Das Erste, was ich am nächsten Morgen vernahm, war ein schrilles Quietschen gefolgt von einem lauten Jubelschrei. Verschlafen blinzelnd schaute ich auf den Radiowecker neben meinem Bett. 7:28 Uhr. Viel zu früh für meinen Geschmack. Vor allem, da ich letzte Nacht noch bis nach Mitternacht versucht hatte, ein wenig Ordnung in das Umzugschaos zu bringen. Am liebsten würde ich mich einfach auf die andere Seite drehen und weiterschlafen. Doch daraus wurde nichts. In diesem Moment hörte ich, wie die Tür zu meinem Schlafzimmer aufging und Amy hereinstürmte. Mit einem Satz sprang sie zu mir ins Bett.
„Mommy, es hat geschneit! Ganz viel! Das musst du sehen. Können wir einen Schneemann bauen? Bitteeeee!“ Das letzte Wort kam so flehend, dass ich auflachte.
„Guten Morgen, mein Sternchen! Hast du denn gut geschlafen?“, fragte ich, ohne auf ihre Begeisterungsstürme einzugehen. Ich wollte sie nur aufziehen, in Wirklichkeit spürte ich, dass ich fast ebenso aufgeregt war wie Amy.
„Ja, ja. Mommy, komm, bitte! Lass uns rausgehen. Darf ich einen Schneemann bauen?“ Amy ließ sich nicht stoppen. Kaum war ihre Frage heraus, sprang sie schon auf. „Los, aufstehen!“
Endlich erbarmte ich mich und richtete mich lächelnd auf. Dann trat ich ans Fenster und entfernte das große Badelaken, das ich gestern Abend als Gardinenersatz davor geklemmt hatte. Amy hatte recht, der Garten war komplett weiß! Nun gab es auch für mich kein Halten mehr. Schnell liefen wir nach unten und schlüpften noch im Schlafanzug in unsere Winterstiefel. Die dicken Mäntel und eine warme Mütze für Amy dazu mussten reichen, wir würden uns nicht lange draußen aufhalten.
Als ich die Haustür öffnete und nach draußen trat, fühlte ich mich wie in einer anderen Welt. Bereits gestern Abend hatte die Luft nach Schnee gerochen, doch ich hatte nicht damit gerechnet, dass in dieser Nacht so viel des weißen Puders herunterkommen würde. Beinahe knöchelhoch lag die Pracht und noch immer kamen weitere Flocken vom Himmel zu uns heruntergeschwebt.
„Ist das schön!“, sagte Amy ehrfürchtig und drehte sich einmal um sich selbst. „In Paterson hat es nie so viel geschneit.“
Das stimmte so natürlich nicht, wir waren nur hundertfünfzig Meilen von unserer alten Wohnung entfernt, dort schneite es ebenso viel wie hier, dennoch konnte ich verstehen, dass es Amy so vorkam. In Paterson war bei den ersten Flocken sofort die Stadtreinigung ausgerückt und hatte auf den Gehwegen und Straßen gestreut, sodass der Schnee sich schnell in eine matschige, graue Pampe verwandelt hatte. Einzig in Vorgärten oder Parks lag er länger, doch das nahm Amy wahrscheinlich nicht so wahr. Hier hingegen empfing uns eine dichte Schneedecke. Selbst auf der Straße vor dem Haus war die weiße Masse unberührt. Kein Auto war an diesem frühen Sonntagmorgen hindurchgefahren.
Obwohl Amy noch immer nur ihren Schlafanzug unter der Winterjacke trug, fing sie an, einen Schneemann zu bauen. Kurz überlegte ich, ob ich sie aufhalten sollte, doch ich brachte es nicht übers Herz. Sie rollte ihre Kugel mit so einer Begeisterung hin und her, dass ich sie nicht unterbrechen wollte. Eine warme Badewanne und ein heißer Kakao würden meine Tochter gleich wieder aufwärmen. Außerdem kannte ich mein Kind, wenn es ihr zu kalt wäre, würde sie freiwillig aufhören.
