Sawatzki, Andrea Andere machen das beruflich

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Die Zitate in den Kapiteln 31, 48, 51 stammen aus:
William Shakespeare, Ein Sommernachtstraum,
übersetzt von August Wilhelm Schlegel (Schlegel-Tieck-Übersetzung)

 

Für Christian, Moritz und Bruno

 

© Piper Verlag GmbH, München 2019
Covergestaltung: FAVORITBUERO, München
Covermotiv: Foto Andrea Sawatzki: ZDF/Ziegler Film/Christiane Pausch. Weitere Motive unter Lizenzierung von Shutterstock.com.

 

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1.
Kapitel

Ich habe immer vermieden, mich jemals wieder länger als irgend nötig in einem Schulgebäude aufzuhalten. Meine eigene Schullaufbahn war nah an der Traumatisierungsgrenze verlaufen. Die Albträume, die mich nach meinem hart erkämpften Realschulabschluss jede Nacht heimsuchten, habe ich nur durch intensive Analysestunden bei unserem Nachbarn und meinem Therapeuten Herrn Mussorkski aufarbeiten können. Ohne Herrn Mussorkski wäre von mir sowieso nichts mehr übrig. Auch meine Ehe mit Gerald hätte sich schon längst in Luft aufgelöst. Gerald ist hauptberuflich Finanzbeamter. Dann kommt lange nichts. Dann kommt seine alte Schlagerplattensammlung, dicht gefolgt von Mettwurstschnittchen und gedecktem Apfelkuchen mit Schlagsahne. Dann kommt wieder lange nichts. Dann seine Mutter Susanne, dann unsere Kinder Rolfi, Ricki und Matz. Dann seine Ente (ein Auto) und ganz am Ende … ich. Gerald sagt, das liege nicht an mir, sondern an dem Umstand, dass sein Leben angefüllt sei mit interessanteren Dingen. Und ab einem gewissen Alter seien gute Gespräche nun mal wichtiger als Erotik. Das Schöne ist, dass ich ihm da uneingeschränkt zustimmen kann.

Ich weiß nicht genau, wie lang Gerald und ich jetzt schon zusammen sind. Aber da Rolfi dieses Jahr einundzwanzig wird, muss man also ungefähr sein Alter zu den zehn Jahren hinzurechnen, in denen ich nicht schwanger wurde. Nicht, dass wir uns keine Kinder gewünscht hätten, aber um Kinder zu bekommen, muss man das tun, was man heutzutage schon im Aufklärungsunterricht in der Vorschule lernt.

Jetzt jedenfalls haben wir sogar drei. Also Kinder. Alle sind gesund und in keiner Weise auf den Mund gefallen. Es war uns immer wichtig, unsere Kinder zu äußerster Selbstständigkeit zu erziehen. Was zum Teil auch daran liegt, dass Gerald meistens im Finanzamt festsitzt und ich mich damit herumschlage, eine perfekte Hausfrau zu sein. Da muss man bei der Erziehung schon mal alle fünfe gerade sein lassen. Außerdem lernen die Kinder meiner Meinung nach in der Schule und unter ihresgleichen viel mehr als zu Hause.

Ich selbst bin, wie gesagt, nie gern zur Schule gegangen. Weder hatte ich besonders viele Freundinnen dort, noch kam ich mit den Lehrern klar. Nach jedem Schultag fing mich meine Mutter am Gartentor ab, um mich zu meinen Zensuren zu befragen. Stellen Sie sich ein kleines dürres Mädchen mit roten Zottelhaaren und Sommersprossen vor, das Tag für Tag von seiner wahnsinnigen Mutter am Gartentörchen aufgehalten und am Mittagessen gehindert wird, weil es lieber schweigt, als die Zensuren preiszugeben. Am Ende meiner Schullaufbahn war ich so dünn, dass man mich nur noch sehen konnte, wenn man zweimal hinschaute. Und ich hatte ein ausgewachsenes Mutter- und Schultrauma.

Deswegen frage ich meine Kinder bis heute nicht nach ihren Noten. Ich möchte ihnen meine eigenen Erfahrungen ersparen und bemühe mich stattdessen, ihnen durch Wärme und stille Zuwendung ein Zuhause zu bieten, in dem sie sich wohlfühlen. Rolfi ist leider nur noch selten bei uns, weil er nach seiner geplatzten Hochzeit zurück nach Amerika gegangen ist, um sein Studium zu beenden. Ricarda, unsere Neunzehnjährige, ist in der elften Klasse. Sie hat zwei Klassen wiederholt, was mich persönlich nicht stört. Die Kinder werden heutzutage viel zu früh ins Berufsleben geschickt. Ich finde es wichtig, dass man die Möglichkeit hat, vom geschützten heimischen Hafen aus die Fühler auszustrecken. Unser Jüngster, Matz, ist in der fünften Klasse. Er verbringt seine rare Freizeit am liebsten mit seinem Meerschweinchen Tapsi. Er hat schon ganze Generationen an Tapsis verschlissen, weil er seit zwei Jahren versucht, seinen jeweiligen Neuzugängen einen Salto mortale auf seiner Autorennbahn beizubringen. Er ist wirklich fleißig und macht sich viele Gedanken darüber, wie man ein Meerschweinchen schützen könnte, wenn es wieder aus der Kurve fliegt.

Was ich aber eigentlich erzählen wollte, ist, warum ich mich eines Tages wieder intensiv in den Schulalltag einarbeiten musste, obwohl ich doch diese ausgeprägte Schulphobie habe. Und das kam so:

Eines Samstagmorgens, als bei uns mal wieder alles drunter und drüber ging, klingelte das Telefon. An einem Morgen, an dem sich der Wasserpegel in unserem Keller aufgrund eines sich wochenlang über Berlin ergießenden Dauerregens der 50-Zentimeter-Marke näherte und man die Vorratskammer nur noch schwimmend erreichen konnte. Ein Morgen, an dem Gerald quengelnd in seinem Zeitungssessel saß und auf seinen Kaffee wartete, den ich ihm nicht machen konnte, weil aufgrund der Überschwemmung im Keller der Strom im gesamten Haus ausgefallen war. An dem Morgen also rief meine Nachbarin Petra Federbein an.

Sie ist nicht nur unsere Nachbarin, sie ist auch noch die Direktorin von Ricardas und Matz’ Schule. Was nicht so toll ist. Ich bevorzuge es, wenn man Grenzen ziehen kann und wenn ich mir nicht jeden Tag am Gartenzaun anhören muss, wie unterirdisch schlecht die Leistungen meiner Kinder sind. Jedenfalls konnte dieser Anruf nichts Gutes bedeuten.

