Hold me, if I fall

Hold me, if I fall

Winter in Colins Creek

Juli Larsson

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Über den Autor

OBO e-Books

1

Neuanfang

„Mommy, dein Telefon klingelt!“

Ich legte das scharfe Messer, mit dem ich gerade die Brotscheiben vom Laib schnitt, aus der Hand und lauschte. Tatsächlich, von irgendwo ertönte leise mein Klingelton.

„Hast du eine Ahnung, wo es ist?“, rief ich Amy zu, während ich die Küche auf der Suche nach meinem Handy verließ.

„Vorhin lag es im Badezimmer“, antwortete meine Tochter und ich steuerte die Treppe ins Obergeschoss an. Zwei Stufen auf einmal nehmend, rannte ich hinauf, doch als ich im Bad ankam, verstummte das Klingeln. Da ich nicht mehr nach meinem Gehör suchen konnte, schaute ich mich in dem hier herrschenden Chaos um. Es dauerte einen Moment, dann entdeckte ich es auf dem Rand der Badewanne zwischen Shampooflaschen und Badeschaum. Warum zum Henker hatte ich es ausgerechnet dort abgelegt?

Als ich auf den Homebutton drückte, erschien der Name meiner besten Freundin im Display. Marie war es, die versucht hatte, mich zu erreichen.

Mit dem Handy in der Hand überquerte ich den kleinen Flur und blieb in der Tür zu Amys Zimmer stehen.

„Ist es okay für dich, wenn ich kurz Marie zurückrufe? Oder hast du großen Hunger?“ Als das Telefon mich unterbrochen hatte, war ich gerade dabei gewesen, unser Abendbrot vorzubereiten.

Amy schüttelte den Kopf, dass ihre blonden Locken nur so flogen. „Ich hatte doch eben einen Apfel. Lass dir Zeit, ich will grad meine Malsachen sortieren.“ In diesem Moment wirkte sie so groß, so erwachsen. Viel zu erwachsen für ihre gerade erst sieben Jahre. Kurz blieb ich stehen und schaute ihr zu, wie sie sich abwandte und einen Zeichenblock aus einem der Umzugskartons zog. Sorgfältig legte sie den Block auf ihren Schreibtisch, dann wandte sie sich wieder dem Karton zu und nahm die nächsten Malutensilien heraus. Als sie merkte, dass ich sie beobachtete, schaute sie auf. „Kannst du Marie fragen, wann sie uns besuchen kommt?“

Ich versprach es, dann ließ ich sie allein und ging in mein kleines Schlafzimmer. Während das Handy die Verbindung aufbaute, schob ich mich durch das Durcheinander, das hier – ebenso wie in jedem anderen Raum – herrschte.

„Na, hattest du mal wieder dein Telefon verlegt? Wo lag es diesmal?“, begrüßte Marie mich kichernd und ich musste grinsen. Sie kannte mich halt.

„Im Bad auf dem Wannenrand. Frag mich nicht, wie es da hingekommen ist“, gab ich unumwunden zu.

„Irgendwann wirst du es so verlegen, dass du es nicht mehr wiederfindest, ich sag’s dir! Du solltest es dir vielleicht besser um den Hals hängen wie so einen Rentner-Brustbeutel. Dann kann es wenigstens nicht verloren gehen.“

„Du hast aber nicht angerufen, um mir zu sagen, dass ich mir einen Brustbeutel anschaffen soll. Oder wolltest du kontrollieren, ob ich in diesem Umzugschaos mein Handy finde?“, fragte ich.

„Na ja, immerhin hast du es beim Packen geschafft, dass das Handy nicht in einem der Kartons gelandet ist. Da bin ich ja schon mal sehr stolz auf dich!“, frotzelte Marie. „Ehrlich, Tara, manchmal frage ich mich, wie du es hinkriegst, nicht auch noch deinen Kopf zu verbaseln. Und wie du es geschafft hast, ein Kind zu erziehen, das so organisiert ist wie Amy.“

Das fragte ich mich allerdings auch. Meine Tochter war so ziemlich das Gegenteil von mir. Sie wusste immer, wo sie ihre Sachen hatte, vergaß niemals ihren Turnbeutel oder verschlampte ihre Stifte. Ihr Zimmer räumte sie freiwillig auf und selbst den Müll brachte sie ohne zu murren raus.

„Ja, Amy ist schon ein Vorzeigekind. Frag mich nicht, wie ich das hinbekommen habe. Vielleicht liegt das einfach in den Genen? Irgendwas muss sie ja auch von ihrem Vater haben.“ Ich seufzte auf. Der Gedanke an Amys Vater versetzte mir einen Stich. Die Erfahrungen, die ich in den letzten Monaten mit ihm machen musste, taten noch immer weh.

„Ach, Maus, glaub mir, es wird besser werden. Mit der Zeit.“ Ich nickte, obwohl mir natürlich klar war, dass Marie mich nicht sehen konnte.

„Ja, ich weiß. Irgendwann …“ Einen Moment herrschte Stille, dann wechselte Marie das Thema.

„Aber jetzt erzähl doch mal, wie war der Umzug? Habt ihr alles gut hinbekommen? Hast du schon ausgepackt?“

Ich ließ meinen Blick über die vielen Kartons gleiten, die mein kleines Schlafzimmer blockierten.

„Mhm … ein bisschen. Aber irgendwie … Ich hab das Gefühl, die Kisten werden gar nicht weniger. Hier stehen bestimmt noch vierzig Stück herum! Ich glaube, ich werde Wochen brauchen, bis das Hexenhäuschen halbwegs heimelig ist.“ Marie war es gewesen, die den Begriff Hexenhäuschen direkt nach der Besichtigung geprägt hatte. Und sie hatte recht damit, doch mit zwei Schlafzimmern war es für uns beide völlig ausreichend. Der Garten war im Vergleich dazu regelrecht riesig und bot genug Platz für Amy zum Spielen.

