1 - Vorwort

Noch ein Rapper, der ein Buch schreibt? Muss das sein? Ja, das muss sein. Auch wenn dieses Buch eine Zumutung ist. Chaoze One traut uns den Mut zu, mehr zu erfahren, als es die üblichen Biografien erfolgreicher Musiker hergeben – diese Geschichten, die am Anfang immer eine sehnsüchtige Melodie anschlagen und am Ende wunderbar aufgehen. Spielverderber ist kein Entwicklungsroman, sondern die empörende Zeitzeugen-Täterschaft eines Menschen, der sich mit den herrschenden Verhältnissen nicht abfinden will.

Dass der Autor viele Jahre seines politischen Lebens aus der Perspektive eines Rappers erzählt, ist im Grunde eine Nebensächlichkeit. Auch wenn der Panthersprung vom lyrischen Sandkasten in die Arena der Autobiografie schon vielen begabten Liedermachern den Bleistift gebrochen hat – Chaoze One ist klug genug, diese literarische Langstrecke nicht als Marathon anzulegen, sondern als spannenden Staffellauf. Auf Erinnerungen folgen Reflexionen, auf erschütternde Berichte politische Empörung. Der Autor lässt den Stab der Erzählung wandern und verwebt seine Geschichten mit der politischen Geschichte der Bundesrepublik – vom Kind, das spürt, dass etwas nicht stimmt mit dem Land und den Leuten, zum Jungen, der sich blaue Flecken holt, weil er immer wieder aneckt in den deutschen Bildungsbunkern, zum Teenager, der das nicht mehr hinnehmen will, bis zum jungen Mann, der sich solidarisiert und voller Neugierde und Energie aufbricht in die weite Welt. Also doch ein Entwicklungsroman? Nein – denn Chaoze One führt uns nicht zum hellen Schein. Er zweifelt, verzweifelt, taumelt und bleibt doch unerschrocken und zuversichtlich.

Als ich Chaoze zum ersten Mal traf, hatte ich meine Karriere als Rapper gerade hinter mir. Auf Tour gehen, auf Bühnen steigen, Feste feiern und an die gute Sache glauben – das fiel mir immer schwerer. Bei Chaoze war es umgekehrt: Er hatte seine Liebe für Rap eben erst entdeckt und vermählte diese Leidenschaft mit seiner Energie als politischer Aktivist. Ich kam mir müde und klamm vor neben so viel Power. Und gleichzeitig half mir diese Begegnung, meinen Blick auf die Generation, die mir folgte, neu zu justieren. Chaoze’ Neugierde steckte mich an, sein Optimismus und sein Kampfesgeist gaben mir etwas von dem Rausch zurück, der mich selbst einmal getrieben hatte. In den folgenden Jahren stiegen wir dann tatsächlich immer mal wieder gemeinsam auf die Bühne und Chaoze erinnerte mich daran, dass ein guter Beat, ein starker Text und der Wille, die Welt zu verändern, nichts mit dem biologischen Alter zu tun haben.

Und jetzt eine politische Autobiografie. Das hat mich überrascht, aber nachdem ich die ersten Kapitel gelesen hatte, wusste ich: Das funktioniert, das ist ein ungewöhnlicher, aber packender Remix der letzten 30 Jahre. Chaoze gibt viel von sich preis, er lässt den Leser und die Leserin nahe an sich heran. Er wirft persönliche Erlebnisse in die Waagschale, die andere Menschen vielleicht für sich behalten hätten. Aber das Buch braucht diese Ehrlichkeit. Sie hält das Gewicht der politischen Exkurse in Balance und ermöglicht, dass wir uns wiederfinden in dieser Geschichte. Denn Spielverderber ist – anders als der Titel suggeriert – eine sehr verspielte Lektüre, eine Lektüre, die oft in einem arglosen Ton ins Schwarze trifft. Und was vielleicht das Wichtigste ist: Dieses Buch macht Lust auf Solidarität und Rebellion.

