Haefs, Gabriele; Hartmann-Butt, Kerstin; Hildebrandt, Christel Tod am Fjord

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© Piper Verlag GmbH, München 2005
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INGVAR AMBJØRNSEN

Der Silberfjord

1

Ich werde sterben. Ziemlich bald sogar, wenn ich Dr. Lunde Glauben schenken will. Und das will ich. Ich werde auf Dr. Lunde und außerdem auf meinen Körper hören. Denn auch der sagt mir, dass ich sterben werde. Zuerst hatte ich diese Schmerzen in der Brust. Und jetzt spüre ich es im Hals. Dr. Lunde sagt, dass sich dieses Teufelswerk gleichmäßig in meinem Körper verteilt hat. Es keimt in mir wie Unkraut im Juni. In letzter Zeit sind meine Hoden angeschwollen. Sie tun nicht weh, haben sich aber vergrößert. Und bisweilen verspüre ich eine Art Brennen in den Nieren.

Dr. Lunde ist im Grunde in Ordnung, aber er hat seine Eigenheiten. Er ist ein bisschen altmodisch. Um mir zu erzählen, dass meine Zeit auf Erden ihrem baldigen Ende entgegengeht, nimmt er gewissermaßen Anlauf und zieht zugleich einen Schleier vor seine Augen. Er blickt hinaus in ein milchweißes Nichts und sagt, dass es leider keine Hoffnung mehr gebe. Eine Operation habe keinen Zweck mehr. Es folgt die ganze beruhigende Tirade über alle Therapien, die er noch mit mir veranstalten will, obwohl der letzte Zug doch schon abgefahren ist. Wir reden jetzt von den praktischen Dingen. Wie der selbst ernannte Vorsitzende eines Festkomitees erläutert er mir bis ins Detail, was passieren wird.

Ich stehe auf, um Dr. Lundes Sprechzimmer zu verlassen, und packe die Zeitung. Er versucht, mich zurückzuhalten, aber ich schlage ihn. Ich schlage Dr. Lunde mit der Wirtschaftszeitung mitten ins Gesicht.

Auf dem Gang pruste ich los, angesichts des etwas komischen Vorfalls. Ich lache, weil ich den Boten des Todes mit einer Wirtschaftszeitung ins Gesicht geschlagen habe. Nur deshalb. Wirklich nur deshalb.

Die Treppe ist seit meinem letzten Besuch steiler geworden. Genauer gesagt, sie hat sich in eine Lawine verwandelt. Ich spüre, dass ich falle, aber als ich dann unten ankomme, stehe ich trotzdem aufrecht. An der weißen Mauer sitzt eine blaue Fliege. Sie putzt sich. Reibt die Vorderbeine aneinander.

 

Nun gut. Ich werde also sterben. Aber zuerst will ich eine Wurst. Eine Wurst mit Kartoffelfladen, Zwiebeln, Senf und Ketchup. Vor einer halben Stunde hätte ich eine solche Reaktion auf mein eigenes Todesurteil für vollständig absurd gehalten, aber jetzt gibt es für mich nur noch diese Wurst. Ich bin wie besessen vom Gedanken an diese Wurst. Sie darf um nichts in der Welt zu lange im heißen Wasser gelegen haben. An diesem Tag kann ich einfach keine wässrige Schrumpfpelle ertragen. Und die Zwiebeln müssen roh und frisch gehackt sein. Meine Frau und meine Kinder sind mir ganz gleichgültig. Gott und die Ewigkeit ebenfalls. Das Einzige, woran ich denken kann, ist diese Bockwurst. Denn eine Bockwurst muss es sein. Grillwürste kann ich nur verachten.

Die Luft ist dick. Es ist ein warmer Tag Anfang September, und ich gehe wie durch lauwarmes Wasser. Ich muss sterben. Mir bleiben nur noch einige wenige Monate oder gar Wochen. Ich kann nichts daran ändern. Ich bin auf dem Weg zu einer Würstchenbude, und ich muss bald sterben. Wieder und wieder sage ich mir diese vier Wörter vor: Ich. Muss. Bald. Sterben. Es ist vorbei, Lennart Hagstrøm. Dr. Lunde spricht von einigen Monaten. Und die ganze Zeit sehe ich diese Wurst vor mir, schön eingewickelt in einen dünnen, weichen Kartoffelfladen.

Ich habe Geld genug, das ist nicht das Problem. Wenn ich wollte, könnte ich ins Grillrestaurant des Hotels Bristol spazieren und die köstlichsten Menüs ordern. Passend angezogen bin ich auch. Leichter grauer Sommeranzug, weißes Hemd, Schlips. Aber ich will nicht ins Bristol. Ich will weder Fasanenbrust noch gedämpften Seeteufel mit Muscheln und Krabben. Ich will Wurst. Ich will vor einem Kiosk stehen und Wurst essen. Aber ich kann mich nicht daran erinnern, wo es in dieser Stadt Würstchenbuden gibt.

Ich registriere, dass ich nicht das denke, was alle anderen Todkranken denken. Ich frage nicht: Warum ausgerechnet ich? Ganz im Gegenteil, ich denke: Natürlich ich. Das ist doch selbstverständlich. Du bist immerhin vierundvierzig Jahre alt. Und es ist keine schlechte Leistung, mit deinem Zigarettenkonsum ein solches Alter zu erreichen. Die Zehnerpackungen hast du schon mit fünfzehn verworfen. Seit fast dreißig Jahren rauchst du jeden Tag zwischen vierzig und sechzig Zigaretten. Das nimmt den Körper natürlich mit. Etliche Liter Rotwein sind im Laufe dieser Jahre auch zusammengekommen. Ein ganzes rotes Meer, um genau zu sein. Ich muss fast lachen, wenn ich an den vielen Rotwein denke, den ich getrunken habe.

In der Stortingsgate begegnet mir ein Bekannter. Er bleibt stehen und will wissen, wie es mir geht. Ich weiß, dass ihn die ehrliche Antwort auf diese Frage nicht im Geringsten interessiert, und ich bringe einen blöden Spruch, statt ihm auf offener Straße mein Todesurteil zu servieren. Doch. Sehr gut. Frisch wie ein Fisch. Lebenshungriger denn je. Ich nicke lächelnd in Richtung zweier leicht bekleideter junger Mädchen. Allerdings hätte ich es eilig. Das Büro warte, er müsse schon entschuldigen.

Ich bitte ihn, seine Frau zu grüßen, und im selben Moment fällt mir ein, dass sie im vergangenen Winter zu ihrem Liebhaber gezogen ist. So etwas passiert. Man tritt ins Fettnäpfchen, und nichts lässt sich ungeschehen machen. Es hat gar keinen Zweck, es wieder ausbügeln zu wollen. Ich trete deshalb dichter an ihn heran und bringe die Hoffnung zum Ausdruck, dass er sein neues Singledasein genieße. Danach sage ich, dass er jede einsame Stunde, die Gott ihm auf dieser Erde schenken werde, redlich verdient habe. Sollte in seinem Leben eine neue Frau auftauchen, wäre ich der Erste, der sie warnt. Das kann ich ihm versprechen. Ich ziehe ihn zweimal am Schlips.

Meine Bockwurst finde ich erst unten im Hafen. Unterhalb der Festung liegt eine Bude von der guten alten Sorte. Ein richtig altehrwürdiger Würstchenkarren.