Ich hatte mich auf den ersten Blick in dieses kleine Häuschen verliebt und all meine Ersparnisse zusammengekratzt, um es für mich und meine Tochter zu kaufen. Heute war es endlich so weit gewesen, dass wir einziehen konnten. Alles war noch fremd und neu, es fühlte sich komisch an, zweieinhalb Autostunden aus Paterson weg nach Colins Creek zu ziehen, doch ich war mir sicher, wir würden uns hier wohlfühlen.

„Wenn du willst, komme ich morgen vorbei und helfe dir auspacken. Zu zweit geht es ja gleich viel schneller. Und wenn ich schon heute nicht mit anfassen konnte.“

„Wenn du das machen würdest, wäre das echt toll! Außerdem sollte ich dich von Amy eh fragen, wann du uns besuchen kommst. Sie will dir doch unbedingt ihr neues Zimmer zeigen.“

„Na, siehst du! Dann sag ihr, ich komme morgen und ich freue mich auf sie. Ich hab hier auch noch eine Kleinigkeit für sie liegen – für ihr neues Zimmer. Aber das ist eine Überraschung.“

„Du sollst ihr nicht immer was schenken!“, protestierte ich, aber Marie lachte nur.

„Lass mich doch. Ich werde sie ganz furchtbar vermissen, die Wohnung ist so leer ohne euch. Auch wenn es nur ein paar Wochen waren, hatte ich mich so daran gewöhnt, euch bei mir zu haben. Wir waren schon eine sehr coole WG, da werde ich sie wohl ein wenig verwöhnen dürfen.“

Marie war nicht nur meine beste Freundin, sie war auch Amys Betreuerin im Kindergarten gewesen. So hatten wir uns vor vier Jahren kennengelernt, als Amy bei Marie in die Gruppe gekommen ist. Wir hatten uns auf Anhieb verstanden und uns schnell angefreundet. Mittlerweile konnte ich mir nicht mehr vorstellen, wie mein Leben vor Marie gewesen war. Gerade die letzten Wochen hatten uns noch mehr zusammengeschweißt, ich wüsste nicht, was ich ohne sie gemacht hätte.

„Na gut. Wann, meinst du, bist du morgen da?“, fragte ich nach.

„Wenn du willst, komme ich schon am Vormittag“, bot meine Freundin an, doch ich zögerte.

„Bist du sicher? So früh? Denk dran, ich wohne nicht mehr in Paterson.“

„Na und? An einem Sonntagmorgen dürfte nicht so viel los sein. Über die Interstate fahre ich doch höchstens zweieinhalb Stunden zu dir.“

Ja, sie hatte natürlich recht. Dennoch waren zweieinhalb Stunden Fahrt ziemlich lang, um ein bisschen beim Einräumen zu helfen. Ich hatte nie zuvor woanders als in Paterson gewohnt. Obwohl ich mich wahnsinnig auf meinen Neuanfang freute, machte er mir auch ein wenig Angst. Würde Amy sich hier wohlfühlen? Würde ich selbst Anschluss finden? Würde mir mein neuer Job gefallen? Hatte ich für mich – und vor allem für mein Kind – die richtige Entscheidung getroffen? Oder würde ich es in ein paar Wochen bereuen, aus Paterson weggezogen zu sein? Das alles waren Fragen, die mich beschäftigten und deren Antworten ich wohl erst im Laufe der nächsten Wochen herausfinden würde.


Als ich das Telefonat beendet hatte und ins Erdgeschoss kam, blieb ich am Fuß der schmalen Holztreppe überrascht stehen.

„Du hast den Tisch gedeckt?“, fragte ich Amy und sie zuckte mit den Schultern. „Ja, damit wir gleich essen können, wenn du fertig bist mit Telefonieren. Jetzt hab ich doch Hunger.“

Glücklich lächelnd trat ich auf meine Tochter zu und schloss sie in die Arme. „Womit habe ich eigentlich ein so tolles Kind verdient?“, fragte ich und gab ihr einen liebevollen Kuss auf die Haare.

„Du bist halt die beste Mom der Welt!“, antwortete Amy, und ich spürte, wie mein Herz vor Liebe ganz weich wurde. Auch wenn ich viele Fehler in meinem Leben gemacht hatte, bei meiner Tochter hatte ich anscheinend alles richtig gemacht. Dennoch machte mir ihr Verhalten auch Sorgen. Ich hatte mich erst vor Kurzem von ihrem Vater getrennt und sie schien es einfach so hinzunehmen. Sie war lieb und pflegeleicht, fast schon übertrieben vernünftig. Konnte es tatsächlich sein, dass sie unsere Trennung einfach so wegsteckte?

„Ich hab dich lieb, Sternchen!“, sagte ich und drückte sie.

„Ich dich auch, Mommy. Aber können wir jetzt essen?“

Lachend löste ich mich von ihr und ging zur Küchenzeile, um noch ein wenig Brot abzuschneiden. Amy war zum Glück vernünftig genug, diesen Teil der Abendbrotvorbereitungen auszulassen. Es wäre mir auch nicht recht, zu wissen, dass eine Siebenjährige mit meinem scharfen Brotmesser herumfuchtelt.


Nach dem Abendessen verzog Amy sich wieder in ihr Zimmer. Sie hatte Spaß daran, alles neu einzurichten und ihre Kartons auszupacken. Außerdem freute sie sich auf Maries Besuch morgen und wollte ihr das neue Zimmer am liebsten vollkommen fertig präsentieren. Leider musste ich Amy enttäuschen, als sie mich beim Abendessen fragte, ob ich nicht heute Abend noch ihre Gardinenstangen anbringen könnte. Doch als ich es ihr erklärt hatte, sah sie ein, dass es momentan wichtigere Sachen gab als Gardinen vor den Fenstern. Ein freier Zugang zu jedem Zimmer, ohne alle paar Schritte über Kartons zu stolpern, wäre ein Anfang. Wer war eigentlich auf die blöde Idee gekommen, zwei Wochen vor Weihnachten umzuziehen?

