sehr wohl«, antwortete sie. »Männer und Frauen sollten dieselben Rechte haben. So wie Bauern und ihre Grundbesitzer, Arbeiter und Fabrikanten, Adelige und das sogenannte gemeine Volk.«

»Das sind kühne Gedanken, Mademoiselle«, erklärte de Latouche mit einem Grinsen.

»Madame«, korrigierte sie ihn und nahm aus den Augenwinkeln wahr, wie Jules kurz zusammenzuckte. Und tatsächlich hob de Latouche interessiert die Augenbrauen. Er wirkte wie ein Angler, der einen besonders leckeren Fisch an seiner Leine vermutet.

»Madame? Aha, soso … Aber Madame haben unrecht«, fuhr er fort. »Männer und Frauen sind nicht gleich, sie weisen beträchtliche Unterschiede auf. Oder wollen Sie das etwa leugnen?«

»In ihrer Biologie unterscheiden sie sich sehr wohl«, entgegnete Aurore gelassen. »Natürlich sind Mann und Frau verschieden. Aber das ist kein Grund, Frauen vor dem Gesetz und dem Ansehen der Gesellschaft den Männern derart unterzuordnen.«

»Die Frau sei dem Manne untertan …«, zitierte de Latouche feixend, er schien außerordentlichen Spaß an der Unterhaltung zu haben.

»Ich bin im Kloster erzogen worden«, gab Aurore ungerührt zurück. »Es hätte nicht viel gefehlt, und ich wäre Nonne geworden.«

»Was sehr schade gewesen wäre.«

»Das finde ich auch. Sich hinter Klostermauern zu verstecken, um sich der Illusion einer geistigen Freiheit hinzugeben, ist keine Lösung. Ich möchte die ganze Freiheit mitten in der Gesellschaft, nicht von ihr getrennt. Nicht mehr und nicht weniger als die, die ich hätte, wäre ich ein Mann.«

Der Kellner kam mit einem Tablett voller Gläser, in denen ein goldener Wein funkelte. Während er sie verteilte, versuchte Jules ihr mit den Augen zu bedeuten, es nicht zu weit zu treiben, jedenfalls interpretierte sie seinen Blick so. Doch Aurore fand, dass sie mit ihrer Meinung schon viel zu lange hinter dem Berg gehalten hatte. Und wenn sie tatsächlich für den Figaro schreiben wollte, so sollte er wissen, mit wem er es zu tun hatte.

»Nun«, sagte de Latouche und hob sein Glas, »dann wollen wir mal sehen, ob Sie auch zu trinken verstehen wie ein Mann.«

Sie prostete ihm zu und hoffte im Stillen, dass er es nicht auf einen Trinkwettstreit abgesehen hatte, denn sie hasste Alkohol. Schaudernd dachte sie an die Trinkgelage, die ihr Mann und ihr Halbbruder Hippolyte zu Hause in Nohant Abend für Abend veranstaltet hatten und es zweifellos noch immer taten. Die Trunksucht der beiden und der Lärm, den sie dabei veranstaltet hatten, waren nicht auszuhalten gewesen. Sie warf dem Zeitungsverleger unter ihren dichten Wimpern einen forschenden Blick zu, doch der nippte nur an seinem Glas und zog, ohne sie aus den Augen zu lassen, ein silbernes Etui aus der Tasche. Er öffnete es und hielt es Aurore entgegen. Darin lagen, schön in roten Satin gebettet, sechs Zigarren, und zwar von der teuren, zwanzig Zentimeter langen Sorte.

»Gleiche Rechte, gleiche Sitten«, sagte er. Sein blonder Schnurrbart zitterte vor Vergnügen.

Aller Augen ruhten auf Aurore. Das Zigarrenrauchen war eine der neuesten Moden, es gab zwei Größen, die Kurzen und die Langen. Ihr Halbbruder hatte diese extravagante und kostspielige Sitte in Nohant eingeführt, wie so manchen anderen Unsinn auch, und zusammen mit Casimir ihr Haus mit stinkendem Qualm erfüllt. Aus Trotz hatte sie eines Abends kurz vor ihrer Abreise nach Paris mitgeraucht, und nun wählte sie mit der Miene einer Kennerin. Als hätte sie nie etwas anderes getan, biss sie das runde Ende ab, spuckte es auf den Boden, wie es hier alle taten, und wandte sich an de Latouche, der sie fasziniert beobachtete.