Hannes Loh, Dezember 2018

2 - Intro

Es ist Mai 2018, die ersten wärmeren Tage streifen das Land und ich befinde mich auf einer Reise an der Nord- und Ostsee, um neue Texte zu schreiben. Ich reise mit einem Minivan, den ich mir schlafbar umgebaut habe, und setze die Reise jeden Morgen ein paar Kilometer fort. Die tägliche Routine beginnt mit dem Frühstück bei einem Bäcker der Umgebung, später werde ich einen Beat loopen und meine Camping-Nachbarn werden mich dafür hassen, dass dieser Loop sie bis in die Mittagspause und später in die Abendstunden begleiten wird. Seit nunmehr vier Jahren arbeite ich an einem neuen Album, keine Produktion meiner Geschichte hat mich bisher auf so vielen Ebenen beschäftigt wie diese. Während ich bei meiner ersten Tasse Kaffee auf einem Croissant kaue, lese ich meine Mails und entdecke eine Nachricht von meinem Label: »Hallo Jan – sag mal, hast du gar keine E-Mail-Adresse mehr auf deiner Homepage? Schau mal, hier kam gerade eine Anfrage für dich rein, halt mich auf dem Laufenden.«

Ich verschlucke mich fast an meinem Frühstück: Ein Verlag fragt an, ob ich mir vorstellen könne, ein Buch zum Thema Musik und Politik zu schreiben. Na klar kann ich das, aber ausgerechnet jetzt? Wie ein Irrer habe ich mir Zeitfenster für die Beendigung der Album-Produktion geschaufelt. Wenn ich hier zusagen würde, bräuchte ich dringend Nachhilfe in puncto Zeitmanagement.

3 - Lebensläufe

Wer bin ich?

Wenn jemand darüber erzählt, wer er ist, beginnt er üblicherweise mit seinem Namen. Ich habe zwei. An den meisten Tagen des Jahres werde ich Jan genannt. In der übrigen Zeit bin ich seit kurz vor der Jahrtausendwende Chaoze One, der Rapper. »Chaoze was? Wie spricht man das?« Die meisten Menschen reagieren verstört auf diesen Namen. Als wir im Biologieunterricht der achten Klasse eine Dokumentation über den drohenden ökologischen Kollaps der Erde ansahen, kam dort ein Forscher aus China zu Wort, der den Namen Chaoze trug. Von da an nutzte ich ihn vor allem dann, wenn ich meinem Kinderzimmer mit Sprühdosen in die Nacht entstieg. Als ich dann um die Jahrtausendwende einen Künstlernamen suchte, fügte ich kurzerhand das Kürzel MC an, das Rapper als Master of Ceremony auswies. Aus ähnlichen Gründen, nämlich um mich von der Rapszene zu distanzieren, tauschte ich vor der Veröffentlichung meines ersten offiziellen Albums das MC gegen das One – aus der Überzeugung, dass jeder Mensch einzigartig ist und den Auftrag hat, seine Nummer eins zu sein. Heute finde ich den Namen, nicht meine Überlegungen, überwiegend albern und habe halbherzige Versuche hingelegt, mich von ihm zu verabschieden. Aber wie das so ist – nach zwei Jahrzehnten Partnerschaft fällt mir selbst das Loslassen meines pubertären Rappernamens schwer. Marianne Rosenberg hätte wohl ihre wahre Freude an mir. Wie dem auch sei: Vor über zehn Jahren, im Jahr 2007, veröffentlichte ich mein letztes Soloalbum Fame, was das italienische Wort für Hunger ist, aber natürlich mit der englischsprachigen Semantik Ruhm als Doppeldeutigkeit spielt. Das Hip-Hop-Magazin rap.de betitelte Fame als den Anwärter auf das Rapalbum des Jahres – und zwar schon im Januar. War ich es vorher gewohnt, in der Rapszene auf breite Ablehnung zu stoßen, so fand dieses Album dort jetzt Anklang. Es folgten viele hundert Auftritte vom LKW auf Demonstrationen bis zum Toursupport von Irie Révoltés oder Manu Chao in der ausverkauften Frankfurter Jahrhunderthalle und im Zenith in München.

Zwei Jahre später gründete ich gemeinsam mit vierzehn anderen Musikerinnen das Projekt La Resistance, eine Art Supercrew aus verschiedenen linken Rapprojekten. Wir gingen gemeinsam auf Tour durch Deutschland und die Schweiz. Es war meine erste eigene Tour mit einem Baby, Shana Supremes drei Monate altes Kind begleitete uns die gesamte Zeit. Es war die erste Tour mit einem Nightliner – ein großer, doppelstöckiger Koloss mit verspiegelten Scheiben, wie im Film. Wir traten auf, ich feierte, bis ich in die Koje fiel, und wachte am Tag danach in einer neuen Stadt auf, wo das Spiel von vorn begann.

