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Yevgenia
Belorusets

Glückliche Fälle

Aus dem Russischen von Claudia Dathe

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Diese und alle weiteren Arbeiten stammen
aus Yevgenia Belorusets’ Fotoserien »Der Krieg
im Park« (2017) und »Und ich behaupte:
Der gestrige Tag hat noch nicht begonnen« (2017).

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Inhalt

Vorwort

Vorwort, Interview (Der Kiefer des Schicksals)

Die Menschen, die ich getroffen habe

Die Nadel im Hemd

Die die Kinder im Handschuh fängt

8. März. Die Frau, die nicht mehr laufen konnte

Zwei Frauen auf der Gangway. Das Einsteigen stockt. 9. März. Kiew

Die erkrankte Frau

Die Floristin

Die Nagelstylistin

Meine Schwester

Die Geschichten der Nachbarn

Eine Frau findet Arbeit

Die Frau mit dem kaputten schwarzen Schirm

Die Wahrträumerin

Die Einsame

Lena in Gefahr

Chronik eines Aufstands

Die Macht der Zeit

Elena

Scheitern

Die Zauderin

Sterne

Verwandlungen

Flieder

Die Frau bei der Kosmetikerin

Die Schwestern

Philosophie

Verlockende Lichter

Drei Klagelieder

Zum Beispiel

Ein Aufruf oder Skizzen zu einer Autobiografie

Die naive Frau

Eine kurze Erklärung des Wartens

Vorwort

Ohne was ist nicht auszukommen?

ohne Bleistift

ohne Stadt

ohne Straße

ohne dich

Was ist nicht zu messen?

mein Lächeln

deine Fürsorglichkeit

unser gegenseitiges Missverstehen

Woran glaube ich?

ich glaube, dass man an nichts endgültig glauben kann. Der bloße Versuch ist sinnlos. In Wirklichkeit tun wahrscheinlich alle nur so, als würden sie glauben.

Als eine Protagonistin in meinem Fotoprojekt, an dem ich von 2016 bis 2018 im Osten der Ukraine gearbeitet habe, die sowohl Teilnehmerin als auch Fotografin war, dieses Wortspiel begann, habe ich dieses Spiel zu ihrer besten Arbeit, zu ihrem besten Bild erkoren.

Getrennt von einer Abbildung, fixiert in Form einiger Verse, spricht es über etwas, lädt mich zu etwas ein.

Sie haben eine Sammlung von Texten vor sich, die eine fotografische Tiefe haben, etwas, das sich der endgültigen Kontrolle durch die Autorin entzieht: die Materie von Gewesenem, von Begegnungen, Gesprächen, Geschichten. Wenn ich fotografiere, sehe ich es grundsätzlich nicht als meine Aufgabe an, technische Bilder in dem Sinne herzustellen, wie Vilém Flusser Fotografie charakterisiert. Mich interessiert die Arbeit mit Erinnerungen, mit der Möglichkeit, diese Erinnerungen mit Hilfe eines Fotos zu formen, das zwar den Anspruch auf Wahrhaftigkeit erhebt, zugleich jedoch jemandes Idee, Zugang, Eindringen in den Alltag repräsentiert.

Meine ganzen vorherigen Foto-Text-Arbeiten waren ein Versuch, die verschiedensten historischen Kontinente innerhalb der Ukraine festzuhalten, das, was trotz seines Umfangs und seiner Größe im Schatten bleibt und nicht zu sehen ist.

Die inhaltlichen Linien dieses Buches, von denen zwei fotografischer Art sind, widmen sich nicht den Umbruchsgeschichten der Gegenwart, sondern, wie man beim flüchtigen Hinsehen glauben könnte, ihren Rändern. Genauer gesagt einem tieferen Eindringen der traumatischen historischen Ereignisse in die Fantasie und Alltagserfahrung.

Mindestens drei separate Themen, die indirekt mit dem Konflikt im Donbass zu tun haben, behandeln nicht den eigentlichen Konflikt, sondern seine dialektische Überwindung – durch Phantasmagorie, Erzählung, Gespräch und Ausstellung der Situation.