Lächelnd legte ich den Kopf in den Nacken und blinzelte hinauf in den grauen, schneeverhangenen Himmel. Ich streckte die Zunge heraus und versuchte, einzelne Flocken zu erwischen. Schon als Kind hatte ich es geliebt, Schneeflocken zu fangen, und bis heute machte ich es, sobald der erste Schnee fiel.
Ich schloss die Augen und ließ diese ganz besondere Stille auf mich wirken. Leise hörte ich das Knirschen des Schnees, während Amy ihre Kugeln rollte. Ansonsten war kein Laut zu vernehmen.
„Sie müssen hier Schnee räumen!“ Erschreckt schaute ich mich um, als eine unfreundliche Stimme mich ansprach. Vor meinem Grundstück auf dem Fußweg entdeckte ich einen älteren Mann, der mich ungehalten musterte. „Stehen hier rum und schauen in den Himmel, während ich mir fast die Knochen breche!“, motzte er und schüttelte den Kopf.
„Ja, ich … Also …“, stotterte ich perplex und wusste nicht, was ich sagen sollte. Ich verstand nicht, warum dieser Mann mich derart anblaffte. Klar, der Fußweg vor meinem Haus war nicht vom Schnee befreit, doch das betraf nicht nur meinen Anteil. Auch der Rest des Fußwegs vor den Nachbargrundstücken war zu dieser frühen Uhrzeit noch schneebedeckt.
„Wenn ich falle und mir was tue, wird das teuer für Sie! Das sag ich Ihnen!“, meckerte der Fremde lautstark, während er seinen Weg fortsetzte. Noch immer fiel mir keine passende Erwiderung ein, daher schwieg ich. Natürlich hatte er recht! Ich musste meinen Teil des Gehwegs räumen, damit sich niemand verletzte, ansonsten konnte ich haftbar gemacht werden. Aber hätte er mir das nicht auch ein wenig freundlicher sagen können? Musste er mich so oberlehrerhaft anmachen?
„Lassen Sie sich nicht ärgern! Das war nur der alte Warren, der findet immer was zu motzen. Den müssen Sie nicht ernst nehmen“, schallte es so laut zu mir herüber, dass selbst dieser Mr. Warren, der mittlerweile vor dem nächsten Haus angekommen war, es noch gehört haben musste. Ich warf ihm einen schnellen Blick zu, doch er reagierte nicht auf die Worte. Dann drehte ich mich um. Am Zaun zum Nachbargrundstück, wo gestern Abend auf dem Hof die Feuertonne gebrannt hatte, stand eine Frau und lächelte mich freundlich an. „Hallo! Du musst die neue Nachbarin sein. Ich bin Jill. Jill Thompson.“
Ich stapfte durch den Schnee zu ihr hinüber und streckte ihr meine Hand entgegen. „Hallo! Freut mich sehr. Ich bin Tara Lopez und das ist meine Tochter Amy. Wir sind gestern erst eingezogen.“ Ich deutete auf Amy, die gerade versuchte, eine der Schneekugeln auf die andere zu hieven. Kurz schaute sie auf und winkte unserer neuen Nachbarin zu.
„Ich freue mich auch, euch kennenzulernen. Endlich kommt wieder Leben in das kleine Häuschen. Wenn ihr Hilfe braucht, sag Bescheid. So ein Umzug ist sicher sehr anstrengend und zu Weihnachten soll es ja hübsch sein. Und wegen Warren, dem alten Gnatterkopp … Lass dich nicht verunsichern. Der bellt nur, beißt aber nicht.“ Jill zwinkerte mit verschwörerisch zu, doch ich zuckte mit den Schultern.