»Gundula, wie gut, dass ich dich erreiche. Könntest du wohl am Montag kurz zur Schule kommen? Wir haben ein kleines Problem, das wir umgehend in den Griff bekommen müssen, und dazu brauchen wir deinen Beistand.«

Oje, dachte ich. Wahrscheinlich hatten Matz oder Ricarda wieder irgendetwas angestellt. Eigentlich hatte ich mich inzwischen an die ständigen Verweise aus der Schule gewöhnt. Die las ich schon gar nicht mehr, weil sowieso meistens das Gleiche drinstand. Dass Rickis Noten Anlass zur Sorge gaben, dass sie immer zu spät kam und heimlich auf dem Schulklo rauchte. Oder dass Matz Sachen aus dem Heimwerkerkurs mitgehen ließ. Leim oder Holz und solchen Kram, der die Schule nun wirklich nicht viel kostete. Er brauchte das alles für die Meerschweinchenrutschen. Und da er nachmittags zu viele Hausaufgaben aufhatte, um noch zum Baumarkt zu fahren, nahm er das Zeug eben aus der Schule mit. Als ob das einem Weltuntergang gleichkäme.

»Hallo, Petra! Ach … Montag ist es ganz schlecht, da muss ich nämlich … da habe ich …« Mir fiel nichts ein.

»Gundula, das verstehe ich. Jeder hat immer irgendwas. Aber es ist wichtig. Und du bist Elternbeiratsvorsitzende. Da musst du leider jederzeit abrufbereit sein. Auch wenn es schlecht passt.«

Wir mögen uns nicht besonders. Petra hält mich für eine schlechte Mutter. Zumindest nehme ich das an, weil sie immer so von oben herab mit mir spricht. Das kann sie sich eigentlich nicht leisten, denn so eine tolle Mutter ist sie auch nicht. Zumindest wirkt ihr Sohn Hannibal, der im gleichen Alter wie Matz ist, immer völlig verpeilt.

Vielleicht hat sie mich auch durchschaut. Vielleicht weiß sie, dass ich nur in den Elternbeirat eingetreten bin, damit die anderen Mütter und die Lehrer der Schule denken, ich sei die Supermutter schlechthin. Was ich mich ja auch seit Jahrzehnten bemühe zu sein. Was aber nicht klappt. Ich bin eigentlich das genaue Gegenteil einer Supermutter. Ich freue mich immer darüber, wenn ich einer Meinung mit meinen Kindern bin, damit es keine schlechten Schwingungen im Haus gibt.

Herr Mussorkski hat mich nämlich mehrfach intensiv vor diesen Schwingungen gewarnt, weil man Harmonie atmen muss, um sich entfalten zu können. Wir haben dafür die Tulpenatmung ins Leben gerufen, bei der man den Mund wie eine aufblühende Tulpe formen muss und dann stoßweise den Blütenkelch nach außen stülpt, um den Bienen die Möglichkeit zu geben, den Stempel zu bestäuben. Das ist typisch für Herrn Mussorkski, dass er so schöne Bilder für alles findet. Die Tulpenatmung wende ich immer an, wenn mich etwas zu sehr erregt. Dummerweise hilft sie nicht in allen Bereichen. Wenn Gerald schlechte Stimmungen ins Haus bringt, hilft mir die Tulpenatmung relativ wenig. Ständig rennt er mir hinterher, um irgendwas zu fragen. Einmal habe ich mich in der Toilette eingeschlossen, um in Ruhe atmen zu können, und er hatte nichts Besseres im Sinn, als die Feuerwehr zu rufen, um mich aus dem Klo zu holen. Seitdem mache ich die Tulpenatmung gar nicht mehr, wenn Gerald in der Nähe ist. Bei Gerald hilft nur der »Schachtelhalm-im-Wind«. Das bedeutet, ich bin der Schachtelhalm, und Gerald ist der Wind. Er schüttelt mich und zerrt an mir, aber ich bin biegsam und geschmeidig und lasse ihn an mir vorbeirauschen. Das beruhigt mich enorm. Das ist übrigens auch eines von Herrn Mussorkskis Bildern.

Herr Mussorkski ist leider verheiratet. Zwar verstarb seine Frau vor vielen Jahren, aber er ist ihr auch nach ihrem Tod treu. Weihnachten zum Beispiel feiert er immer mit ihr. Ich habe das im letzten Jahr mit eigenen Augen miterlebt, weil ich am 24. Dezember bei ihm geklingelt habe, um mir Rotkohl, Eier und einen Bratentopf auszuleihen.

Und da saß er mutterseelenallein an einem Tisch mit zwei Gedecken. Das Zimmer strahlte im Schein des erleuchteten Weihnachtsbaums, und ich konnte meine Tränen nicht mehr zurückhalten, als ich das Foto von Herrn Mussorkskis verstorbener Ehefrau neben ihrem Teller entdeckte. Nicht wegen Herrn Mussorkskis toter Frau, sondern weil Gerald es wahrscheinlich nicht mal merken wird, wenn ich mal tot bin.

Was unter gewissen Gesichtspunkten verständlich ist. Ich bin, wie schon gesagt, keine besonders versierte Hausfrau. Und vor allem tue ich mich mit der Zubereitung mir unbekannter Gerichte schwer. Gerald leidet da etwas drunter, weil er so gerne isst.

Aber zum Kochen gehören bekanntlich Kochbücher. Und Kochbücher machen mir Angst. Sie engen mich ein, weil sie aus Vorschriften bestehen – so wie früher diese Arbeitshefte im Englischunterricht.

Dabei mag ich die Idee des Kochbuchs an sich. Ich sehe mir zum Beispiel sehr gern die Bilder darin an, um mich inspirieren zu lassen. Aber das Nachkochen funktioniert bei mir nicht. Das habe ich gleich gemerkt. Denn selbst wenn ich alles genau nach Vorschrift mache, sehen meine Gerichte immer ganz anders aus, und sie schmecken nicht im Entferntesten so wie beschrieben.

