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Titel

SCM Hänssler ist ein Imprint der SCM Verlagsgruppe, die zur Stiftung
Christliche Medien gehört, einer gemeinnützigen Stiftung, die sich
für die Förderung und Verbreitung christlicher Bücher, Zeitschriften,
Filme und Musik einsetzt.

ISBN 978-3-7751-7467-1 (E-Book)
ISBN 978-3-7751-5968-5 (lieferbare Buchausgabe)

Datenkonvertierung E-Book: Satz & Medien Wieser, Stolberg

© der deutschen Ausgabe 2019 SCM Hänssler in der SCM Verlagsgruppe GmbH
Max-Eyth-Straße 41 · 71088 Holzgerlingen
Internet: www.scm-haenssler.de · E-Mail: info@scm-haenssler.de

Copyright 2018 by Julie Klassen
Originally published in English under the title: The Bride of Ivy Green
by Bethany House Publishers,
a division of Baker Publishing Group,
Grand Rapids, Michigan, 49516, U.S.A.
All rights reserved.

Übersetzung: SuNSiDe, Reutlingen
Cover design by Jennifer Parker
Titelbild:Mike Habermann Photography, LLC
Umschlaggestaltung: Kathrin Spiegelberg,Weil im Schönbuch
Karte: Bek Cruddace Cartography & Illustration
Satz: Satz & Medien Wieser, Stolberg





Für Karen Schurrer
Ich danke dir für deine Kompetenz, deine Liebe für Geschichten und deine Unterstützung und Ermutigung in den vielen Jahren meiner Schriftsteller-Tätigkeit. Welch ein Segen, eine solche Freundin und Lektorin zu haben!

Inhalt

Über die Autorin

Karte von Ivy Hill

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Nachwort der Autorin

Leseempfehlungen

Über die Autorin

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Julie Klassen arbeitete 16 Jahre lang als Lektorin für Belletristik. Mittlerweile hat sie bereits elf Romane aus der Zeit von Jane Austen geschrieben, von denen drei den begehrten Christy Award gewannen. Wenn sie nicht schreibt, liebt Klassen das Reisen und Wandern. Mit ihrem Mann und zwei Söhnen lebt sie in Minnesota (USA).

Karte von Ivy Hill



Madame Victorine

(aus Paris)

Schneiderin und Modistin

4 Stratford Place, Hastings

West Sussex Advertiser, um 1850

E. Clapham

Modistin und Mantua-Schneiderin

möchte die Damen in Leeds und Umgebung informieren, dass soeben eine umfangreiche Sendung moderner Londoner Modelle eingetroffen ist, die allen Kundinnen zur Anprobe zur Verfügung stehen. Die Schneiderin ist aufs Äußerste bemüht, sich das Wohlwollen ihrer geneigten Kundschaft durch zuvorkommendste Behandlung für künftige Aufträge zu verdienen.

Zwei Lehrmädchen gesucht.

The Leeds Intelligencer, 1798

Polito's Menagerie

Zweifellos die größte, vielfältigste und vollständigste Sammlung seltener und schöner lebender Tiere aus aller Welt – jetzt für den Publikumsverkehr geöffnet. Mit der letzten Sendung aus Indien traf auch das gehörnte Pferd oder die indische Antilope aus Hindustan ein, die weltweit für ihre Eleganz gerühmt wird …

Perthshire Courier, 1816

Kapitel 1

Ornament

Februar 1821
Ivy Hill, Wiltshire, England

Mercy Grove konnte die unangenehme Aufgabe, die ihr bevorstand, nicht länger aufschieben. In Kürze erwarteten sie ihren frisch verheirateten Bruder, der sich mit seiner jungen Frau auf Hochzeitsreise befand, in Ivy Cottage zurück – in dem Haus, das Mercy und Tante Matilda so lange als ihr Heim betrachtet hatten.

Mr Kingsley hatte zusammen mit einem seiner Neffen bereits die Bücherschränke zu der neuen Adresse der Leihbücherei im ehemaligen Bankgebäude verfrachtet und dann geholfen, das Wohnzimmer wieder in seinen ursprünglichen Zustand zu versetzen. Jetzt war das Schulzimmer an der Reihe.

Der Diener der Groves hatte in den letzten Tagen die Schreibtische, Globen und Schulbücher auf den Dachboden geschafft. Nun musste nur noch Mercys geliebte große Wandtafel abmontiert werden.

Nachdem Mercy sich in das Unausweichliche gefügt hatte, bat sie Mr Basu, die Tafel herunterzunehmen, doch der Diener stand stocksteif vor ihr und presste seine Faust auf den Mund. Sein goldbraunes Gesicht drückte Bedenken aus, und er sah sie flehend an.

»Wenn sie zerbricht, dann zerbricht sie eben«, sagte Mercy heiterer, als ihr zumute war. Sie rief sich energisch ins Gedächtnis, dass sie keine Lehrerin mehr war, doch – ob das jetzt vernünftig war oder nicht – sie wünschte sich trotzdem von ganzem Herzen, dass die Tafel unversehrt blieb. Für alle Fälle.

Die tröstenden Worte ihres Vaters kamen ihr in den Sinn. »Ich weiß, dass du deine Schule vermissen wirst. Aber auch wenn dir sonst nichts bleibt, wirst du eines Tages doch wenigstens dabei helfen können, Georges Kinder zu unterrichten.« Da George jedoch gerade erst geheiratet hatte, würde es auf jeden Fall noch mehrere Jahre dauern, bis sie einem Neffen oder einer Nichte Unterricht geben konnte.

Mercy und ihr Diener standen noch immer da und betrachteten nachdenklich die große Tafel. Als es an der Haustür klopfte, fuhr Mr Basu zusammen und eilte hinaus. Er war sichtlich erleichtert, einen Grund zu haben, die ungeliebte Aufgabe noch einmal zu verschieben.

Einen Augenblick später steckte ihre Tante den Kopf ins Schulzimmer. »Mercy? Mr Kingsley ist da.«

»Ach, tatsächlich? Ich wusste gar nicht, dass wir ihn erwarten.«

»Ich habe ihm gegenüber erwähnt, dass du nicht so recht weißt, wie du die Tafel in einem Stück abnehmen sollst, und er bot an, uns zu helfen.«

»Tante Matty, wir haben Mr Kingsley schon viel zu oft bemüht. Er …«

Bevor Mercy ihren Einwand beenden konnte, schob ihre Tante die Tür ein Stückchen weiter auf. Hinter ihr stand Joseph Kingsley mit seinem Hut in der Hand. Sein rotblondes Haar war noch feucht von dem Bad, das er offenbar kurz zuvor genommen hatte.

»Guten Morgen, Miss Grove.«

Mercy bedeckte mit der Hand ihren Hals. Hoffentlich konnte er so nicht sehen, wie ihr Herz schlug! Sie nestelte an dem Schultertuch, das ihren Ausschnitt bedeckte. »Mr Kingsley! Vielen Dank, dass Sie gekommen sind, aber werden Sie denn nicht im Fairmont gebraucht?«

Er zuckte mit seinen breiten Schultern. »Ach, meine Brüder kommen schon mal einen Vormittag ohne mich zurecht. Außerdem gibt es nicht mehr so viel zu tun, seit Mr Drake so oft abwesend ist.«

Mr Drake war mit Alice nach Hause gefahren, um das Mädchen seinen Eltern vorzustellen. Mercy hatte sie seit ihrer Rückkehr noch gar nicht zu Gesicht bekommen. Sie vermisste das Kind so sehr!