Dennoch – damals schon schien mir plötzlich alles kompliziert. Mit fast dreißig Jahren war die Welt nicht mehr so einfach strukturiert wie noch zehn Jahre zuvor. Aus Schwarz und Weiß wurde immer öfter ein Graustufen-Regenbogen, wie es der Rapper Maeckes so schön formuliert hat. Aus »Ja« wurde immer öfter ein »Ja, aber« und aus »Absolut« ein »Eher«. Das Wort Zweifel fand omnipräsenten Einzug in meinen aktiven Wortschatz. Was sich wie eine massive Lebenskrise anfühlte, entwickelte sich glücklicherweise zu einer Neuerfindung.

Privat war ich inzwischen selbständig, lebte in einer Doppelhaushälfte am grünen Stadtrand Mannheims und war verheiratet. Mit anderen Worten, mein Werdegang begann mir Angst zu machen. Vieles an meinem Leben schien dem Wie-ich-bin nicht gerecht zu werden und während ich auf der einen Seite irgendwie auch froh war, dass mein Leben ein wenig an Drive verloren hatte, begann die Sehnsucht nach einem Ausbruch aus demselben mich immer öfter einzuholen. Nur fühlte ich mich gleichzeitig wie von einer fremden Macht gehalten und befürchtete, mir selbst ein Streichholz in die benzingetränkte heile Welt zu schmeißen, wenn ich mir diese Sehnsucht eingestand. So war ich mit mir selbst beschäftigt und die Musik rückte in den Hintergrund. Wenn ich auf der Bühne stand und in meinen Texten das schöne Leben einforderte, hatte ich immer öfter das Gefühl, dass diese Forderung wenig mit Empowerment zu tun hatte.

Beginnt Revolution und die Befreiung von Unterdrückung nicht vor allem zunächst im Kopf? Und bin es nicht ich selbst, der sich da am meisten einschränkt? Kommt das schöne Leben nicht am ehesten, wenn ich es lebe? Gibt es ein richtigeres Leben im falschen? Zu wie viel Prozent halte ich mich selbst von einem schönen Leben ab? Welche Rolle spielen die ökonomischen Zwänge wie Lohnarbeit und Leistungsgesellschaft in dieser Rechnung? Wie hoch ist der Anteil von persönlicher Unfreiheit in einem nationalistischen und kapitalistischen System? Was mich in dieser Zeit vor allem anderen verunsicherte: Was bringt es, sich auf eine Bühne zu stellen und zu Bekehrten zu predigen, wenn die Politik doch vor allem auf der Straße entschieden wird? Wie konnte ich Menschen erreichen, denen neu war, was ich erzählte? Und ist es als weißer, privilegierter Mann und Kind des Mittelstands nicht absurd, gegen das Establishment zu wettern?

Heute habe ich dazu eine Haltung, auch wenn ich lange nicht alle meine Fragen beantworten konnte. Doch die Findung dieser Haltung war alles andere als einfach und erforderte nicht zuletzt eine ganze Menge biografische Arbeit. Und diese Biografie beginnt im März 1981.

Back in the days

Er hat hart geackert, mindestens Montag bis Freitag.
Alles, was sein Lohn war, ist ein Tumor, ein Bypass,
manchmal fehlt ihm die Scheißkraft, um noch weiterzumachen,
die Firma dankt, dass sie so lange so ’nen Arbeiter hatten.
Ja, es ist wahr, er kennt das Gefühl von Verlusten zu gut.
Manchmal schnür’n Trauer und Frust seine Kehle so zu.
Doch er liebt seine Frau, sie ihn auch und so ist es.
Manchmal wird er noch heute zum Philosoph, dichtet,
und wenn’s nur das wäre, Dad, das ich von dir geerbt hab.
Ich weiß, das Leben ist hart, ich hoff, du bleibst weiter härter.
Sie ist Erzieherin gewesen in ’nem Kiga am Stadtrand,
muss trotz Kind weiter ackern, weil der Papa verschwand.
Sie stand da mit ihrem Sohn und einem Haufen von Schulden,
doch sie wusste, sie schafft es, und blieb nach außen hin cool.
So geschah es, dass sie ihn traf und letztendlich auch fand.
In unendlich langen Gesprächen die Bereitschaft erkannt hat.
Bereit für einen Anfang, für ein anderes Leben
und so schenkten die beiden ein anderes Leben.
Sie beendet den Job, um mehr Mutter zu sein,
ihre Kinder war’n alles, die zwei Wunder des Seins.
Sie tut alles für sie, sie gibt, was sie geben kann,
liebt, wie sie lieben kann, wiegt sie gerade ebendann,
wenn alles ungewiss ist in stürmischen Tagen,
und sie erklärt ihren Kindern all die üblichen Fragen.