„Na ja, ganz unrecht hat er ja nicht. Ich sollte wirklich den Schnee schippen. Allerdings muss ich gestehen, dass ich darauf noch nicht eingestellt bin. Ich muss wohl morgen erst mal in den Baumarkt und eine Schneeschaufel und einen Besen kaufen.“
„Das ist doch kein Problem. Ich hab noch eine zweite Schaufel im Schuppen stehen. Die kannst du gern erst mal haben.“
Dankbar schaute ich Jill an. „Wirklich? Das wäre toll! Bevor sich hier tatsächlich jemand was bricht.“
„Na klar, ich hol sie dir schnell. Ich wollte auch gerade schippen, deshalb bin ich rausgekommen und hab gehört, was er gesagt hat. Eine nette Begrüßung für dich. Du musst ja denken, wir in Colins Creek sind alle solche unfreundlichen Käuze!“ Jill rollte gut sichtbar mit den Augen, dann grinste sie mich an. „Aber ich kann dir versprechen, das sind wir nicht. Bis auf ein paar Ausnahmen sind wir alle ganz friedlich und gesellig. Ich hoffe, du wirst dich hier wohlfühlen. Und wenn du Lust hast, komm doch gern bald mal auf einen Kaffee rüber, dann können wir ein bisschen quatschen. Aber nun hol ich dir die Schaufel.“ Damit wandte sie sich ab und verschwand in einem Schuppen auf dem Hof.
Erst jetzt fiel mir wieder ein, dass ich nur meinen Schlafanzug unter dem Wintermantel trug. Was musste Jill nur von mir denken, wenn sie die Teddybären auf rosa Flanell entdeckt hatte? Ein toller erster Eindruck, den ich gerade hinterließ! Wenn Kleinstadtmenschen nur halb so viel tratschten, wie immer behauptet wurde, dann hatten sie an meinem ersten Tag hier bereits reichlich Gesprächsstoff über mich. Und der Tag hatte eben erst angefangen. Das konnte ja heiter werden!
Es war gerade erst kurz nach neun, als Marie vor meiner Tür stand. Obwohl sie es gestern versprochen hatte, hatte ich so früh noch nicht mit ihr gerechnet.
„Hey, schön, dass du da bist! Komm rein!“, begrüßte ich sie und nahm sie kurz in den Arm. „Du musst ja mitten in der Nacht losgefahren sein.“
„Ach Quatsch! So schlimm war es nicht, ich bin einfach gut durchgekommen. Wo ist denn meine Süße?“, fragte Marie und schaute sich suchend und gleichzeitig auch ein wenig neugierig um. Zwar war sie mit mir zusammen bei der Hausbesichtigung gewesen, doch seitdem hatte sich viel verändert. Gemeinsam mit meinem Dad hatte ich mehrere Wochenenden hier verbracht und mit ihm die alten Tapeten abgekratzt, die Teppichböden herausgerissen und alles frisch renoviert. Bei der Besichtigung hatte das Häuschen altbacken und düster gewirkt, doch wir hatten das Potenzial sofort erkannt. Nun erstrahlte das Haus in hellen Farben und wirkte dadurch luftig und fröhlich. Ja, wenn diese ganzen Kisten erst einmal ausgeräumt waren, wäre es ein wundervolles Zuhause.
„Amy sitzt grad in der Wanne. Die musste heute Morgen als Erstes einen Schneemann bauen – im Schlafanzug. Danach war sie so nass und durchgefroren, dass sie jetzt erst einmal auftauen muss“, erklärte ich lachend und Marie schüttelte den Kopf. „Dass du keine Angst hast, dass sie sich erkältet. Ich meine – im Schlafanzug?!“
„Du kennst doch Amy. Sie ist so gut wie nie krank! Außerdem hatte sie ja eine dicke Jacke an.“
Marie zuckte mit den Schultern. „Okay, hast auch wieder recht. Na gut, dann darfst du mir erst dein Haus zeigen. Ich bin total gespannt, wie jetzt alles aussieht.“
„Chaotisch sieht es aus!“, gab ich lachend zu.
Marie schubste mich mit der Schulter an. „Das war mir klar! Aber deshalb bin ich ja hier. Du wirst sehen, heute Abend ist es schon deutlich wohnlicher!“
Nachdem wir eine Runde durchs Haus gedreht hatten, war Amy fertig mit ihrem Bad. Einzig ihr Zimmer hatten Marie und ich bei der Besichtigung ausgespart. Ich wusste, Amy wollte Marie selbst ihr neues Zuhause zeigen. Darauf freute sie sich bereits seit gestern, und diese Freude wollte ich ihr auf keinen Fall nehmen.