Tante Matilda zwinkerte ihr zu. »Da Mr Kingsley jetzt da ist, werden Mr Basu und ich mal nachsehen, ob wir Mrs Timmons in der Küche helfen können.«

Nicht gerade subtil, dachte Mercy und spürte, wie sie vor Verlegenheit rot wurde.

Die Tür schloss sich hinter den beiden. Mr Kingsley trat zu ihr. »Wie ich hörte, waren Sie verreist. Ich wollte Sie besuchen und traf nur Mr Basu an.«

Mr Kingsley hatte sie besuchen wollen? Mercy hatte ihn seit ihrer Reise schon mehrmals gesehen, doch er hatte es bis jetzt noch nicht erwähnt. »Es tut mir leid, dass ich Sie verpasst habe. Haben Sie etwas … gebraucht?«

»Nein, es war nichts Besonderes. Ich wollte nur wissen, wie es Ihnen geht und ob Sie ein schönes Weihnachtsfest hatten.«

»Das ist aber sehr nett von Ihnen! Tante Matilda und ich haben meine Eltern in London besucht, und dann sind wir alle zur Hochzeit meines Bruders in den Norden gefahren.«

»Sie sind nur mit Ihren Eltern und Ihrer Tante gereist?«, fragte er.

»Ja. Warum?«

Er schlug die Augen nieder und knetete seine Hutkrempe. »Ich meine mich zu erinnern, dass Sie Ihrem Verehrer bis Weihnachten eine Antwort geben wollten.«

Wieder errötete sie vor Verlegenheit. Warum hatte sie den armen Mr Kingsley damals nur mit all ihren Nöten belastet?

»Ja. Das habe ich getan.«

»Und darf ich fragen, wie Ihre Antwort lautete?«

Sie deutete auf das leere Zimmer. »Ich denke, das ist offensichtlich, da wir mein Schulzimmer ausräumen, um Platz für den neuen Herrn und die neue Herrin zu machen.«

Er zuckte zusammen. Mercy bereute augenblicklich ihren scharfen Ton.

»Verzeihen Sie«, sagte sie. »Ich weiß, die Verbitterung steht mir nicht. Ich dachte, ich hätte die Situation akzeptiert, doch offenbar ist das nicht der Fall.«

»Ich verstehe. Ich wollte Ihnen nicht zu nahetreten. Der Professor muss sehr enttäuscht gewesen sein.«

»Das weiß ich nicht. Er hat mir geschrieben, er wolle seine Emeritierung noch ein Semester verschieben. Wahrscheinlich halten Sie mich für dumm, weil ich seinen Antrag abgelehnt habe. Meinen Eltern jedenfalls geht jedes Verständnis für meine Handlungsweise ab.«

»Klug oder nicht, das weiß ich nicht. Es tut mir nicht leid, das zu hören, ich bin nur überrascht. Ihre Mutter beschrieb ihn als den perfekten Ehemann für Sie. Gebildet, belesen, ein Oxford-Lehrer. Nicht viele in dieser Gemeinde haben solche Qualifikationen.«

Sie schlug die Augen nieder.

»Ich bin gar nicht so anspruchsvoll, wissen Sie.«

»Das sollten Sie aber sein. Sie verdienen das Beste, Miss Grove.«

Mercy erschrak über seinen ernsten Ton. Wollte er etwa die frei gewordene Stellung eines Anbeters einnehmen? Doch als sie endlich den Mut fand, ihn anzusehen, wandte er rasch den Blick ab.

Mercy schluckte. »Und Sie, Mr Kingsley?«

»Ich? Ich würde nie behaupten, ich sei es wert, ungebildet wie ich bin …«

»Ich meine, hatten Sie ein schönes Weihnachtsfest?«

»Oh!« Er errötete. »Ich … ja. Ich habe Weihnachten mit meinen Eltern und meinen Brüdern verbracht und Dreikönige bei … in Basingstoke.«

»Basingstoke? Bei der Familie Ihrer Frau?«

Er sah sie überrascht an.

Sie sagte rasch: »Sie erwähnten, dass Sie dort Ihre Frau kennengelernt hatten.« Mercy erinnerte sich, dass seine Frau dort nur ein Jahr nach der Hochzeit bei der Geburt ihres Kindes gestorben war – zusammen mit dem Kind.

Mr Kingsley rieb sich den Nacken. »Richtig.« Dann drehte er sich abrupt zu der Wandtafel um. »Dann schauen wir mal, wie wir sie herunterbekommen.«

Mercy, die ihm ansah, wie unbehaglich er sich fühlte, tat es leid, dass sie seine Frau erwähnt hatte.

Er trat näher an die Tafel und fuhr mit der Hand über den Rahmen. »Ich werde mein Bestes tun, aber Schiefer ist zerbrechlich. Er bricht sogar sehr leicht.«

»Ich weiß. Aber ich vertraue Ihnen. Wenn überhaupt jemand, dann schaffen Sie es.«

»Ich versuche es, aber ich habe keine Erfahrung mit Schiefer. Wenn ich den Rahmen gelöst habe, werde ich Hilfe beim Herunterheben brauchen. Vielleicht kann Mr Basu mir helfen?«

»Ja. Ich hole ihn.«

Mr Basu tappte in seinen spitzen Lederhausschuhen zögernd hinter ihr her ins Schulzimmer, stellte sich ans andere Ende der Tafel und wartete auf Anweisungen. Seine dunklen Augen schimmerten neugierig und scharfsinnig zugleich, als er jetzt zwischen Mr Kingsley und ihr hin und her blickte.

Mr Kingsley nahm eine Brechstange aus seinem Werkzeugkasten. Dann sahen die beiden Männer Mercy noch einmal an.

»Sind Sie ganz sicher?«, fragte Mr Kingsley.

Diese einfache Frage bedeutete ihr sehr viel.

Mercy nickte. Sie hatte Angst, ihre Stimme würde brechen, wenn sie etwas sagte, und sie wollte heute keine Zusammenbrüche erleben.

Mr Kingsley schaute sie noch einen Moment weiter an, dann nickte er Mr Basu zu.

»Halten Sie sie einfach; ich versuche, den Rahmen zu lösen.«

Die beiden Männer arbeiteten schweigend; sie verständigten sich nur mit Blicken und kleinen Gesten.

Schließich begann Mr Kingsley, langsam und vorsichtig den Rahmen zu lösen. Mercy hielt die Luft an. Als er schon an der letzten Ecke der Tafel war, hörte man plötzlich ein scheußliches Knacken, woraufhin sich sofort ein Riss über eine Seite der Tafel ausbreitete.

»Verdammt«, murmelte er.

Mr Basu sagte etwas in seiner Muttersprache.

Mercy schlug die Hand vor den Mund. Sie hatte das Gefühl, dieser Riss würde mitten durch ihr Herz gehen.

Mr Kingsley warf ihr einen Blick über die Schulter zu und sagte niedergeschlagen: »Es tut mir leid, Miss Grove.«

»Sie trifft keine Schuld. Außerdem habe ich ja gar keine Verwendung mehr dafür.«

Er entfernte vorsichtig das lose Stück, dann hoben die Männer den Rahmen an. »Wo sollen wir sie hinstellen?«

»Bringen wir sie erst einmal auf den Dachboden.« Zusammen mit dem Rest meiner Hoffnungen und Träume, dachte Mercy. Sie rief sich ins Gedächtnis, dass Gottes Versprechen kein leichtes und glückliches Leben verhieß. Doch er versprach Frieden und Freude, und daran würde sie festhalten – irgendwie.