Das Unbedeutende und Kleine, das Zufällige und Überflüssige, das Verdrängte stehen im Mittelpunkt meines Interesses, weil es niemals zu einem Objekt der Beute werden wird, von der Walter Benjamin in seinem Essay Über den Begriff der Geschichte schreibt, die Beuteobjekte, die die Sieger aus der Gegenwart in die Zukunft mitnehmen, aus denen sich – wie aus Ziegelsteinen – das historische Narrativ der Herrschenden zusammensetzt.

Der Leser kann selbst entscheiden, ob in diesem Band das Dokument (der Zeit, des Status quo, der Emotionen und Einstellungen) die fiktionale Sprache vereinnahmt, eine Sprache also, die die Wirklichkeit wieder und wieder vereinfacht und auf sie rekurriert.

Hier erklingen die Sprachen verschiedener Personen und treten miteinander in Konflikt, mehr noch, Fotos und Texte treffen aufeinander, sind jedoch nicht in der Lage, sich gegenseitig zu erklären oder zu illustrieren. Der Kunst der Designerin Uljana Bytschenkowa ist es zu verdanken, dass sie koexistieren müssen, und zwar vor allem deshalb, damit keine Idee, keine Stimme, insbesondere nicht die der Autorin, die anderen dominiert.

Eine der beiden Fotoserien ist die Schwarz-Weiß-Fortsetzung meiner mehrjährigen Fotoarbeit in den Bergwerken der Ostukraine, die noch immer betrieben werden, obwohl sie mitten in der Konfliktzone liegen. Diese kleine Serie hingegen ist in Nowowolynsk entstanden, einer kleinen westukrainischen Stadt weit weg vom Kriegsgebiet, in der Nähe der polnischen Grenze. Dort ist eine ähnliche Produktionskultur wie im Donbass anzutreffen, die in diesem Buch mit Abbildungen dokumentiert ist, welche auf ein flimmerndes Wissen verweisen, aber schweigsam bleiben.

Sowohl mit den Fotoreihen als auch mit den Texten möchte ich zeigen, wie das Aufeinandertreffen unterschiedlicher Kontexte die Sprache auflädt und umformt, was in einer Absage an den Einsatz von jeglichen Instrumenten der Vergewisserung resultiert.

Die Protagonistin des Fotoprojekts, mit deren Worten ich dieses Vorwort eingeleitet habe, taucht im Buch wieder auf. Es ist einfach und zugleich unmöglich, sie zu erkennen, denn die Art zu sprechen, die sie für sich entdeckt hat, ist zur Grundlage meines eigenen Sprechens geworden.

Vorwort, Interview (Der Kiefer des Schicksals)

Die Arbeit an dem Vorwort hat mich mehrere Monate lang in Anspruch genommen. Mein vordergründiges Anliegen bestand darin, das Buch wissenschaftlich auszurichten. Dazu wollte ich die dokumentarische Methode zunächst kurz umreißen, sie – wenn nicht vollkommen verwerfen, so doch zumindest scharf kritisieren, dann zu einem rhetorischen Kniff greifen und – unter Verweis auf die prägnante Äußerung einer Bekannten – erklären, warum der Ansatz der Aktualität der dokumentarischen Methode deutlich überlegen ist, wenngleich nicht in jeder Hinsicht.

Ich glaube, nach unzähligen Überlegungen und Einsichten, die der Verzweiflung bedrohlich nahe kamen, die Grenze jedoch nicht überschritten, habe ich es geschafft, ein Vorwort zu schreiben, von dem man sich nur schwer losreißen kann. Noch jetzt zittern mir die Hände, wenn ich an dieses Musterbeispiel für einen in eine grandiose Form gekleideten Inhalt denke.

Das ferne Läuten, das ein Alkoholiker im Lärm der frühmorgendlichen Schnellstraße hört und das wir als »knackender Kiefer des Schicksals« kennen, erinnert in seiner Schönheit und Unnahbarkeit an den Rhythmus, der diesen Text prägt.

Bei genauerer Betrachtung stellt sich heraus, dass für Ausführungen dieser Qualität der Begriff des Vorworts viel zu eng gefasst und zu Unrecht beschränkt ist. Ausführungen wie diese verdienen eine Sonderstellung: Sie sollten die Grundlage für alles Weitere bilden, aber keinesfalls veröffentlicht werden (falsches Ziel!).