Ich frage, ob die Würste frisch sind. Ein fremder Klang liegt in meiner Stimme, ein vages Echo sozusagen.

Der Pakistani sagt, sicher, er habe sie gerade erst in den Kessel gesteckt.

Aber dann können sie doch unmöglich schon heiß sein?

Ich könne ganz unbesorgt sein, sagt der Mann aus Karachi.

Er weiß, was er tut.

Als ich bezahlen will, habe ich plötzlich Lust, den Fünfziger zu einem kleinen Ball zusammenzuknüllen und ihm ins Gesicht zu werfen. Ich habe keine Ahnung, warum. Er hat mir ja nun wirklich nichts getan. Im Gegenteil. Er hat mir die Bockwurst serviert, nach der ich mich seit fast einer Stunde verzehre. Trotzdem mache ich es. Ich knülle den grünen Geldschein zusammen und werfe damit nach ihm. Ich treffe ihn zwar nicht im Gesicht, aber er ist doch ziemlich überrascht.

Ich nehme die Wurst und gehe an den Rand des Hafenbeckens.

Und sie ist heiß. Sie ist knackig und köstlich. Rosa Fleisch. Saftig. Die Zwiebel ist frisch, wie eben erst aus dem Erdboden gerissen. Ich habe in meinem ganzen Leben noch keine bessere Wurst gegessen.

 

Vermutlich ist es nur ein Klischee, dass zum Tode Verurteilte viel intensiver leben als andere. Ich ließ mich jedenfalls von rein gar nichts beeindrucken, als ich ein wenig später durch Aker Brygge schlenderte. Das Wetter war gut. Sonne und kühler Wind. Der Fjord war fast spiegelglatt, und die Möwen tanzten am Himmel. Aber ungefähr so war es auch gewesen, als ich vor zwei Tagen hier entlangspaziert war. Gutes Wetter. Frühherbst. Nicht mehr und nicht weniger.

Es war fünf. Jetzt saßen sie zu Hause am Esstisch. Turid. Und Pie, die noch immer kein Zimmer gefunden hatte. Jetzt saßen sie vor der dampfenden Mahlzeit und warteten auf das Geräusch meiner Schritte. Kabeljau? Ich glaubte, mich erinnern zu können, dass Turid am Vorabend, als wir uns ausgezogen hatten, so etwas erwähnt hatte. Ich ging also weiter und stellte mir vor, wie die beiden Frauen bald die Kartoffeln pellten. Dann würden sie den Fisch von Haut und Gräten befreien. Sie würden ihn mit zerlassener Butter übergießen und dann essen. Sie würden sich gegenseitig Salz und Möhren reichen. So, wie ich sie jetzt vor mir sah, würden sie auch in Zukunft dasitzen. Nur diese beiden. Vor ihren Tellern mit Heilbutt, Steak, Makrele, Kochwurst, Spaghetti und Kartoffelsuppe. Und jeden Herbst vor dem traditionellen Elchbraten. So würden sie dasitzen. Pie würde noch lange nicht ausziehen. Turid und Pie würden jeden Tag um fünf am selben Tisch sitzen. Ab und zu würde Per hereinschauen. Ich sah auch ihn vor mir. Er würde sich auf meinen Stuhl setzen und meine Stimme nachahmen.

Ich ging wieder in Richtung Zentrum. Im Hotel Nobel auf der Karl Johansgate bat ich um die Stortingssuite und bekam sie.

Wie lange?

Ich sagte, das wisse ich noch nicht, würde aber am nächsten Vormittag Bescheid sagen.

Oben im vierten Stock legte ich mich mit einem Bier aufs Bett und zappte ein wenig zwischen den Sendern hin und her. Irak. Bali. New York. Eine Bande von jungen Männern hatte einen Bettler in eine Sackgasse getrieben. Dann brachten sie ihn um. Der neue Opel sieht cool aus. Kellogg’s Cornflakes. Geiseldrama, ich weiß nicht, wo.

Wird jetzt mein Leben an mir vorüberziehen? Nichts passiert.

Nur Fertigpizza und Simon Templar, der auf SAT 1 wiederholt wurde. Ansonsten kann ich mich kaum an meine Kindheit erinnern.

Später fuhr ich mit dem Fahrstuhl in die Bar hinunter. Ich trank zwei Gläser Rotwein und belauschte das Gespräch von drei Schweden am Nachbartisch, die nach Norwegen gekommen waren, um Mähdrescher zu verkaufen. Bald würden sie losziehen, um nach leichten Mädchen Ausschau zu halten. Oder sie würden es lassen. Würden zu Abend essen und sich über landwirtschaftliche Neuerungen unterhalten.

Die drei strahlten etwas Grundsolides aus, was mich aus irgendeinem Grund unglücklich machte. Unruhig. Für einen Moment spielte ich mit dem Gedanken, zu Hause anzurufen, dachte, jetzt müsse ich mich wirklich zu Hause melden, und ich ging zum Tresen, um zu bezahlen. Doch als ich dann in mein Zimmer kam, konnte ich die Einsamkeit nicht ertragen, nicht eine Sekunde lang. Ich machte kehrt und fuhr wieder nach unten.

Es war noch früh am Abend. Warm. Ich spazierte zum Schloss hoch, durch den Duft von Sonnenöl und salzigem Schweiß. Es waren die Düfte der Jugend, der jungen Frauen und der jungen Männer. Nackte Arme. Braune Haut. Brüste, die ein wenig unter weißen T-Shirts wogten. Lachen. Unverkennbar das Lachen junger Norwegerinnen, kein anderes Lachen hatte Ähnlichkeit damit. Und ich dachte, dass auch keine andere Straße auf der Welt der Karl Johansgate in Oslo ähnelt, an einem Spätsommerabend mit gutem Wetter. Sie liegt da, beschreibt ihren schwachen Bogen und gehört der Jugend, allem Lebendigen, allem, was selber bald neues Leben erzeugen wird. Sie ist ein Zustand, ein Teil des Balzrituals. Ich glaubte einfach, das Wesen der Karl Johansgate zu verstehen, ihre Funktion gewissermaßen.

Ein Jahr zuvor hatte ich hier durch einen Zufall meine eigene Tochter beobachtet. Mitten in der Menschenmenge, an einem Abend im Mai. Ich hatte an dem kleinen Zeitungskiosk gegenüber vom Hotel Nobel gestanden, wo ich mich jetzt einquartiert hatte. Sie war auf der anderen Straßenseite unterwegs gewesen, zusammen mit einigen Freundinnen, und als ich sie entdeckte, befanden sie sich auf der Höhe des Grandhotels. Ich hatte gerade Zeitungen gekauft und wollte sie durch die Luft schwenken, wollte Pie und den anderen zuwinken, riss mich aber zusammen. Ich blieb einfach stehen und sah sie an. Beobachtete meine Tochter, die zusammen mit drei Freundinnen die Karl Johansgate entlangging.

Ich kannte diese Freundinnen, es waren nette Mädchen, sie waren oft bei uns zu Hause gewesen. Aber jetzt ging mir auf, dass sie allesamt eine Sorglosigkeit ausstrahlten, die sie mir nie zuvor gezeigt hatten. So, wie sie hier über die Karl Johansgate spazierten, befreit von der (allerdings unfreiwilligen) Dominanz, die meine Frau und ich zu Hause ausübten, lebten Pie und die anderen gewissermaßen in ihrem eigenen Reich.