Die Stehlampe in der Ecke neben der Couch verbreitete ein gemütliches Licht, aus den Boxen meiner bereits angeschlossenen Stereoanlage ertönte leise ein Lied von Imagine Dragons. Believer. Wie passend. Ich sollte wohl lernen, an mich selbst zu glauben. Daran, dass ich es schaffen würde.

Ich stand mitten im Wohnzimmer und schaute mich um. Wo sollte ich anfangen? Wo weitermachen? Ich brauchte dringend einen Plan!

Das Erdgeschoss des Häuschens bestand aus einem einzigen großen Raum, der Flur, Küche und Wohnzimmer in einem beinhaltete. Hinter einer schmalen Tür befand sich noch eine kleine Gästetoilette und neben dem Küchenbereich war ein Hauswirtschaftsraum angeschlossen, der kaum größer als ein Kleiderschrank war. Wenn ich es halbwegs vorzeigbar haben wollte, bis Marie morgen kam, sollte ich mich also bemühen, noch heute ein paar der Kartons auszuräumen und aus der Wohnküche zu schaffen.

Aus den Augenwinkeln nahm ich ein Flackern wahr, das durch das Fenster vom Nachbargrundstück zu mir herüberschien. Irritiert wandte ich mich um. Was war das denn? Eine dunkle Ahnung ließ mein Herz laut pochen. Als ich hinausschaute, erkannte ich Feuerschein, und der Schreck fuhr mir in die Glieder. Brannte es dort? Schnell griff ich meine dicke Strickjacke und schlüpfte hinein, dann schnappte ich mir mein Handy, das ausnahmsweise einmal griffbereit auf dem Tisch lag, und öffnete die Tür zur Veranda. Kaum war ich hinausgetreten, entdeckte ich die Menschen, die vollkommen entspannt auf dem Hof herumstanden. Erleichtert atmete ich auf, es war kein Feuer ausgebrochen. Das, was dort brannte, war so gewollt. Im flackernden Lichtschein erkannte ich eine große Feuertonne, die mitten auf der Einfahrt stand, die zwischen unseren Häusern hindurchlief. Fröhliche Stimmen drangen zu mir auf die Veranda herüber. Leise spielte Musik aus einer Anlage und vermischte sich mit meiner laufenden CD.

Fröstelnd zog ich meine Strickjacke enger um mich und lehnte mich in der Dunkelheit gegen die Hauswand. Die klare Nachtluft duftete nach Frost und Schnee, und es war so kalt, dass ich das Gefühl hatte, es würde bereits frieren. Der Wetterbericht hatte für die nächsten Tage den ersten Schneefall vorhergesagt und meine Nachbarn standen draußen in der Kälte auf dem Hof um eine Feuertonne.

Irgendwie wirkte diese Szene befremdlich auf mich, so etwas hatte ich in Paterson noch nicht erlebt. In der Gegend, in der ich gewohnt hatte, kannten die Leute einander kaum beim Namen, da konnte ich mir nicht vorstellen, dass jemand auf die Idee käme, sich um eine Feuertonne zu treffen, um ein wenig zu quatschen. Allein bei dem Gedanken daran musste ich schmunzeln. Nein! Wirklich nicht!

Andererseits hatte es etwas Gemütliches, stellte ich fest, je länger ich die Leute auf dem Nachbarhof beobachtete. Vielleicht konnte ich es mir doch vorstellen, warm eingepackt am Feuer die klare Nachtluft zu genießen und dazu das eine oder andere Glas Eggnogg zu trinken. Ja, wenn ich recht drüber nachdachte, war es bestimmt schön, so den Kontakt zu den Nachbarn und Freunden zu pflegen. Auf jeden Fall war es etwas völlig Neues für mich. Vielleicht sollte ich mir auch eine Feuertonne anschaffen. Irgendwann. Wenn ich hier in Colins Creek ein paar Leute kannte.


Ich legte den Kopf in den Nacken und schaute hinauf in den Sternenhimmel. Es war überwältigend schön und ich konnte mich gar nicht sattsehen. Millionen kleiner Lichter leuchteten über mir am schwarzen Firmament. Beeindruckt hielt ich Ausschau nach dem großen Wagen – das einzige Sternenbild, das in meiner Erinnerung übrig geblieben ist. Nach einigem Suchen entdeckte ich es. Der Nachthimmel war wie ein riesengroßes Malen-nach-Zahlen-Bild. Wenn man die Sterne miteinander verband, würde man immer mehr Figuren entdecken. Hatte ich jemals so viele Sterne auf einmal gesehen? Ich konnte mich nicht erinnern. In meiner Wohngegend in Paterson war es niemals richtig dunkel. Durch die Lichter der Stadt wirkte der Himmel nachts eher graubraun, doch nie wirklich schwarz. Zumindest nicht dort, wo ich gewohnt hatte. Die Leuchtreklamen und die vielen Autos, die rund um die Uhr unterwegs waren, brachten zu viel Helligkeit mit sich, als dass die Nacht schwarz werden konnte.

Im Schein des diffusen Lichts, das aus meinem Wohnzimmer nach draußen drang, erkannte ich meinen Atem, der in einer weißen Wolke vor meinem Mund stand. Die Kälte ließ mich schaudern und ich hatte noch mehr als genug Arbeit für den Abend vor mir, trotzdem mochte ich nicht wieder ins Haus gehen. Ich genoss die Stille, die das Leben in diesem kleinen Ort anscheinend mit sich brachte. Auch wenn leise die Musik und die Stimmen vom Nachbarhof zu mir herüberdrangen, war es doch deutlich ruhiger, als es in Paterson gewesen war.