Verkaufen sollte man das Vorwort ebenfalls nicht. Vielleicht kann man es gegen Kulturgüter tauschen und denjenigen zur Erbauung aushändigen, die wenigstens teilweise satt sind; Hungrige könnte das Vorwort immerhin einige Zeit von ihren Gedanken an das Essen ablenken. Ich habe das allerdings vor kurzem selbst ausprobiert und muss gestehen, dass mich das Vorwort nicht abgelenkt hat – leider, leider. In einem der folgenden Kapitel komme ich noch einmal auf diese von mir gemachte Erfahrung zurück und beschreibe sie genauer.

Jetzt muss ich aber unbedingt noch ein Ereignis erwähnen, das mich kürzlich, gestern erst, ereilt hat.

Ich lebe in einem Problemviertel, obwohl der Stadtteil von außen betrachtet gutbürgerlich wirkt, vielleicht ist er der nobelste in ganz Kiew. Aber ich weiß genau, dass sich hinter diesem äußeren Wohlstand ein tiefer, offensichtlicher Mangel verbirgt. Wie kann denn etwas Kaschiertes offensichtlich sein? Kann es natürlich nicht. Und trotzdem frappiert die Unverblümtheit dieses Mangels jeden, der sich entschließt, ihn zu entdecken. Man muss allerdings ehrlicherweise zugeben, dass diese Art von Entschlossenheit in unserer Gesellschaft immer noch eine große Seltenheit ist.

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Kein Wunder, dass ich zusammenfuhr, als ich gestern Abend vor unserem Hauseingang – die schwache Birne, die wenigstens einen schmalen Streifen vor dem Haus und die Stufen vor der Tür beleuchtet hatte, war vor kurzem herausgedreht worden – zuerst einen langen Schatten und kurz darauf eine sich vor der im Schwarz verschwimmenden Hauswand abzeichnende Gestalt sah, die mir drohend eine riesige Hand entgegenstreckte.

Die Stimme, die mich ansprach, war indessen weich und angenehm. Eine hohe, melodiöse Stimme, getrimmt auf eine weiche, impulsive Intonation. Vor mir stand eine Frau, die mir erklären wollte, sie hätte schon lange die Begegnung mit mir gesucht, um mir ein paar Fragen zu stellen.

»Vielleicht schaffe ich es ja, aus Ihren Antworten so etwas wie ein Interview zusammenzustückeln«, sagte sie unsicher. »Aber höchstwahrscheinlich kriege ich das nicht hin. Ich muss zugeben, meistens gelingt es mir nicht, meine Ideen umzusetzen. Meine ganzen Pläne, Wünsche, Absichten, Ziele – sie scheitern, gehen schief. Aber schenken Sie mir doch trotzdem ein paar Minuten Ihrer Zeit, um meine Fragen zu beantworten. Das ist nicht schwer, glauben Sie mir, Sie haben die Fragen ja vor sich, meine Aufgabe – nämlich sie zu formulieren – ist viel schwerer.«

Mir blieb nichts weiter übrig, als sie zu einer Tasse Kaffee einzuladen und mir ihre Fragen anzuhören, die mich schon aufwühlten, ehe ich sie gehört hatte.

Die ganzen ukrainischen Journalisten, besonders diejenigen, die sich aus für mich nicht nachvollziehbaren Gründen für Kunst und Literatur interessieren, missbrauchen in der Regel ihre Freiheit, und zwar auf ganz und gar empörende Art und Weise. Aber da zu diesem Zeitpunkt mein schön geschriebenes und abhanden gekommenes Vorwort zu diesem Buch verloren, unwiederbringlich und unrettbar verloren war, hoffte ich, das kurze Gespräch mit der fremden Journalistin würde mich auf andere Gedanken bringen, die ich statt des Vorworts den übrigen Texten voranstellen könnte. Obwohl ich natürlich nur zu gut verstand, dass ein solcher Dialog nicht einmal einen Bruchteil der Fragen berühren würde, die in einem authentischen Vorwort zu einem Buch wie diesem unbedingt beantwortet oder doch immerhin erwähnt werden sollten. Aber ich hatte keine Wahl.