Mir war klar, dass es nicht richtig wäre, mich jetzt zu erkennen zu geben. Ich ertappte mich dabei, wie ich Gott bat, sie möchten nicht in meine Richtung schauen. Und ich sah Pie, meine eigene Tochter, eben neunzehn geworden, in Richtung Universität verschwinden und dachte: Jetzt verlässt du mich. Was ich jetzt sehe, ist etwas, was ich eigentlich nicht sehen dürfte, ein Stück Zukunft. So wirst du gehen, wenn es mich nicht mehr gibt. Ich stand da, Aftenposten und Dagens Næringsliv in der Hand, und versteckte mich in der Menschenmenge. Ein Gespenst in Anzug und hellem Frühjahrsmantel.

Ich fing an zu frieren. Die Luft war warm, aber ich fror trotzdem. Und ich hatte plötzlich Angst, dass irgendwelche Bekannten vorbeikommen könnten. Irgendwer aus dem Büro. Oder, schlimmer noch, ein enger Freund oder eine Kollegin meiner Frau. Mein eigener Sohn …

Mir wurde schwindlig. Ich ging durch den Schlosspark und dann den Hegdehaugsvei hoch, schließlich entdeckte ich ein Bistro und bestellte mir ein Steak, ich hatte Hunger. Eine Flasche Rotwein wurde auf den Tisch gestellt, und beim Trinken versuchte ich, mir gut zuzureden. Diese plötzliche Angst vor meiner eigenen Familie, vor allen Bekannten, stürzte mich in Verwirrung. Vielleicht war es eine Dummheit gewesen, Dr. Lundes Praxis so übereilt zu verlassen. Er war ein alter Arzt, er hatte schon vielen Menschen schlechte Nachrichten überbracht, ehe die Reihe an mich gekommen war. Er hätte mir vermutlich allerlei über die psychischen Reaktionen erzählen können, die sich bei einer solchen Meldung einstellen, aber ich hatte ihn mit der Wirtschaftszeitung geschlagen und war gegangen. Nun gut. Ich hatte ihn wohl kaum überrascht.

Der Wein kam aus Spanien und schmeckte nach Erde. Nach sonnenwarmer Erde. Dieser Gedanke kam mir ganz logisch vor, dass der Wein nach sonnenwarmer Erde schmeckte, meine ich, obwohl das doch ganz sinnlos war. Tatsache war, ich hatte noch nie sonnenwarme Erde im Mund gehabt, jedenfalls konnte ich mich nicht daran erinnern. Aber dennoch: Er schmeckte nach sonnenwarmer Erde. Ich hatte mir sogar rote, trockene Erde vorgestellt und die Grillen im nahe gelegenen Olivenhain gehört, als ich den ersten behutsamen Schluck gekostet hatte.

Das Steak wurde serviert. Es war blutig, so, wie ich es mir erbeten hatte. Ich zerschnitt das rote Fleisch und hörte das Gebrüll aus der Stierkampfarena in Pamplona. Turid und ich waren rein zufällig dort gelandet. Wir waren frisch verheiratet gewesen, die Kinder noch nicht auf der Welt. Ich selber hatte damals noch nicht einmal Hemingway gelesen. Wir platzten ins San-Fermín-Fest, ohne so recht zu begreifen, was wir da erlebten. Wir hatten keine Ahnung. Wir sahen nur eine Stadt, die sich jeden Tag volllaufen ließ, und in den frühen Morgenstunden beobachteten wir voller Entsetzen, wie Menschen, junge und alte, sich von verängstigten und wütenden Stieren durch die Stadt jagen ließen. Auch dass wir am Ende in der Arena saßen, beruhte auf einem puren Zufall. Turid, die einige Brocken Spanisch beherrschte, war in einer Bar mit zwei älteren Männern ins Gespräch gekommen. Und die gaben ihr zwei Karten für den nachmittäglichen Stierkampf – eine Geste, deren Gewicht weder sie noch ich erfassen konnten, ehe wir den Schwarzmarkthandel vor der Arena erlebt hatten.

Ich kann mich an den ersten Stier erinnern. Er kam geradezu in die Arena geschossen. Und dann blieb er stehen und stampfte mit den Füßen auf, verwirrt und verängstigt wegen der fremden Geräusche. Die kräftigen Muskeln in seinem Nacken spannten sich an, sie lagen wie Taurollen unter seiner glänzenden Haut. Es war ein prachtvolles Tier, und jetzt sollte es sterben. Dort stand der Stier, strotzend vor Muskeln und Leben. Er roch nach Sex. Nach Energie, Potenz, Sperma. Und er war wütend.

Sie erstachen ihn, ließen ihn ausbluten und schleiften ihn an den Hinterbeinen hinaus.

Ich aß das blutige Fleisch. Es war ein köstliches Steak. Der Wein war ausgezeichnet. Ich hatte keinerlei Schmerzen. Verspürte nur ein leichtes Ziehen in der linken Niere. Als kitzelte mich jemand mit dem Degen.

2

Am nächsten Tag erwachte ich gegen halb acht. Ich hatte den Eindruck, dass im Zimmer ein fremder Geruch hing, aber dann ging mir auf, dass es diesen Geruch nicht gab, dass es nur ein Eindruck war, den ein Traum bei mir hinterlassen hatte. Der Traum war aus meinem Bewusstsein getilgt worden, ich konnte kein einziges Bild festhalten. Trotzdem roch es in der Stortingssuite des Hotels Nobel nach feuchtem Zement.

Ich lief ins Badezimmer und duschte lange und heiß. Unter dem schäumenden Wasser wurde der Geruch des feuchten Zements noch aufdringlicher, und für einen Moment sah ich Lydersens Zementgießerei vor mir. Die roten Holzhäuser unter den Erlen. Den grauen Staub, der sich wie ein Lack über Gebäude und grüne Blätter gelegt hatte. Den Strand, die langen Reihen aus fertiggegossenen Rohren und Trögen. Ich gehe über den Strand, und es hat eben erst geregnet. Es riecht nach feuchtem Zement und Meer.

 

Nach dem Frühstück erbrach ich mich. Es kam ganz überraschend, nur mit knapper Not konnte ich aus dem Speisesaal und in die im Flur gelegene Toilette stürzen. Keuchend ergossen sich unverdautes Brot, Saft und Kaffee über den Fliesenboden. In einer Zelle blieb ich dann stehen und erbrach mich wieder und wieder.

Danach wusch ich mir das Gesicht unter kaltem Wasser und spülte mir den Mund aus, so gut es ging.

Dann bezahlte ich meine Rechnung an der Rezeption. Bei AVIS mietete ich mir einen Ford Granada.

 

Es war bewölkt. Und es fing schon an zu regnen, ehe ich Sandvika passiert hatte. Als ich Drammen erreichte, war der Himmel fast schwarz, und es goss wie aus Kübeln. Dieses Wetter hatte etwas Definitives, als sei es das Umschlagen von einer Jahreszeit in die andere. Der September war bis jetzt warm und klar gewesen, doch nun setzte eindeutig der Herbst ein.

Ich saß warm und trocken in meinem Wagen und lauschte auf den Regen, der auf Motorhaube und Dach trommelte. Ab und zu versetzte mein Gewissen mir einen Stich, wenn ich an Turid dachte, aber ich wischte ihr Bild aus meinen Gedanken. Ich befand mich in einem Zustand, der eine gewisse Ähnlichkeit mit einem leichten Rausch hatte. Aufgekratzt. Der Welt außerhalb meines eigenen Kopfes gegenüber halbwegs gleichgültig.