Was das Backen betrifft, das habe ich schon längst aufgegeben. Aber das weiß keiner. Irgendwas stimmt mit unserem Backofen nicht. Entweder verbrennen die Kuchen, oder sie sind innen noch ganz roh. Das ist mir auf Dauer zu umständlich. Ich habe mir zwischenzeitlich angewöhnt, bei unserem Discounter Tiefkühltorten zu kaufen. Vor allem, wenn ich als Mutter darum gebeten werde, Kuchen zu irgendwelchen Schulfesten mitzubringen. Ein bisschen geschüttelt, ein bisschen eingedrückt, und schon sehen die Torten aus wie selbst gemacht, und alle Mütter wollen meine Rezepte.

Und deshalb wurde ich wahrscheinlich auch in den Elternbeirat gewählt. Wobei wir wieder beim Thema wären. Ich hätte mich da nie freiwillig beworben. Aber ich kann als nicht berufstätige Hausfrau ja schlecht sagen, dass ich keine Zeit für solch eine kleine Nebenbeschäftigung habe. Außerdem dachte ich, ich mache meinen Kindern eine Freude, wenn ich ab und zu in der Schule auftauche und zumindest den Anschein erwecke, dass ich mich um schulische Belange kümmere. Aber unsere Kinder haben die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen und mich angefleht, das Angebot abzulehnen. Das ging bloß nicht, weil ich von allen Müttern der ganzen Schule einstimmig gewählt worden war. Natürlich macht einen das im ersten Moment stolz. Im nächsten Moment weiß man, dass man den Posten nur bekommen hat, weil ihn sonst keiner wollte.

»Gundula«, riss Petra mich aus meinen Gedanken, »bist du noch dran?«

»Ja, entschuldige, dann werde ich mir wohl den Montag freischaufeln müssen«, antwortete ich.

Wahrscheinlich hatte Petra gehofft, dass ich absagen würde, damit sie wieder erzählen könnte, wie wenig ich mich um meine Kinder kümmern würde. So leicht käme sie mir nicht davon. Schulphobie hin oder her.

2.
Kapitel

Montagmorgen machte ich mich im strömenden Regen auf den Weg zur Schule. Matz hatte erst zur dritten Stunde Unterricht, Ricarda lag seit dem vorangegangenen Abend mit einer Lebensmittelvergiftung flach. Ich weiß auch nicht, warum sie nachts die aufgetaute Käsesahnetorte aus der Tiefkühltruhe gemopst hat. Der Strom war ja seit dem frühen Morgen weg, und der Inhalt der Tiefkühltruhe schwamm wild durcheinander. Wenn sie ein bisschen nachgedacht hätte, hätte sie sich daran erinnert, dass die Torte schon seit fünf Jahren in der Tiefkühltruhe lag. Ich hatte sie mal zum Geburtstag meines Bruders Hans-Dieter gekauft. Aber als ich sie zur Feier des Tages auf dem Tisch platzierte, verkündete er plötzlich, dass er unter akuter Laktoseintoleranz leide. Also packte ich meine Torte wütend ganz hinten ins Eisfach, um sie irgendwann einmal Gästen zu servieren, die sie mehr verdient hätten als meine Familie. Und dann muss ich sie vergessen haben. Denn erst als ich in der Nacht von Sonntag auf Montag von Ricardas animalischen Geräuschen in der Toilette wach geworden war und ihrem Gewimmer entnommen hatte, was die Ursache für ihre Übelkeit sein musste, sah ich die Torte wieder vor mir. Arme Ricarda. Aber ehrlich gesagt wäre ich gar nicht auf die Idee gekommen, die Sahnetorte vor ihr zu verstecken. Ricki lebt nämlich seit Längerem vegan. Mir war es allerdings ganz recht, dass Ricki mir in der Schule nicht in die Quere kommen würde. Ich wäre ihr bestimmt peinlich gewesen.

Dummerweise musste ich Matz’ Fahrrad nehmen, da Gerald mir unsere Ente nur ungern leiht. Zu Fuß ist der Schulweg ziemlich weit. Rickis Rad hatte seit Wochen einen Platten, und Rolfis altes war vor Kurzem geklaut worden. Das ist in Berlin so normal, dass selbst die Polizei nur noch doof mit den Achseln zuckt, wenn man eine Anzeige aufgeben will. Also blieb nur noch das Fahrrad von Matz. Und da Matz nicht gerade der größte Elfjährige ist, ist es mir ein bisschen zu klein. Sicher hätte man den Sitz und den Lenker etwas höher stellen können, wenn man einen Fünfkanter hätte. Der Fünfkanter befand sich früher mal in einem Werkzeugkasten in der Garage. Da unsere Garage aber mittlerweile einer Sperrmülldeponie gleicht, würde man dort nie im Leben auch nur den Hauch eines Fünfkanters finden.

Ich gehöre zu den Menschen, die lieber zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Will heißen, mir fiel im letzten Moment ein, dass mir der Spaziergang mit unserer Dogge Gulliver und Othello, einem Rauhaardackel, noch bevorstand. Also knotete ich die Leinen der beiden an mein Lenkrad und ließ sie neben mir hertraben. Sie wirkten eher lustlos. Sie werden nicht gern nass. Außerdem bewegen sie sich eigentlich nur, wenn sie ein Ziel vor Augen haben, ein fressbares Ziel.

Neben einem Fahrrad herzulaufen schien in ihren Augen überflüssig. Bis zu dem Moment, als sie ein Müllauto entdeckten. Othello und Gulli lieben Müllautos, weil unsere Müllmänner ihnen immer Leckerlis zustecken. Jetzt hatten sie ihre Freunde in weiter Ferne erspäht und rannten los. Dass ich auf meinem kleinen Fahrrad an ihnen hing, schien sie nicht zu stören. Im Gegenteil. Meine gellenden Schreie beflügelten sie noch zusätzlich. Wir überholten auf halber Strecke sogar einen Sportwagen.

Zum Glück sind Gulliver und Othello nicht mehr die Jüngsten. Genauso schnell, wie sie bei etwas in große Erregung geraten, verebbt diese wieder, und sie machen schlapp. Auch heute verloren sie nach der dritten Kreuzung, die wir nur knapp lebend überquert hatten, die Lust an ihrer Verfolgungsjagd und blieben irgendwann mitten auf der Straße stehen. Gulliver hechelte wie ein Wildschwein nach der Hetzjagd und legte sich erst einmal hin. Hinter uns entstand ein Stau. Ich stieg von Matz’ Rad und versuchte, Gulliver von der Straße zu hieven. Aber wenn eine Dogge sich nicht bewegen will, bewegt sie sich nicht. Othellos Leine wickelte sich um meine Beine, und irgendwann fiel ich um. Zum Glück trug ich Matz’ »Star Wars«-Sturzhelm, so entging ich einer ernsthaften Verletzung. Die Autofahrer stiegen aus und betrachteten uns aus sicherer Entfernung. Einige beschimpften mich und drohten damit, den Tierschutzverein zu rufen. Dann traten zwei beherzte, kräftige Lastwagenfahrer an uns heran und hievten uns kurzerhand auf den Bürgersteig. Die Straße war wieder frei, die Autos fuhren weiter, und ich versuchte, die Leinen zu entwirren und Gulli aufzuwecken.