„Wollen wir jetzt in mein Zimmer?“, fragte Amy aufgeregt und Marie nickte. „Natürlich! Das Beste haben wir uns ja schließlich bis zum Schluss aufgehoben.“
Stolz und mit roten Bäckchen vor Freude schob Amy ihre Zimmertür auf und trat als Erste ein.
„Wow! Was ist das denn für ein tolles Zimmer! Der schönste Raum im ganzen Haus!“, betonte Marie, als sie sich umschaute, und Amy strahlte. Auch ich musste lächeln, als ich meine Tochter und meine Freundin beobachtete, wie sie die Köpfe zusammensteckten. Während ich in der Tür stehen blieb, zeigte Amy Marie jedes einzelne Möbelstück, öffnete jede Schranktür und jede Schublade. Meine Kleine war gestern bereits sehr fleißig gewesen. Lediglich zwei halb volle Kartons standen noch in ihrem Zimmer. Ich war wahnsinnig stolz auf meine Tochter, dass sie mit ihren sieben Jahren schon so selbstständig war. Natürlich waren die Schränke nicht perfekt ordentlich, aber das konnte ich von ihr auch nicht verlangen. Dafür war sie dann doch noch zu klein.
Während die beiden in Amys Zimmer blieben und sich alles anschauten, kehrte ich ins Erdgeschoss zurück, um den Frühstückstisch zu decken. Der Kaffee war gerade durchgelaufen, da gesellten die zwei sich zu mir. Erst jetzt merkte ich, wie groß mein Hunger war. Allerdings war ich auch schon eine ganze Weile auf – und ich hatte bereits Schnee geschippt. Eine Tätigkeit, die für mich so ungewohnt war, dass mir noch immer die Arme und der Rücken davon wehtaten.
„Schau mal. Ich hab dir was mitgebracht“, erklärte Marie meiner Tochter nach dem Frühstück und holte ein verpacktes Geschenk aus ihrer Tasche. „Ich hoffe, es gefällt dir!“
Strahlend riss Amy das rosafarbene Einhornpapier auf und quiekte vor Freude los, als sie sah, was sich darin befand. „Aquarellfarben! Und ein neuer Block!“ Sie sprang auf und fiel Marie um den Hals. Die kleinen Ärmchen um sie geschlungen, drückte sie sie fest an sich. „Danke, Marie. Die sind so toll!“ Dann richtete sie sich auf und wandte sich mit flehendem Blick an mich. „Darf ich sie gleich ausprobieren? Bitte, Mommy! Bitte!“
„Und wer deckt den Frühstückstisch ab?“, fragte ich mit hochgezogenen Augenbrauen und musste mir ein Grinsen verkneifen. Amy kannte es nicht anders, dass sie bei solchen Sachen mit anfassen musste, doch selbstverständlich wollte ich sie nicht davon abhalten, ihre neuen Farben auszuprobieren. Meine Kleine war zu gut erzogen, um nicht einzulenken. Seufzend nickte sie. „Ja, okay.“
Ich konnte mein Lächeln nicht länger verbergen, als ich sah, wie sehnsüchtig sie auf die Aquarellfarben und den Block schaute. Dennoch machte sie sich daran, die Teller einzusammeln.
„Na komm. Flitz los. Ich mach das schon!“, erlöste ich Amy und sofort kehrte ihr Strahlen zurück.
„Wirklich? Danke, Mommy!“ Keine drei Sekunden später war sie über die Treppe ins Obergeschoss verschwunden. Ein dumpfes Knallen verriet mir, dass ihre Zimmertür zu war.
„Manchmal bist du ein bisschen fies, oder?“, fragte Marie und ich grinste.
„Lass mir doch auch meinen Spaß!“
„Dein armes Kind. Sie so zu veralbern.“ Trotz ihrer mahnenden Worte lachte Marie und griff nach den Tellern, die Amy natürlich stehen gelassen hatte.