Am nächsten Morgen halfen Mercy und Matilda den Dienern bei einem vorgezogenen Frühjahrsputz, um Ivy Cottage für seine neuen Bewohner herzurichten. Es gab viel zu tun, und sie waren nur wenige Leute.

Becky Morris bot an, die Wände des ehemaligen Schulzimmers zu streichen; nachdem die große Wandtafel entfernt war, sah man, wie verblasst die Farbe der Wand darunter war. Um Mr Basu das Putzen der Fenster von außen zu ersparen – er war schließlich auch nicht mehr der Jüngste –, lieh Mercy sich eine Leiter von Becky und beauftragte einen der Mullins-Jungen mit dieser Aufgabe. Der stramme Junge, der stets auf der Suche nach kleineren Arbeiten war, half Mr Basu auch, die alten Schlafzimmermöbel ihrer Großeltern, die die letzten zehn Jahre auf dem Dachboden gestanden hatten, herunterzuholen.

Da ihr Haushaltsbudget nach den vielen Ausgaben ein wenig Schonung verlangte, beschränkten sie sich momentan auf einfache Mahlzeiten. Auf Fleisch verzichteten sie ganz, denn sie wollten George und Helena mit einem opulenten Mahl zu Hause willkommen heißen. Auf den Vorschlag ihrer Mutter hin hatten sie ein Küchenmädchen eingestellt, das Mrs Timmons zur Hand gehen sollte. Ihr Vater hatte versprochen, ihre Zuwendungen entsprechend zu erhöhen – was er bis jetzt allerdings noch nicht getan hatte. Mercy hoffte, dass er sein Versprechen bald wahrmachen würde, vor allem, da sie jetzt kein Einkommen aus der Schule mehr besaß, das ihnen sonst immer über die Runden geholfen hatte.

So arbeiteten sie fleißig bis zu dem Tag, für den ihr Bruder seine Rückkehr angekündigt hatte. Das frisch vermählte Paar sollte gegen vier Uhr nachmittags eintreffen. Gegen halb drei stand die alte Mrs Timmons mit rotem Gesicht und schwitzend von ihren Extrastrapazen vor dem heißen Herd in der Küche, und das neue Küchenmädchen, Kitty McFarland, sah aus, als wollte es jeden Moment in Tränen ausbrechen. Agnes Woodbead lief zwischen Küche und Esszimmer hin und her, deckte den Tisch mit dem besten Porzellan und Silber und stellte einen Strauß mit Blumen aus Mrs Bushbys neuem Gewächshaus zusammen.

Mercy und Matilda wuselten ebenfalls durchs Haus und legten letzte Hand an das frisch renovierte Hauptschlafzimmer. Mercy stellte eine Vase mit Gewächshausblumen auf den Nachttisch, prüfte, ob auch frisch gebügelte Handtücher auf dem Waschtisch lagen, und strich ein letztes Mal glättend über das Spitzendeckchen auf der Frisierkommode, das sie bei den Misses Cook gekauft hatte.

Das Zimmer war sauber und aufgeräumt, doch ein zufälliger Blick in den Spiegel zeigte Mercy, dass das ganz und gar nicht für sie selbst galt.

»Tante Matty, nimm bitte deine Schürze ab. Sie können jeden Moment kommen.«

Matilda betrachtete Mercy, die selbst gerade ihre Schürze aufband. »Und du solltest dich umziehen und kämmen, meine Liebe.«

»Vielleicht sollten wir uns beide umziehen.«

Matilda stimmte sogleich zu. An ihrem knappen Nicken und dem geistesabwesenden Blick merkte Mercy, dass ihre Tante ebenso nervös wegen der Neuankömmlinge war wie sie.

Die beiden Frauen gingen auf ihre Zimmer und halfen sich gegenseitig dabei, etwas Passenderes für die Gäste anzuziehen. Dann bürstete Mercy rasch ihr Haar und steckte es neu auf. Schließlich drehte sie sich zu ihrer Tante um: »Gut so?«

»Sehr schön, meine Liebe. Und ich?«

Mercy betrachtete das schmale, errötete Gesicht, das altmodische schlüsselblumengelbe Kleid, die dünnen grauen Locken. Sie entfernte eine Spinnwebe aus dem Haar ihrer Tante und strich eine widerspenstige Strähne glatt. »Perfekt. Denk dran, wir müssen unser bestes Benehmen zeigen. Wir sind jetzt die Besucher.«

Matilda nickte. »Ich versuche es.«

Als die Mietkutsche eintraf, warteten Mercy und ihre Tante in der Eingangshalle. Mr Basu ging hinaus, um den Besuch willkommen zu heißen. Er wirkte ungemein elegant in seiner frisch gebügelten Jacke mit dem hohen Kragen über den traditionellen weiten Hosen. Wie immer bedeckte eine weiche Baumwollmütze sein dunkles Haar.

Sie schauten aus dem Fenster. Ein Pferdeknecht sprang von der Kutsche, ließ den Tritt herunter und öffnete den Schlag. Dann ging er nach hinten, um die Koffer und Reisetaschen zu holen, und reichte sie an Mr Basu weiter.

Mercys hochgewachsener Bruder stieg als Erster aus. Er drehte sich um und half seiner zarten Frau beim Aussteigen. Helena wirkte geradezu königlich in ihrem purpur- und goldfarbenen Reisekleid und dem modernen Hut. Mit undurchdringlicher Miene betrachtete sie Ivy Cottage – und wenn Mercy sich nicht täuschte, war sie nicht übermäßig beeindruckt von dem, was sie sah.

Mercy bekam einen Magenkrampf vor Nervosität. Schweigend betete sie zu Gott, dass die erste Begegnung gut verlaufen und die Diener von Ivy Cottage Helenas Billigung finden würden; die Leute machten sich große Sorgen um ihre Zukunft – und das zu Recht, wenn sie keine Gnade vor den Augen der neuen Herrin fanden. Als Nächste stieg eine dunkelhaarige in schlichtes Schwarz gekleidete Frau mit ein paar Hutschachteln in den Händen aus. Das musste Helenas Zofe sein, nahm Mercy an. Sie hoffte, dass Agnes daran gedacht hatte, auch ihr Zimmer vorzubereiten.

Mercys Herz klopft heftig. Dummes Ding, es sind doch nur dein Bruder und seine Frau! Es gab nichts, wovor sie Angst haben musste. Tante Matty, die neben ihr stand, griff nach ihrer Hand.

Mercy wollte die Tür öffnen, doch Matilda hinderte sie daran. Sie hielt ihre Hand fest und bedeutete stattdessen Agnes mit einem Nicken, die Tür zu öffnen. Diese trug ihr bestes Kleid und eine frisch gebügelte Schürze. Wahrscheinlich hatte Matilda recht. Der erste Eindruck war immer der wichtigste. Eine Frau wie die frühere Helena Maddox erwartete natürlich, dass ein Dienstbote an die Tür kam. Zweifellos würde sie einen hochgewachsenen Diener in Livree bevorzugen, doch die kleine Agnes Woodbead oder der schweigsame Mr Basu mussten genügen, zumindest vorläufig. Mercy überlegte, ob und wann Helena erste Änderungen vornehmen würde. Es war jetzt ihr Haus, und sie konnte nach Belieben darin schalten und walten.

George trat in die Halle, sah ihr lächelnd entgegen und streckte die Arme aus. »Da sind wir.«

»Willkommen zu Hause, George.« Tante Matty erwiderte sein Lächeln herzlich.