Lebensläufe / Chaoze One

Patchwork im Reihenhaus

Wenn ich meinen Vater nach dem 31. März 1981 frage, beginnt er zu schwärmen. Es war ein warmer Frühlingstag, in Krefeld am Rhein blühten die Magnolien in voller Pracht. Aber er erinnert sich auch daran, wie die Welt zu dieser Zeit aussah: Die RAF-Gefangenen befinden sich gerade im achten kollektiven Hungerstreik, während BKA-Präsident Horst Herold just an diesem Tag in den vorzeitigen Ruhestand verabschiedet wird. Die SPD ist in der »schwersten Krise seit Kriegsende«, wenn dem stellvertretenden Parteivorsitzenden Wischnewski Glauben geschenkt werden darf. In der ARD-Sendung Monitor wird der Einsatz von Gummigeschossen durch die Polizei diskutiert. Fania Fénelon veröffentlicht ihr Buch Das Mädchenorchester in Auschwitz, der Spiegel schreibt in Ausgabe 14/1981 über die »braune Internationale« und berichtet über hunderte Hausdurchsuchungen im gesamten Bundesgebiet. Vier Monate zuvor hatte der Naziterrorist Frank Schubert einen Schweizer Zollbeamten und einen Polizisten bei einer Kontrolle erschossen und zwei weitere Polizisten verletzt, um sich anschließend der Verhaftung durch Suizid zu entziehen.

Auch in meiner beschaulichen Geburtsstadt tobt die Geschichte. Der Krefelder Appell der sogenannten >Friedensbewegung verbucht bis zu diesem Tag 250.000 Unterzeichnerinnen. Sie sprechen sich gegen die Stationierung atomarer Mittelstreckenraketen in Europa aus und befürchten, Europa könne die nukleare Waffenplattform der USA werden. 24 Stunden zuvor schoss ein Mann aus nächster Nähe auf den US-amerikanischen Präsidenten Ronald Reagan – Roland Kaiser ist mit Dich zu lieben gerade in den Charts. Der Attentäter wurde unmittelbar nach dem Schuss gestellt und wird im späteren Prozess zwar wegen Unzurechnungsfähigkeit freigesprochen, allerdings bis 2016 zur Sicherheit in einer psychiatrischen Klinik verwahrt. Mit der Tat wollte er zum einen die Schauspielerin Jodie Foster beeindrucken und zum anderen in die Weltgeschichte eingehen. Den Gefallen der Geschichtsschreibung tue ich ihm jetzt. Später, im Juli, wird Roland Kaiser übrigens noch einmal nachlegen. Die Top 30 aus dem Jahr 1981 beinhalten vier deutschsprachige Songs: Nicole und Fred Sonnenschein komplettieren die Liste. Wer in den 1980er-Jahren deutschsprachige Musik hört, der hört Schlager.

All das war mir am 31. März 1981 ziemlich egal und ich bin sicher, es ging meiner Mutter ganz genauso. An diesem Tag erblickte ich das Licht der Welt im Krefelder Stadtteil Uerdingen als gemeinsames Kind einer Erzieherin und eines Papiermachers.

Die erste Frau meines Vaters hatte vor einigen Monaten den Kampf gegen den Krebs verloren, sodass den beiden gemeinsamen Kindern inmitten ihrer Adoleszenz plötzlich die Mutter fehlte. Meine Mutter hatte den Vater ihres ersten Kindes Michael zeitig des Feldes verwiesen. Ein knappes Jahr vor meiner Geburt waren sich meine Eltern beim abendlichen Einkauf im Supermarkt begegnet und mein Vater hatte meiner Mutter seitdem hartnäckig den Hof gemacht. Seit dem letzten Märztag 1981 war ich also da und von Tag eins an hatte ich eine besondere Aufgabe: Meine Herkunftsfamilie war eine dieser sogenannten Patchworkfamilien und ich bekam ungefragt die Rolle der Naht, die alles miteinander verband.

Alsbald zog ich vom Kreißsaal ins Reihenhaus. Wir waren ab diesem Tag also zu sechst – mit meinen Geschwistern Anke, Gert und Michael, die alle zwischen zehn und fünfzehn Jahre älter waren als ich.