Eigentlich ist der Tod doch eine persönliche Angelegenheit. Ich muss mich mit meinem höchst privaten Fortgang auseinandersetzen. Wenn die Karten erst auf dem Tisch liegen, kann niemand verhindern, dass die anderen daran Anteil nehmen, an diesem intimen Erleben. Ich will warten. Einige Tage.

Ich suchte mir im Autoradio einen Sender, der nur klassische Musik brachte, drehte ihn aber sofort wieder aus. Horchte auf die Reifen, die auf dem nassen Asphalt sangen. Auf die Scheibenwischer. Bei Larvik aß ich etwas, ich weiß nicht mehr, was. Es wurde schon dunkel, als ich von der Hauptstraße abbog.

Seit meinem letzten Besuch hier war ein neuer Kreisverkehr angelegt worden, der Waldweg jedoch hatte sich nicht verändert. Er war schmal und kurvenreich – und gefährlich bei schlechten Witterungsverhältnissen. Ich versuchte, mich daran zu erinnern, wann ich zuletzt hier gewesen war. Es musste sieben oder acht Jahre her sein. Ein kleiner Abstecher auf einer Urlaubsreise, um Per und Pie zu zeigen, wo ich aufgewachsen war. Per hatte gesagt, er könne sich nicht vorstellen, dass ich als Kind hier gelebt hätte. Er könne sich im Grunde überhaupt nicht vorstellen, dass ich jemals ein Kind gewesen sei, und hier schon gar nicht. Ich hatte zusammen mit meiner Frau gelacht, im tiefsten Herzen aber hatte ich ihm zugestimmt. Ich konnte mir das auch nicht vorstellen.

Ich hielt beim Ormungen und verließ das Auto. Es regnete nicht mehr, aber die Luft war feucht, ich roch das Meer. Und den Wald und die Wiesen. Die Steinbrücke, die in alten Tagen über den Ormungen geführt hatte, war jetzt durch eine neue aus Beton ersetzt worden. Oder sie hatten die alte in die neue eingegossen. Ansonsten war alles noch so wie in meiner Erinnerung. Der schwere Nadelwald. Der Ormungen selbst lag schwarz im Schilf, eher Bach denn Fluss. Die Wiesen. Die Haselnuss- und Ebereschensträucher.

Hier, an dieser Stelle, hatte ich in meiner Jugend ein seltsames Erlebnis gehabt. Ich hatte soeben den Führerschein gemacht. Wenn mein Vater betrunken und deprimiert war, durfte ich manchmal sein Auto leihen. Einen alten Simca. Ich fuhr stundenlang über die öden Waldwege ins Landesinnere oder hielt mich an die befahreneren Straßen am Meer. In der Regel allein, nein, immer allein, gerade darin lag das Geheimnis. Die selbst gewählte Einsamkeit reizte mich. Die Lichter am Armaturenbrett, die Dunkelheit draußen. Die Freiheit oder deren Abbild.

Ich war allein gewesen, an diesem Septemberabend vor vielen, vielen Jahren. Ich hatte einen Klassenkameraden besucht, der auf einem im Landesinneren gelegenen Hof wohnte. Wir hatten Karten gespielt und Tee getrunken, es war spät geworden. Auf dem Rückweg in die Stadt hatte ich bei der Mündung des Ormungen gehalten, um zu pinkeln. Und während ich noch dort stand und den Strahl auf das dunkle Wasser richtete, tauchte auf dem anderen Ufer am Waldrand dieses seltsame Tier auf. Zuerst hielt ich alles für Einbildung. Oder für den Teufel höchstpersönlich. Dann sah ich, dass es ein Elch war. Eine Art Elch, sollte ich vielleicht sagen, denn das Tier war aufs Groteskeste missgestaltet. Sein Kopf war seltsam flach und breit, sein Maul so unförmig wie eine dicke Kartoffel.

Ich hielt das Tier zuerst für eine Kuh, doch als meine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, ging mir auf, dass es Hörner hatte. Anstelle eines prachtvollen Elchgeweihs trug es jedoch nur einige dünne Stängel, die zu Boden zeigten. Das Tier ließ den Kopf hängen, es rang nach Atem, aber ich konnte sehen, dass seine großen Augen mich ansahen. Auch sein Rumpf war anders als der eines normales Elchs. Schwerer, untersetzter, wie bei einem Stier. Selbst seine Beine waren kürzer.

Ich kann es nicht erklären, aber der Anblick dieser Missgeburt erfüllte mich mit einem Schmerz, wie ich ihn noch nie erlebt hatte. Dieses Tier schien, indem es einfach am Waldrand stand und da war, eine Einsamkeit auszustrahlen, die mir fast den Atem raubte. Eine pechschwarze Variante der Einsamkeit, die ich bisher in meinem Leben kennengelernt hatte und die sich aus derselben Quelle speiste. Ich brach plötzlich in Tränen aus, fühlte mich ganz und gar hilflos. Der Elch bewegte schwerfällig seinen Kopf und verschwand wieder im Wald. Ich stand mit feuchten Händen und einer Art schlechtem Gewissen da, von dem ich rein gar nichts begriff.

Ich hatte niemandem von dieser Begegnung am Ormungen erzählt. Ich hatte wohl Angst, dass niemand mir glauben würde. Oder, schlimmer noch: dass die anderen über meine Geschichte lachen und damit mein Bild zerstören würden. Denn in dieser Nacht war etwas mit mir passiert. Es war wie eine religiöse Offenbarung. Ich hatte etwas gesehen, was ein Teil meiner selbst war und mich auf seltsame Weise über die Grenze des Alltags hinaushob. Und es kam vor, dass ich dachte: Manchen begegnen Engel oder Lichtgestalten. Mir schickt Gott einen missgestalteten Elch, und das, während ich gerade Wasser lasse.

Drei, vier Jahre später, ich war nach Oslo übergesiedelt und hatte dort mein Studium aufgenommen, stieß ich noch einmal auf diesen Elch. Diesmal auf einigen Fotos in der Presse. Eine Jagdgesellschaft war ein Stück tiefer ins Tal gegangen, vielleicht zwanzig Kilometer weiter als bis zu der Stelle, wo ich ihn beobachtet hatte. Es waren alte, erfahrene Jäger gewesen, aber so etwas hatte keiner von ihnen je gesehen. Das Tier hatte Hörner wie ein Bulle und Euter wie eine Kuh. Als sie ihm den Bauch aufschlitzten, fanden sie unter der Haut einen voll entwickelten Penis, der gegen den Enddarm presste.

Und wieder dachte ich an dieses einsamste unter allen einsamen Wesen. In welcher biologischen Landschaft hatte diese seltsame Gestalt sich aufgehalten, wenn die Brunftzeit näher rückte? Welche Sekrete hatte das Tier ausgeschieden, welchen Gerüchen war es gefolgt? Ich sah es vor mir in einem sinnlosen Tanz um seinen eigenen Schatten. Den schweren Körper, verzweifelt und halb verrückt, während die Hormone Amok liefen. Diese Vorstellung tat weh, und ich freute mich darüber, dass sie es erschossen hatten.