George gab seiner Tante und Mercy einen Kuss auf die Wange und drehte sich dann zu seiner Frau um. »Ihr erinnert euch doch an meine entzückende Frau?«

Helena sagte kühl: »Natürlich tun sie das, George. Wir haben uns auf der Hochzeit kennengelernt. Und ich habe einen Namen, wie du sehr wohl weißt.«

»Das hast du, Helena. Ich bevorzuge allerdings Mrs Grove.« Er zwinkerte seiner Frau zu, doch sie ignorierte die Neckerei.

»Schön, dich wiederzusehen, Helena«, sagte Tante Matty.

»Ja, willkommen in Ivy Cottage«, ergänzte Mercy. Sie sah, dass Mr Basu noch immer dabei war, Gepäckstücke durch die Seitentür ins Haus zu schleppen, und sagte zu Helena: »Gib deine Sachen doch Agnes.«

Helena ließ die Augen über Agnes' schlichte Gestalt gleiten und runzelte kurz die Stirn. Mercy rief sich ihren Vorsatz in Erinnerung, keine Vorurteile gegen ihre Schwägerin zu hegen. Nur weil Helena in einem wohlhabenden Haus aufgewachsen war, musste sie noch lange nicht mäkelig oder schwer zufriedenzustellen sein – hoffte sie jedenfalls.

Mercy lächelte Helena an. »Das Abendessen ist bald fertig. Ich nehme an, du willst dich zuerst ein wenig frisch machen?«

»Abendessen … so früh? Man merkt, dass wir hier im ländlichen Wiltshire mit seinen entzückenden hinterwäldlerischen Bräuchen sind. George und ich pflegen später zu speisen. Vor allem brauche ich ein wenig Zeit, um mich auszuruhen und umzuziehen.«

Mercy merkte, wie ihr Lächeln schwand, als sie an Mrs Timmons Mühen dachte, ein elegantes Mahl vorzubereiten, bei dem alles zum richtigen Zeitpunkt fertig war.

Helenas nächste Bemerkung galt Agnes: »Und ein heißes Bad, bitte.«

Ein heißes Bad – jetzt? Wo jeder Zentimeter des Herds mit Kochtöpfen und siedend heißen Soßenpfannen bedeckt war und sie doch sowieso kaum Personal hatten?

George blickte von einer Frau zur anderen, dann sagte er: »Meine Liebe, könnte dein Bad nicht noch ein bisschen warten? Ich rieche schon das Abendessen, mir läuft das Wasser im Mund zusammen. Es ist lange her, seit wir in den Genuss von Mrs Timmons Kochkunst kamen. Komm schon, meine Liebe. Wir können die Esszeiten ja für die Zukunft ändern, aber wenn doch heute schon alles fertig ist …«

Mercys Herz flog ihrem Bruder entgegen. In diesem Moment war er ihr sehr viel weniger fremd als bei seiner Hochzeit – das war wieder der Bruder, den sie von früher kannte.

Seine Frau bedachte ihn mit einem eisigen Blick. »Gott bewahre, dass du auf eine Mahlzeit warten musst, mein Lieber. Möge also stattdessen das Bad warten. Aber ich brauche auf jeden Fall eine Stunde, um mich auszuruhen und umzuziehen.« Sie tätschelte Georges Arm und sah Mercy an. »Wie Sie sehen, tut das Eheleben Ihrem Bruder außerordentlich gut, Miss Grove. Er hat seit seiner Verlobung bestimmt gut zehn Kilo zugenommen. Auf unserer Hochzeitsreise hat er sich sozusagen durch sämtliche Städte gegessen, die wir besichtigt haben.«

Ein unbehagliches Lächeln glitt über die attraktiven Züge ihres Bruders. »Warum auch nicht? Gibt es eine köstlichere Möglichkeit, die Küchen verschiedenster Regionen kennenzulernen?«

»Es klingt herrlich«, meinte Matilda. »Wir freuen uns auf die Berichte über eure Reisen.«

Die Neuankömmlinge gingen nach oben, um sich auszuruhen und umzuziehen, und Mercy lief in die Küche, um Mrs Timmons zu informieren, dass sich das Essen verzögerte. Mrs Timmons grummelte. Sie meinte, es werde nicht mehr halb so gut schmecken, wenn man es für eine Stunde warm halten müsse, und prophezeite, die neue Herrin werde sie entlassen, weil sie einen zusammengefallenen Yorkshirepudding, aufgewärmtes Fleisch und verklumpte Soßen serviere.

»Sie wird es verstehen«, sagte Mercy, in dem Versuch, sie zu beschwichtigen. »Schließlich ist sie selbst für die Verzögerung verantwortlich.«

Jedenfalls hoffte Mercy, dass sie es verstehen würde. Kitty und Agnes waren noch jung und konnten eine neue Anstellung finden, doch wenn Helena Zelda Timmons oder Mr Basu entließ, würden die beiden nur schwer wieder Arbeit finden – Mrs Timmons wegen ihres Alters und Mr Basu, weil er ein Ausländer in einem Land war, das dunkelhäutigen Menschen manchmal recht abweisend gegenüberstand. Doch die beiden waren zuverlässig und fleißig, und Mercy hoffte, dass Helena das rasch erkennen würde.

Eine Stunde später kam Mercy als Erste nach unten. Hinter ihr schwebte ihre Schwägerin in einem leuchtend blauen Kleid mit einem hohen Spitzenkragen die Treppe herunter. Die winzige Frau hatte eine helle, zarte Haut und feine, edle Gesichtszüge. Ihr kleiner Mund war hochmütig nach oben verzogen, doch als Kind hatte sie mit ihrem Heiligenschein aus blonden Locken wahrscheinlich wie ein Engel ausgesehen. Jetzt trug Helena ihr Haar kunstvoll frisiert, mit Zöpfen über dem Kopf und Korkenzieherlöckchen, die wie Vorhangquasten neben ihren Ohren schaukelten.

Mercy sah, wie Helena sie leicht abschätzig oder zumindest mitleidig musterte, und kam sich in ihrer Gegenwart riesig, plump und schlecht gekleidet vor.

Als alle versammelt waren und ihre Plätze eingenommen hatten, ließ Helena den Blick über den Tisch mit der Suppenterrine, dem Fischgericht und den anderen Gängen gleiten. Nach zwei Wochen spärlicher Mahlzeiten knurrte Mercy vor Vorfreude der Magen.

Helena meinte: »Ein richtiges Festessen. Speist ihr beiden immer so hochherrschaftlich?«

»Nein, aber wir wollten, dass euer erstes Mahl etwas ganz Besonderes wird.«

»Das sehe ich.«

Mercy fügte hinzu: »Mrs Timmons ist schon seit vielen Jahren bei uns. Außerdem haben wir auf Mutters Vorschlag kürzlich ein neues Küchenmädchen eingestellt.«

»Dann hat dein Vater hoffentlich seine Zuwendungen erhöht?«

Sie war überrascht, dass Helena das Thema in Gesellschaft anschnitt. »Das hat er vor.«

»George, du wirst ihm schreiben müssen. Ich möchte nicht, dass meine Mitgift für die Metzgerrechnung verprasst wird.«

»Ja, meine Liebe. Sofort.«

Vor dem nächsten Gang wechselte Matilda das Thema. »Was hast du für Pläne, nachdem ihr jetzt wieder in England seid, George?«

Helena lächelte. »Oh, wir haben große Pläne. Vielleicht … das Parlament.«

»Ah«, murmelte Matilda zweifelnd.