Den Rest des Weges legten wir zu Fuß zurück. Wir brauchten sicher noch fast zwei Stunden, weil wir völlig vom Weg abgekommen waren und die Hunde jetzt gar keine Lust mehr zum Laufen hatten. Ich zerrte sie mit einer Hand hinter mir her, und mit der anderen schob ich das blöde Kinderfahrrad. Klatschnass erreichten wir die Schule.

 

Nachdem ich die Hunde auf dem Schulhof an einen Baum gebunden und das Fahrrad danebengelegt hatte, betrat ich den dunklen Eingangsbereich und nahm die ersten Stufen zum oberen Stockwerk. Zuerst ging es mir ganz gut, aber dann bekam ich eine Panikattacke – wie immer, wenn ich die Schule meiner Kinder betreten musste. Die düsteren Erinnerungen an meine eigene Schulzeit stürzten auf mich ein und stülpten sich wie eine Plastiktüte über meinen erhitzten Kopf. Totenstille um mich her. Keine Menschenseele weit und breit, nur der Hall meines keuchenden Atems, der von den Wänden auf mich zurückfiel. Mein Hals schnürte sich zusammen, ich bekam keine Luft mehr. Ich musste mich am Geländer festhalten, um nicht umzukippen. Mein Puls raste, während ich versuchte, die Bilder meiner Kindheit wegzuatmen: die Magenschmerzen vor den Prüfungen, die Versagensängste, die Strafpredigten der Lehrer, wenn ich die Hausaufgaben vergessen hatte, der Gang zum Direktor, um meine Verweise abzuholen, meine Mutter am Gartentor, mit verweintem Gesicht und Panik in den Augen. »Was soll nur aus dir werden? Du wirst auf der Straße landen, wenn du nicht endlich den Ernst des Lebens begreifst!«

Ich versuchte es mit der Kirschkernübung, die mir Herr Mussorkski ans Herz gelegt hat, wenn sich eine Panikattacke anbahnt. Eigentlich ist die Kirschkernübung Schwangeren während der Entbindung vorbehalten, aber mir hilft sie auch so. Ich spuckte also ein bisschen und erinnerte mich daran, dass meine Nachbarin Petra Federbein wahrscheinlich seit Stunden auf mich wartete, löste mich von der Wand und setzte meinen schweren Weg fort. Wäre nur Herr Mussorkski bei mir gewesen, dann hätte ich den Gang zu dieser Frau besser bewältigt.

Endlich erreichte ich das erste Stockwerk und suchte nach der richtigen Tür. Sie war unschwer daran zu erkennen, dass in großen Lettern darauf geschrieben stand:

Frau Dr. rer. phil. Petra Federbein

Direktorin

Besuche nur nach vorheriger Anmeldung im Sekretariat

 

Ich zögerte. War das DIE Petra Federbein? Unsere Nachbarin? Diese Frau war ein Dr. rer. phil.? Das konnte eigentlich nicht sein. Sie sah nicht gerade wie ein Dr. rer. phil. aus. Was auch immer das heißen mochte. Ratlos stand ich vor der verschlossenen Tür. Es war still in den Gängen. Der Unterricht hatte längst begonnen, eigentlich musste schon bald Schulschluss sein, ich hatte bestimmt vier Stunden für meinen Herweg gebraucht. Ich schaute auf meine Armbanduhr. Gerald hatte sie mir vor zwei Jahren zu Weihnachten geschenkt, weil ich die Uhr bei einem Kaffeediscounter im Schaufenster gesehen hatte. Ich fand sie so hübsch. Sie sah aus wie die, für die Nicole Kidman immer Reklame macht. Sie war um neun stehen geblieben.

Verflixt. Sollte ich mich bei der Vorzimmerdame melden? Aber eigentlich hatte Petra mich direkt zu sich ins Direktorat gebeten. Ich fasste mir ein Herz und klopfte. Nichts geschah. Ich klopfte noch mal. Totenstille. Zaghaft drückte ich die Klinke herunter. Immerhin hatte Petra mich um dieses Treffen gebeten. Das konnte sie nicht vergessen haben. Die Tür öffnete sich einen Spaltbreit. Was ich erblickte, sah überhaupt nicht aus wie ein Büro, sondern glich eher einem botanischen Garten. Ich zuckte zurück und sah noch mal auf das Schildchen an der Tür. Da stand immer noch »Dr. rer. phil. Petra Federbein, Direktorin«. Ich wagte mich einen Schritt vor. Das Zimmer platzte aus allen Nähten. Überall standen Pflanzen herum. Große, kleine Palmen, Kakteen und Gräser in Ton- und Keramiktöpfen.

Ich bahnte mir einen Weg zum Schreibtisch, der unter der Last eines Gummibaums fast zusammenbrach. Dann rief ich zaghaft: »Petra?« Keine Antwort. Nur das Rascheln einiger Blätter vor dem geöffneten Fenster. »Petra?«, wiederholte ich etwas lauter. Da vernahm ich ein leises Zischen unter dem Schreibtisch. Es hörte sich an wie das Warnzüngeln einer Boa constrictor, und ich schrak zusammen. Wenn sich jetzt eine Schlange um meine Füße wickeln würde, hätte mich das auch nicht mehr groß überrascht. Aber dann fasste ich mir ein Herz und linste unter den Tisch.

Da hockte Petra Federbein. Sie hatte die Beine zu einem Schneidersitz verknotet, die Augen geschlossen und stieß im Dreivierteltakt Luft durch die Zähne, während sie gleichzeitig in kreisenden Bewegungen mit den Händen über ihren Unterleib strich. Nach siebenmaligem Ausstoßen der Luft hielt sie inne, machte fünfmal »mha-mha-mha-mha-mhaaa«, um anschließend einen gewaltigen Seufzer von sich zu geben.

