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INHALT

Vorwort

Ein Student, seine Vision und eine bittere Bilanz

1. Falsche Weichenstellungen
oder wie entsteht ein Perfect Storm?

Die frühe Warnung meines Vaters

„Wenn Sie was können, dann kommen sie zu uns!“

Tanzen auf zu vielen Hochzeiten

Der Mentor als Vorbild?

Die Prämie und die Illusion der Unabhängigkeit

2. Die Todsünden als Ursachen des Scheiterns

Stolz und Hochmut

Das „Ich bin wichtig“-Prinzip

Das „Darauf habe ich Anspruch“-Prinzip

Auf Augenhöhe mit den Mächtigen

Narzissmus

Gier

Die Droge der öffentlichen Anerkennung

Materielle Gier und ihre Irrwege

Die Gier nach Macht

Wenn Gier kriminell wird

Neid

Wollust

Maßlosigkeit

Zorn

Acedia – Die Unfähigkeit, im Augenblick zu sein

3. Die sieben Stufen zur Erkenntnis

Leugnen, Zorn und Reaktanz

Depression

Zusammenbruch und Einsicht

Zwischenland

Die Rettung: Eine Behindertenwerkstatt und ihre Menschen

Selbsterkenntnis

4. Was bedeutet Scheitern?

Scheitern … und dann?

Mut zum Scheitern

Vom Tabu zur Lernchance

Vom Sockel gestoßen

5. Kann ein Manager in den Himmel kommen?
Die Kardinaltugenden als Kompass

Eine Scheinwelt voller Legenden

Klugheit

In drei Phasen zu einer Entscheidung

Was Klugheit beinhaltet

Mäßigung

Charakterstärke und Disziplin

Bescheidenheit schafft Kontinuität

Tapferkeit – Stark sein in jeder Lebenslage

Würde ist keine Frage des Schicksals

Mut

Gerechtigkeit

Topmanager und soziale Gerechtigkeit

Ungerechtigkeit nicht hinnehmen

Gerechtigkeit und Unternehmenskultur

Ehrlichkeit

Demut

Glaube, Hoffnung und Liebe

6. Wie finde ich die Kraft, um wieder aufzustehen?

Ein neuer Sinn

Strategien für einen Neuanfang

Mit der Scham umgehen

Die Bedeutung des Glaubens

Verantwortung vor Gott

Halt und Kraftquelle

Innere Balance und mentale Stärkung

Neue Ziele

Physische Erholung

Formen des Neustarts

Graduelle Neuausrichtung

Reset: Der vollständige Neustart

Inhaltlicher Reset

7. Stolpersteine nach dem Wiederaufstehen

Öffentliche Stigmatisierung

Von der Schuld- zur Schamkultur

Die Schuldfalle

8. From Heaven to Hell
… oder Umgekehrt

Das Gefühl der Stärke

Befreites Leben

Von Acedia zum Leben im Augenblick

Glück, Dankbarkeit und Demut

Epilog

Für Engel Nr. 1

Ever tried. Ever failed. No matter.
Try again. Fail again. Fail better.
Samuel Beckett

VORWORT

Bis zu jenem 14. November 2014 hätte ich es für völlig ausgeschlossen gehalten, dass ich mich jemals mehr als nur beiläufig mit dem Scheitern eines Lebensmodells an sich und insbesondere mit meinem eigenen Scheitern und dessen Ursachen befassen würde.

Ich hatte, da war ich mir sicher, mein Leben im Griff, es war jahrzehntelang zuverlässig und geradezu wie auf Schienen verlaufen. Trotz einiger kleinerer Rückschläge kannte ich eigentlich nur eine grobe Richtung: vorwärts-aufwärts. Und das in hoher Geschwindigkeit und mit großer Intensität. Ich hatte ein einflussreiches, internationales Netzwerk geknüpft und besaß internationale Reputation. Ich glaubte mich wirtschaftlich unangreifbar und mein Privatleben geordnet.

Doch im Laufe der Entwicklung, die die Dinge nach dem 14. November 2014 nahmen, musste ich mir mein totales Scheitern eingestehen. Der Weg dorthin war ein schmerzhafter Prozess. Ich musste begreifen, dass die Ursachen vielfältig waren und dass ich allein sie zu verantworten hatte. Auch wenn die Ursachen zum Teil schon Jahrzehnte zurücklagen.

Je länger ich über die Gründe für das Scheitern meines Lebensmodells nachdachte und versuchte, daraus allgemeingültige Antworten abzuleiten, desto deutlicher wurde mir, dass es dazu in der Literatur kaum klare Aussagen oder theoretische Erklärungsansätze gibt. Viel wichtiger noch: Es gibt kaum Persönlichkeiten, die bereit sind, ihr Scheitern öffentlich einzugestehen und offen über dessen Ursachen zu sprechen. Dies gilt für Menschen aller gesellschaftlichen Schichten und für Spitzenpolitiker ebenso wie für Wirtschaftsführer.

Scheitern ist ein Tabuthema.