Helena spießte ein Stückchen des weichen Teigs auf. »Soll das Yorkshirepudding sein?«

»Ja, extra für dich gemacht.«

Helena wirkte nicht beeindruckt, ja ihre Laune schien sich noch zu verschlechtern, als sie ein Soßenklümpchen auf ihrer Gabel sah.

Mercys Freude über das köstliche, vielfältige Mahl wurde durch die angespannte Atmosphäre sehr getrübt. Tante Matty schien ebenfalls keinen Appetit zu haben.

Ganz sicher würde alles besser werden, wenn sie sich erst ein bisschen aneinander gewöhnt hatten. Mercy und ihre Tante hatten in den letzten Monaten viele Veränderungen gemeistert und würden bestimmt auch diese überleben. Frieden und Freude, dachte sie. Halte fest an Frieden und Freude.

Kapitel 2

Ornament

Am ersten März band Mercy sich einen Schal um und schlüpfte zur Hintertür hinaus. Sie nickte Mr Basu zu, der den Küchengarten für die Frühjahrsbepflanzung vorbereitete, und öffnete das Tor zum Dorfanger. Um sie herum erwachte die Welt aus dem Winterschlaf – Efeu und Moos färbten sich grün, die Zweige über ihr trieben Knospen, und der schrumpelige Rhabarber an der sonnigen Mauer war schon richtig ins Kraut geschossen.

In der Ferne hörte sie zum ersten Mal in diesem Jahr eine Lerche singen. In Ivy Green wurde es vor ihren Augen Frühling. Sie blieb stehen, atmete tief die frische, kühle Luft ein und spürte, wie auch sie selbst sich verwandelte.

Vor ihr betraten ein Mann und ein kleines Mädchen die Dorfwiese. Mercy zuckte leicht zusammen, als sie Mr Drake und Alice erkannte, ihre ehemalige Schülerin. Alice war eine Waise, die Mercy früher einmal hatte adoptieren wollen. Die beiden trugen Mantel und Hut, gingen Hand in Hand und unterhielten sich lebhaft. Dann lachte Alice laut über etwas, das Mr Drake zu ihr gesagt hatte. Einen Augenblick stand Mercy ganz still und hörte auf zu atmen. Die rührende Szene, die sich vor ihren Augen abspielte, verursachte in ihr Freude und schmerzliche Verlustgefühle zugleich. Doch sie liebte Alice viel zu sehr, um ihr irgendetwas anderes als vollkommenes Glück in ihrem neuen Leben zu wünschen.

Alice wandte den Kopf und lächelte strahlend, als sie Mercy erblickte. »Miss Grove!«, rief sie und winkte. Mit einem raschen Blick auf Mr Drake entzog sie diesem ihre Hand und lief über die Wiese auf Mercy zu. Mercy entdeckte noch nicht einmal mehr einen Hauch der früheren Zurückhaltung des Mädchens, ihre Wangen mit den niedlichen Grübchen wirkten sogar ein wenig rosiger, als Mercy sie in Erinnerung hatte.

Wie früher bückte Mercy sich, um auf Augenhöhe mit der Achtjährigen zu gehen – wozu sie inzwischen allerdings nicht mehr ganz so tief in die Hocke gehen musste.

»Alice, meine Liebe. Wie schön, dich zu sehen! Du siehst gut aus. Und groß bist du geworden!«

»Ich bin den Winter über tüchtig gewachsen, sagt Mr Drake.«

»Da hat er recht, das bist du wirklich. Und du trägst einen sehr hübschen Mantel. Den kenne ich noch gar nicht.«

»Er ist neu. Mein Kleid und mein Hut auch. Großmutter hat sie für mich machen lassen.«

»Großmutter?«

»Meine Mutter«, erklärte James, der zu ihnen getreten war. »Sie besteht darauf, dass Alice sie so nennt. Sie hat sie zu einer Mantua-Schneiderin mitgenommen, als wir bei ihr zu Besuch waren.«

»Du siehst wunderhübsch aus«, versicherte Mercy ihr.

Aus der anderen Richtung betraten zwei Mädchen die Wiese; sie gingen Arm in Arm.

Alice' Augen strahlten auf, als sie sie sah. »Das sind Sukey und Mabel! Ich habe sie so sehr vermisst! Und Phoebe natürlich auch.«

Phoebe und Alice waren Mercys jüngste Schülerinnen gewesen und waren eng befreundet. Doch nach der Schließung der Schule hatte Phoebes Vater seine Tochter an einer anderen Schule angemeldet, die auf seiner Route als Handlungsreisender lag.

Alice fragte: »Darf ich zu ihnen gehen?«

»Natürlich …« Mercy unterbrach sich und sah James Drake an. »Das heißt, wenn Mr Drake nichts dagegen hat.«

»Ganz und gar nicht. Geh und begrüße deine Freundinnen. Lade sie doch zu Tee und Kuchen mit uns in der Bäckerei ein.«

Alice sauste davon. Mr Drake blickte ihr nach, und ein Lächeln breitete sich auf seinem attraktiven Gesicht aus. Dieses Lächeln verschwand auch nicht, als er sich zu Mercy umdrehte.

»Apropos Einladungen, Miss Grove, ich möchte Sie ins Fairmont einladen, zur Besichtigung von Alice' neuem Zimmer und zum Abendessen. Ich weiß, dass es Alice freuen würde und … mich auch.«

Mercy zögerte. Ihr fiel ein, was er im Dezember zu ihr gesagt hatte: »Miss Grove, ich hoffe, dass wir beide vielleicht mehr Zeit miteinander verbringen können. Und natürlich mit Alice. Ich denke, das würde ihr helfen zu erkennen, dass wir beide keine Feinde sind, sondern Freunde.« Doch nun waren so viele Wochen vergangen, ohne dass er sich gemeldet hatte – bis auf das eine Mal, als er Alice und ihre Sachen abgeholt hatte –, dass sie angenommen hatte, er habe seine Meinung geändert.

Er neigte den Kopf und schaute sie dann unter seinen goldenen Wimpern an. »Ich weiß, dass Sie schon länger eine Einladung von uns erwartet haben, doch Sie verstehen hoffentlich, dass ich Alice Zeit lassen wollte, sich an ihre neue Umgebung zu gewöhnen – und an mich. Egoistisch, wie ich bin, wollte ich nicht mit Ihnen um ihre Zuneigung wetteifern müssen – es wäre ein Wettbewerb gewesen, den Sie noch immer gewinnen würden, fürchte ich.«

»Ich weiß nicht. … Alice scheint sehr glücklich in Ihrer Obhut zu sein.«

»Das höre ich gern!«

Mercy fragte: »Wie war es denn bei Ihren Eltern? Hatten Sie ein angenehmes Weihnachtsfest?«

»Ja, nachdem sie den ersten Schock überwunden hatten. Vor allem meine Mutter hat inzwischen einen richtigen Narren an Alice gefressen.«

»Das freut mich. Alice hat nie Großeltern gekannt, jedenfalls keine, die in sie vernarrt waren.«

»Nun, mein Vater ist nicht der Typ, der vernarrt ist, aber Mama ist großzügig und liebevoll genug für sie beide.« Er hielt nach Alice Ausschau und fuhr dann mit leiser Stimme fort: »Ich weiß, dass Sie gehofft hatten, Alice' Herkunft würde geheim bleiben, doch weder mein Vater noch meine Mutter haben die Geschichte geglaubt, Alice sei die Tochter eines Freundes. Sie entdeckten eine zu große Ähnlichkeit mit mir und eine noch größere mit meiner Schwester.«