Ich erkannte diese Übung sofort. Es war die »Sich-häutende-Schlange«, an der ich schon mehrere Wochen mit Herrn Mussorkski gearbeitet hatte. Die »Sich-häutende-Schlange« ist nicht ganz einfach. Schon gar nicht für Anfängerinnen. Und Petra Federbein war im Gegensatz zu mir Anfängerin. Sie war erst vor ein paar Wochen zu unserer Yogagruppe dazugestoßen. Eigentlich hatte Herr Mussorkski mir gesagt, dass er die »Sich-häutende-Schlange« nur mit mir üben werde, weil ich seine beste Yogaschülerin sei. Immerhin nehme ich schon fast ein Jahr Yogaunterricht bei ihm. Und in dem Moment, als ich Petra Federbein beobachtete, wusste ich, dass Herr Mussorkski mich angelogen hatte. Um meiner Empörung darüber Luft zu machen, täuschte ich einen Hustenanfall vor. Petra schrak zusammen und kippte fast hintenüber.

Nachdem sie sich von ihrem ersten Schrecken erholt hatte, drehte sie sich zu mir und sah mich von unten her an, weil sie ja immer noch unter dem Schreibtisch hockte. Es dauerte ein bisschen, bis sie mich erkannte, aber dann raffte sie ihren handgenähten tibetanischen Flickenrock zusammen und beeilte sich aufzustehen. Dabei stieß sie sich den Kopf an der Tischplatte und sackte wieder zurück.

Als sie es endlich geschafft hatte, unter dem Tisch hervorzukriechen, setzte sie sich mir gegenüber auf ihren Direktorinnensessel, rieb sich die Stirn und sah mich an. Ich schaute schweigend zurück. Was hätte ich auch sagen sollen? Sie war ja diejenige gewesen, die mich sprechen wollte.

Nach einer schier endlosen Pause atmete sie tief ein und sagte: »Ich hatte gar nicht mehr damit gerechnet, dass du noch kommst.«

Statt einer Entschuldigung sagte ich nur »Ja«. Wenn ich nämlich jetzt erklären würde, wie meine Verspätung zustande gekommen war, würden wir noch morgen hier sitzen.

Petra schwieg wieder und sah aus dem Fenster.

Ich räusperte mich. »War das eben die »Sich-häutende-Schlange«?«

»Nach was sah es denn aus?« Sie klang, als sie das sagte, irgendwie hoffnungsfroh.

»Wenn man ein paar Augen zudrücken würde, könnte man es für einen entfernten Verwandten der »Sich-häutenden-Schlange« halten«, sagte ich. Ich hatte jetzt keine Lust auf Schmeicheleien.

»Ach … schön«, sagte Petra und lächelte.

»Ja«, sagte ich. »Hast du dir das selbst beigebracht?«

»Nein.«

Damit war alles klar. Herr Mussorkski hatte mich also tatsächlich angelogen. Mein Puls raste. Wir schwiegen wieder ein bisschen, und ich sah mich im Zimmer um.

»Du hast ja ganz schön viele Pflanzen«, sagte ich nach einer Weile. Ich hatte das gar nicht böse gemeint, es sollte eher dazu führen, dass wir endlich mal ins Gespräch kämen. Aber Petras Augen füllten sich mit Tränen. Sie zog ein Taschentuch aus ihrem Ärmel und schnäuzte sich ausgiebig.

»Ach je, hat es dich auch erwischt?«

Ich bekam keine Antwort.

Ich hatte es gleich geahnt, dass das Gespräch mit Petra langen Atem brauchen würde. Es ist in unserer Familie ja allgemein bekannt, dass sie verhaltensgestört ist. Obwohl sie dasselbe von uns behauptet. Aber wer redet schon mit Pflanzen? Und das tut sie. Zumindest habe ich sie schon des Öfteren dabei beobachten können, wie sie auf ihre Salatköpfe im Garten eingeredet hat.

Nachdem sie sich endlich fertig geschnäuzt hatte, sagte sie: »Nein.«

Ich brauchte ein bisschen, bis ich begriff, worauf sich das »Nein« bezog.

»Aha«, sagte ich deshalb und rutschte auf meinem Stuhl herum. Ich hab ja nicht ewig Zeit. Auch wenn ich nur Hausfrau und Mutter bin und viele Leute glauben, dass man vor lauter Zeit gar nicht weiß, wohin damit.

Endlich richtete sie sich ein bisschen auf und begann zu sprechen: »Liebe Gundula, jetzt kennen wir uns schon so lang.« Wieder machte sie eine Pause.

»Ja?«, sagte ich.

»Und … warum ich dich hierhergebeten habe, ist Folgendes.« Sie atmete tief ein. »Wir haben an unserer Schule ja eine kleine Theatergruppe, wie du sicher weißt. Und mit dieser Theatergruppe wollten wir den ›Sommernachtstraum‹ von William Shakespeare aufführen. Zur 200-Jahr-Feier unseres Moderbeck-Schlundberg-Gymnasiums.« Sie hielt inne und sah mich an. »Davon hast du doch gehört, oder?«

»Wovon?«, fragte ich.

»Von unserer 200-Jahr-Feier.«

Ich überlegte. Besser, jetzt nicht die Wahrheit zu sagen. »Natürlich! Die 200-Jahr-Feier!«

»Genau. Und damit sind wir schon bei unserem Problem. Die Theatergruppe befindet sich in einem Streik.«

»Oh. Und?«, sagte ich. Was sollte ich auch sonst sagen.

»Na ja, das ist ein Problem, weil der Shakespeare ja zur 200-Jahr-Feier aufgeführt werden sollte.«

»Hm.«

Petra beugte sich ein bisschen vor. »Wir leiden unter akutem Zeitdruck. Und ich bin so froh, dass du doch noch gekommen bist, Gundula. Du bist meine letzte Rettung. Ich hatte dich ja schon etwas früher erwartet. Ich dachte, du kommst nicht mehr.« Wieder traten ihr Tränen in die Augen. Um ihren Geisteszustand schien es wirklich schlecht bestellt zu sein. »Ich habe mehrfach bei dir zu Hause angerufen, aber da ist immer nur die Ricarda ans Telefon gegangen. Und die hat gesagt, dass sie keine Ahnung hätte, wo du steckst.« Sie hielt inne. »Wieso war Ricarda heute eigentlich nicht in der Schule? Ist sie krank?«

»Ja. Sie hat sich den Magen verdorben.«

»Oh.« Sie verzog den Mund, dann lächelte sie mir aufmunternd zu. »Wenn du deine Familie vegan ernähren würdest, wäre das sicher nicht passiert.«

»Ricarda ist eigentlich vegan. Aber heute Nacht hatte sie einen Ausrutscher«, sagte ich und lachte.