Ja, das hier war es, warum ich in dieses Städtchen ziehen wollte. Warum ich meine Heimat verlassen hatte, um einen Neuanfang zu starten. Ich fühlte mich, als hätte ich in den letzten Jahren auf der Bremse gestanden. Als hätte ich mein Leben nicht voll ausgeschöpft. Und das hatte ich auch nicht. Viel zu lange hatte ich gewartet. Gewartet auf einen Tag, der nie kommen würde. Bis ich das begriffen hatte, war es beinahe zu spät gewesen. Doch nun würde alles anders werden. Ich nahm mein Leben selbst in die Hand, machte Nägel mit Köpfen, hob den Fuß von der Bremse. Ab sofort würde ich wieder voll durchstarten. Rechts ist Gas, wie Marie zu sagen pflegte. Ja, in diesem Moment war ich mir sicher, ich hatte alles richtig gemacht! Hier fühlte ich mich wohl. Und auch wenn noch ein riesengroßer Berg Arbeit vor mir lag, auch wenn ich in vielen Punkten noch unsicher war, ich würde ankommen. In meinem neuen Leben. In meinem Neuanfang. Ich musste nur an mich glauben.

2

Schneemann

Das Erste, was ich am nächsten Morgen vernahm, war ein schrilles Quietschen gefolgt von einem lauten Jubelschrei. Verschlafen blinzelnd schaute ich auf den Radiowecker neben meinem Bett. 7:28 Uhr. Viel zu früh für meinen Geschmack. Vor allem, da ich letzte Nacht noch bis nach Mitternacht versucht hatte, ein wenig Ordnung in das Umzugschaos zu bringen. Am liebsten würde ich mich einfach auf die andere Seite drehen und weiterschlafen. Doch daraus wurde nichts. In diesem Moment hörte ich, wie die Tür zu meinem Schlafzimmer aufging und Amy hereinstürmte. Mit einem Satz sprang sie zu mir ins Bett.

„Mommy, es hat geschneit! Ganz viel! Das musst du sehen. Können wir einen Schneemann bauen? Bitteeeee!“ Das letzte Wort kam so flehend, dass ich auflachte.

„Guten Morgen, mein Sternchen! Hast du denn gut geschlafen?“, fragte ich, ohne auf ihre Begeisterungsstürme einzugehen. Ich wollte sie nur aufziehen, in Wirklichkeit spürte ich, dass ich fast ebenso aufgeregt war wie Amy.

„Ja, ja. Mommy, komm, bitte! Lass uns rausgehen. Darf ich einen Schneemann bauen?“ Amy ließ sich nicht stoppen. Kaum war ihre Frage heraus, sprang sie schon auf. „Los, aufstehen!“

Endlich erbarmte ich mich und richtete mich lächelnd auf. Dann trat ich ans Fenster und entfernte das große Badelaken, das ich gestern Abend als Gardinenersatz davor geklemmt hatte. Amy hatte recht, der Garten war komplett weiß! Nun gab es auch für mich kein Halten mehr. Schnell liefen wir nach unten und schlüpften noch im Schlafanzug in unsere Winterstiefel. Die dicken Mäntel und eine warme Mütze für Amy dazu mussten reichen, wir würden uns nicht lange draußen aufhalten.


Als ich die Haustür öffnete und nach draußen trat, fühlte ich mich wie in einer anderen Welt. Bereits gestern Abend hatte die Luft nach Schnee gerochen, doch ich hatte nicht damit gerechnet, dass in dieser Nacht so viel des weißen Puders herunterkommen würde. Beinahe knöchelhoch lag die Pracht und noch immer kamen weitere Flocken vom Himmel zu uns heruntergeschwebt.

„Ist das schön!“, sagte Amy ehrfürchtig und drehte sich einmal um sich selbst. „In Paterson hat es nie so viel geschneit.“

Das stimmte so natürlich nicht, wir waren nur hundertfünfzig Meilen von unserer alten Wohnung entfernt, dort schneite es ebenso viel wie hier, dennoch konnte ich verstehen, dass es Amy so vorkam. In Paterson war bei den ersten Flocken sofort die Stadtreinigung ausgerückt und hatte auf den Gehwegen und Straßen gestreut, sodass der Schnee sich schnell in eine matschige, graue Pampe verwandelt hatte. Einzig in Vorgärten oder Parks lag er länger, doch das nahm Amy wahrscheinlich nicht so wahr. Hier hingegen empfing uns eine dichte Schneedecke. Selbst auf der Straße vor dem Haus war die weiße Masse unberührt. Kein Auto war an diesem frühen Sonntagmorgen hindurchgefahren.

Obwohl Amy noch immer nur ihren Schlafanzug unter der Winterjacke trug, fing sie an, einen Schneemann zu bauen. Kurz überlegte ich, ob ich sie aufhalten sollte, doch ich brachte es nicht übers Herz. Sie rollte ihre Kugel mit so einer Begeisterung hin und her, dass ich sie nicht unterbrechen wollte. Eine warme Badewanne und ein heißer Kakao würden meine Tochter gleich wieder aufwärmen. Außerdem kannte ich mein Kind, wenn es ihr zu kalt wäre, würde sie freiwillig aufhören.

Lächelnd legte ich den Kopf in den Nacken und blinzelte hinauf in den grauen, schneeverhangenen Himmel. Ich streckte die Zunge heraus und versuchte, einzelne Flocken zu erwischen. Schon als Kind hatte ich es geliebt, Schneeflocken zu fangen, und bis heute machte ich es, sobald der erste Schnee fiel.

Ich schloss die Augen und ließ diese ganz besondere Stille auf mich wirken. Leise hörte ich das Knirschen des Schnees, während Amy ihre Kugeln rollte. Ansonsten war kein Laut zu vernehmen.


„Sie müssen hier Schnee räumen!“ Erschreckt schaute ich mich um, als eine unfreundliche Stimme mich ansprach. Vor meinem Grundstück auf dem Fußweg entdeckte ich einen älteren Mann, der mich ungehalten musterte. „Stehen hier rum und schauen in den Himmel, während ich mir fast die Knochen breche!“, motzte er und schüttelte den Kopf.