»Hätten Sie die Güte, mir Feuer zu geben?«, sagte sie mit dieser samtigen Stimme, von der sie wusste, dass sie die Männer verunsicherte. Sogleich zauberte der Zeitungsverleger aus seiner Jackentasche einen Fidibus, einen in Wachs getränkten Pappstreifen, entzündete ihn an der Kerze und hielt die Flamme an das Ende ihrer Zigarre. Aurore zog sorgsam, paffte, bis der Tabak knisternd zu glühen begann, stieß dabei kleine, kreisrunde Wölkchen aus und musste sich sehr zusammennehmen, um nicht laut loszulachen, so sehr amüsierten sie die erstaunten Gesichter ihrer Freunde. Sie schlug genüsslich ein Bein über das andere, zupfte sich einen Tabakbrösel von der Zungenspitze und blickte dem Verleger in die Augen.

»Gleiche Sitten«, sagte sie zu ihm, »gleiche Rechte. Können wir uns darauf einigen?«

»Madame, sie sind wahrhaft erstaunlich. Was kann ich da noch entgegnen?«

»Sie könnten darauf bestehen, dass es nicht die Sitten sind, die uns zu Gleichen unter Gleichen machen«, fuhr Aurore fort und ihre schwarzen Augen unter den schweren Lidern funkelten. »Sondern die Gabe, zu denken und die richtigen Schlüsse zu ziehen.«

»Und welche Rechte würden sie einfordern, wenn man Ihnen die Gleichheit zugestehen würde?«

»Freiheit«, antwortete Aurore wie aus der Pistole geschossen. »Freiheit der Bewegung, darum diese Kleidung. Freiheit, jeglichen Ort aufzusuchen, wie es mir beliebt. Freiheit, zu denken und mich zu äußern. Und nicht zuletzt die Freiheit, zu lieben, über alle Standesunterschiede hinweg. Da fällt mir ein: Wie fanden Sie die Premiere? Sie waren doch sicherlich auch dort?«

De Latouche nickte.

»Was denken Sie darüber?«, fragte er und lehnte sich lauernd auf seinem Stuhl zurück.

»Es hat mich tief bewegt, vielleicht, weil es ein Stück meiner eigenen Familiengeschichte abbildet. Wenn Sie so wollen, Monsieur, dann sind in mir die größten Gegensätze unserer Gesellschaft vereint. Mein Vater war der Urenkel des Königs von Polen, sein Großvater war Moritz von Sachsen, von seiner Seite fließt also königliches Blut in meinen Adern. Meine Mutter hingegen stammt aus einer einfachen Pariser Familie, ihr Vater war Vogelhändler und hatte seine Käfige am Quai des Grands Augustins. Die Mutter meines Vaters, die Gräfin de Saxe de Francueil, war alles andere als einverstanden mit der Wahl ihres Sohnes. Deshalb waren mein Vater und meine Mutter gezwungen, heimlich zu heiraten, und bereits als Kleinkind machte man mich zur Botschafterin zwischen diesen beiden Lagern. Interessanterweise aber entspricht der Stammbaum meiner Mutter vollkommen den sogenannten guten Sitten, ganz im Gegensatz zur adeligen Seite meines Vaters, wo ein Bastard dem nächsten folgte. Und doch erhoben sie alle ihre unehelich geborenen Nasen über das Volk der Straße, nur, weil ihr Blut angeblich mehr wert sein sollte als das der einfachen Bürger. Die Liebe aber, um auf Dumas’ Stück zurückzukommen, die Liebe kennt diese menschengemachten Schranken nicht. Die Liebe ist das wahrhaftige Kind der Revolution, denn sie reißt alle Barrikaden nieder. In der Liebe wie im Hass sind wir Menschen uns alle gleich.«

Auf diese Worte folgte Schweigen, und Aurore widmete sich wieder ihrer Zigarre, damit die Glut nicht erlosch. Der scharfe Geschmack brannte auf ihrer Zunge, und doch fühlte es sich gut an, ihre Lippen um die ledrigen Tabakblätter zu legen, den Rauch im Mund zu sammeln und wieder auszustoßen, während sie mit halbgeschlossenen Lidern die verblüfften Gesichter ihrer Gefährten musterte.