Mercys Lächeln erlosch. »Haben Sie es Alice selbst auch gesagt?«

»Sie hat unser Gespräch mitangehört und mich dann gleich gefragt. Ich beschloss, ihr die Wahrheit zu sagen.«

Mercy war plötzlich kalt. Sie schmiegte sich fester in ihr Schultertuch. »Sie werden sie also öffentlich als Ihre Tochter anerkennen?«

»Ja. Ich glaube, die Wahrheit ist immer noch das Einfachste.«

»Ist es einfacher für Alice, wenn herauskommt, dass sie Ihre uneheliche Tochter ist, als wenn sie die Waise von achtbaren, verheirateten Eltern wäre?«

Er presste die Lippen zusammen. »Das war eine Geschichte, Miss Grove. Eine Geschichte, die beizubehalten ich mich nicht gezwungen fühle. Ich habe bereits rechtliche Schritte unternommen, Alice als meine Erbin anzuerkennen und ihren Namen in Drake ändern zu lassen.«

Mercy wurde von widersprüchlichen Gefühlen förmlich überflutet. »Hat Alice sich aufgeregt? Sie muss sich aufgeregt haben, schließlich hat sie ihr ganzes Leben geglaubt, sie sei die Tochter von Leutnant Smith.«

»Anfangs vielleicht. Sie können sie selbst fragen, wenn Sie wollen. Meiner Ansicht nach hat sie sich gut an die neue Situation gewöhnt.«

Vielleicht ist es ja zu ihrem Besten, dachte Mercy. Besser, eine Tochter als nur ein Mündel zu sein. Doch Mercy hoffte inständig, dass Alice' Herkunft ihr im späteren Leben keine Nachteile bringen würde.

Er wechselte das Thema. »Und wie geht es Ihnen, Miss Grove?«

Mercy zögerte. »Mir geht es gut, danke.«

Er legte den Kopf zur Seite. »Kommen Sie, mir brauchen Sie nichts vorzumachen. Sie müssen sehr traurig sein, dass Ihre Schule geschlossen wurde.«

»Im Moment weiß ich nicht so recht etwas mit mir anzufangen, das gebe ich zu. Die Schule war viele Jahre lang mein Leben. Jetzt sind die Mädchen fort. Aus dem Schulraum haben wir ein Schlafzimmer für meinen Bruder und seine Frau gemacht.« Es schmerzte sie, das zu sagen.

»Sind sie denn schon da?«

»Ja, schon fast zwei Wochen.« Um von ihrer Situation abzulenken, fragte Mercy: »Und Sie, Mr Drake? Wie läuft es im Fairmont?«

»Um die Wahrheit zu sagen, nicht so gut. Ich hatte in letzter Zeit mehr zu tun, als Sie sich vorstellen können. Den Kingsleys habe ich im Dezember und Januar freigegeben, damit sie ihre Familien besuchen können. Die Arbeit im Freien musste nach dem letzten Kälteeinbruch ohnehin zunächst verschoben werden; Alice und ich sind in das gemäßigtere Klima Southamptons geflüchtet.«

Er holte tief Luft. »Jetzt, wo ein Hauch von Frühling in der Luft liegt, wird es hoffentlich wieder schneller vorangehen. Wir werden jetzt auch von der Postkutsche angefahren, aber aller Voraussicht nach sind nun auch die restlichen Zimmer bald fertig. Dann kommen hoffentlich auch mehr Gäste. Wenn Sie uns besuchen, werden Sie sich selbst ein Bild machen können. Mr Kingsley wird uns sicher gern seine vielen Verbesserungen zeigen.«

Mr Kingsley … Mercy musste schmunzeln. »Dann freue ich mich auf einen Besuch im Fairmont«, sagte sie. »Nennen Sie mir einfach einen Tag.«

Kapitel 3

Ornament

Jane Bell ritt die lange, von Bäumen gesäumte Auffahrt zu Lanes Farm hinauf, wo Gabriel Locke wohnte. Das alte Farmhaus erstrahlte in neuem Glanz mit der frisch gestrichenen weißen Fassade, den grünen Fensterläden und dem mit Schieferschindeln neu gedeckten Dach. Zwei Tagelöhner schleppten gerade Stroh in den Stall auf der anderen Hofseite, ein Maurer schichtete kunstvoll Steine aufeinander und schloss so eine Lücke in der niedrigen Mauer rund um die Koppel.

Gabriel arbeitete ganz in der Nähe mit Draht und Zange; er war dabei, an drei in gleichmäßigen Abständen stehenden Bäumen eine lange Stange zu befestigen, an der er die Pferde anbinden wollte, die geputzt und gesattelt werden sollten.

Sein dunkler Kopf hob sich. Als er Jane sah, leuchtete sein Gesicht auf. »Guten Morgen, Jane! Wie geht es Athena heute?«

»Gut.« Jane ritt zu ihm hinüber und sagte neckend: »Mir übrigens auch, danke der Nachfrage.«

»Das freut mich sehr!«

Er band Athenas Zügel an der neuen Stange fest und streckte seine Hände in Janes Richtung aus, um ihr beim Absteigen zu helfen. Sie schmiegte sich in seine Arme und freute sich an seiner Kraft und über das warme Leuchten in seinen Augen, als er sie auf den Boden stellte. Er nahm ihre behandschuhte Hand und küsste sie – und sie wünschte sich, es wäre keine Lederschicht zwischen ihren beiden Händen. Dann neigte er sich zu ihr. Sein Gesicht war ganz nah vor dem ihren. Sie bekam Herzklopfen. In diesem Moment winkte einer der Arbeiter ihr aus der Scheune zu.

Jane trat zurück und erwiderte den Gruß des Mannes. »Guten Morgen, Mr Mullins!«

An Gabriel gewandt meinte sie: »Das Haus ist sehr schön geworden. Man sieht schon jetzt eine Riesenverbesserung.«

»Nicht überall.« Er nickte zu einem verfallenden Schuppen und einem kleinen Hühnerstall hinüber. »Die Scheune und der Geflügelstall müssen noch warten, zuerst baue ich eine Schmiede, damit ich meine Pferde ordentlich beschlagen kann. Dann brauchen wir ein paar Hütten für die Arbeiter, jedenfalls für die Alleinstehenden. Mr Mullins kommt jeden Morgen herüber.«

»Wie macht er sich?«

»Besser. Ich gebe zu, ich war überrascht, dass er den Job angenommen hat; immerhin war es der Tritt eines Pferdes, der ihn damals arbeitsunfähig gemacht hat. Soviel ich weiß, hat keiner damit gerechnet, dass er je wieder würde gehen können.«

Jane nickte. »Dr. Burtons Sohn hat bei einem Arzt der East India Company medizinische Massage und Streckübungen gelernt. Anscheinend hat er Mrs Mullins gezeigt, wie es geht, und sie haben es ausprobiert. Ich bin dir sehr dankbar, dass du ihm eine Chance gegeben hast. Seine Familie weiß es ebenfalls sehr zu schätzen.«

»Er ist sehr fleißig. Noch ein wenig ängstlich mit den Pferden, aber daraus kann man ihm kaum einen Vorwurf machen.«

Jane nickte. »Und was steht noch auf deiner langen Liste von Erledigungen?«

Er deutete auf einen trüben grünen Weiher. »Ich will den alten Ententeich vergrößern und Fische aussetzen, weitere Ställe bauen und …« Er fuhr fort, ihr seine Projekte und dringend nötige Reparaturen aufzuzählen.