Und weil mein originäres Vorwort sich als publikationsuntauglich erwiesen hatte, musste ich auch von meinem ursprünglichen Titel Abstand nehmen, der ausgesprochen lehrreich und tiefsinnig war und wie folgt lautete:

DIE GESCHICHTE DER STEUERN

Gefolgt vom Untertitel auf der nächsten Seite:

Fragmente der Arbeit Die frühe Geschichte der Menschheit.

Etwas Besseres als diesen Titel werde ich definitiv nicht mehr finden, so viel ist klar. Die »Geschichte der Steuern« schließt alle Formen des Lebens ein, und zwar nicht nur den Menschen, sondern auch die übrigen Vertreter der Fauna, und schafft aus der literarischen Recherche und der wissenschaftlichen Fundierung ein großes Ganzes. Der Untertitel Die frühe Geschichte der Menschheit erlaubt es wiederum, den Inhalt des Buches zu beschränken und ihn auf die Geschichte meines Landes einzugrenzen, denn hier und nur hier nimmt die Geschichte der Menschheit – wie auch immer sie gestaltet sein mag – ihren Anfang.

Aber was bleibt mir übrig? Schließlich kann ich trotz dieses empfindlichen Verlustes die Kontrolle über die Geschehnisse keinesfalls aus der Hand geben, die Zügel loslassen, den Griff lockern, dem Buch einen Titel verweigern! Tausende Gedanken gehen mir in diesem Moment durch den Kopf, und aus ihrem Strom höre ich etwas angenehm Entferntes und Stilles heraus.

»Sie schweigen«, ließ Andrea sich vernehmen, »und ich kann mich der Ahnung nicht erwehren, dass Sie nur aus Mitleid eingewilligt haben, mit mir zu sprechen, eigentlich aber denken, dass unser Gespräch zu nichts führen wird. Das deckt sich mit meinen Befürchtungen, denn meine Pläne und auch Unternehmungen gehen wie gesagt meistens schief. Ich schreibe für kleine Lokalzeitungen, die hier in Kiew keiner kennt. Die Norddonezker Nachrichten zum Beispiel lehnen meine Artikel einen nach dem anderen ab. Das ist ihr gutes Recht, schließlich habe ich vorher für Altschewsk am Abend, Lichter und etliche andere Blätter geschrieben, die im Übrigen auch fast alle meine Artikel und Anfragen abgelehnt haben. Nach unzähligen Diskussionen und Absagen habe ich den Nachrichten eine ständige Rubrik angeboten, die ›Tagebuch einer Betroffenen aus Altschewsk‹ heißen sollte, aber die Redakteure haben die Anfrage, ohne mich auch nur richtig anzuhören, ebenfalls abgelehnt mit der Begründung, der Titel könnte von den Lesern falsch verstanden werden und ein schlechtes Licht auf die Zeitung werfen.«

»Was soll ich denn machen, wenn die Artikel, die ich schreibe, keiner liest?«, fuhr sie fort. »Manchmal kommt es mir schon so vor, als hätte ich noch nie einen Artikel geschrieben, als wäre ich gar nicht in der Lage zu schreiben. Beobachten – ja, das kann ich hervorragend. Aber schreiben kann ich eigentlich nicht, und ich will diese Kunst oder Meisterschaft auch gar nicht lernen, wenn alles nur auf Lüge, Selbstbetrug und blinder Täuschung beruht.«

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»Wie ich sehe« – sie ließ mich überhaupt nicht zu Wort kommen – »sitzen Sie hier in Ihrer gemütlichen Wohnung, sind mit sich zufrieden, genießen Ihre Freizeit oder schmieren mit beneidenswertem Eifer einen Artikel nach dem anderen hin, kombinieren, bringen eins mit dem anderen in Verbindung und kriegen wahrscheinlich nicht mal mit, wie sinnlos und dumm das ist, was Sie da tun und sich zusammenreimen. Sie brauchen sich nicht vor mir zu fürchten! Gehen Sie mal in sich! Sie hatten Ihre Chance, aber Sie haben sie vertan! Schlimmer noch: Von Tag zu Tag, von Woche zu Woche wird Ihre Schale dicker, Sie sind schon so weit – da schüttelt es mich vor Ekel –, dass Sie sozusagen an sich selbst glauben, und jetzt erwarten Sie, dass ich, ein wildfremder Mensch, ein Mensch, der viel durchgemacht, der viel mehr gesehen hat als Sie, dass ausgerechnet ich und kein anderer Ihnen zuvor ausgearbeitete Fragen stelle, Fragen, die mir schlaflose Nächte bereitet haben, an deren Formulierung ich sogar im Schlaf gefeilt habe und während ich mit meiner Tochter an den Hausaufgaben saß! Ein cleveres Kalkül! Mit widerlicher, ekelerregender Naivität haben Sie vorhergesehen, dass ich einknicke, meine Fragen preisgebe, die es Ihnen erlauben, zum wiederholten Mal auf schamlose Weise Ihre sogenannten Antworten kundzutun, in fremde Gefilde vorzudringen, Aussagen zu treffen, mit denen Sie auch dieses Mal voll und ganz zufrieden sein werden!«