Dann sagte Petra: »Also, um es kurz zu machen: Du hast ja diesen Vertrag mit der Schule geschlossen. Vor ein paar Monaten. Und auf den möchte ich jetzt gern zurückgreifen, ohne dich überrumpeln zu wollen. Aber ich brauche dich jetzt wirklich ganz dringend. Deshalb hatte ich unser Treffen auch auf den Vormittag gelegt, damit ich dir den Schulbetrieb ein bisschen näher hätte erläutern und zugleich veranschaulichen können.«

Sie schwieg. Ich wartete. Worauf wollte sie hinaus? Ich verstand gar nichts mehr.

»Du musst dich ja ein bisschen warm machen, bevor du diese dir völlig neue Anforderung annimmst.«

Sie sprach in Rätseln. »Welche Anforderung?«

»Na, hast du denn den letzten Elternbrief nicht gelesen?«

Hatte ich nicht. Ich lese keine Elternbriefe. Da stehen grundsätzlich Sachen drin, die mich nicht interessieren. Ich habe den Kopf sowieso immer schon so voll, da kann ich mich nicht auch noch mit Problemen, die die Schule hat, befassen.

Petra wartete auf eine Antwort, und ich machte eine vage Bewegung mit Kopf und Schultern.

»Na, dann weißt du ja bestimmt, warum du heute hier bist.« Sie kramte in irgendwelchen Zetteln und holte ein Formular hervor. Sie überflog es kurz, bevor sie es mir über die Tischplatte zuschob. »Am besten unterschreibst du gleich hier, damit du nächste Woche anfangen kannst. Schulunterlagen, Abiturzeugnis und so weiter kannst du nachreichen. Das ist alles kein Problem.« Sie lächelte mich aufmunternd an. »Das Abi hast du ja bestimmt, das brauchst du zwar nicht unbedingt für diese Tätigkeit, aber es macht sich besser, falls der ein oder andere Kollege nachfragen sollte.«

Ich sah auf und geradewegs in Petras schlammbraune Augen.

Nach einer Pause fragte sie erneut: »Gundula? Das Abi hast du doch, oder?«

Nein. Den Triumph würde ich ihr nicht gönnen. Den Triumph, dass ich die Schule nach der zehnten Klasse geschmissen hatte und mein Notendurchschnitt irgendwo zwischen 3,5 und 4,0 lag. Genau konnte ich mich jetzt auch nicht mehr daran erinnern.

»Natürlich habe ich ein Abi. Ohne Abi ist man ja heutzutage gar nichts mehr wert. Ich bringe es dir das nächste Mal mit.« Aber dann fiel mir ein, dass ich immer noch nicht verstanden hatte, was genau sie eigentlich von mir wollte. Ich warf also noch mal einen Blick auf den Zettel, den sie mir zur Unterschrift hingeschoben hatte.

Darauf stand: »Vertrag zur temporären Übernahme der Inszenierung von ›Ein Sommernachtstraum‹ von William Shakespeare nach einer freien Kürzung von Petra Federbein in dem Zusatzfach ›Theater-AG‹ am Moderbeck-Schlundberg-Gymnasium in Schöneiche bei Berlin«.

Ich musste die Überschrift mehrmals lesen, weil ich überhaupt nichts begriff. Beim siebten Mal unterbrach Petra meine Konzentration und fragte: »Bist du durch?«

Ich blickte auf. »Ja, na ja, schon, aber ehrlich gesagt weiß ich nicht, was das sein soll«, sagte ich wahrheitsgemäß.

»Das ist dein Vertrag über eine Tätigkeit als vorübergehende Aushilfe beziehungsweise Theatergruppenleiterin. Es wäre toll, wenn du den jetzt unterschreiben könntest. Damit wir gleich loslegen können.«

3.
Kapitel

Irgendwann verstand ich, was Petra von mir wollte. Es blieb mir auch nichts anderes übrig. Mir war schon ganz schlecht von der Enge in ihrem verdammten Gewächshaus. Petra hielt mir, nachdem ihre Erklärungen bei mir keinen Widerhall gefunden hatten, einen zweiten Zettel vor die Nase. Es war die von mir vor einem Jahr unterschriebene Einverständniserklärung, in einem schulischen Notfall in meiner Berufung als Elternbeiratsvorsitzende jederzeit helfend einzuspringen und zwar in allen möglichen Bereichen. Vom Brötchenverkauf in der Pause bis hin zur Pausenaufsicht. In seltenen Fällen konnte ich sogar dafür eingesetzt werden, ausgefallene Schulstunden mit den Kindern abzusitzen. Nachdem ich das alles gelesen hatte, sah ich Petra Federbein an und sagte:

»Ich kann mich gar nicht daran erinnern, das unterschrieben zu haben.«

»Aber Gundula«, sagte sie beinah vorwurfsvoll, »du hättest doch gar nicht Elternbeiratsvorsitzende werden können, wenn du das nicht unterschrieben hättest. Ich weiß noch ganz genau, wie glücklich du warst, als du einstimmig von den anderen Eltern zur Vorsitzenden gewählt wurdest.«

Ganz hinten in meinem Kopf klingelte es leise. Wahrscheinlich hatte Petra recht. Manchmal werde ich bei dem ganzen Trubel zu Hause ganz schön vergesslich.

»Es ist auch gar nicht so kompliziert«, fuhr sie fort. »Du übernimmst ab der kommenden Woche übergangsweise an drei Nachmittagen die Theater-AG der Schule. In der AG sind Schüler im Alter von dreizehn bis achtzehn Jahren. Die zuständige Theatergruppenleiterin, Frau Monika Peselhoff, hat sich nämlich«, Petra stockte kurz, »… krankgemeldet und wird bis auf absehbare Zeit nicht wieder im Schuldienst tätig sein. Und ich brauche jetzt ganz dringend jemanden, der das geplante Stück bis zu unserer 200-Jahr-Feier in fünf Wochen inszeniert. Und du wärst total richtig dafür. Du hast doch so eine künstlerische Ader!«

Hatte ich eine künstlerische Ader? Das war mir neu. Ich dachte mit Schrecken zurück an die bunten Seidenpapierblumen, die ich für Rolfis Hochzeit gebastelt hatte. Sie hatten ausgesehen wie bunte Kackhaufen.