Jane sagte: »Deine Liste erinnert mich an die Arbeit, die mich erwartete, als ich das Bell übernommen habe.«

Gabriel sah sie an. »Apropos Bell, wie läuft es mit Patrick?«

Jane zuckte die Achseln. »Colin und ich sind die Geschäftsführer. Patrick scheint glücklich zu sein. Er und Hetty haben mit der Renovierung an ihrer eigenen Herberge angefangen. Es ist viel Arbeit, aber die hast du hier ja auch.«

Er nickte. »Ich genieße sie aber. Jeden Morgen, wenn ich aufwache, überlege ich mir, was ich als Nächstes in Angriff nehme.«

»Das kann ich gut nachvollziehen. Schließlich arbeitest du jetzt nicht mehr für deinen Onkel oder für mich. Dies ist deine Farm, hier bist du dein eigener Herr.«

Er trat näher und nahm ihre Hand. »Es könnte unsere Farm sein, Jane – jedenfalls hoffe ich, dass sie es eines Tages sein wird.«

Sie neigte den Kopf und errötete vor Freude und Verlegenheit. Sie erinnerte sich noch gut an den Tag, an dem er ihr gesagt hatte, dass er Lanes Farm gekauft hatte, kurz nach Rachels und Sir Timothys Hochzeit. Es war auf dem Friedhof gewesen, sie hatte noch seine Worte im Ohr: »Ich gehe nicht weg, Jane. Ich liebe dich, egal, was die Zukunft bringt, und ich werde warten.«

Und er hatte gewartet, wie versprochen – ohne sie zu bedrängen oder das Thema ihrer Zukunft auch nur einmal anzusprechen. Bis heute. War sie bereit, den nächsten Schritt zu tun, auch wenn eine Heirat weitere Fehlgeburten mit sich brachte?

Unsicher, was sie antworten sollte, fragte Jane stattdessen: »Hast du genügend Leute für die vielen Reparaturen?«

»Fast. Ich würde gern die Kingsleys für die Unterkünfte der Arbeiter und die Ställe einstellen. Aber mein Onkel hat seinen Besuch angekündigt, und er ist selbst ein geschickter Arbeiter.«

»Hat er seine Meinung zu der Nachricht geändert, dass du jetzt deine eigene Farm hast?«

»Ja, ich habe seine volle Unterstützung.«

»Und deine Eltern? Du hast mir doch erzählt, dass sie gehofft hatten, du würdest Jura studieren.«

Er nickte und verschränkte seine muskulösen Arme. »Auch sie sind sehr zufrieden mit mir. Die Farm bedeutet doch sehr viel mehr Sicherheit, als wenn ich mein Leben lang für meinen Onkel arbeiten oder mich weiterhin mit dem riskanten Geschäft der Pferdewetten befassen würde. Ich würde sie dir gern vorstellen, Jane.« Er beobachtete sie aufmerksam und war neugierig, wie sie reagieren würde.

»Ich … ich möchte sie auch gern kennenlernen«, sagte Jane und hoffte, dass er ihr kurzes Zögern nicht bemerkt hatte. Nur zu gern wollte sie die Menschen kennenlernen, die den Mann aufgezogen hatten, in den sie sich verliebt hatte. Aber war ihre Zustimmung zu einem Besuch bei ihnen nicht gleichbedeutend mit dem Einverständnis, in die Familie einzuheiraten? Sie würden doch annehmen, dass Gabriel sich aus einem bestimmten Grund hier in Ivy Hill niedergelassen hatte und dass dieser Grund Jane war, die er ihnen jetzt vorstellte. Noch zwei Menschen, die sie enttäuschen würde. Menschen, die sich zweifellos nach Enkeln sehnten, so wie Thora es getan hatte.

Sie fragte leise: »Hast du ihnen schon von mir erzählt?«

Er nickte. »Ich habe ihnen gesagt, dass ich ihnen gern eine Frau vorstellen würde, die sehr wichtig für mich ist.«

Sie lachte auf. »Hast du auch erwähnt, dass ich dreißig bin und schon einmal verheiratet war?«

»Ich bin nicht so ungalant, das Alter einer Frau zu erwähnen, Jane.« Seine braunen Augen glitzerten belustigt, doch dann wurde er wieder ernst. »Ich habe ihnen gesagt, dass du John Bells Witwe bist. Sie kannten John und haben auch von dir gehört.«

»Oh.«

»Keine Angst, sie werden dich lieben. Wie ich auch. Du wirst die Tochter sein, die sie nie hatten.«

Freude stieg in ihr auf – trotz aller Angst.

Dann fiel ihr etwas ein. »Gabriel, ich muss dir etwas erzählen. Über meinen Vater. Er …«

»Mrs Bell.« Mr Mullins trat zu ihnen. Er lächelte sie an. »Ich wollte Ihnen danken, dass Sie ein gutes Wort für mich bei Mr Locke eingelegt haben. Das war sehr nett von Ihnen.«

Jane wandte ein, dass seine Dankbarkeit allein Mercy gebühre, die besser mit den Mullins bekannt war als sie. Der Mann ging wieder an seine Arbeit. Athena stampfte mit den Hufen, sie wollte weiter.

Gabriel runzelte die Stirn. »Was ist mit deinem Vater, Jane?«

»Ein andermal«, antwortete Jane. »Athena verliert die Geduld, und ich muss zurück ins Bell, bevor der Mittagsansturm einsetzt.« Sie hatte so lange gewartet, es ihm zu sagen, da spielten ein paar Tage mehr keine Rolle.

»Nun gut. Aber du besuchst mich hoffentlich bald wieder!«

»Versprochen.«

Er half ihr wieder in den Sattel und hielt einen Moment ihre Hände fest, als er ihr die Zügel reichte. »Lass von dir hören.«

»Du auch. Du bist jederzeit im Bell willkommen, das weißt du.«

Er presste die Lippen zusammen, in seinen Augen schimmerte ein unausgesprochenes Gefühl. Ärger? Enttäuschung?

»Ich weiß. Ich mache mich hier los, sobald ich kann.« Er hob die Hand und winkte ihr.

Auf dem Rückweg in die Stadt dachte Jane über ihren Schwager und Hetty Piper nach. Nach ihrer Verlobung mit Patrick hatte das ehemalige Zimmermädchen nervös gewirkt wegen des Aufgebots und hatte vorgeschlagen, lieber durchzubrennen. Patrick wollte sie anfangs noch überreden, in Ivy Hill zu heiraten, vor allem wegen seiner Mutter, doch nach einem Gespräch mit ihr hatte er sich hinter sie gestellt, ohne jedoch eine Erklärung für ihr Verhalten zu geben.

Thora hatte ihre Enttäuschung hinuntergeschluckt und angeboten, solange ihre Tochter Betsey zu nehmen. Etwa eine Woche später waren die beiden verheiratet zurückgekehrt und waren begierig gewesen, die Renovierung einer alten Herberge in Angriff zu nehmen, die sie in Wishford gekauft hatten. Jane vermisste Hettys Fröhlichkeit und auch Patricks ständige Anwesenheit im Gasthaus, doch sie freute sich für die beiden und wünschte ihnen alles Gute. Nichts an der Beziehung der beiden war nach traditionellem Muster verlaufen, doch wenigstens waren sie jetzt verheiratet.