„Ja, ich … Also …“, stotterte ich perplex und wusste nicht, was ich sagen sollte. Ich verstand nicht, warum dieser Mann mich derart anblaffte. Klar, der Fußweg vor meinem Haus war nicht vom Schnee befreit, doch das betraf nicht nur meinen Anteil. Auch der Rest des Fußwegs vor den Nachbargrundstücken war zu dieser frühen Uhrzeit noch schneebedeckt.

„Wenn ich falle und mir was tue, wird das teuer für Sie! Das sag ich Ihnen!“, meckerte der Fremde lautstark, während er seinen Weg fortsetzte. Noch immer fiel mir keine passende Erwiderung ein, daher schwieg ich. Natürlich hatte er recht! Ich musste meinen Teil des Gehwegs räumen, damit sich niemand verletzte, ansonsten konnte ich haftbar gemacht werden. Aber hätte er mir das nicht auch ein wenig freundlicher sagen können? Musste er mich so oberlehrerhaft anmachen?

„Lassen Sie sich nicht ärgern! Das war nur der alte Warren, der findet immer was zu motzen. Den müssen Sie nicht ernst nehmen“, schallte es so laut zu mir herüber, dass selbst dieser Mr. Warren, der mittlerweile vor dem nächsten Haus angekommen war, es noch gehört haben musste. Ich warf ihm einen schnellen Blick zu, doch er reagierte nicht auf die Worte. Dann drehte ich mich um. Am Zaun zum Nachbargrundstück, wo gestern Abend auf dem Hof die Feuertonne gebrannt hatte, stand eine Frau und lächelte mich freundlich an. „Hallo! Du musst die neue Nachbarin sein. Ich bin Jill. Jill Thompson.“

Ich stapfte durch den Schnee zu ihr hinüber und streckte ihr meine Hand entgegen. „Hallo! Freut mich sehr. Ich bin Tara Lopez und das ist meine Tochter Amy. Wir sind gestern erst eingezogen.“ Ich deutete auf Amy, die gerade versuchte, eine der Schneekugeln auf die andere zu hieven. Kurz schaute sie auf und winkte unserer neuen Nachbarin zu.

„Ich freue mich auch, euch kennenzulernen. Endlich kommt wieder Leben in das kleine Häuschen. Wenn ihr Hilfe braucht, sag Bescheid. So ein Umzug ist sicher sehr anstrengend und zu Weihnachten soll es ja hübsch sein. Und wegen Warren, dem alten Gnatterkopp … Lass dich nicht verunsichern. Der bellt nur, beißt aber nicht.“ Jill zwinkerte mit verschwörerisch zu, doch ich zuckte mit den Schultern.

„Na ja, ganz unrecht hat er ja nicht. Ich sollte wirklich den Schnee schippen. Allerdings muss ich gestehen, dass ich darauf noch nicht eingestellt bin. Ich muss wohl morgen erst mal in den Baumarkt und eine Schneeschaufel und einen Besen kaufen.“

„Das ist doch kein Problem. Ich hab noch eine zweite Schaufel im Schuppen stehen. Die kannst du gern erst mal haben.“

Dankbar schaute ich Jill an. „Wirklich? Das wäre toll! Bevor sich hier tatsächlich jemand was bricht.“

„Na klar, ich hol sie dir schnell. Ich wollte auch gerade schippen, deshalb bin ich rausgekommen und hab gehört, was er gesagt hat. Eine nette Begrüßung für dich. Du musst ja denken, wir in Colins Creek sind alle solche unfreundlichen Käuze!“ Jill rollte gut sichtbar mit den Augen, dann grinste sie mich an. „Aber ich kann dir versprechen, das sind wir nicht. Bis auf ein paar Ausnahmen sind wir alle ganz friedlich und gesellig. Ich hoffe, du wirst dich hier wohlfühlen. Und wenn du Lust hast, komm doch gern bald mal auf einen Kaffee rüber, dann können wir ein bisschen quatschen. Aber nun hol ich dir die Schaufel.“ Damit wandte sie sich ab und verschwand in einem Schuppen auf dem Hof.

Erst jetzt fiel mir wieder ein, dass ich nur meinen Schlafanzug unter dem Wintermantel trug. Was musste Jill nur von mir denken, wenn sie die Teddybären auf rosa Flanell entdeckt hatte? Ein toller erster Eindruck, den ich gerade hinterließ! Wenn Kleinstadtmenschen nur halb so viel tratschten, wie immer behauptet wurde, dann hatten sie an meinem ersten Tag hier bereits reichlich Gesprächsstoff über mich. Und der Tag hatte eben erst angefangen. Das konnte ja heiter werden!


Es war gerade erst kurz nach neun, als Marie vor meiner Tür stand. Obwohl sie es gestern versprochen hatte, hatte ich so früh noch nicht mit ihr gerechnet.

„Hey, schön, dass du da bist! Komm rein!“, begrüßte ich sie und nahm sie kurz in den Arm. „Du musst ja mitten in der Nacht losgefahren sein.“

„Ach Quatsch! So schlimm war es nicht, ich bin einfach gut durchgekommen. Wo ist denn meine Süße?“, fragte Marie und schaute sich suchend und gleichzeitig auch ein wenig neugierig um. Zwar war sie mit mir zusammen bei der Hausbesichtigung gewesen, doch seitdem hatte sich viel verändert. Gemeinsam mit meinem Dad hatte ich mehrere Wochenenden hier verbracht und mit ihm die alten Tapeten abgekratzt, die Teppichböden herausgerissen und alles frisch renoviert. Bei der Besichtigung hatte das Häuschen altbacken und düster gewirkt, doch wir hatten das Potenzial sofort erkannt. Nun erstrahlte das Haus in hellen Farben und wirkte dadurch luftig und fröhlich. Ja, wenn diese ganzen Kisten erst einmal ausgeräumt waren, wäre es ein wundervolles Zuhause.