Die ersten Jahre meines Lebens erinnere ich als unbeschwert. Die Gärten der Siedlung waren voll von Kindern in meinem Alter. Wir spielten mal bei diesem, mal bei jenem Kind in der Nachbarschaft, mal Barbie, mal He-Man, mal fuhren wir Kettcar oder setzten im Sommer den Garten unter Wasser. Meine Geschwister besuchten die Schule und übernahmen nicht selten auch mehr oder weniger freiwillig meine Betreuung an den Nachmittagen. Vor allem mein Bruder Michael tat das, ich glaube, meistens sogar gern. Meistens. Ich erinnere mich an Weihnachten 1985, als ich ein Playmobil-Piratenschiff geschenkt bekam. Michael hatte den Auftrag, mich bei Laune zu halten, bis das Christkind die Bescherung vorbereitet hatte. Ich saß im Kinderwagen und mein Bruder schob mich in einem Affenzahn durch Wald und Wiese, ich nehme an, es war der Stadtpark. Der Kinderwagen war oft so nah am Umkippen, dass ich reihenweise Adrenalinschocks bekam. Zum Glück war ich angeschnallt. Noch bevor das Christkind endlich lieferte, war ich bereits der glücklichste Junge der Welt. Heute frage ich mich manchmal, ob das alles wirklich ein großer Spaß war oder ob mein Bruder mal Dampf ablassen musste. Mit anderen Worten: Es knirschte und knarzte an allen Ecken und Enden im Familiengefüge. Ich bekam davon nichts mit.

Den Rhein hinauf

Zu meinem fünften Geburtstag zogen wir aus Krefeld fort. Mein Vater hatte einen besser bezahlten Job gefunden, der uns in die Pfalz, genauer gesagt nach Neustadt an der Weinstraße, führte. Mir fiel es leicht, mich dort einzuleben. Ich fand schnell Anschluss und bekam nach einiger Zeit von meinem Bruder Michael das größere Zimmer unserer 100-qm-Wohnung zugesprochen. Michael trauerte deutlich mehr, hatte er doch seine Freundinnen und sein bisheriges Leben komplett zurücklassen müssen. Dass meine beiden anderen Geschwister mit Anfang 20 in Krefeld blieben und gemeinsam eine WG bezogen, schien mir nicht weiter sonderbar. Für mich waren sie erwachsene Menschen und führten nun eben ihr eigenes Leben. Meine Mutter wurde indes Erzieherin in meiner neuen Kita und begleitete mich so in meinem letzten Jahr bis zur Einschulung quasi rund um die Uhr.

Die Grundschule war für mich von Anfang an ein ambivalentes Thema. Zwar mochte ich die anderen Kinder und verbrachte gern meine Zeit dort. Doch ich erinnere mich daran, dass meine Lehrerin mich mit Pixi-Büchern bestach, wenn ich nicht der Letzte war, der den Klassenraum betrat und verließ. Mir ging das alles zu schnell. In der Rückschau betrachtet würde ich sagen, ich war der Begegnung mit der Leistungsgesellschaft längst nicht gewachsen, wurde ich doch sogar in meiner Kindergartenzeit dem elterlichen Schutz nicht entzogen. Derart eingeschüchtert entwickelte ich regelrechte Zwangsgedanken. Ich war besessen von der Angst, ich müsse, würde ich im Unterricht aufgerufen und zu einem Beitrag verpflichtet, beim Sprechen rülpsen. Also meldete ich mich selten und wenn, dann mit Hand vor dem Mund, so als sollten die Worte mich nicht wirklich verlassen, oder wenn schon, dann wenigstens nicht bis zu einem fremden Ohr vordringen. Absurderweise sang ich im Rahmen meiner musikalischen Früherziehung auch im Kinderchor mit. Was ich allerdings nur in den Proben tatsächlich auch machte. Ich hatte Spaß am Singen und ging gern zu diesen Proben. Sobald jedoch Publikum da war, verdarb mir der Leistungsdruck, den ich verspürte, jede Freude und ich zog es vor, nur die Lippen zu bewegen. Ich entwickelte sogar eine Technik, die den Hals in Spannung versetzte und ein angestrengtes Atmen vortäuschte, in Wirklichkeit aber verließ kein Ton meine Lippen, weil ich Angst hatte, dass spätestens dann auffliegen würde, das ich gar nicht singen konnte.

Dieses Prinzip behielt ich auch später bei: Mit etwa acht Jahren fing ich an, Unterricht für das klassische Gitarrenspiel zu nehmen. Da meine Mutter eine Gitarre besaß und ich immer mal wieder gern ahnungslos darauf herumzupfte, war ich schnell begeistert von der Idee, dieses Instrument zu lernen. Ich bekam Unterricht in einer Gruppe von drei Schülerinnen. Ich hatte riesigen Spaß, wenn ich auch das Üben zuhause oft als sehr lästig empfand. Der Spaß verging mir, als der Lehrer nach zwei Jahren ein Vorspiel im Saalbau für mich und meine Mitschülerinnen vereinbart hatte. In mir schrillten alle Alarmglocken. Alsbald verließ die Gitarre nur noch selten ihre Hülle und ich betrat die Musikschule nicht mehr. Die Ankündigung des Konzertes, die mir wie eine Drohung vorkam, hatte mir die Freude am Spielen komplett verdorben. Dafür schnappte sich jetzt mein großer Bruder immer öfter die Gitarre und spielte damit Songs der Bands, die ich sonst aus seinen Boxen hörte.

