Albinati, Edoardo Ein Ehebruch

Mehr über unsere Autoren und Bücher:
www.berlinverlag.de

 

Aus dem Italienischen von Verena von Koskull

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel
Un adulterio bei Rizzoli, Mailand
© 2017 Rizzoli / RCS Libri S.p.A., Milano
Für die deutschsprachige Ausgabe
© Berlin Verlag in der Piper Verlag GmbH, Berlin/München 2019
©Berlin Verlag in der Piper Verlag GmbH, Berlin / München 2019
Covergestaltung: zero-media.net, München
Covermotiv: Edoardo Albinati

 

Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken. Die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ist ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.

 

In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Wir weisen darauf hin, dass sich der Piper Verlag nicht die Inhalte Dritter zu eigen macht.

Samstag

In einem verborgenen Winkel ihrer Seele genoss sie es, Grund für die Schlaflosigkeit eines Mannes zu sein, von dessen Existenz sie zwei Wochen zuvor noch nichts gewusst hatte.[1]

David Vogel

Im Fahrtwind umwehte das Haar ihr Gesicht, und die längeren Strähnen flatterten ihr über die Augen und hefteten sich an ihre Lippen. Die vor wenigen Tagen geschnittenen Spitzen schmeckten bitter. Als der Matrose in dem knappen weißen T-Shirt die Festmacherleine mit einer gekonnten Bewegung eingeholt hatte, ohne sie mit einem einzigen Tropfen Wasser in Berührung zu bringen, und sein Kollege am Hafenkai mit den Tauen hantiert und die Gangway mit einer Achsendrehung hochgezogen hatte, als zeigte er die Dressurnummer eines stattlichen Schimmels, wurde Clementina mit einem Mal der ebenso freudigen wie gefährlichen Trennung vom Festland gewahr. Der jähe Schwenk, mit dem sich das Heck des Tragflügelbootes dröhnend von der Mole löste, und die wenigen Ellen dunklen Wassers zwischen dem Beton und der Schiffswand genügten für ein unauslöschliches Bild, als hätte sich ein Abgrund aufgetan, und schon war man auf offener See, das Land vom morgendlichen Dunst verschluckt, und es wieder zu betreten auf Monate oder Jahre hoffnungslos, wie an Bord jener Handelsschiffe, die erst heimkehrten, wenn der Laderaum voll war.

Während sie über die Mole, die Hügellandschaft, die Häuser, Palmen, Kräne, Container und Reihen hie und da geöffneter salzgebleichter Fenster blickte, während sie zurückblickte und das Tragflügelboot mit gedrosselten Motoren auf die Hafeneinfahrt zutuckerte, wartete Clementina darauf, dass Erri augenblicklich zu ihr käme, die Arme um sie schlang, zuerst um die Hüften, dann den Pullover hinauf bis unter den gewölbten Busen, und sie an sich zog. Vielleicht verharrte sie trotz der kalten Brise dort und starrte zum allmählich sich entfernenden Ufer zurück, um Erri die Chance zu geben, diese kurze, rauschhafte Reise damit einzuweihen. Doch er stand ein Stück abseits zwischen dem Touristengepäck auf der anderen Seite des Decks, klammerte sich an die Reling und rauchte auf eine Art, die ebenso angespannt wie erwartungsvoll erscheinen mochte.

 

Als Clementina nicht mehr damit rechnete und von dem schwindenden Hafen nur mehr die Molenfeuer zu erkennen waren, als sie sich umdrehen und zu den zugewiesenen Plätzen im Fahrgastraum zurückkehren wollte, weil ihr fröstelte und sie es leid war, sich das Haar zurückzustreichen, das ihr ins Gesicht peitschte, da das Schnellboot plötzlich Fahrt aufgenommen, den Bug aus dem Wasser gestemmt und die Kielspur in wirbelnden Schaum verwandelt hatte, war Erri mit einem Satz bei ihr, umschlang sie von hinten und hielt sie zurück. Er stützte das Kinn auf ihre Schulter und schloss die Augen. Seine Umarmung war weniger beschützend denn kindlich und unbeholfen, was ihrer Innigkeit aber keinen Abbruch tat, und von einer ungekannten Freude durchströmt, lachte Clementina auf, ohne sich daraus zu befreien, und nahm seine warmen in ihre eiskalten Hände.