In den nächsten Stunden sahen wir meine Tochter nicht. Sie war anscheinend vollauf mit ihren neuen Aquarellfarben beschäftigt. Bereits von klein auf hatte sie es geliebt, zu malen, und sehr schnell hatte sich herausgestellt, dass sie ein großes Talent dafür besaß. Ihre Bilder zeigten einen Detailreichtum, wie man ihn sonst höchstens bei deutlich älteren Kindern antraf. Amy hatte ein künstlerisches Auge, sagte Marie, und als Erzieherin, die jeden Tag Kinderbilder sah und den Vergleich hatte, wusste sie, wovon sie sprach. Sie half mir, Amys Talent zu fördern. Diese Farben und der spezielle Aquarellblock waren für meine Tochter ein so wertvolles Geschenk wie für andere Kinder ein Fahrrad.
Den ganzen Vormittag über wischten wir die neu aufgebauten Schränke aus und räumten eine Umzugskiste nach der anderen leer. Langsam kam ein wenig Ordnung in das Chaos und am frühen Nachmittag hatten wir den Großteil der Kisten ausgepackt. Niemals hätte ich das alles in der kurzen Zeit allein geschafft und dementsprechend dankbar war ich meiner Freundin. Mittlerweile hatten die dicken Schneewolken sich verzogen und die Sonne blitzte vom winterlich-blauen Himmel.
„Ich brauche eine Pause!“, bemerkte ich und streckte meinen schmerzenden Rücken durch.
„Gute Idee! Was hältst du davon, wenn wir uns Amy schnappen und ein bisschen die Gegend erkunden? Oder hast du dich hier schon umgesehen?“, fragte Marie.
„Nein, ich weiß nicht mal, was am anderen Ende der Straße ist. Dazu bin ich noch nicht so richtig gekommen.“
„Okay, dann wird es wohl dringend Zeit, das nachzuholen. Los geht’s!“
Warm eingepackt machten wir uns auf den Weg. Die kalte, klare Luft fühlte sich gut an auf der Haut. Tief sog ich sie in meine Lungen.
„Herrlich, oder?“, fragte Marie und strahlte. „Vielleicht sollte ich auch nach Colins Creek ziehen. Es ist so idyllisch. Allein dieses Haus hier – wie aus einem Bilderbuch!“ Sie deutete auf den Hof, auf dem Jill gerade aus der Haustür kam. Fröhlich winkte sie mir zu und ich grüßte zurück.
„Ah, hast du die neuen Nachbarn schon kennengelernt?“
Ich erzählte Marie von unserer Begegnung am Gartenzaun heute Morgen und von dem unfreundlichen Mr. Warren.
„Jill scheint nett zu sein“, erklärte ich, während wir weitergingen. „Sie hat mich zum Kaffee eingeladen. Ich meine, sie kennt mich gar nicht und fragt, ob wir mal einen Kaffee zusammen trinken wollen.“ Als Jill vorhin mit der Schneeschaufel zurückgekehrt war, hatte sie die Einladung noch einmal wiederholt.
„Ja und? Du klingst irgendwie nicht so begeistert.“
Nachdenklich zuckte ich mit den Schultern. „Ich weiß nicht so recht. Ich meine, sie kennt mich doch gar nicht. Außerdem könnte sie vom Alter her locker meine Mutter sein, sie ist bestimmt schon Mitte fünfzig. Andererseits scheint sie wirklich nett zu sein und ich kenne hier ja sonst niemanden. Vielleicht ist es ein Anfang, die ersten sozialen Kontakte zu knüpfen.“
„Na ja, nicht nur das. Immerhin wohnt ihr auch direkt nebeneinander. Ist doch cool, wenn man sich mit seinen Nachbarn so gut versteht und vielleicht sogar anfreundet. Das Alter ist dabei völlig egal. Wichtig ist, dass sie nett ist.“
„Ja, das ist sie – zumindest nach dem, was ich bisher sagen kann.“
„Na, dann ist doch alles klar.“ Einen Moment lang schwieg Marie. „Ich hätte auch gern nette Nachbarn!“, sagte sie schließlich seufzend und ich horchte auf. Marie hatte so ziemlich das Gegenteil davon abbekommen. Ein Spießerehepaar hoch zehn, das an allem und jedem etwas auszusetzen hatte. Wahrscheinlich sehr ähnlich dem grantigen Mr. Warren, den ich heute Morgen kennenlernen durfte.