„Amy sitzt grad in der Wanne. Die musste heute Morgen als Erstes einen Schneemann bauen – im Schlafanzug. Danach war sie so nass und durchgefroren, dass sie jetzt erst einmal auftauen muss“, erklärte ich lachend und Marie schüttelte den Kopf. „Dass du keine Angst hast, dass sie sich erkältet. Ich meine – im Schlafanzug?!“

„Du kennst doch Amy. Sie ist so gut wie nie krank! Außerdem hatte sie ja eine dicke Jacke an.“

Marie zuckte mit den Schultern. „Okay, hast auch wieder recht. Na gut, dann darfst du mir erst dein Haus zeigen. Ich bin total gespannt, wie jetzt alles aussieht.“

„Chaotisch sieht es aus!“, gab ich lachend zu.

Marie schubste mich mit der Schulter an. „Das war mir klar! Aber deshalb bin ich ja hier. Du wirst sehen, heute Abend ist es schon deutlich wohnlicher!“


Nachdem wir eine Runde durchs Haus gedreht hatten, war Amy fertig mit ihrem Bad. Einzig ihr Zimmer hatten Marie und ich bei der Besichtigung ausgespart. Ich wusste, Amy wollte Marie selbst ihr neues Zuhause zeigen. Darauf freute sie sich bereits seit gestern, und diese Freude wollte ich ihr auf keinen Fall nehmen.

„Wollen wir jetzt in mein Zimmer?“, fragte Amy aufgeregt und Marie nickte. „Natürlich! Das Beste haben wir uns ja schließlich bis zum Schluss aufgehoben.“

Stolz und mit roten Bäckchen vor Freude schob Amy ihre Zimmertür auf und trat als Erste ein.

„Wow! Was ist das denn für ein tolles Zimmer! Der schönste Raum im ganzen Haus!“, betonte Marie, als sie sich umschaute, und Amy strahlte. Auch ich musste lächeln, als ich meine Tochter und meine Freundin beobachtete, wie sie die Köpfe zusammensteckten. Während ich in der Tür stehen blieb, zeigte Amy Marie jedes einzelne Möbelstück, öffnete jede Schranktür und jede Schublade. Meine Kleine war gestern bereits sehr fleißig gewesen. Lediglich zwei halb volle Kartons standen noch in ihrem Zimmer. Ich war wahnsinnig stolz auf meine Tochter, dass sie mit ihren sieben Jahren schon so selbstständig war. Natürlich waren die Schränke nicht perfekt ordentlich, aber das konnte ich von ihr auch nicht verlangen. Dafür war sie dann doch noch zu klein.


Während die beiden in Amys Zimmer blieben und sich alles anschauten, kehrte ich ins Erdgeschoss zurück, um den Frühstückstisch zu decken. Der Kaffee war gerade durchgelaufen, da gesellten die zwei sich zu mir. Erst jetzt merkte ich, wie groß mein Hunger war. Allerdings war ich auch schon eine ganze Weile auf – und ich hatte bereits Schnee geschippt. Eine Tätigkeit, die für mich so ungewohnt war, dass mir noch immer die Arme und der Rücken davon wehtaten.

„Schau mal. Ich hab dir was mitgebracht“, erklärte Marie meiner Tochter nach dem Frühstück und holte ein verpacktes Geschenk aus ihrer Tasche. „Ich hoffe, es gefällt dir!“

Strahlend riss Amy das rosafarbene Einhornpapier auf und quiekte vor Freude los, als sie sah, was sich darin befand. „Aquarellfarben! Und ein neuer Block!“ Sie sprang auf und fiel Marie um den Hals. Die kleinen Ärmchen um sie geschlungen, drückte sie sie fest an sich. „Danke, Marie. Die sind so toll!“ Dann richtete sie sich auf und wandte sich mit flehendem Blick an mich. „Darf ich sie gleich ausprobieren? Bitte, Mommy! Bitte!“

„Und wer deckt den Frühstückstisch ab?“, fragte ich mit hochgezogenen Augenbrauen und musste mir ein Grinsen verkneifen. Amy kannte es nicht anders, dass sie bei solchen Sachen mit anfassen musste, doch selbstverständlich wollte ich sie nicht davon abhalten, ihre neuen Farben auszuprobieren. Meine Kleine war zu gut erzogen, um nicht einzulenken. Seufzend nickte sie. „Ja, okay.“

Ich konnte mein Lächeln nicht länger verbergen, als ich sah, wie sehnsüchtig sie auf die Aquarellfarben und den Block schaute. Dennoch machte sie sich daran, die Teller einzusammeln.

„Na komm. Flitz los. Ich mach das schon!“, erlöste ich Amy und sofort kehrte ihr Strahlen zurück.

„Wirklich? Danke, Mommy!“ Keine drei Sekunden später war sie über die Treppe ins Obergeschoss verschwunden. Ein dumpfes Knallen verriet mir, dass ihre Zimmertür zu war.

„Manchmal bist du ein bisschen fies, oder?“, fragte Marie und ich grinste.

„Lass mir doch auch meinen Spaß!“

„Dein armes Kind. Sie so zu veralbern.“ Trotz ihrer mahnenden Worte lachte Marie und griff nach den Tellern, die Amy natürlich stehen gelassen hatte.


In den nächsten Stunden sahen wir meine Tochter nicht. Sie war anscheinend vollauf mit ihren neuen Aquarellfarben beschäftigt. Bereits von klein auf hatte sie es geliebt, zu malen, und sehr schnell hatte sich herausgestellt, dass sie ein großes Talent dafür besaß. Ihre Bilder zeigten einen Detailreichtum, wie man ihn sonst höchstens bei deutlich älteren Kindern antraf. Amy hatte ein künstlerisches Auge, sagte Marie, und als Erzieherin, die jeden Tag Kinderbilder sah und den Vergleich hatte, wusste sie, wovon sie sprach. Sie half mir, Amys Talent zu fördern. Diese Farben und der spezielle Aquarellblock waren für meine Tochter ein so wertvolles Geschenk wie für andere Kinder ein Fahrrad.