3

Unten am Hafen fand ich einen freien Parkplatz. Ich blieb im Auto sitzen und rauchte eine Zigarette. Hinten am Mollstad-Kai war ein neuer großer Zeitungskiosk aus dem Boden geschossen. Die Mole war verlängert worden, vielleicht zu Beginn der Achtzigerjahre, als die Leute dringend nach neuen Freizeitbooten verlangt hatten.

Wenn ich mich über das Lenkrad beugte, konnte ich sehen, dass das alte rote Haus noch immer oben am Hang hinter der Baptistenkirche stand. Irgendwer hatte neue Fenster eingesetzt, ansonsten war alles wie immer. Ich empfand … nein, ich weiß nicht. Auf jeden Fall waren die Fenster zu meiner Zeit schlecht in Schuss gewesen.

Kurz darauf stieg ich die Treppen zu dem gepflasterten Hof hoch, wo das Strandhotel in den Sommermonaten sein Straßencafé eröffnete. Jetzt war hier kein Mensch, ich sah nur ein leeres Halbliterglas, das auf einem der imprägnierten Tische Regenwasser sammelte. Ein handgemaltes Schild verriet, dass die Rezeption hinten links lag.

Ich bekam ein großes, helles Zimmer im zweiten Stock, mit Blick auf den Fjord. Erst als ich dort stehen blieb und mich in die Aussicht vertiefte, hatte ich eine Art Gefühl, nach Hause gekommen zu sein. Im Westen lag die Landspitze mit der weiß gestrichenen Kirche. Auf der anderen Seite des Wassers sah ich die Zementgießerei. Die alten Landungsbrücken waren unverändert. Am Kai lag ein Stückgutfrachter und lud Holz. Alles so vertraut und doch fremd, weil ich den Fjord noch nie aus diesem Winkel erlebt hatte.

Ich legte mich aufs Bett. »Sølvfjorden«, sang eine Stimme in meinem Kopf. Silberfjord. Ich hatte seit Jahrzehnten nicht mehr an dieses Wort gedacht. Ich war mitten in der Pubertät gewesen und hatte von einer Zukunft als neuer Sänger und Liedermacher geträumt, eine Art neuer Bellman. Und jetzt, wo auch der Name des schwedischen Troubadours Bellman in meinen Gehirnwindungen aufgetaucht war, merkte ich, dass ich Durst hatte. Ich brauchte ein Glas Rotwein oder zwei, um die Unruhe zu bezwingen, die sich plötzlich eingestellt hatte.

Es war eine gute Bar. Damit kenne ich mich aus. Eine Sitzgruppe aus schwarzem Leder. Grünpflanzen vor den großen Fenstern zum Fjord. Es war noch früh am Abend, ich war fast allein. Ich setzte mich an den Tresen und bestellte eine Karaffe Hauswein, der sich als Jacob’s Creek entpuppte. Der Barmann, ein großer Mann mit Walrossschnurrbart und nach hinten gekämmten schwarzen Haaren, hatte nicht viel zu tun. Er kaute auf einem Zahnstocher herum und starrte auf den Fjord hinaus.

»Sie suchen jemanden«, sagte er.

Ich drehte mich um. Draußen auf dem Fjord sah ich ein Patrouillenboot der Polizei und zwei normale Boote.

»Was ist denn passiert?«, fragte ich.

»Ein Junge. Diese Burschen rasen die Straßen am Ufer entlang. Sie sind nie ganz nüchtern. Nur seine Hand haben sie gefunden, er war vorher gegen die Felswand geknallt. Aber er war nicht im Auto, das sie an Land geholt haben.«

So war es schon immer gewesen. Es hatte immer zum Alltag der jungen Männer hier unten gehört, nachts am Fjord entlangzurasen. Ich hatte von Naturvölkern gelesen, die ihre Jungmänner allein in den Wald schickten, wo sie eine Art Männlichkeitsprobe zu bestehen hatten. Sie sollten in der Wildnis übernachten, vielleicht mit bloßen Fäusten einen Adler fangen. Hier in der Stadt wurden sie an den Fjord geschickt, allein, mit einem rostigen Ford oder einem heruntergekommenen Simca. Niemand erwartete bei ihrer Rückkehr auch nur eine überfahrene Möwe. Niemand erwartete überhaupt etwas. Man hoffte nur, dass sie diese introvertierte Lebensphase überleben und weder sich noch anderen Schaden zufügen würden. Tief in den nächtlichen Fantasien der Eltern gab es das Bild eines Wagens, der langsam im Fjord versank, des Wassers, das hinter der Windschutzscheibe langsam hochstieg, die C&W-Musik, die plötzlich verstummte.

»Wer ist es denn?«, wollte ich wissen. Er starrte mich mit leerem Blick an.

»Er hatte doch wohl einen Namen?«

»Er hieß Anders«, sagte er. »Anders Nygård. Er hatte erst im Winter den Führerschein gemacht.«

»Astrid?«, fragte ich.

Er nickte. »Ihr Sohn. Sie kennen sie?«

Ich schüttelte den Kopf. »Ist schon lange her.«

»Er war ein Wildfang«, sagte der Barmann. »Das kann man wirklich sagen. Und sie war ja alleinerziehend.« Er zuckte mit den Schultern. Dann hatte er anderes zu tun. Ich saß allein da und sah zu, wie die Boote sich in dem schwindenden Licht langsam bewegten. Sie suchen Astrids Sohn, dachte ich.

Plötzlich war mir schlecht. Ich lief zur Toilette. Und dort blieb ich hyperventilierend stehen. Zum Glück konnte ich Essen und Wein bei mir behalten. Der Anfall ging vorbei. Ich beschloss, meine Hoden zu überprüfen. Jetzt war ihnen nichts Unnormales anzusehen. Ich ließ meine Hand über meine Nieren gleiten. Ein schwaches Ziehen. Wann würden die Schmerzen einsetzen? Und wo?

Als ich mir die Hände wusch, war mir mein Spiegelbild völlig fremd. Ich hatte das Gefühl, mich ganz und gar objektiv zu betrachten, ohne irgendwelche Gefühle. Mein eigenes Ich schien in etwas anderem aufgegangen zu sein, etwas Größerem. Ich beobachtete mithilfe des Spiegels eine zufällige Maske, die die Natur mir geschenkt hatte, ehe ich in dieses Schauspiel hineingeschickt worden war. Das Ganze dauerte nur wenige Sekunden, dann hatte mich der Alltag wieder. Ich hatte schon einmal so etwas erlebt, vielleicht im Traum oder im Halbschlaf.

Ich ging in die Bar und bestellte mehr Wein. Ich dachte an diese Hand. Was in aller Welt würden sie machen, wenn sie den Körper nicht fanden? Die Hand in einen Sarg legen und bestatten? Ich stellte mir die einsame Hand im Sarg vor. Eine rotblaue Hand auf einem weißen Kissen. Und dann sah ich sie zwischen den Steinen am Strand liegen und gewissermaßen zum Abschied winken.

Ich musste weg hier. Und zwar sofort. Wieder war alles umgeschlagen, ich verspürte Angst, ein plötzliches Gefühl von Panik. Ich bekam hier drinnen nicht genug Luft.

Der Kiosk auf dem Marktplatz war verschwunden. Dort, wo er gestanden hatte, ragte jetzt eine Messingskulptur auf, eine Art Puppe, besetzt mit Glöckchen, die im Wind leise bimmelten. Ich stellte mir den alten Kiosk vor, wie er auf dem Grund des Sølvfjords stand. Voller klitschnasser Pornoblättchen aus der Zeit der Unschuld, die unter dem Tresen verstaut wurden. Ich ging durch die Stadt meiner Kindheit. Ich wollte das versunkene Auto sehen; ich konnte mir aber selbst nicht erklären, warum.