Die Liebe, dachte sie und schnippte die Asche auf den Boden. Als ob ich sie bereits wirklich erlebt hätte. Mit Jules erlebte sie einen zarten Liebesfrühling, und der tat ihr gut. Und doch fühlte sie diese Sehnsucht, noch viel leidenschaftlicher zu lieben, wie die Glut der Zigarre, heiß, knisternd, geduldig darauf wartend, sich in hellem Feuer zu entzünden. Wenn es soweit wäre und sie den richtigen Menschen dafür gefunden haben würde …

»Ach, so ist das«, sagte Henri de Latouche und nickte, als wäre ihm nun alles klar. »Nun weiß ich natürlich auch, wer Sie sind, Baronesse Dudevant. Unsere Väter waren ja miteinander befreundet, wir sind uns wohl auch einmal begegnet zu Hause im Berry, doch da waren Sie noch ein ganz junges Ding. Nun ja. Also … Die Gabe der Rede ist bei Ihnen vorhanden«, fügte er nachdenklich hinzu. »Können Sie auch schreiben?«

»Seit meinem vierten Lebensjahr«, gab Aurore zurück.

De Latouche lachte auf und schüttelte halb amüsiert, halb verärgert den Kopf.

»Gewisse Flausen werde ich Ihnen noch austreiben müssen«, sagte er. »Doch das kriegen wir schon hin. Kommen Sie morgen in meine Redaktion. Ihr junger Freund dort weiß, wo Sie mich finden.«

Viele Stunden später lag sie in Jules Armen. Ihr gelungener Auftritt als »Student« hatte ihn geradezu berauscht und seine Leidenschaft entfacht. Sie hatten sich geliebt wie noch nie. Jetzt schlief er längst, doch sie lag wach. Ihre Gedanken kreisten um die Geschichte von Antony und Adèle und die Unmöglichkeit einer glücklichen Lösung. Was Aurore jedoch am meisten beschäftigte, war die Tatsache, dass Adèle ihrer Tochter wegen keinen anderen Ausweg sah, als von der Hand des Geliebten zu sterben, um nicht die Zukunft des Mädchens zu ruinieren. Adèle selbst hätte die gesellschaftliche Ächtung wohl in Kauf genommen. Ihrer Tochter jedoch wollte sie die Schande ersparen.

Und wie stand es um sie selbst? Immerhin hatte auch sie eine Tochter. Ruinierte sie mit ihrem Lebenswandel Solanges Zukunft? War ihr Wunsch, ein selbstbestimmtes Leben als Künstlerin zu führen, gerechtfertigt? Und was war mit Maurice?

Das Herz zog sich ihr zusammen, so sehr vermisste sie ihre Kinder. Auch wenn der Verstand ihr sagte, dass ihr bald achtjähriger Sohn Maurice gut in der Obhut seines Erziehers aufgehoben war, einem freundlichen und klugen Menschen, der ihr fast täglich schrieb. Doch konnte er die Mutterliebe ersetzen? Natürlich nicht. War ihr neues Leben dieses Opfer wert?

So bald wie möglich würde sie wenigstens die kleine Solange nach Paris holen, das hatte sie sich geschworen. Ihrer Tochter sollte es nicht so ergehen wie Aurore im selben Alter. Nur zu gut erinnerte sie sich an die Verzweiflung, von ihrer Mutter verlassen worden zu sein, nachdem ihr Vater tödlich verunglückt war. Zurückgelassen bei ihrer Großmutter auf dem Landgut im Berry, hatte sie jahrelang die Hoffnung gehegt, ihre Mutter würde sie bei einem ihrer viel zu seltenen Besuche endlich mit nach Paris nehmen.