Würden sie und Gabriel das, was zwischen ihnen lag, je überwinden und ebenfalls heiraten? Und wie in aller Welt sollte Mercy ihr Glück finden, jetzt, nachdem sie Alice und ihre Schule verloren hatte? Wenigstens Rachel und Sir Timothy – die jetzt seit drei Monaten verheiratet waren – wirkten vollkommen glücklich zusammen. Das war doch etwas. Hoffentlich würde es noch mehr solcher Happy Ends geben.

Als sie wieder im Bell war, sah Jane, wie Colin und Ned einen großen Koffer die Treppe hinaufwuchteten. Unten in der Halle stand ein weiterer.

Neugierig ging sie zum Empfangstresen und drehte das Gästebuch zu sich herum. Ein neuer Gast hatte sich eingetragen. Sie blickte auf die schwer zu entziffernde weibliche Handschrift und las M. E. Victore oder etwas Ähnliches.

Gleich darauf kamen Colin und Ned wieder herunter. Ned keuchte.

»Das waren aber große Koffer«, meinte Jane. »Waren sie so schwer, wie sie aussahen?«

»Halb so schlimm«, antwortete Colin.

»Doch, das waren sie«, sagte Ned, der noch immer schwer atmete.

»Ich brauche jetzt erst mal einen Schluck Wasser …«

Jane sah ihm nach. »Ein weiblicher Gast, nicht wahr?«

Colin nickte. »Ja. Und ein ziemlich hübscher dazu.«

»Reist sie allein?«

»Anscheinend. Allerdings hat sie gesagt, sie hätte Ivy Hill schon vor Jahren einmal zusammen mit ihrer Familie besucht.«

»Hat sie gesagt, ob sie geschäftlich hier ist oder wie lange sie bleiben will?«

»Nein.«

Es war ungewöhnlich, dass eine Frau allein reiste, zumal wenn sie eine Dame war. »Hat sie … ehrbar gewirkt?«, fragte Jane.

Colin zuckte die Achseln. »Ich glaube schon. Sehr höflich, sehr gut angezogen. Machen Sie sich Sorgen, dass sie verschwindet, ohne die Rechnung zu bezahlen?«

»Nicht bei diesen zwei schweren Koffern.«

»Stimmt.« Colin wollte ins Büro gehen, doch er drehte sich noch einmal um. »Ach, sie hat gefragt, wo sie hier einen Makler finden kann. Ich habe sie an das Büro von Arnold und Gordon verwiesen.«

»Sehr gut. Danke, Colin.« Jane fragte sich, was die Frau wohl von den Maklern wollte, doch sie behielt die Frage für sich.

Kapitel 4

Ornament

Am nächsten Tag saßen Jane und Rachel im Gastraum, tranken Tee und unterhielten sich. Ihre Hochzeitsreise hatten Rachel und Sir Timothy nach Schottland gemacht, zu Loch Lomond und den Trossachs, dem Gebirge, das durch Sir Walter Scotts Lady of the Lake berühmt geworden waren. Nach ihrer Rückkehr hatte Rachel schon bald ihre alte Gewohnheit wiederaufgenommen, wöchentlich zu einem Plausch mit Jane ins Bell zu kommen.

Jane freute sich, dass die Ehe Rachels Interesse an ihrer Freundschaft keinen Abbruch getan hatte, und hörte interessiert zu, als sie ihr laut eine Passage aus einem Brief ihrer Schwester Ellen vorlas, die von ihrem neuen Baby schrieb. »Dein jüngster Neffe ist kahl und zahnlos und immer hungrig. Er erinnert mich an Papa …«

Beide lachten, dann fragte Rachel: »Hast du kürzlich mit Mercy gesprochen? Ich habe ihren Bruder und seine junge Frau in der Kirche gesehen und mich gefragt, wie es ihnen wohl geht.«

»Ich habe sie nur ganz kurz gesehen, aber sie meinte, sie wollte heute vorbeikommen, wenn sie es zeitlich schafft.«

»Oh – gut.« Rachel nippte an ihrem Tee, beugte sich vor und fragte: »Gibt es Neuigkeiten über dich und Mr Locke?«

Jane hatte ihr kurz nach ihrer Rückkehr von Gabriels Antrag erzählt und ihr auch gesagt, warum sie zögerte, ihn anzunehmen.

Jane nickte. »Er hat das Gespräch gestern aufs Tapet gebracht. Er möchte mich seinen Eltern vorstellen.«

Rachel strahlte sie an. »Oh Jane, ist das schön! Ein gut aussehender Ehemann und ein Gestüt. Du wirst von Pferden umgeben sein und reiten und springen, so oft du willst. Du wirst alles haben, was du dir je gewünscht hast.«

»Nicht alles.«

Rachel drückte ihre Hand. »Es tut mir leid, Jane. Aber könnte es nicht sein, dass es diesmal anders wird? Es gibt immer Hoffnung, oder nicht?«

Jane zuckte mit den Achseln. »Bei Gott sind alle Dinge möglich. Aber bei meinem Körper? Ich glaube nicht, aber ich danke dir für deine ermutigenden Worte. Wenn ich Gabriel heirate, wird das hoffentlich nicht zu unserer Entfremdung führen – weil du mit einem Baronet verheiratet bist und ich mit einem einfachen Farmer.«

»Natürlich nicht. Timothy schätzt deinen Mr Locke sehr. Er teilt seine Leidenschaft für Pferde. Sie werden großartig miteinander auskommen. Und Lady Brockwell wird beschwichtigt durch die Tatsache, dass Mr Locke jetzt Grundeigentümer ist. Sie wird ihn vielleicht nicht gerade nach Brockwell Court einladen, aber sie wird wenigstens höflich zu ihm sein.«

Jane sagte sanft: »Du bist jetzt Lady Brockwell, weißt du.«

»Ich weiß, aber es ist schwierig, meine Schwiegermutter als Lady Barbara zu sehen. Sie hat mich gebeten, sie nicht Mutter Brockwell zu nennen – sie sagt, dann fühlt sie sich so alt. Und das Wort Witwe gefällt ihr auch nicht.«

»Und wie geht es Justina?«, fragte Jane. »Ich habe sie schon lange nicht mehr gesehen.«

Rachel überlegte. »Es geht ihr eigentlich ganz gut, aber sie macht sich Sorgen um ihre Zukunft. Sie würde ihrer Mutter gern den Gefallen tun, Sir Cyril zu heiraten und die Herrin in seinem schönen Haus zu werden, aber ich glaube nicht, dass ihr Herz ihm gehört. Und was ihn angeht – er streicht um sie herum wie eine Katze um den Milchtopf.«

»Was sagt denn Timothy dazu?«

»Nicht viel. Er ist sich mit seiner Mutter einig, dass Sir Cyril ein Mann von untadeligem Charakter ist, und wenn diese Verbindung sowohl seine Mutter als auch seine Schwester glücklich machen kann, dann ist er dafür. Zum Glück hat er Sir Cyril gebeten, noch ein Jahr zu warten, bevor er Justina einen Antrag macht.«

Rachel hob ihre Tasse an die Lippen und setzte sie dann wieder ab. »Ach, schau mal, da ist Mercy.«

Jane drehte sich um und winkte ihr zu. »Komm, setz dich zu uns.«

Mercy trat mit einem Päckchen in der Hand zu ihnen. »Ich habe auf dem Weg hierher noch rasch bei Fothergills vorbeigeschaut.«

»Fothergills?«, wiederholte Jane. »Es geht dir doch hoffentlich nicht schlecht?«