Ich ging also durch diese kleine norwegische Stadt, eine Stadt mit knapp zwanzigtausend Einwohnern. Wie auch sonst um diese Tageszeit war nicht viel von ihnen zu sehen. Sie reparierten die Toilette oder die Schaukel für die Kinder, jetzt, nach Feierabend. Es war fast neun Uhr. In der Ferne bellte ein Hund, und vom Fjord her war der Motor eines Bootes zu hören. Der alte Henriksen war auf der Heimfahrt zu seinem weißen Holzhaus, mit sechzehn Makrelen, die er entgegen den ortsüblichen Bräuchen nicht richtig getötet hatte. Sie lagen im Steuerhaus und peitschten mit den Schwänzen.

Ich blickte auf meine italienischen Schuhe, sah, wie sie den Asphalt der Hauptstraße hinter sich brachten. Die war mittlerweile Fußgängerzone. Eine richtig blöde Fußgängerzone mit wehenden Plastikwimpeln und Holzkästen mit windzerzausten Petunien. Die Schaufenster wussten es nicht besser. Da war die Bushaltestelle vor dem Kino. Die neue Bank hatte einen Betonsockel. Eine Sturmmöwe hackte auf ein Stück Pizza ein, das jemand verloren hatte. Vieles hatte sich seit meiner Kindheit geändert, manches war geblieben. Um diese Tageszeit konnte man sich leicht vorstellen, dass eben erst der Schwarze Tod vorübergezogen war, unterwegs zum nächsten Dorf.

Als es bergauf ging, geriet ich arg ins Keuchen. Meine Lunge ist nicht mehr das, was sie damals war, als Craven A noch einzeln verkauft wurde. Während ich unter den Fenstern der Feuerwache vorüberging, hörte ich Lachen und Gesprächsfetzen. Und dann volle Kanne Frank Zappa: »Give me your dirty love. Like you might surrender to some dragon in your dreams.« Ja, warum nicht? Auch bei ihm hat es irgendwo da unten gesessen.

Ich bog um die Ecke und ging auf den Hinterhof. Dort stand das Auto. Sie hatten es in der hinteren Ecke beim Abfallcontainer abgestellt. Es war ein weißer Escort mit platten Reifen und zerfetzter rechter Seite. Die Tür fehlte. Ich beugte mich über den Fahrersitz, der nach Meer und Motoröl roch. Vorsichtig befühlte ich den roten Stoffsitz. Er war noch etwas feucht, aber ich setzte mich trotzdem darauf. Das hätte ich lieber lassen sollen. Mein eigenes Gewicht presste mich in den Sitz, und ich wurde triefnass. Ich dachte an die Hand des Jungen und legte meine eigene auf die Gangschaltung.

 

Es ist Winter. Der Sølvfjord liegt wie schwarze Tinte unter einer schmutzig grauen Wolkendecke. Von ferne die Lichter der weiter im Landesinneren gelegenen Stadt. Die Schneehaufen am Straßenrand. Die Spikesreifen, die über Eis und verharschten Schnee fetzen. Das Licht der Scheinwerfer gräbt die Straße vor mir aus der winterlichen Dunkelheit. In den Kurven rutschen wir über den Wasserspiegel oder zwischen die Tannen.

Die Tür des Abschleppdienstes auf der anderen Hofseite wird geöffnet. Ich traue meinen Augen kaum, aber es ist Pfeffer. Er ist alt und grau geworden, aber er ist es. Sein blaues Uniformhemd ist so frisch gebügelt wie eh und je. Und Pfeffer ist noch genauso schwachsinnig, wie Gott es für ihn festgelegt hat. Er erkennt mich nicht, das merke ich, aber er stellt sich zwischen der Treppe und dem Wrack auf und macht mit seinen breiten Lippen Furzgeräusche. Ich winke ihn zu mir und frage, wie es ihm geht.

»A.« Das bedeutet gut.

»Ich brauche einen Kartenleser«, sage ich. Zeige auf einen Pappkarton neben dem Container. »Reiß dir ein Stück ab zum Sitzen. Sonst kriegst du einen feuchten Hintern.«

Er zögert, schaut zum Wrack hinüber.

»Komm schon«, sage ich.

Dafür, dass er so alt ist, bewegt er sich rasch. Und das mit der Pappe schenkt er sich. Er sitzt schon neben mir, ehe ich auch nur aufseufzen kann, und er scheint nicht auf das Wasser zu achten, das in seinen Hosenboden eindringt. Sein Blick ist blau und freundlich. Wir fahren mit gewaltigen Furzgeräuschen los, ich drehe das Lenkrad, und Pfeffer mustert abwechselnd die imaginäre Karte auf seinen Knien und den rostigen Container vor uns.

Zum ersten Mal seit Dr. Lundes Mitteilung bin ich glücklich. Ich lebe jetzt wieder in einer Zeit, die mir zumindest im Nachhinein ziemlich sorglos vorkommt. Als sich an Samstagabenden alle auf dem Marktplatz versammelten. Wo die Autos im Leerlauf liefen. Gekühlte Cola. Wurst mit Brot und Kartoffelfladen. Das helle Lachen der Mädchen. Pfeffer, der von Auto zu Auto geht und allen als Kartenleser dient. Die Jungs vom Abschleppdienst schleppen ihn zu allen Veranstaltungen in der Gegend mit. Er bekommt dieses Spiel niemals über. Und wir anderen auch nicht.

Eine imaginäre Rallye auf dem Marktplatz, mit der Würstchenbude in Reichweite. Vorsicht in der Kurve! Halt dich fest. Rechts oder links, Pfeffer? Pfeffer schwenkt die Arme in beide Richtungen, reißt Tabakpackungen und Limoflaschen vom Armaturenbrett. Danach fährt ihn immer irgendwer nach Hause zu seiner alten Mutter draußen am Strandkai. Aber wer kümmert sich jetzt um ihn?

Wir überqueren die Ziellinie. Ich erkläre Pfeffer, dass wir gewonnen haben. Wir gewinnen immer. Irgendwann einmal hat irgendein Trottel ihm etwas vom zweiten Platz erzählen wollen. Es blieb bei diesem einen Versuch. Pfeffer hat seine Schattenseiten wie jeder andere auch.

»Gehen wir«, sage ich. »Wolltest du zum Kiosk?«

Er zeigt mir den Zettel. Fünf Cola. Eine Wurst mit allen Beilagen und eine Riesentüte Erdnüsse.

Ich heiße Lennart Hagstrøm. Ich bin vierundvierzig Jahre alt. Ich habe Betriebswirtschaft studiert und arbeite bei einer angesehenen Wirtschaftsprüfungsfirma. Ich habe eine Frau, die mich liebt, und zwei Kinder, die anscheinend keine Probleme machen. Ich muss bald sterben. Und jetzt gehe ich zusammen mit einer schwachsinnigen Kindheitserinnerung durch die Straßen, um Wurst mit allen Beilagen und gekühlte Cola zu kaufen. Unsere Hosenböden sind triefnass, vermutlich sehen wir aus, als hätten wir in die Hosen gemacht. In Wirklichkeit ist es nur Salzwasser. Wir haben Furzgeräusche ausgestoßen und sind eine imaginäre Rallye gefahren – mit dem Auto des verstorbenen Sohnes einer Frau, die mir nie Zugang zu ihrem Slip gewährt hat, obwohl ich mir damals große Mühe gab. Das Leben ist seltsam.