»Können die Kinder das nicht allein machen? Die sind doch schon groß?«

Petra sah wieder aus dem Fenster. Vielleicht hatte sie mich nicht gehört.

Nach einer Weile sagte ich: »Petra?«

Sie sah mich an. Beziehungsweise drehte sie den Kopf zu mir. Aber sie schien ganz woanders zu sein. Sie machte insgesamt einen ziemlich merkwürdigen Eindruck auf mich. Mir war in letzter Zeit schon mehrfach aufgefallen, dass sie irgendwie zerstreut wirkte. Immerhin sind wir Nachbarn, und da trifft man sich ab und zu. Ob man will oder nicht. Und manchmal wird man auch Zeuge von seltsamen Vorfällen.

Neulich war Petra zum Beispiel mit einer Mülltüte in der Hand aus ihrer Haustür getreten, lief schnurstracks an der Mülltonne vorbei, um den Müll dann im Kofferraum ihres Autos zu versenken. Und eines Nachts wurde ich durch lautes Geschrei geweckt, trat ans Fenster und sah, dass Petra in ihrem Garten ein Feuer entfacht hatte. Sie warf Kleidungsstücke in die Flammen und lachte wie irr. Auf dem Balkon stand ihr Mann Bertram, der wild mit den Armen fuchtelte und rief, sie solle sofort mit dem Käse aufhören. Das gab mir schon zu denken. Also normal war das nicht. Und vor ein paar Tagen stand Petras und Bertrams zwölfjähriger Sohn Hannibal vor verschlossener Haustür. Es regnet ja seit Tagen in Strömen, und er tat mir so leid, wie er da durchnässt vor dem Haus stand, dass ich auf ihn zuging und ihn fragte, was denn passiert sei. Er schluchzte, dass seine Mutter alle Hausschlüssel konfisziert und aus Versehen auch seinen in Gewahrsam genommen habe, und jetzt müsse er bis zum Abend im Regen stehen. Das arme Kind.

Wie kann man als Mutter nur so egoistisch sein und alle Hausschlüssel an sich reißen? Einer müsste Petra nun wirklich genügen. Ich drückte Hannibal mein Mitgefühl aus und ging grübelnd nach Hause. Im warmen Wohnzimmer fiel mir ein, dass ich ihn ja auch mit zu uns hätte nehmen können. Dann würde er sich zumindest keine Lungenentzündung da draußen holen. Aber dafür kenne ich ihn jetzt auch wieder nicht gut genug. Er ist zwar erst zwölf, aber schon etwas merkwürdig. Vielleicht liegt es daran, dass Matz ihm mal die Schaufel über den Kopf gezogen hat. Hannibal ist alles andere als gesellig, er wirkt immer ziemlich seltsam, und ich konnte Matz’ Aggression damals gut nachvollziehen. Aber seit diesem Vorfall hat unser nachbarschaftliches Leben einen tiefen Riss bekommen.

Petra seufzte und drehte sich wieder zu mir um. »Weißt du … Es gibt ja auch noch etwas in einer Schule, das nennt sich ›Aufsichtspflicht‹.«

»Was?«

»Ich kann doch minderjährige Schüler nicht allein lassen, da komme ich ja in Teufels Küche.«

»Aufpassen kann ich ja gern. Aber ob ich so ein Theaterstück hinbekomme, weiß ich nicht. Ich glaube, ich lass das lieber.« Ich stand auf.

»Versuch es wenigstens! Bitte! Du bist meine letzte Rettung! Ich hab doch schon die Einladungen verschickt!«

Ich zögerte. Es ist ja schon ein Unterschied, ob man zu einer Elternbeiratsvorsitzenden gewählt wird und aus Versehen mal was unterschreibt oder ob man gezwungen wird, etwas zu machen, was man gar nicht machen will. Zum Beispiel eine Theatergruppe leiten. Noch dazu, wenn man keine Ahnung von Theater hat. So wie ich. Das ist dann ja schon noch mal was anderes, als Brötchen in der Pause zu verkaufen, weil der Hausmeister die Grippe hat.

»Du kannst mich doch jetzt nicht einfach hängen lassen! Und denk mal an die Kinder, die freuen sich doch auch schon so. Und außerdem: Was soll ich denn mit den Kindern machen, wenn der Unterricht, also der Theaterkurs, plötzlich wochenlang ausfällt? Die Eltern bringen mich um! Du bist doch selbst Mutter!«

Hatte sie Tränen in den Augen? Ich setzte mich wieder.

Sie lehnte sich vor und nahm mich ins Visier. Dann sagte sie: »Es ist auch eine total verständliche Übersetzung vom ›Sommernachtstraum‹. Ich hab die selbst gemacht! Die versteht wirklich jedes Kind, da musst du gar keine Angst vor haben!«

Ich wollte sagen, dass ich vor allen Dingen keine Lust auf Theater hatte. Aber Petra ließ mich nicht zu Wort kommen.

»Das Ganze dauert nicht länger als sechzig Minuten, wenn man ein bisschen Zug reinbringt.«

»Sechzig Minuten?«, fragte ich. In sechzig Minuten konnte ich ja noch nicht mal mit Othello und Gulliver spazieren gehen. Das war ja gar nichts.

Im Geiste sah ich mich auf einer riesigen Bühne stehen. Geblendet vom Scheinwerferlicht, hatte ich Mühe, den Blumen, die links und rechts auf mich niederprasselten, auszuweichen. Der Applaus war ohrenbetäubend, die Leute trampelten vor Begeisterung mit den Füßen, dass der Boden bebte. Ich lächelte schüchtern und verneigte mich tief. Aus dem Augenwinkel sah ich, dass Petra reglos in der ersten Reihe saß, die Arme vor ihrer Brust verschränkt. Unverwandt betrachtete sie mich und bewegte dann ihre Lippen, doch ich konnte sie wegen des tosenden Beifalls nicht verstehen. Also verbeugte ich mich wieder. Als ich mich aufrichtete, spürte ich etwas gegen meinen Arm klopfen. Ich sah nach unten und entdeckte eine Hand. Eine Stimme sagte: »Gundula? Ist dir nicht gut?«

Die Stimme kam mir irgendwie bekannt vor. Ich hob den Blick und sah direkt in Petras verschwitztes, rotes Gesicht. Mit einem Aufschrei riss ich meinen Arm an mich.