Ich vermute, meine Blockaden beim Freestylen rühren bis heute aus dieser Verweigerungshaltung. Denn wenn ich diesen Sport für mich allein betreibe, bin ich oft gar nicht so unzufrieden. Jedes weitere Ohr allerdings führt dazu, dass mein Zugang zu spontanen Reimen zum Erliegen kommt. Ich habe mich inzwischen damit abgefunden, es gibt allerdings immer mal wieder Momente, in denen ich mich darüber sehr ärgere. Wie neulich, als mich auf dem Ponte Sisto in Rom jemand zum Battle herausforderte. Der allerdings nicht mal wusste, dass ich Rapper bin. Wie gern hätte ich sein Gesicht gesehen, wenn ich ihm meine Antwort vor die Füße gespuckt hätte. So verbrachte ich den Rest des Abends damit, mit dem Rapperleben zu hadern und mich darüber zu ärgern, dass mir noch Stunden später passende Antworten durch den Kopf schossen.

Im Herbst Ende der 80er-Jahre klingelte an einem Samstagabend unser Telefon. Mein Bruder Michael, den da schon alle nur noch »Schwungi« nannten und der zu dieser Zeit einen gefärbten und mit blauer Fa-Seife aufgestellten Irokesenschnitt trug, war auf dem Neustadter Weinfest von einer Gruppe Männer zusammengeschlagen worden. Einer der Schläger hatte ihm dabei den Fuß gebrochen. Ich war damals etwa neun Jahre alt und mein Bruder knapp 19. Er wurde ins Krankenhaus eingeliefert, wo ihm eine Metallplatte in den Fuß eingesetzt wurde. Auf Höhe des Knöchels schossen die Ärztinnen einen Draht durch das Gelenk, der dem Fuß weitere Stabilität geben sollte. Mein Bruder brachte den Angriff zusammen mit meinen Eltern zur Anzeige. Viel Recherche war nicht nötig, um den Namen des Täters auszumachen. Denn Neustadt an der Weinstraße war mit knapp 53.000 Einwohnerinnen ein überschaubares, provinzielles Nest. Michael erklärte mir, dass der Täter ein »Nazi« gewesen war und Nazis auf Punks, vor allem aber auf Ausländer, Homosexuelle und Andersdenkende nicht gut zu sprechen waren und die Wahrscheinlichkeit, dass Nazis diese Abneigung mit Gewalt zum Ausdruck brachten, relativ hoch war. Ich hatte natürlich mit neun Jahren noch nicht wirklich verstanden, was Nazis sind, wusste jedoch, dass sie vor langer Zeit bereits Dinge getan hatten, die so schlimm waren, dass es schwierig war, sie mit für Kinder passenden Worten treffend zu beschreiben. Aber ich hatte verstanden, dass es bis heute Menschen geben musste, die aus mir unerfindlichen Gründen immer noch diese Überzeugungen vertraten. Bis mir Schindlers Liste die faschistische Barbarei eindrücklich darstellen konnte, mussten noch ein paar Jahre vergehen. Ich erinnere mich noch daran, dass seit dem Tag meine Eltern nicht mehr widersprachen, wenn mein Bruder behauptete, die Nazis seien nie weg gewesen.