4

Als ich am nächsten Morgen erwachte, war es erst kurz nach sechs. Ich fühlte mich ausgeschlafen und hätte problemlos aufstehen können, blieb aber trotzdem unter der wärmenden Decke liegen.

Es war dämmerig im Zimmer. Die Stadt schlief noch, kein Auto war zu hören, nur die Möwen, die über den leeren Straßen und dem Fjord schrien. Mit diesem Klangbild war ich aufgewachsen. Mit dem gedehnten Schreien der weißen und grauen Vögel. Jahraus, jahrein hatte ich in meinem Zimmer gelegen, während die Möwen mich aus meinen Träumen zogen. Ich hatte diesen Zustand zwischen Schlafen und Wachen gemocht, ich mochte ihn noch immer. Er war wie ein guter schwerer Rausch, eine Art mentaler Marktplatz, auf dem sich die Eindrücke aus zwei Welten begegneten. Mein Vater, der im Badezimmer pfiff. Das trübe Winterlicht im Zimmer. Und dann war alles wieder ganz dunkel, und Vaters Pfeiftöne gebaren verwirrende Traumgesichte.

Was ich in dieser Nacht geträumt hatte, im Hotelbett, wusste ich nicht mehr. Aber etwas ging mir auf, und ich fand es seltsam, dass der Gedanke erst jetzt auftauchte: In dieser Stadt, auf der Bühne meiner Kindheit, spielte sich ein großer Teil meines Traumlebens ab. Und so war es schon lange.

Ich glaube nicht, dass meine Heimatstadt in den ersten Jahren, seit ich fortgezogen, seit ich zum Oslo-Bürger geworden war, überhaupt je auf meiner Traumkarte auftauchte. Jetzt, als Mann mittleren Alters, erlebte ich fast jede Nacht Szenen, die innerhalb dieses alten Rahmens angesiedelt waren. Und es war nicht nur der »Rahmen«; der Marktplatz, die Straßen, die Landungsbrücken und die Parks öffneten sich vor mir. Nein, auch meine Mitspieler von damals stellten sich ein. Nicht viele. Nur einige wenige. Und nur die, mit denen ich meine Kindheit verlebt hatte, die ersten Jahre auf der Volksschule. Jetzt tauchten sie in meinen erwachsenen Träumen auf, wo sie auf seltsame Weise Werte und Einstellungen vertraten, die ich ihnen schon als Kind zugeordnet hatte.

Meine täglichen Frustrationen und Eindrücke spielten sich nachts in dieser Stadt ab, spiegelten sich in diesen Kindergesichtern aus meiner Vergangenheit wider. Und ich fragte mich: Spiele ich eine Rolle im Traumleben anderer? Habe ich etwas getan oder gesagt, was noch immer in einem Menschen herumgeistert? In einem Menschen, den ich nicht mehr kenne, der mich nicht mehr kennt?

 

Nach dem Frühstück trieb ich mich zwei Stunden in den Straßen und am Hafen herum. Ich wusste nicht, wie ich jetzt weiter vorgehen sollte. Eine Weile stellte ich mir vor, wie ich mich als Journalist einer Osloer Zeitung ausgab. Wie ich mir irgendeine Lügengeschichte über das historische Interesse an einem bestimmten Haus aus den Fingern sog.

Idiotisch, natürlich. Es ärgerte mich, dass es mir so schwerfiel, die Wahrheit zu sagen. Ich hatte wohl Angst davor, für einen sentimentalen Narren gehalten zu werden. Was wildfremde Menschen vielleicht über mich dachten, konnte mir doch wirklich egal sein. Wenn es ihnen ungelegen kam, konnten sie doch einfach Nein sagen. Außerdem war ich wirklich sentimental. Ich zankte mich ein wenig mit mir selbst, bis sich mein Stolz beugen musste.

Am Öltank im Garten lehnte ein Damenfahrrad mit Kindersitz. Dieser Öltank war für uns damals ein gewaltiger Fortschritt gewesen. In den frühen Siebzigerjahren. Weg mit den Holzöfen! Schluss mit dem Holzhacken draußen im Schuppen, an den langen Herbstabenden. Das Geräusch meiner Schritte, als ich über den Kiesweg lief … In meinen Gedanken war wieder Herbst. Ich konnte in der nächtlichen Dunkelheit den säuerlichen Duft von Fallobst wahrnehmen.

Ich klingelte. Es war dasselbe alte Geräusch, das sich innen im Haus fortpflanzte.

Es dauerte eine Weile, bis die Tür geöffnet wurde. Ich hörte Kinder plappern und eine Frau reden. Jetzt bereute ich meinen Einfall. Wenn sie mit den Kindern allein zu Hause war, und das war sie wohl … Immerhin leben wir in einer Zeit, in der alte Leute in ihren eigenen Wohnungen misshandelt werden. Ich musste mir irgendeine Erklärung überlegen, eine Entschuldigung, mich nach dem Weg erkundigen, nach … ja, wohin eigentlich? Mir fiel nichts ein.

Auf einmal stand sie vor mir. Sie war jung, Anfang zwanzig. Dunkel, ziemlich hübsch, mit dem leicht dämlichen Gesichtsausdruck, der sich beim Kaugummikauen so oft einstellt. An ihr Hosenbein klammerte sich ein Mädchen von vier oder fünf Jahren. Ein kleineres Kind saß auf ihrem Arm.

Ich stellte mich vor. Und dann sagte ich wahrheitsgemäß, dass ich mir blöd und unverschämt vorkäme, aber ich sei nun einmal in diesem Haus aufgewachsen. Schon lange sei ich nicht mehr in dieser Gegend gewesen, aber nun habe der Zufall mich hierhergeführt.

Sie kaute auf ihrem Kaugummi herum und starrte mich an.

Die Kleine lugte schüchtern durch zwei Finger.

Ich fragte, ob ich mich im Garten ein wenig umschauen könne. Ich wolle nicht lange bleiben. Ich hasste mich, weil ich so herumstammelte. Ich kam mir vor wie ein verliebter Sechzehnjähriger. Die Vorstellung, darum zu bitten, für einen Moment ins Haus kommen zu dürfen, erschien mir jetzt vollständig absurd.

»Im Garten?«

»Es tut mir leid«, sagte ich. »Vergessen Sie es. Das war nur eine blöde Idee.«

»Natürlich können Sie in den Garten gehen«, sagte sie.

»Aber verlaufen Sie sich nicht.«

Ich wollte gar nicht in den Garten. Ich wollte lieber ins Hotel zurückgehen und mich volllaufen lassen. Die ganze Situation kam mir einfach blödsinnig vor. Sie war zu jung, um irgendetwas zu begreifen. Deshalb ging ich vor allem in den Garten, um ihrem forschenden Blick zu entkommen. Ich bog unter den Wäscheleinen nach links ab und ging um die Hausecke.