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»Sie versuchen rauszukommen? Das hat keinen Sinn! Ich habe das auch versucht, habe versucht wegzugehen, umzuziehen nach Lwow, nach Kiew, irgendwohin. Aber Sie kommen ja nicht weg. Irgendwann gibt es keine Autos mehr, die die Stadt verlassen, dann kriegen Sie mit, dass die Fernbusse und Marschrutkas auch längst nicht mehr fahren, und Sie merken, dass Sie für immer da bleiben müssen, wo Sie eigentlich nur waren, um früher oder später wegzugehen. Sie sitzen fest, Sie sind eine Geisel, eine Gefangene der Umstände und der Menschen, wie in diesen Filmen, die Sie früher geschaut haben, nur dass Sie jetzt unfreiwillig selbst zum Schauspieler geworden sind und zu Ihrer Verwunderung feststellen müssen, dass es keine erbärmlichere und herzlosere Kunst gegeben hat und gibt als das moderne Kino, das ganze moderne Kino, Dokumentarfilme eingeschlossen. Denn wenn Sie sich plötzlich in einem Film wiederfinden, egal ob Komödie, Melodram, Dokumentar- oder Kriegsfilm, empfinden Sie diesen Film zu Ihrer eigenen Verwunderung als unsäglich langatmigen, bedrückenden, ätzenden Albtraum. Und gern, aufrichtig gern würde ich glauben, dass dieser Albtraum wie jeder normale Film eine Handlung hat, einen Höhepunkt, eine Lösung und sogar einen Epilog, aber soweit ich sehe, ist das nicht der Fall. Nichts entwickelt sich nach dem doch scheinbar jahrhundertelang bewährten Muster. Und nun machen Sie sich auf das Nächste gefasst. Damit ich Ihnen dafür hieb- und stichfeste Beweise liefern kann – ich sehe Ihr heuchlerisches Gesicht, Sie nicken, obwohl Sie mir kein Wort glauben –, habe ich beschlossen, für eine Zeitlang bei Ihnen einzuziehen, nicht einfach nur zu übernachten, sondern richtig bei Ihnen zu wohnen, um sozusagen Ihr Leben zu leben und mir anzusehen, wie es um Ihren ganzen Einsatz tatsächlich bestellt ist: um Ihr Engagement, Ihre Prahlerei und Ihre Bereitschaft, einen wildfremden Menschen, der sich Ihnen gegenüber nichts hat zuschulden kommen lassen, dazu zu bringen, Ihnen Fragen zu stellen, damit Sie sich, auf dem Stuhl lümmelnd und an die Decke starrend, dazu herablassen können, darauf zu antworten, als wäre der Mensch wie unter Folter dazu gezwungen, diese Fragen zu formulieren, sie aufeinander abzustimmen, zu stellen und darauf zu warten, dass jede Frage von einer Antwort gekrönt wird wie jede Aktion von einer Reaktion, die Wurzeln von einem Stängel und das Schicksal von Charakter.«

Die Menschen, die ich getroffen habe

Ungefähr in der Mitte des begrenzten Raums, den mein verwunderter Blick erfasste, mitten auf einer stillen, im Herbstnebel versinkenden Straße döste ein Mann, über den jemand fürsorglich eine Decke gebreitet hatte.

Die Haltung dieses Menschen ist eigentlich die Zusammenfassung dieses Buches.