Nach dem Übergriff auf meinen Bruder folgte, was folgen musste. Gegen den Täter wurden ein Strafprozess und eine Zivilklage auf Schmerzensgeld eröffnet, die jahrelang dauern sollten. Geld sah Michael jedoch kaum, da der Täter die überwiegende Zeit erwerbslos war und auch sonst nicht viel auf die Reihe brachte. Glücklicherweise erholte sich Schwungis Fuß so gut, dass er mir in späteren Jahren die ersten Skills beim Fußballspielen vermitteln konnte. Die unmittelbare Zeit nach der Operation war allerdings auch für mich nicht schön. Mein Bruder wartete mit dem Verbandswechsel gern ab, bis ich beim Frühstück saß. Vielleicht bin ich auch deshalb heute so unempfindlich, wenn es unappetitliche Themen am Esstisch zu besprechen gibt. Apropos unappetitlich, ich lernte also etwa mit neun Jahren das erste Mal, was Nazis sind und dass nicht alle Menschen dieser Erde an einem friedvollen Zusammenleben interessiert sind. Schwungi schien das alles wenig auszumachen. Er wirkte weder verängstigt, noch schien er einen Anlass zu sehen, seine Frisur zu ändern. Stattdessen besprühte er sein Auto mit Lackdosen aus dem Baumarkt und meiner Hilfe kunterbunt und klebte zu guter Letzt einige Aufkleber auf den Kofferraumdeckel. »Gegen Nazis« stand da jetzt und »Beim Militär, da bist du wer«, wobei das Bild zwei Arschbacken unter einer Bundeswehr-Feldmütze zeigte. Allerdings sah er scheinbar keine Notwendigkeit, aktiv und organisiert gegen die braunen Umtriebe der Region vorzugehen.

Wenige Jahre später flackerten nach dem Fall der Mauer die Bilder der Brandanschläge von Rostock-Lichtenhagen und Mölln über unseren Röhrenfernseher. Ich begriff mit meinen elf Jahren, dass das, was die Tagesschau da zeigte, keine Bilder aus einem Schimanski waren, sondern irgendwo da draußen gerade wirklich stattfand. Ich war geschockt und erlebte meine Familie wie paralysiert. Im Anschluss an die Tagesschau stellte ich ein Teelicht in ein Glas und deponierte es im Blumenkasten auf dem Balkon. Ich wusste nicht, was genau passiert war, aber ich wusste, dass es Unrecht gewesen sein musste. Dass Menschen Angst um ihr Leben hatten oder sogar gestorben waren und es dafür Verantwortliche gab. Die kindliche Annahme, Erwachsene würden grundsätzlich schon wissen, was sie da tun, schwand in Sieben-Meilen-Stiefeln.

Zur gleichen Zeit war wochenlang ein Song in den Charts zu hören, der mir damals gut gefiel, weil die Art der Musik mich extrem ansprach. Der Song war deutschsprachig und handelte von zwei Typen, die in dieselbe Frau verliebt waren, sich aber wunderten, dass sie »freitags nicht kann«. Deutschsprachige Musik war ein verschwindend geringer Teil der Popmusik, Torfrock waren dank des Werner-Films in den Charts gewesen und Diether Krebs hatte den berühmten Martin-Song gemacht. Beides nichts für mich. Das sah mit Die da!?! der Fantastischen Vier anders aus. Aus heutiger Sicht betrachtet war dieser Song für mich quasi der Soundtrack zu den rassistischen Pogromen, denn das Bild aus dem Fernseher und der Ton aus dem Radio hatten diese Symbiose ergeben. Der Song war gleichermaßen Nackenschlag für die Hip-Hop-Szene wie für die Menschen, die potentielle Ziele der rassistischen Mordanschläge waren. Denn die Fantastischen Vier übernahmen mit diesem Song die deutsche Pop-Definitionsmacht über Rap – oder wie sie es nannten »Sprechgesang«. Während die überwiegend schwarzen oder migrantischen Underground-Protagonisten der Hip-Hop-Szene, wie Weep Not Child mit Adé Bantu oder Advanced Chemistry mit Torch und Toni L, sich mit From Hoyerswerda to Rostock und Fremd im eigenen Land sowohl musikalisch als auch persönlich positionierten, feierten die Fanta 4 einen unpolitischen Rap-Schlager-Erfolg. Allerdings lagen alle diese Positionierungen außerhalb meiner Wahrnehmung, denn sie waren auf keiner Bravo-Hits-Compilation vertreten und liefen auch nicht auf den Radiosendern, die ich kannte.

Der Anti-Nazi-Deal

Dreh’ die Zeit zurück ’n ganzes Stück, so circa 20 Jahre.
Seh’ mich, wie ich in der Straße Fahrrad oder Gokart fahre.
Mit den Kids, deren Regeln mir schon damals nicht gefielen:
»Die Türken und die Mädchen dürfen aber nicht mitspielen!«
All die vielen Gründe dafür waren nur dummes Gelaber.
Von zuhause aufgeschnappt, von den Älteren oder aber
Das Ergebnis, das Erlebnis mieser Sozialisation,
Das war verkehrt, hab mich gewehrt, und so merkte ich schon
Ziemlich früh, was es heißt, sich gegen andere zu behaupten,
Grad erst recht, wenn sie im Unrecht war’n, sich aber im Recht glaubten.
All die Selektierer-Sprüche hab ich nie zuhaus’ gehört.
Deshalb war mein Solidaritätsgefühl auch nie gestört.