 

Weil sie aus Diskretion oder wegen einer an diesem Punkt ihrer Affäre eher befremdlichen Befangenheit niemanden nach dem Weg fragen wollten, war es nicht leicht, das Hotel zu finden. Erri war Clementina stets ein paar Schritte voraus, als kennte er den Weg durch die steilen Sträßchen, die über enge, verwinkelte Treppen aufwärtsführten, doch schien es vielmehr, als wollte er nicht gleichauf mit ihr gehen, als wäre es ihm peinlich, sich mit ihr als Paar zu zeigen, als x-beliebiges Pärchen. Zumindest kam es Clementina so vor. Mehrmals bat sie ihn halb lachend, langsamer zu gehen. Ihre Umhängetasche war klobig, und es war seltsam, dass Erri, der nur einen winzigen Rucksack trug, ihr keine Hilfe angeboten hatte.

 

Clementinas Fehler, der immer gleiche Fehler war, zu viel Zeug in diesen formlosen geblümten Sack zu stopfen, der, wenn er leer am Boden lag, wie ein harmloses Stück Stoff aussah, ebenso luftig wie sein Muster, jedoch, kaum hatte man ihn gefüllt, bleischwer und unhandlich wurde, als hätte ein Dieb reiche Beute gemacht, und der ihr nun bei jedem Schritt gegen die Hüfte schlug. Sie hatte hineingepackt: zwei Seidenkleider, eine bunt gestreifte Tunika als Strandkleid, vier Badeanzüge, einer davon ein sehr knapper, weit ausgeschnittener Einteiler, ein Paar Espadrilles und ein paar Gummislipper für die Klippen, hohe Sandalen und Turnschuhe, drei T-Shirts und einen dicken Pullover, ein zusätzliches Paar Jeans zu denen, die sie anhatte, aber in Hellblau, leger geschnitten und bequem, noch einen Ledergürtel, um die beiden eleganten Kleider in der Taille zu raffen, einen speziellen Strohhut, der selbst dann nicht aus der Form geriet, wenn man ihn in den Koffer quetschte, und seine breite Krempe auf wundersame Weise unbeschadet entfaltete, kaum dass er unter den Kleiderschichten wieder zum Vorschein kam, zwei Romane von preisgekrönten amerikanischen Schriftstellerinnen, obgleich Clementina wusste, dass sie kaum dazu kommen würde, mehr als ein paar Absätze zu lesen … und in einer durchsichtigen gelben Tasche die nötigen Hygiene- und Kosmetikartikel einschließlich zweier Sonnencremes mit hohem Lichtschutzfaktor, fürs Gesicht und für den Körper. Die Creme gegen Dehnungsstreifen hatte sie zu Hause gelassen.

 

Einer der wichtigsten Gegenstände war federleicht und brauchte nur wenige Zentimeter Platz: die Schwimmbrille.

 

Selbst wenn sie zwei Wochen statt zwei Tage auf der Insel geblieben wäre, hätte sie unmöglich all die Sachen tragen, sich mit den Sonnenlotionen einreiben, die Romane lesen, die Pullover anziehen und die Bikinis gegen den Einteiler austauschen können. Die Tasche war hinter dem Rücken ihres Mannes gepackt worden, und sofort kam Clementina der Gedanke, dass sie sie gleich nach ihrer Rückkehr ebenso unauffällig würde leeren und die noch nassen oder feuchten Badeanzüge im hintersten Winkel irgendeiner Abstellkammer würde aufhängen müssen, in die er nie einen Fuß setzte.

 

Erri hatte es eilig, ins Hotel zu kommen, um sofort miteinander zu schlafen. Er lechzte förmlich danach, und das machte ihn nervös und beinahe gleichgültig gegen die Person, mit der er es zu tun gedachte.