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Die Nadel im Hemd

Es war einmal eine Frau, nett, freundlich und angenehm in allen Dingen. Klug und schön sei sie, sagten die einen. Andere hoben sie gar in den Himmel. Sie lebte in Kiew, in der Malaja-Schitomirskaja-Straße, und hatte jeden Tag Freude daran, die Straße hinabzulaufen, nicht jedoch, sie hinaufzusteigen. Sie lief gern hinunter, stieg aber ungern hinauf, so einfach war ihr Charakter. Sie war dreißig, vielleicht auch vierzig oder fünfundzwanzig Jahre alt. Im Schein der abendlichen Straßenlaternen wirkte sie wie vierzig, und früh am Morgen, besonders wenn man sie von hinten sah und wusste, dass sie im Konsum Milch kaufte, sah sie beinahe aus wie ein Kind.

Was lässt sich noch über sie berichten? Sie war ordentlich, aufmerksam, herzlich. Am Wochenende besuchten sie die Kinder einer engen Freundin, sie spielte mit ihnen, während die Freundin zu ihren Verabredungen lief. Ich habe noch keine Kinder, sagte die Frau, also schenke ich diesen Kindern meine Liebe und Zuwendung.

Manchmal sagte sie wunderbare Dinge! Oft klagte sie: Ich bin müde. Sie sprach die drei Wörter in einem ganz bestimmten Ton aus, viele Male hintereinander. Wir hörten diesen einen Satz, mit einer fast identischen Intonation, und doch spürten wir den Unterschied im Klang der einzelnen Wörter sehr deutlich. Wir genossen den Unterschied. Wer sind wir überhaupt? So viel ist sicher: Wir sind nicht die Krumen, die bei ihr unterm Brotkasten liegen. Und nicht die drei Tropfen Blut, die die Nachbarin auf der Türschwelle der Frau hinterlassen hat.

Aber zurück zu unserer Geschichte. Eines Abends saß die Frau in ihrer gemütlichen Wohnung und erledigte eine normale Hausarbeit, sie nähte. Einiges hätte schon lange ausgebessert werden müssen, an einem Mantel war ein Knopf locker. Und als sich die Frau dann tatsächlich anschickte, schlafen zu gehen, zog sie sich aus, stellte sich vor den Spiegel und seufzte. Schon seit einer geraumen Weile sehnte sie sich danach zuzunehmen, ein paar Pfund zuzulegen, und an diesem Abend hatte sie den Eindruck, als stünden ihre Rippen nach allen Seiten ab wie die Speichen eines kaputten Rades. Als der Frau diese Ähnlichkeit auffiel, stieß sie einen langgezogenen Ton aus: U-u-u-u. Und griff sofort nach dem hellen, lockeren Hemd, ihrem Lieblingshemd für Tag und Nacht, das an der lackierten Schranktür baumelte; sie streift es über und plötzlich sieht sie, dass da rechts neben der Brust ein kleiner Schlitz klafft. Und was glauben Sie?

Eine Frau wie sie würde selbst den klitzekleinsten Riss in ihrem Nachthemd nicht unbeachtet lassen. Also nahm sie eine hauchdünne Silbernadel, fädelte einen edlen weißen Faden ein und machte sich ans Werk: Stich um Stich. Jedes einzelne Nahtstück geriet sauber und akkurat und genoss die weißen gepflegten Finger und die bläulichen, perfekt manikürten Nägel.

Sie ahnen wahrscheinlich, was dann passierte. Es kam, wie es kommen musste. Diese wunderschöne, makellose Frau mit dem feinen Teint, den weißen Händen, goldenen Haaren und dem weichen Lächeln von roten Lippen vergaß die Nadel im Hemd. Ihr Vorhaben hatte sie ausgeführt, den Riss neben der Brust sorgfältig verschlossen, aber die Nadel hatte sie schier aus ihrem Kopf gestrichen, ja, nicht einmal den Faden hatte sie abgeschnitten, sondern nach einem weiteren Stich die Nadel mit einer routinierten Bewegung in den zarten Stoff gestoßen und sie dort stecken lassen – knapp neben ihrem Herz.

Eine verblüffende Geschichte.

Schauderhaft.

Es verschlägt uns die Sprache, aber wir können nichts tun.