»Was hast du denn?«

»Ach, du bist es«, sagte ich.

»Wer denn sonst?«

Petra wischte sich den Schweiß von der Stirn. Wahrscheinlich hatte sie auch unter den Begleiterscheinungen der Menopause zu kämpfen. Das ist alles andere als lustig. Irgendwie tat sie mir leid. Sie hatte bestimmt niemanden, der gerne mit ihr redete. Vielleicht sollte ich ihr eine Chance geben. Sie schien wirklich sehr an ihrem Shakespeare zu hängen. Ich dachte an den tosenden Applaus und die frenetischen Jubelschreie.

Dann hörte ich mich sagen: »Ich werde es versuchen«, und unterschrieb.

»Danke.« Sie beugte sich vor und nahm das Papier an sich. Während sie es sorgfältig in ihren Aktenordner heftete, sagte sie noch: »Der Hintergrund für die Auswahl unseres Shakespeare-Theaterstücks war übrigens, dass unsere Eiglis endlich mal die Gelegenheit dazu bekommen sollten, etwas Anspruchsvolles auf die Beine zu stellen.« Sie sah mich abwartend an.

»Was sind Eiglis?«, fragte ich.

»Liest du denn gar keine Elternbriefe? Die Eiglis sind unsere Eingliederungsgruppe. Das sind die Schüler, die wiederholt negativ in unserem schulischen Sozialgefüge aufgefallen sind. Die habe ich nun zur Theatergruppe gepackt, weil wir da sowieso zu wenig Teilnehmer hatten. Da hatten sich nur fünf Mädchen angemeldet. Damit kannst du ja nichts auf die Bühne bringen. Und so haben die Eiglis nun eben auch eine sinnvolle Beschäftigung. Nach den ersten drei Verweisen wusste ich einfach nicht mehr, womit ich sie sonst noch hätte im Zaum halten sollen. Aber um in einer Gemeinschaft leben zu können, muss man auch was dafür tun. Ich habe ja eine Verpflichtung den anderen Schülern gegenüber. Also denen gegenüber, die sich anpassen. Wenn wir nicht alle an einem Strang ziehen, ist die ganze Demokratie doch sozusagen lahmgelegt.«

Es entstand eine kleine Pause. Ich blickte immer noch nicht ganz durch.

»Aber was haben die Eiglis denn jetzt mit dem Theaterkurs zu tun?«

»Das habe ich dir doch gerade erklärt. Das war früher mal ein Theaterkurs. Aber der hat nicht funktioniert, weil da zu wenig Schüler mitmachen wollten. Und deshalb haben wir jetzt einen Theater- und einen Eingliederungskurs in einem. Inzwischen haben wir schon über zwanzig Kinder da drin.«

Ich erstarrte. »Über zwanzig?«

»Ja. Na ja, vielleicht nicht ganz …«

»Oh, das wird ganz schwierig. Ich habe nämlich eine Gruppenphobie.«

»Eine was?«

»Eine Gruppenphobie. Das ist, wenn …«

»Das macht nichts. Das haben wir alle. Das kann wirklich schön werden mit meinem Shakespeare! Und für dich ist das doch auch mal was Neues, oder? Also eine Chance …« Sie sah mich an, aber ich wusste nicht genau, worin meine Chance bestehen sollte.

»Und«, fuhr sie fort, »ich habe den Shakespeare ein bisschen aufgepeppt, damit die Eiglis nicht gleich nach den ersten Sätzen aufgeben. Das war wirklich eine Stange Arbeit, aus diesem ellenlangen Stück die sechzig relevanten Minuten zu extrahieren. Und das Schönste ist«, setzte sie hinzu, »es ist trotzdem alles dringeblieben. Also alles Wesentliche. Im Grunde kreist das Stück ja immer nur um eine Idee, nämlich die Liebe. Das kann man auch ein bisschen abkürzen, das interessiert heute ja keinen mehr so wirklich.«

Sie hielt inne und sah mich an, aber ich wusste auch keine Antwort und dachte spontan an Gerald. Sofort zog sich mein Magen zusammen, und mir fiel ein, dass ich heute früh vergessen hatte, ihm sein Mettwurstbrot hinzulegen. Jetzt hatte er in der Mittagspause nichts zu essen, denn die Kantine war ihm zu teuer. Armer Gerald. Ich sah ihn direkt vor mir, wie er voller Vorfreude in seine Aktentasche griff. Rasch und selbstsicher, dann zögernd, suchend, und am Ende die leere Hand, die wieder hervortauchte. Und Geralds noch leereres Gesicht. Mein schlechtes Gewissen drückte schwer auf mein Herz. Ob das Liebe war? Ich begann zu schwitzen und wischte mir mit der Hand über die Stirn. Mir war richtig schwindlig, so sehr nahm mich dieser Gedanke in Beschlag. Da bemerkte ich, dass Petra mich beobachtete.

»Ist dir nicht gut?«

»Nein … doch. Es ist nur …« Mehr fiel mir nicht ein.

»Es ist nur ein schwieriges Thema, meinst du?«

»Ja, so in etwa könnte man das sagen«, antwortete ich.

»Eben. Das finde ich auch. Und deswegen ist es brandaktuell. Wir Menschen sind dabei, das Gefühl für die Liebe zu verlieren. Das Internet frisst es auf.« Sie nickte mir zu. »Verstehst du?«

»Wieso das Internet?«, fragte ich.

»Weil das Internet die Weltherrschaft übernimmt, Gundula. In jedem Bereich. Dem müssen wir entgegensteuern.« Sie wischte sich die Hände an ihrem tibetanischen Flickenrock ab. »Weißt du, ich muss dir noch was sagen. Was Geheimes eigentlich, aber du sollst es trotzdem wissen. Die Eiglis und die Moni … also ich weiß auch nicht … irgendwie haben die keine gemeinsame Sprache gefunden. Zu Beginn war Moni noch relativ euphorisch. Aber als ich dann meine Eiglis in ihre Obhut gegeben habe, wurde sie plötzlich dermaßen resistent …« Petra sah mich mit großen Augen an. »Weißt du, was sie gemacht hat? Sie hat ihr Häkelzeug mit in die Schule gebracht.« Sie machte eine Pause, lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. »Kannst du dir das vorstellen?«

Ich sah eine kleine Mittfünfzigerin vor mir. Sie lief eilig mit einem Körbchen voller Wollknäuel durch die Schulkorridore. Deshalb sagte ich: »Ja, sehr gut sogar.«