Den ganzen Vormittag über wischten wir die neu aufgebauten Schränke aus und räumten eine Umzugskiste nach der anderen leer. Langsam kam ein wenig Ordnung in das Chaos und am frühen Nachmittag hatten wir den Großteil der Kisten ausgepackt. Niemals hätte ich das alles in der kurzen Zeit allein geschafft und dementsprechend dankbar war ich meiner Freundin. Mittlerweile hatten die dicken Schneewolken sich verzogen und die Sonne blitzte vom winterlich-blauen Himmel.

„Ich brauche eine Pause!“, bemerkte ich und streckte meinen schmerzenden Rücken durch.

„Gute Idee! Was hältst du davon, wenn wir uns Amy schnappen und ein bisschen die Gegend erkunden? Oder hast du dich hier schon umgesehen?“, fragte Marie.

„Nein, ich weiß nicht mal, was am anderen Ende der Straße ist. Dazu bin ich noch nicht so richtig gekommen.“

„Okay, dann wird es wohl dringend Zeit, das nachzuholen. Los geht’s!“

Warm eingepackt machten wir uns auf den Weg. Die kalte, klare Luft fühlte sich gut an auf der Haut. Tief sog ich sie in meine Lungen.

„Herrlich, oder?“, fragte Marie und strahlte. „Vielleicht sollte ich auch nach Colins Creek ziehen. Es ist so idyllisch. Allein dieses Haus hier – wie aus einem Bilderbuch!“ Sie deutete auf den Hof, auf dem Jill gerade aus der Haustür kam. Fröhlich winkte sie mir zu und ich grüßte zurück.

„Ah, hast du die neuen Nachbarn schon kennengelernt?“

Ich erzählte Marie von unserer Begegnung am Gartenzaun heute Morgen und von dem unfreundlichen Mr. Warren.

„Jill scheint nett zu sein“, erklärte ich, während wir weitergingen. „Sie hat mich zum Kaffee eingeladen. Ich meine, sie kennt mich gar nicht und fragt, ob wir mal einen Kaffee zusammen trinken wollen.“ Als Jill vorhin mit der Schneeschaufel zurückgekehrt war, hatte sie die Einladung noch einmal wiederholt.

„Ja und? Du klingst irgendwie nicht so begeistert.“

Nachdenklich zuckte ich mit den Schultern. „Ich weiß nicht so recht. Ich meine, sie kennt mich doch gar nicht. Außerdem könnte sie vom Alter her locker meine Mutter sein, sie ist bestimmt schon Mitte fünfzig. Andererseits scheint sie wirklich nett zu sein und ich kenne hier ja sonst niemanden. Vielleicht ist es ein Anfang, die ersten sozialen Kontakte zu knüpfen.“

„Na ja, nicht nur das. Immerhin wohnt ihr auch direkt nebeneinander. Ist doch cool, wenn man sich mit seinen Nachbarn so gut versteht und vielleicht sogar anfreundet. Das Alter ist dabei völlig egal. Wichtig ist, dass sie nett ist.“

„Ja, das ist sie – zumindest nach dem, was ich bisher sagen kann.“

„Na, dann ist doch alles klar.“ Einen Moment lang schwieg Marie. „Ich hätte auch gern nette Nachbarn!“, sagte sie schließlich seufzend und ich horchte auf. Marie hatte so ziemlich das Gegenteil davon abbekommen. Ein Spießerehepaar hoch zehn, das an allem und jedem etwas auszusetzen hatte. Wahrscheinlich sehr ähnlich dem grantigen Mr. Warren, den ich heute Morgen kennenlernen durfte.

„Gab es schon wieder Stress? Was ist denn passiert?“

Marie winkte ab. „Ach, nur das Übliche. Die Polizei hat geklingelt, weil ich den Fernseher anhatte und die Balkontür für ein paar Minuten auf war. Lärmbelästigung wäre das, behauptet dieser Idiot von Nachbar. Der stand die ganze Zeit pöbelnd im Hausflur. Das war den Polizisten schon peinlich, weil sie genau wissen, dass die beiden nur Stress machen wollen. Aber was sollen sie machen? Wenn sie gerufen werden, müssen sie kommen. Die unter mir wurden angezeigt, weil sie auf dem Balkon rauchen und der Rauch angeblich unerträglich in deren Wohnung zieht. Ich bin noch dazwischen mit meinem Balkon und bei mir zieht gar kein Rauch in die Wohnung!“

„Was für ein Bullshit!“, regte ich mich auf. „Ich verstehe nicht, wie manche Leute so sein können. Das ist ja echt furchtbar!“

„Ja, aber ist nun mal so. Ich schaue schon nach einer anderen Wohnung, doch irgendwie … Na ja, irgendwann wird sich wohl was finden. Ich mache jedenfalls drei Kreuze, wenn ich da weg bin.“ Maries Lächeln wirkte müde und ich konnte sie nur zu gut verstehen. Seit mittlerweile zwei Jahren musste sie diesen Psychoterror des Ehepaares über ihr ertragen und konnte nichts dagegen unternehmen. Nicht nur Marie litt unter den beiden, sie terrorisierten das gesamte Haus.

„Na, hoffentlich habe ich nicht auch solche Nachbarn. Da fällt mir ein, ich sollte wohl dringend mal rausfinden, wie dicht dran dieser Mr. Warren wohnt – nicht dass er noch Stress macht, wenn Amy im Sommer draußen spielt oder so.“

Ich sah auf meine Tochter, die einige Meter vor uns auf dem Bürgersteig hüpfte. Auf einmal blieb sie stehen und schaute am Ende einer Hecke über eine Rasenfläche. Ich konnte nicht erkennen, was sie dort sah. Erst als Marie und ich näher kamen, erkannten wir, was ihre Aufmerksamkeit so fesselte. Hinter der Hecke befand sich ein kleiner Park mit einem Kinderspielplatz. Neben dem Spielplatz verlief ein breiter, aber nicht sonderlich tiefer Graben. Flach fiel das Ufer zur Mitte hin ab. Anscheinend führte er kein Wasser, denn er war komplett eingeschneit.