Doch. Ich begriff, wie sie das mit dem Verirren gemeint hatte. Das Unkraut reichte mir bis an die Knie. Die alten Obstbäume waren seit ewigen Zeiten nicht mehr beschnitten worden. Ich glotzte auf Fjord und Stadt hinunter und empfand dabei nicht das Geringste. Doch, ein Unbehagen, weil ich wusste, dass sie hinter mir am Wohnzimmerfenster stand und meinen Rücken beobachtete. Nach zwei Minuten hielt ich es nicht mehr aus. Ich musste machen, dass ich hier wegkam. Doch als ich mich gerade umdrehte, öffnete sie das Wohnzimmerfenster und bot mir eine Tasse Kaffee an.

Ich wusste nicht, was ich dazu sagen sollte. Eigentlich wäre ich lieber gegangen. Doch dann sagte ich, dass ich keine Umstände machen wolle.

»Das sind doch keine Umstände. Ich starre ja ohnehin nur die Wand an. Und heißen Kaffee habe ich immer in der Kanne.«

Sie hatte die Tür angelehnt. Ich ging ins Haus und zog sie hinter mir zu. Im Gang wimmelte es nur so von Dreirädern und Spielzeug, von Schuhen und Zeitungsstapeln.

»Ich bin in der Küche. Sie kennen sich ja aus. Wie war noch gleich Ihr Name?«

»Hagstrøm«, sagte ich.

Es war seltsam, nach den vielen Jahren wieder in der alten Küche zu stehen. Der Herd war noch der alte. Und der Tisch auch. Das grüne Linoleum, in das meine Mutter zwischen Herd und Esstisch einen Pfad getreten hatte. Jetzt war der Weg deutlicher als in meiner Erinnerung, eine neue Frau war sozusagen in die Fußstapfen meiner Mutter getreten. Eine andere Frau zwar, eine moderne Frau, aber dennoch eine Frau, die mit dampfenden Töpfen und Schüsseln über diesen Weg zur wartenden Familie lief.

»Sahne?«

»Nein, danke«, sagte ich. Dann ging ich zur Wohnzimmertür. Hier waren große Veränderungen vorgenommen worden. Neue Tapete. Neuer Teppichboden. Und es war seltsam, dieses Zimmer ganz ohne Bücher zu sehen.

Sie drückte mir einen Becher mit dampfendem Kaffee in die Hand. Glühend heiß. Gut. »Das ist ein gemütliches Haus. Haben Sie es gebaut? Ihr Vater, meine ich?«

»Nein, es ist noch älter.«

»Wir haben es nur gemietet. Wie gesagt, gegen das Haus lässt sich nichts sagen. Aber diese Stadt geht mir einfach auf den Geist. Hier unten wissen die Leute mehr über Sie als Sie über sich selbst.«

»Ja«, sagte ich. »Da sagen Sie mir nichts Neues.«

»Manchmal stehe ich abends hier und glotze aus dem Fenster. Wenn es nichts im Fernsehen gibt. Ich mag diesen Fjord nicht. Er scheint irgendwas von uns zu wollen. Das war immer schon so. Die anderen finden ihn idyllisch und schön und können mich nicht verstehen. Jonny will sich unbedingt ein Holzboot anschaffen. Nur zu, sage ich. Aber ich bleibe an Land.«

Ich sagte, ich könne sie sehr wohl verstehen. Der Fjord hatte eine Art hypnotische Wirkung. Vor allem nachts, bei Mondschein. Dann konnte man sehen, wie die Strömung verlief. Eine tiefere Färbung der Wasserfläche.

»Ja, nicht wahr? Ist ja eigentlich kein Grund, um Verfolgungswahn zu kriegen, sondern eher ganz natürlich. Aber trotzdem. Setzen Sie sich doch. Es macht mich nervös, wenn Leute im Stehen trinken. Sind Sie Geschäftsmann, oder was?«

»Ich arbeite als Wirtschaftsprüfer«, meinte ich.

»Das klingt ja total spannend«, sagte sie.

Ich lachte. »Es ist gar nicht so schlecht.«

»Und jetzt suchen Sie alte Jagdgründe auf, um zu überprüfen, ob alle Rechnungen aufgehen?« Auch sie lachte jetzt.

An meine Antwort kann ich mich nicht mehr erinnern. Aber ich weiß noch, dass ich sie sympathisch fand. Es gefiel mir, hier in meinem Elternhaus zu sitzen und mir ihre frechen Bemerkungen anzuhören.

Meines Wissens war das Haus um 1900 von einem Steuermann erbaut worden. Hier waren er und seine Familie, die, wie ich mir einbildete, sehr groß gewesen war, umhergelaufen. Lachen und Weinen. Die Auseinandersetzung über die Auflösung der Union mit Schweden, Wetter und Wind. Dann der Tod. Zuerst starb er, dann sie.

Und später – der Einzug meiner Eltern. Erst zur Miete. Jung verheiratet und munter, voller Pläne und Ideen für die Zukunft. Hier, auf genau demselben Boden, wo der Steuermann und seine Familie gelebt hatten, wachse ich auf. Hier lerne ich laufen. Hier lerne ich sprechen. Hier stelle ich zu meinem Erstaunen fest, dass ich einen eigenen Willen besitze. Ich ziehe aus. Ich ziehe in die Hauptstadt, und meine Eltern verbringen schlaflose Nächte und fragen sich, was die Stadt wohl aus mir machen wird.

Als Vater kehre ich zurück. Mein Vater und ich wandern über den alten Holzboden, den Boden, auf dem der Steuermann herumstolziert ist, mein Vater und ich – wir sind Väter, und Frauen und Kinder schlafen schon. Wir versuchen, einen passenden Tonfall zu finden. Das gelingt uns nicht, wir sind uns zu ähnlich, aber das macht nichts. Wir verzeihen einander, weil wir sehen, wie sehr sich der jeweils andere anstrengt. Wir wissen, was es kostet, einander nicht anzuschreien.

Ich sitze in einem vertrauten Zimmer zusammen mit einer Frau, einer jungen Mutter, die den Mund voll Kaugummi und heißem Kaffee hat. Sie kommt aus der Osloer Satellitenstadt Lambertseter, sagt sie. Sie findet den Fjord beängstigend. Ihr Mann ist bei der Arbeit, und auf der linken Seite zeigt ihr Pullover einen Fleck aus Erbrochenem, sicher von dem Baby. Sie ist ziemlich schön. Ich glaube, dass sie viele Träume hat.

Ich erhob mich. Die notwendigen Dankesworte blieben mir im Hals stecken. Unwillkürlich fuhr ich mir mit der Hand über die Haut, und jetzt spürte ich die Geschwulst. Oder eine davon. Beim Ultraschall waren drei zu sehen. Hier stand ich also und bedankte mich für die Gastfreundschaft, mit einer bösartigen Geschwulst unter den Fingerspitzen.

Bald darauf stand ich auf dem Hof. Wieder mit zwei Fingerspitzen auf dieser verdammten Geschwulst. Dr. Lunde hatte gesagt, meine Stimme könne bald schwächer werden oder sogar ganz verschwinden. Na gut. Dann werde ich eben die Klappe halten müssen.

Es fing an zu regnen. Schwere, große Tropfen, die innerhalb weniger Sekunden den Kies dunkel färbten. Und mir stieg ein Duft entgegen. Ein schwerer Duft nach Wald und warmem Asphalt, nach Holz und Erde. Ich weinte. Ich stand mit dem Rücken zum Küchenfenster und schluchzte laut auf, und ich wusste, dass sie mit dem Kind auf dem Arm dastand und mich beobachtete. Ich ging davon. Ich musste fort von diesem Bild, in dem ich stand, es erstickte mich.