„Gab es schon wieder Stress? Was ist denn passiert?“
Marie winkte ab. „Ach, nur das Übliche. Die Polizei hat geklingelt, weil ich den Fernseher anhatte und die Balkontür für ein paar Minuten auf war. Lärmbelästigung wäre das, behauptet dieser Idiot von Nachbar. Der stand die ganze Zeit pöbelnd im Hausflur. Das war den Polizisten schon peinlich, weil sie genau wissen, dass die beiden nur Stress machen wollen. Aber was sollen sie machen? Wenn sie gerufen werden, müssen sie kommen. Die unter mir wurden angezeigt, weil sie auf dem Balkon rauchen und der Rauch angeblich unerträglich in deren Wohnung zieht. Ich bin noch dazwischen mit meinem Balkon und bei mir zieht gar kein Rauch in die Wohnung!“
„Was für ein Bullshit!“, regte ich mich auf. „Ich verstehe nicht, wie manche Leute so sein können. Das ist ja echt furchtbar!“
„Ja, aber ist nun mal so. Ich schaue schon nach einer anderen Wohnung, doch irgendwie … Na ja, irgendwann wird sich wohl was finden. Ich mache jedenfalls drei Kreuze, wenn ich da weg bin.“ Maries Lächeln wirkte müde und ich konnte sie nur zu gut verstehen. Seit mittlerweile zwei Jahren musste sie diesen Psychoterror des Ehepaares über ihr ertragen und konnte nichts dagegen unternehmen. Nicht nur Marie litt unter den beiden, sie terrorisierten das gesamte Haus.
„Na, hoffentlich habe ich nicht auch solche Nachbarn. Da fällt mir ein, ich sollte wohl dringend mal rausfinden, wie dicht dran dieser Mr. Warren wohnt – nicht dass er noch Stress macht, wenn Amy im Sommer draußen spielt oder so.“
Ich sah auf meine Tochter, die einige Meter vor uns auf dem Bürgersteig hüpfte. Auf einmal blieb sie stehen und schaute am Ende einer Hecke über eine Rasenfläche. Ich konnte nicht erkennen, was sie dort sah. Erst als Marie und ich näher kamen, erkannten wir, was ihre Aufmerksamkeit so fesselte. Hinter der Hecke befand sich ein kleiner Park mit einem Kinderspielplatz. Neben dem Spielplatz verlief ein breiter, aber nicht sonderlich tiefer Graben. Flach fiel das Ufer zur Mitte hin ab. Anscheinend führte er kein Wasser, denn er war komplett eingeschneit.
Nein, nicht mehr ganz komplett. An manchen Stellen schimmerte das winterlich blasse Gras hindurch. Es waren die Stellen, an denen Kinder mit ihren Schlitten den Abhang hinuntergerodelt waren. Bestimmt zehn Kinder unterschiedlichen Alters tobten gerade dort den Hang hinauf und wieder hinunter. Zwei Jungs in dunkelblauen Schneeanzügen lieferten sich eine wilde Schneeballschlacht, während ein Mädchen, ungefähr in Amys Alter, dabei war, einen Schneemann zu bauen.
Wie angewurzelt stand meine Tochter da und schaute den spielenden Kindern zu.
„Möchtest du hingehen? Du darfst bestimmt mitspielen“, sagte ich und legte ihr aufmunternd meine Hände auf die Schultern.
„Nein, ich mag nicht“, antwortete meine Tochter und schüttelte den Kopf. Ich konnte sie verstehen. Der erste Schritt war so schwer! Ich hätte mich an ihrer Stelle auch nicht getraut, allein auf eine Horde fremder Kinder zuzugehen. Ich wollte ihr gerade vorschlagen, dass ich sie begleiten würde, da stand das Mädchen vor uns, das eben noch den Schneemann gebaut hatte.
„Hi! Ich bin Maddy. Und du? Ich kenn dich gar nicht.“
„Ich bin Amy. Wir sind gestern erst hergezogen. Da vorne in das kleine Haus“, antwortete meine Tochter und deutete in Richtung unseres Häuschens. Ich spürte, wie ihre Schüchternheit dahinschmolz.
„Magst du mit mir rodeln?“, fragte Maddy und Amy zuckte mit den Schultern.
„Das geht nicht, ich hab keinen Schlitten“, sagte sie traurig.