 

Das Hotel hatte offenbar bessere Tage gesehen. Clementina konnte sich kaum daran erinnern. Luxus bedarf ständiger Pflege, sonst verkommt er schneller als Frugalität. Sie hatte es ausgewählt, weil ihre Eltern dort abgestiegen waren, als es praktisch das einzige Hotel auf der Insel gewesen war und fast ausschließlich exzentrische Ausländer beherbergt hatte. Später hatten sie mit ihr und den beiden älteren Schwestern über Jahre dort Ferien gemacht, bis mit der festen Gewohnheit, die zweite Septemberwoche auf der Insel zu verbringen, ohne jede Erklärung gebrochen worden war; zumindest hatte man der damals zehnjährigen Clementina keine gegeben. Weitere zehn Jahre sollten vergehen, ehe sie die Wahrheit erfuhr, nämlich dass ihre Mutter im Winter zuvor ein Techtelmechtel mit dem Freund der ältesten Tochter gehabt hatte, vielmehr eine brennende Liebschaft, von der sie so heftig entflammt war, dass sie alles für diesen jungen und aufgeblasenen Schönling hatte fahren lassen, der sein Glück kaum fassen konnte, zwischen der Zwanzigjährigen und der Vierzigjährigen vom selben Blut und mit den gleichen Augen und Haaren nach Lust und Laune wechseln zu können. Clementinas Vater hatte den Skandal unter dem Deckmantel der Diskretion erstickt, und nach Monaten blanken Wahnsinns, außer Haus verbrachten Nächten, hysterischen Szenen bis hin zu einem linkischen Versuch, sich das Leben zu nehmen, war die Mutter wieder zur Räson gekommen; doch die schönen, zwanglosen Reisen und Ferienunternehmungen der Eltern und ihrer drei Töchter in so eindrücklicher Familieneintracht waren jäh beendet und nie wieder aufgenommen worden.

 

Im Hotel war es indes zu früh, das Zimmer noch nicht fertig. »Wie lange dauert es noch?«, fragte Erri mit von mühsam unterdrückter Begierde angespanntem Lächeln. »Nun ja, ein paar Stunden«, lautete die lapidare Antwort: Bis dahin konnten sie ihr Gepäck dalassen und einen Spaziergang machen oder ein Bad im Meer nehmen, es war ja noch Zeit. »Und es ist ein so schöner Tag …« Sie durften sich in den Toiletten auf der Etage umziehen.

 

Die Saison war fast vorbei, unten am Hafen hatten nur noch wenige Buden geöffnet, an denen man sich Ausrüstung zum Speerfischen, Ruderkähne und Schlauchboote leihen konnte. Viele Boote waren bereits zum Überwintern aus dem Wasser geholt worden. Erri sprach eine junge Frau an, die den Kiel eines kopfüber auf den Kai gelegten Kahns mit einem Wasserschlauch reinigte: Mit halbherzigen, kindlichen Bewegungen wischte sie darauf herum und spritzte ihn hie und da ab, aus Unfähigkeit oder Langeweile oder weil es ihr Spaß machte, mit dem Wasser zu spielen. »Mein Mann ist nicht da, er liegt mit Fieber im Bett«, sagte sie heftig errötend, normalerweise kümmere er sich um die Vermietung der Boote und Mopeds, aber das könne sie machen, schob sie rasch nach, aus Angst, einen Kunden zu verlieren, der sich am Ende als der einzige des Tages herausstellen könnte. Sie versprach, einen Sonderpreis für ein kleines Boot mit einem neuen, recht antriebsstarken Motor, Sonnensegel, Sonnenmatratze und allem Drum und Dran zu machen. Treibstoff nach Verbrauch. Erri war einverstanden und folgte der jungen Frau zu einem Sonnenschirm und einem Tischchen im Schutz der felsigen Steilwand, die den alten Hafen säumte. Er musterte sie von hinten, das kurze, türkisfarbene Kleidchen, den ausgeblichenen Pferdeschwanz, die knochigen Knie, die sich berührten, die Clogs. Ohne dass es nötig gewesen wäre, denn es war kühl und der Platz lag noch im Schatten, machte sich die junge Frau daran, den über und über mit Dosen eines Energydrinks bedruckten Sonnenschirm aufzuspannen. Es war ihre Art, den Laden in Abwesenheit ihres Mannes zu öffnen.