Doch Sophie, die Tochter des Vogelhändlers und leidenschaftliche Liebe ihres Vaters, die schöne Sophie hatte es zwar hunderte Male versprochen, aber doch nie eingelöst. Heute wusste Aurore, dass ihre Mutter nichts dafür konnte, hatte ihre Großmutter sie doch geradezu erpresst und mit der Kürzung des finanziellen Unterhalts gedroht, sollte sie Aurore ihrem Einfluss entziehen. Wenn sie es sich recht überlegte, so hatte ihre Mutter sie einer höheren Jahrespension wegen an die Großmutter verschachert. Und obwohl Aurore tiefe Gefühle für die alte Dame gehegt hatte und sie noch heute, zehn Jahre nach ihrem Tod, sehr vermisste, so ließ sich die Liebe doch nicht kaufen. Ein Kind gehört zu seiner Mutter. Eine Großmutter kann diese Rolle nicht ausfüllen. Und ein Kindermädchen schon gar nicht.

Aurore seufzte tief und löste sich sanft aus Jules Umarmung. Sie musste unbedingt einen Weg finden, um genügend Geld zu verdienen. Denn sie wollte beides: ihr Kind um sich haben und unabhängig sein. Solange sollte selbstbewusst aufwachsen und von klein auf lernen, dass sie genauso viel wert war wie ihr Bruder. Aurore war es ernst mit der Gleichheit zwischen Mann und Frau, sie wusste, dass dazu nicht nur Rechte, sondern auch Pflichten gehörten. Sie hatte ihren Mann und das Gut, das sie nach dem Tod ihrer Großmutter geerbt hatte, aus freien Stücken verlassen. Drei Monate zu Hause, drei Monate Paris, so lautete der Kompromiss, den sie nach harten Kämpfen mit Casimir durchgesetzt hatte. Erst vor wenigen Wochen war sie mit Jules nach Paris gekommen. Und musste froh sein, wenn sich ihr Mann an die Zusage hielt. Durch die Heirat war ihr gesamter Besitz auf ihn übergegangen, was eine weitere dieser vielen Ungerechtigkeiten darstellte. Wieso verlor eine Frau bei der Eheschließung automatisch ihr Eigentum an den Gatten? Damit sie zeit ihres Lebens von ihm abhängig war, das war doch der wirkliche Grund. Casimir hielt sich für den Herrn über Nohant, doch auch darüber war das letzte Wort noch lange nicht gesprochen. Vorerst allerdings hatte sie eine Pause von diesen erbärmlichen Streitigkeiten dringend nötig, allein der Gedanke an die Gemeinheiten, die sie während ihrer Ehe hatte ertragen müssen, brachte ihr Blut in Wallung.

Der volle Mond schien ins Fenster und eine Weile lang ruhte ihr Blick auf dem schlafenden Jules. Trotz des modischen Barts wirkte er immer noch wie ein kleiner Junge. Zärtlichkeit stieg in ihr auf. Dann hielt sie es nicht mehr aus im Bett und erhob sich leise. Es war eiskalt in der Mansarde, am liebsten hätte sie sich einen Tee gekocht, doch sie wollte Jules nicht wecken. Sie trank ein Glas Wasser gegen den noch immer brennenden Geschmack der Zigarre in ihrem Mund, und weil ihr so entsetzlich kalt war, zog sie die Herrenhose wieder an und darüber ihren Schlafrock, legte sogar noch ein wollenes Schultertuch um, denn sie hasste es, zu frieren, und sie fror schnell. Einige Minuten stand sie am Fenster und betrachtete den Mond, der die Dächer von Paris und weiter hinten auf der Ile de la Cité die beiden Türme der Kathedrale Notre Dame in silbernes Licht tauchte. Unten auf der Straße lachten und lärmten ein paar betrunkene Studenten, Nachtschwärmer mit Handlaternen verließen das Lokal schräg gegenüber und trugen ihr schwankendes Licht in Richtung Seine.

Paris schlief niemals, und deshalb passte sie so gut hierher. Denn auch sie litt seit frühester Jugend unter Schlaflosigkeit, spätestens seit den Nachtwachen am Kranken- und Sterbelager ihrer Großmutter. Statt zu schlafen hatte sie damals im Morgengrauen ihre Stute Colette gesattelt und war zwei, drei Stunden lang wie eine Verrückte über die Felder galoppiert. Das würde sie auch hier gerne tun. Wie es Colette wohl erging?