„Aber ich! Da passen wir auch zu zweit drauf.“
Nun gesellte sich ein etwas größerer Junge zu uns. „Hi! Ich bin Tim. Maddys Bruder. Wenn ihr wollt, leihe ich euch meinen Schlitten. Dann könnt ihr ein Rennen fahren.“
Ich war so unglaublich gerührt, wie freundlich meine Tochter von den Kindern aufgenommen wurde. Das Eis war gebrochen und Amy stapfte mit Maddy plappernd los.
„Sie müssen sich keine Sorgen machen“, erklärte Tim uns noch. „Ich bin schon zwölf, ich passe auf die beiden auf.“
„Danke, Tim! Das ist so lieb von euch!“ Ich strahlte den Jungen an, der nur ganz cool mit den Schultern zuckte. „Kein Ding. Ich passe immer auf Maddy auf. Es gibt sonst keine Mädchen in ihrem Alter hier in der Nähe. Sie freut sich bestimmt, dass sie nun Amy hat.“ Damit gesellte er sich wieder zu den anderen Kindern.
„Und was machen wir jetzt?“, fragte ich ein bisschen ratlos, nachdem wir den Kindern noch eine Weile beim Spielen zugesehen hatten. Maddy und Amy schienen sich wirklich gut zu verstehen, wir konnten ihr Lachen bis zu uns herüber hören.
Nachdem sie ein paarmal gerodelt waren, überließen sie anderen Kindern die Schlitten und setzten sich auf die Nestschaukel auf dem Spielplatz. Nun war anscheinend näher kennenlernen angesagt, die beiden unterhielten sich sichtlich angeregt. Ich freute mich sehr, dass Amy so schnell Anschluss gefunden hatte.
„Na ja, hier rumstehen müssen wir wohl nicht. Die Kids haben zu tun. Wir könnten wieder zu dir, uns aufwärmen und noch ein bisschen weiterarbeiten“, erwiderte Marie grinsend.
„Aber ich kann sie doch nicht allein hierlassen!“
„Warum denn nicht? Was soll passieren?“
Unsicher zuckte ich mit den Schultern. „Ich weiß nicht. Sie war noch nie allein auf dem Spielplatz.“
„Was ja wohl kein Wunder ist! Der Spielplatz bei eurem alten Haus … da hätte ich sie auch nicht allein gelassen. Wer weiß, was da so alles passiert. Würde mich nicht überraschen, wenn da Drogen verkauft werden oder so. Außerdem war der fast direkt an der Hauptstraße. Viel zu gefährlich!“
Ganz so schlimm, wie Marie es gerade darstellte, war unsere alte Wohngegend nicht. Sie hatte schon recht, dass dort ein paar merkwürdige Gestalten herumstrolchten, aber Drogengeschäfte auf dem Spielplatz? Nein! Bestimmt nicht!
„Los, trau dich! Amy wird den Weg nach Hause finden – es ist ja nur die Straße runter. Und zur Not frag doch Tim, ob er sie nachher bringt. Der scheint mir sehr gewissenhaft zu sein.“
Ja, das glaubte ich auch. Im Laufe der letzten halben Stunde, die wir hier nun standen, war er mehrfach bei den Mädchen gewesen, und ich hatte das Gefühl, er hatte sie immer im Auge. Vielleicht musste ich einfach ein wenig entspannter werden und meiner Tochter mehr zutrauen. Sie war in so vielen Dingen schon so groß und vernünftig, da würde sie wohl hinkriegen, allein auf dem Spielplatz zu bleiben. Hier liefen Kinder herum, die sogar noch kleiner als Amy waren, und auch die spielten ohne ihre Mütter.
Trotzdem konnte ich es mir nicht verkneifen, Amy Bescheid zu geben und Tim zu bitten, meine Tochter später nach Hause zu begleiten, was er auch versprach.
Mit einem nur noch leicht mulmigen Gefühl kehrten Marie und ich ohne Amy in mein Hexenhäuschen zurück.
Ich musste wohl lernen, dass in dem kleinen Städtchen Colins Creek so einiges anders lief als in der Großstadt Paterson. Aber das würde ich – mit der Zeit.