 

Sie beginnen mit der Umrundung der Insel. Der Motor brummt und gurgelt dumpf und gleichmäßig. Die Erregung steigt, kaum ist der Hafen nach Steuerbord verlassen. Nach Umschiffung des Vorgebirges eröffnet sich eine spektakuläre Flucht von Klippen in allen erdenklichen Farben, Grau, Ocker, Rot, Weiß, mit diagonal von rechts nach links verlaufenden, schwarz schimmernden Streifungen und Rinnspuren. Hinter jeder verbirgt sich eine weitere. Das Meer ist ruhig und tief, die Sonne bereits hoch und warm, der Wind nur der Geschwindigkeit geschuldet.

 

Nach kaum einer Viertelstunde entlang der Steilwand tut sich eine erste Bucht auf, in der das blaue Wasser in Grün übergeht. Es ist glatt und unbewegt wie durchsichtige Gelatine. Erri drosselt die Geschwindigkeit und steuert näher an die Küste heran, um sich den Grund anzusehen, Clementina bittet ihn, das Boot anzuhalten, um ins Wasser zu springen.

 

»Kommst du?« Doch Erri schüttelt den Kopf und wirft den Anker. Er wird ihn an diesem Tag noch oft auswerfen und einholen.

 

Clementina schwimmt schnell, und das ist ihr das Allerschönste: allein im kühlen Wasser zu sein. Voranschnellen, immer voran, umgeben von Wasser, aber auch darüber hingleitend, an seiner Oberfläche. Das ist schöner als jede Gesellschaft. Unendlich viel weiter und freier, da es sie jeder Verpflichtung enthebt. Diese Bewegung hat keinen Zweck und kein Ziel. Die Wellen, die ihre abwechselnd durch das Wasser pflügenden Arme erzeugen, lassen die Welt abrücken, die bedrohlich flimmernde Materie ihrer Fragen. Auch die berückende Unterwasserwelt geht sie nur bedingt etwas an. Ihr genügt, was sie zwischen einem Luftholen und dem nächsten durch ihre Schwimmbrille sieht: abstrakte Landschaften, eine Blasenwolke, ein Blick zu dem vor Fischen wimmelnden Unterwasserfelsen, silbrige Blitze, die schrägen Sonnenlanzen, die sich in den blassgrauen sandigen Meeresgrund bohren.

 

Dann fällt ihr ein, dass sie Erri nur um einen kurzen Sprung ins Wasser gebeten hat, und mit einer Rollwende macht sie kehrt, erhöht den Rhythmus der Armschläge, bis sie den Schatten der Barke auf dem Grund erblickt. Das Wasser ist höchstens vier oder fünf Meter tief. Dort, an den Bootsrand geklammert wie ein Nichtschwimmer oder ein Greis, der sich nur zu einer kleinen Erfrischung ins Wasser gewagt hat, ist Erri, Erris siebenunddreißigjähriger Körper, dessen Beine träge im Blau des Wassers rudern. Eine rote Badehose und ein blonder Rumpf. Clementina taucht heimlich unter, hält den Atem an, bis sie fast platzt, und stößt spritzend neben ihm empor.

 

Erri will sofort mit ihr schlafen: Er hat nur auf ihre Rückkehr zum Boot gewartet. Er will es hier tun, im Wasser, und sie dreht sich um und klammert sich mit verdrehten Händen an den Bootsrand. Ineinander verschlungen spüren sie die Berührung kaum, und dennoch kommt sie laut und er ebenfalls. Kurz darauf lösen sie sich voneinander, und Erri flucht wegen der plötzlichen Kälte, die ihn befällt, er schlägt mit den Fäusten aufs Wasser, und Clem prustet keuchend los. »Als hätte man eine Betäubung gekriegt …«