Doch wir wollten Widerstand, wir wollten was bewegen,
Kameraden war’n wir nie, wir war’n Kumpels und Kollegen,
Wir war’n Homies, Verbündete, Genossen, das bewahr ich,
Lieber solidarisch – als solide arisch.

Rappelkistenkids / Deadly T & Hannes Loh

Auf die Pogrome in Mölln folgte Lampertheim, dann Mannheim-Schönau und dann Solingen. Der Mob tobte nicht nur in den neuen Bundesländern. Eisige Zeiten für alle, die nicht deutsch aussahen, sprachen oder hießen, brachen an. Deutschland. Geschlossene Gesellschaft. Das Kino zeigte Schindlers Liste und ich wurde fast albern, weil ich mit meinen dreizehn Jahren nicht aushalten konnte, was ich da sah. Am nächsten Tag sprachen wir im Unterricht über den Film und die »Neonazis«, wie mein Lehrer sie nannte. Die Stimmung war bedrückt und wir sehnten uns nach einer Pause. Als es endlich klingelte, stürmten wir in den Schulhof, um Fußball zu spielen.

Dann ging plötzlich alles ganz schnell. Ich sah mich umringt von etwa einem Dutzend Jungs, die begannen mich zu schubsen. Freundinnen, die zu Hilfe eilen wollten, wurden mit Gewalt aus dem Kreis gehalten. Prinzipiell lief das Spiel ab wie beim Fußballtraining. Die Typen schoben sich den Ball zu und der Spieler in der Mitte war der Kreisläufer, der auf die Chance spekulierte, den Ball zu erbeuten. Nur war ich in dieser Situation kein Spieler, sondern der Ball. Ich flog von einem zum nächsten und kassierte an jeder Zwischenstation Schläge, Tritte und wurde angespuckt. Manchen, die zuschauen mussten, war die Hilflosigkeit ins Gesicht geschrieben, andere schienen das Spektakel zu genießen. Die meisten meiner Widersacher kannte ich beim Namen und ich versuchte mit ihnen zu sprechen, während ich wieder und wieder Schläge auf meinen Kopf abwehrte. Als ich bemerkte, dass das alles keinen Erfolg hat, sah ich mich verzweifelt um. Ich erblickte eine Lehrerin, die einige Meter entfernt stand und die Szenerie entgeistert beobachtete. Erkennbar gehandelt hat sie nicht. Fünfzehn Minuten, so lange dauerte die Pause, blieb ich chancenlos gegen diese Übermacht, dann ertönte erneut der Pausengong. Und als wäre ich tatsächlich der Fußball, wurde ich zum Ende der Pause mir selbst überlassen. Ich war fertig mit der Welt, mein Kopf dröhnte, jeder Knochen tat mir weh. Nachdem meine Mitschülerinnen der Lehrkraft der nächsten Stunde von dem Zwischenfall berichtet hatten, ließ diese mich abholen. Der Rest des Tages erscheint mir wie aus einem Film. Nachdem der Arzt meine Verletzungen aufgenommen hatte, steckte meine Mutter mich zuhause in die Badewanne. Mein Kopf drohte vor Schmerzen zu platzen, auf meinen Bauch und meine Brust hatte jemand eine tonnenschwere Last gelegt. Eins stand fest, ich würde diese Schule nie wieder besuchen. Ich verbrachte den Mittag mit meiner Mutter, die versuchte abzufedern, was in mir anrollte, und dabei sichtbar mit ihrem eigenen Schmerz zu kämpfen hatte. Nach telefonischer Rücksprache mit dem Direktor der Schule wollte meine Mutter von einer Anzeige absehen, die Täter sollten jedoch zum Gespräch bei der Schulleitung geladen werden. Was daraus wurde, erinnere ich heute nicht mehr. Sehr präsent ist mir aber noch heute die Diskussion mit Michael, der abends nach Hause kam und dem ich die Geschichte beim Abendessen nochmals berichtete. Ich erzählte auch, dass die Gruppe mehrheitlich aus Migranten bestanden hatte. Aufmerksam hörte er mir bis zum Ende zu. Dann fragte er trocken: »Und jetzt sind alle ›Ausländer‹ scheiße?« Ich überlegte und dachte an meine Freundinnen in der Schule. »Nein, Arschlöcher gibt’s überall.« Am nächsten Morgen saß ich pünktlich um acht Uhr auf meinem Platz im Klassenzimmer.