Nein, nicht mehr ganz komplett. An manchen Stellen schimmerte das winterlich blasse Gras hindurch. Es waren die Stellen, an denen Kinder mit ihren Schlitten den Abhang hinuntergerodelt waren. Bestimmt zehn Kinder unterschiedlichen Alters tobten gerade dort den Hang hinauf und wieder hinunter. Zwei Jungs in dunkelblauen Schneeanzügen lieferten sich eine wilde Schneeballschlacht, während ein Mädchen, ungefähr in Amys Alter, dabei war, einen Schneemann zu bauen.

Wie angewurzelt stand meine Tochter da und schaute den spielenden Kindern zu.

„Möchtest du hingehen? Du darfst bestimmt mitspielen“, sagte ich und legte ihr aufmunternd meine Hände auf die Schultern.

„Nein, ich mag nicht“, antwortete meine Tochter und schüttelte den Kopf. Ich konnte sie verstehen. Der erste Schritt war so schwer! Ich hätte mich an ihrer Stelle auch nicht getraut, allein auf eine Horde fremder Kinder zuzugehen. Ich wollte ihr gerade vorschlagen, dass ich sie begleiten würde, da stand das Mädchen vor uns, das eben noch den Schneemann gebaut hatte.

„Hi! Ich bin Maddy. Und du? Ich kenn dich gar nicht.“

„Ich bin Amy. Wir sind gestern erst hergezogen. Da vorne in das kleine Haus“, antwortete meine Tochter und deutete in Richtung unseres Häuschens. Ich spürte, wie ihre Schüchternheit dahinschmolz.

„Magst du mit mir rodeln?“, fragte Maddy und Amy zuckte mit den Schultern.

„Das geht nicht, ich hab keinen Schlitten“, sagte sie traurig.

„Aber ich! Da passen wir auch zu zweit drauf.“

Nun gesellte sich ein etwas größerer Junge zu uns. „Hi! Ich bin Tim. Maddys Bruder. Wenn ihr wollt, leihe ich euch meinen Schlitten. Dann könnt ihr ein Rennen fahren.“

Ich war so unglaublich gerührt, wie freundlich meine Tochter von den Kindern aufgenommen wurde. Das Eis war gebrochen und Amy stapfte mit Maddy plappernd los.

„Sie müssen sich keine Sorgen machen“, erklärte Tim uns noch. „Ich bin schon zwölf, ich passe auf die beiden auf.“

„Danke, Tim! Das ist so lieb von euch!“ Ich strahlte den Jungen an, der nur ganz cool mit den Schultern zuckte. „Kein Ding. Ich passe immer auf Maddy auf. Es gibt sonst keine Mädchen in ihrem Alter hier in der Nähe. Sie freut sich bestimmt, dass sie nun Amy hat.“ Damit gesellte er sich wieder zu den anderen Kindern.

„Und was machen wir jetzt?“, fragte ich ein bisschen ratlos, nachdem wir den Kindern noch eine Weile beim Spielen zugesehen hatten. Maddy und Amy schienen sich wirklich gut zu verstehen, wir konnten ihr Lachen bis zu uns herüber hören.

Nachdem sie ein paarmal gerodelt waren, überließen sie anderen Kindern die Schlitten und setzten sich auf die Nestschaukel auf dem Spielplatz. Nun war anscheinend näher kennenlernen angesagt, die beiden unterhielten sich sichtlich angeregt. Ich freute mich sehr, dass Amy so schnell Anschluss gefunden hatte.

„Na ja, hier rumstehen müssen wir wohl nicht. Die Kids haben zu tun. Wir könnten wieder zu dir, uns aufwärmen und noch ein bisschen weiterarbeiten“, erwiderte Marie grinsend.

„Aber ich kann sie doch nicht allein hierlassen!“

„Warum denn nicht? Was soll passieren?“

Unsicher zuckte ich mit den Schultern. „Ich weiß nicht. Sie war noch nie allein auf dem Spielplatz.“

„Was ja wohl kein Wunder ist! Der Spielplatz bei eurem alten Haus … da hätte ich sie auch nicht allein gelassen. Wer weiß, was da so alles passiert. Würde mich nicht überraschen, wenn da Drogen verkauft werden oder so. Außerdem war der fast direkt an der Hauptstraße. Viel zu gefährlich!“

Ganz so schlimm, wie Marie es gerade darstellte, war unsere alte Wohngegend nicht. Sie hatte schon recht, dass dort ein paar merkwürdige Gestalten herumstrolchten, aber Drogengeschäfte auf dem Spielplatz? Nein! Bestimmt nicht!

„Los, trau dich! Amy wird den Weg nach Hause finden – es ist ja nur die Straße runter. Und zur Not frag doch Tim, ob er sie nachher bringt. Der scheint mir sehr gewissenhaft zu sein.“

Ja, das glaubte ich auch. Im Laufe der letzten halben Stunde, die wir hier nun standen, war er mehrfach bei den Mädchen gewesen, und ich hatte das Gefühl, er hatte sie immer im Auge. Vielleicht musste ich einfach ein wenig entspannter werden und meiner Tochter mehr zutrauen. Sie war in so vielen Dingen schon so groß und vernünftig, da würde sie wohl hinkriegen, allein auf dem Spielplatz zu bleiben. Hier liefen Kinder herum, die sogar noch kleiner als Amy waren, und auch die spielten ohne ihre Mütter.

Trotzdem konnte ich es mir nicht verkneifen, Amy Bescheid zu geben und Tim zu bitten, meine Tochter später nach Hause zu begleiten, was er auch versprach.

Mit einem nur noch leicht mulmigen Gefühl kehrten Marie und ich ohne Amy in mein Hexenhäuschen zurück.

Ich musste wohl lernen, dass in dem kleinen Städtchen Colins Creek so einiges anders lief als in der Großstadt Paterson. Aber das würde ich – mit der Zeit.