In Paris besaß sie kein Pferd, also zündete sie leise die Petroleumlampe an, drehte sie herunter, um Jules nicht zu stören, und setzte sich an ihren Sekretär. Sie holte ein frisches Blatt Papier aus der Packung und öffnete das Tintenfass, um einen Brief an ihre Kinder zu schreiben. Dann nahm sie die Mappe mit den Manuskripten aus der Schublade.

Nachdenklich überflog sie die dicht beschriebenen Seiten, die das Tageslicht noch nie gesehen hatten, stets holte sie sie nur während ihrer schlaflosen Nächte heraus. Es handelte sich um eine Erzählung mit dem Titel »La Fille d’Albano« – »Das Mädchen von Albano«, in der eine junge Frau gezwungen ist, zwischen Ehe und einer Existenz als Künstlerin zu wählen.

Aber war nicht gerade dies das Problem, dass man überhaupt zwischen einer bürgerlichen und einer künstlerischen Existenz wählen musste, und zwar als Mann ebenso wie als Frau? Gab es wirklich nur Freiheit gepaart mit Unsicherheit, mit ungeordneten Verhältnissen, immer nahe am gesellschaftlichen Abgrund? Oder würde es ihr gelingen, irgendwann von ihrer Kunst zu leben und ihren Kindern aus eigener Kraft finanzielle Sicherheit zu bieten, eine gute Ausbildung und alles, was dazugehörte?

Sie legte die Erzählung zurück in den Ordner und zog etwas anderes heraus, den Entwurf für einen Roman.

In diesem wollte sie die klassischen Rollen, in die eine Frau von der Gesellschaft gedrängt wurde, infrage stellen: Blanche soll ins Kloster eintreten, während für die Komödiantin Rose als Tochter einer Kupplerin ein Leben als Prostituierte vorgezeichnet war. Auch die Männer, die sich in sie verliebten, würden ihre eigenen Phantasien auf die beiden jungen Frauen projizieren. War echte Liebe unter den gegebenen Verhältnissen überhaupt möglich? Das war die große dramatische Frage, die sie so sehr beschäftigte. In ihrem Roman wollte sie die unterschiedlichen Figuren wie in einer Versuchsanordnung aufeinandertreffen lassen. Denn jede Entscheidung für etwas schloss auch die Möglichkeit, anders zu leben, aus. War das nicht das Drama des Lebens überhaupt?

Fünfzig Seiten hatte sie bereits in drei Nächten hintereinander heruntergeschrieben. Alles war nur so aus ihr herausgeflossen, doch dann hatte sie der Mut verlassen. Das Schreiben eines Romans erschien ihr wie das Bauen eines komplexen Gebäudes: Wenn man sich nicht versah, stürzte das Ganze am Ende ein. Oder hatte sie nur zu viele Skrupel, sollte sie einfach weiterschreiben und hoffen, dass sich am Ende alles fügen würde?

Aurore packte mit einem Seufzen alles wieder zurück in den Sekretär. In den vergangenen Jahren hatte sie bereits zwei ganze Romane auf diese Weise heruntergeschrieben und am Ende den Flammen übergeben. Weil die Idee, die zu Beginn so faszinierend und schillernd gewirkt, das Gebäude am Ende nicht getragen hatte. Weil die Figuren blass und künstlich geblieben waren, eben wie in einer Versuchsanordnung. Das Leben jedoch war keine Versuchsanordnung. Doch was war es dann? Was war das Geheimnis von Alexandre Dumas’ »Antony«, warum waren seine Figuren so lebendig, so echt?

Aurore erhob sich und zog das Schultertuch fester um sich. Sie schenkte sich einen Becher Milch ein und gönnte sich einen selbstgebackenen macaron aus der zerbeulten Blechdose, die ihre Mutter ihr beim letzten Besuch mitgegeben hatte. Aurore ging sparsam mit ihnen um, Sophie war selten in Stimmung, sie derart zu verwöhnen, meist fand sie irgendeinen Grund, um mit ihr zu zanken. Umso kostbarer war Aurore das schlichte Mandelgebäck, für immer würde es nach Kindheit, Geborgenheit und Liebe schmecken.

Sie dachte an ihren Vater, und dass er sich anders als Adèle in Dumas’ Theaterstück nicht hatte davon abhalten lassen, seinem Herzen zu folgen und eine Frau zu heiraten, die nach allgemeiner Auffassung nicht zu ihm passte. Hätte er das nicht getan, wäre ich nicht auf der Welt, überlegte sie. Konnte dies Zufall sein? War sie als Kind einer rebellischen Liebe nicht dazu verpflichtet, diesen Kampf weiterzuführen?

Sie würde der Einladung des exzentrischen Zeitungsverlegers folgen. Vielleicht hatte Jules ja recht, und der Weg in die künstlerische Unabhängigkeit führte über de Latouches Redaktionsbüro. Allerdings würde sie morgen nicht mit leeren Händen dort erscheinen.

Entschlossen nahm sie ein neues Blatt Papier aus der Schublade und setzte sich wieder an ihren Sekretär. Als Probe ihres Talents würde sie de Latouche eine Rezension der gestrigen Theaterpremiere vorlegen. Es brauchte nicht mehr als einen Moment der Sammlung, dann flog ihre Feder nur so über das Papier.

2. Kapitel
Paris, Frühjahr 1831

»Das ist alles schön und gut«, sagte de Latouche, griff nach einer zerzausten Schreibfeder und tauchte sie ins Tintenfass. »Aber viel zu lang und zu ausschweifend.« Zu Aurores Entsetzen strich er mehrere Absätze ihres Artikels energisch durch, fuhr sich mit der linken Hand durch den Backenbart und setzte die Spitze seines Schreibwerkzeugs erbarmungslos an anderer Stelle an. »Das kann auch weg«, murmelte er mehr zu sich selbst, und Aurore musste sich auf die Zunge beißen, um ihn nicht anzuschreien.

»Dann geh ich wohl besser wieder«, presste sie schließlich zwischen den Zähnen hervor und wandte sich ab, doch de Latouche hielt sie am Rock ihres Kleides fest.

»Hiergeblieben«, kommandierte er gutmütig und wies auf ein Schreibpult in der Nähe des Kamins. »Dort ist Ihr Platz. Sie müssen allerdings noch eine Menge lernen.« Er hob das Blatt ins Licht seiner Tischlampe und überflog den verstümmelten Text. »Das Ganze muss ironischer werden«, erklärte er. »Dass es um die große Liebe geht, ist jedem klar. Schließlich hat Alexandre Dumas das Stück geschrieben, und bei dem geht es immer leidenschaftlich zu. Geweint haben sie gestern, heute wollen sie sich über das Stück amüsieren, verstehen Sie?«

Aurore starrte ihn finster an.

»Was ist amüsant am Scheitern der Liebe?«, fragte sie zornig.

De Latouche lachte schallend. »Alles«, antwortete er, als er wieder Luft bekam. »Es gibt nichts Lächerlicheres als die Liebe. Nein, nicht weglaufen. Sie haben zweifellos Talent.«

»Eigentlich möchte ich lieber Romane schreiben«, entgegnete Aurore patzig und konnte selbst kaum glauben, dass sie das wirklich gesagt hatte. Doch da sie nun schon mal so weit war, fügte sie hinzu: »Wie wäre es, wenn Sie eine Erzählung von mir abdrucken, statt mich als Kritikerin zu beschäftigen?«

De Latouche nickte beiläufig, als hörte er das jeden Tag. »Natürlich«, meinte er. »Das wollen sie alle. Schauen Sie sich mal um. Jeder hier ist ein verkappter Romancier. Und einige werden es auch schaffen. So, wie Balzac. Der wäre heute noch ein Nichts, hätte ich ihn nicht gefördert.« Kurz huschte ein unangenehm verbitterter Zug über das Gesicht des Herausgebers. »Davon spricht er natürlich heute nicht mehr, der undankbare Schuft. Nun ja. Vielleicht kann auch aus Ihnen etwas werden, wenn Sie sich anstrengen und bereit sind, zu lernen. Dass Sie zu epischer Länge neigen, ist hiermit ja bereits erwiesen.« Gutmütig grinsend drückte er Aurore ihre zerfledderte Rezension in die Hand. »Tausend Wörter und kein einziges mehr. Bis zum Mittagessen. Alles klar?«

Aurore wollte eine Menge entgegnen, doch de Latouche hatte sich bereits Jules zugewandt, drückte ihm ein druckfrisches Buch in die Hand, das er rezensieren sollte, und verwies ihn an einen Tisch nahe dem Fenster. Sie starrte auf das Geschmiere in ihrem Text, für den sie sich so viel Mühe gegeben hatte, und stampfte zornig mit dem Fuß auf, doch der versank lautlos in dem weichen Teppich, der den Boden bedeckte. Unschlüssig sah sie sich in dem Salon in der cité Bergère, n° 12 um, den der Verleger seine Redaktion nannte. Es war ein Salon wie jeder andere auch, mit seinen schweren Möbeln, dem Kristalllüster und den Holzvertäfelungen. Den einzigen Unterschied zu einem bürgerlichen Wohnzimmer bildeten die vielen kleinen Tische, die überall im Raum verteilt waren. In blauen Tabakdunst gehüllt saßen dort junge Männer im Kegellicht ihrer Petroleumlampen, schreibend, korrigierend, lesend.

»Du hast Glück«, raunte ihr ein dünner, rotblonder Kerl zu, der sich an ihr vorbeidrückte. »Dein Tisch steht nah am Feuer. Du willst wahrscheinlich nicht tauschen?«

Tatsächlich war es das warme Kaminfeuer, das Aurore am Ende bewog, es wenigstens zu versuchen. Zu Hause in ihrer Mansarde war es kalt. Und für Holz zum Heizen fehlte ihnen das Geld. Widerwillig nahm sie ein paar Bögen Papier vom Tisch des Verlegers, setzte sich und begann von Neuem.

»Wörter zählen«, beschwerte sich Aurore, als sie mit Jules und den anderen Freunden beim Mittagstisch in dem kleinen Bistro um die Ecke saßen. Vorsorglich blickte sie sich um, ob der Verleger sie nicht womöglich in irgendeiner Ecke verborgen belauschte. »Ich werde noch wahnsinnig.«

»Sie hat ihm doch tatsächlich gesagt, dass sie eigentlich Romane schreiben will«, feixte Félix.

Aurore stöhnte auf und legte ihren Löffel hin. Der Appetit war ihr vergangen.

»Das hätte ich wohl besser gelassen«, sagte sie beschämt.

»Nein, du hast vollkommen recht« Jules sah sie aufmunternd an. »Lass uns einen Roman schreiben. Das ist es doch, was du wirklich willst.«

Aurore betrachtete ihn zweifelnd.

»Ist das dein Ernst?«

»Mein heiliger Ernst«, rief der junge Mann aus und strahlte sie aus seinen himmelblauen Augen an. »Du hast doch schon längst damit begonnen«, fuhr er fort. »Woran schreibst du sonst Nacht für Nacht? Das sind doch nicht nur Briefe an Maurice und Solange. Und jede Woche brauchst du einen neuen Packen Papier.«

»Romane«, spottete Félix Pyat. »Warum verschwendest du deine Energie auf diesen romantischen Blödsinn, während unser sauberer Bürgerkönig alle unsere Errungenschaften wieder preisgibt? Wozu sind unsere Väter auf die Barrikaden gegangen? Damit diese satte, faule Bourgeoisie still und heimlich wieder eine Monarchie errichtet wie vor hundert Jahren? Wir brauchen politische Texte, dafür solltet ihr eure Federn spitzen …«

»Ach Félix, hör doch auf«, unterbrach ihn Aurore und rollte mit den Augen. »Fängst du schon wieder damit an? Ich sag dir eines: Die Herzen der Menschen erreichst du eher durch einen gut geschriebenen Roman als mit einem Pamphlet. Oder durch das Theater. Hast du nicht gesehen, wie aufgewühlt das Publikum gestern war? Und nicht nur im Stehparterre, sondern auch in den teuren Logen.«