In die Öffentlichkeit gelangen in der Regel nur jene Fälle, die besonders spektakulär oder an prominente Personen gebunden sind. Dabei kann ein Scheitern auch in einem Skandal impliziert sein und Unternehmen betreffen wie im Falle des „Dieselgate“, der Verstrickungen der Deutschen Bank oder die Cum-Ex-Geschäfte; ein Eingeständnis der Verantwortlichen, dass sie oder ihr Konzept gescheitert seien, bleibt in der Regel aus.

Deshalb fasste ich den Entschluss, mich systematisch mit meinem Scheitern auseinanderzusetzen. Zum einen wollte ich verstehen, was dazu führte, dass mein Leben quasi über Nacht implodierte. Zum anderen möchte ich einer jüngeren Generation diese Erkenntnisse vermitteln, damit sie aus meinen Fehlern lernen kann. Aus Fehlern, die zum Teil viele Jahre vor dem eigentlichen Eklat lagen, aber das ihre zu dem Ergebnis beitrugen.

Und vielleicht kann dieses Buch Betroffenen, die sich in einer ähnlich herausfordernden Lage befinden, wie ich sie erlebt habe, Mut machen und einen neuen Weg aufzeigen. Es soll Mut machen, wo er zu versiegen droht. Es soll zeigen, dass trotz aller Härten, Schmerzen und Entsagungen, die mit einem Scheitern verbunden sind, auch eine große Chance wartet; die Chance, die Gott jedem gewährt, sich selbst und sein Leben zu verändern.

Deshalb bekenne ich zuallererst: Ich bin schuldig. Schuldig an meinem Scheitern.

EIN STUDENT, SEINE VISION UND EINE BITTERE BILANZ

Ein heftiger Herbststurm peitschte schwere Regentropfen gegen das Fenster, die feuchte Kälte der Novembernacht schien ihren Weg ins Innere meines Zimmers in einem Münsteraner Studentenwohnheim gefunden zu haben. Mich fröstelte. Mein Blick fiel auf meine Armbanduhr, die Zeiger standen auf 2:45 Uhr. Seit Stunden schon diskutierte ich mit einem Freund, und unsere Debatte wurde umso hitziger, je mehr sich das Thema von studentischen Alltagsfragen dem Sinn des Lebens und unseren Prinzipien und Idealen zuwandte. Es war das Jahr 1975, jene Zeit, in der man als junger Mensch die Welt am liebsten täglich neu erfinden wollte.

Ich hatte mich parallel in den Studiengängen Betriebswirtschaftslehre und Publizistik an der Westfälischen Wilhelms-Universität eingeschrieben. Ich wollte Manager werden, Karriere machen, das war schon seit meiner Jugendzeit mein berufliches Ziel. Dann gab es da allerdings auch noch diesen Traum: ein unabhängiges Leben als Buchautor, mit einem Schreibtisch in einem irischen Landhaus, in dem im Kamin stets ein wärmendes Feuer brennt, zu meinen Füßen ein Irish Setter.

Um diesen Traum ging es allerdings nicht in jener nasskalten Novembernacht, und an den Wortlaut unserer engagierten Debatte erinnere ich heute, 44 Jahre später, auch nicht mehr im Detail. Worum es mir aber ging, was damals mein zentrales Anliegen war, das weiß ich noch immer genau: Es ging um das, was ich das „Ich-bin-ich-Prinzip“ genannt hatte. Es beschreibt, wie ich mich selbst als Mitglied der Gesellschaft sah, welche Rolle ich übernehmen und wie ich meine Aufgaben erfüllen wollte. Nämlich so: Meine Werte würden die Richtschnur meiner Tätigkeit sein, als Manager sowie im privaten Umfeld. Nichts anderes würde mich zeitlebens leiten oder verleiten. Ich würde meinen Überzeugungen konsequent folgen und mir meinen Charakter bewahren. Das „Ich-bin-ich-Prinzip“ war meine Auffassung einer aufrichtigen, nicht angepassten Lebensform, von Zivilcourage geleitet und auf christlichen Werten basierend. Ich würde auch als Manager später keine Entscheidungen treffen, die nicht in jeder Hinsicht meinen Werten entsprachen, von diesem Ideal war ich in jenem Moment zutiefst überzeugt. Und darüber hinaus sah ich mein Lebensziel vor allem darin, andere Menschen glücklich zu machen.

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Wenn ich heute, im Alter von 65 Jahren, Bilanz ziehe und zurückblicke auf meine damalige vielleicht ein wenig idealistische Sichtweise und meinen selbst gesetzten Lebenszweck, dann lautet die bittere Erkenntnis:

Ich bin gescheitert.

Ich habe zwar alles erreicht und sogar noch übertroffen, was ich mir 1975 als junger Student überhaupt hatte vorstellen können: beruflich, materiell und familiär. Doch das alles habe ich in einer späten Lebensphase wieder verloren oder verspielt – und noch mehr: mein Vermögen, meine Ehre, meine Reputation, meine Gesundheit. Und auch das Ergebnis meiner Bemühungen, andere Menschen glücklich zu machen, taugt nicht für die Hall of Fame.

Das hehre „Ich-bin-ich-Prinzip“, das damals in Studententagen meine Leitlinie war, verschwamm im Laufe der Jahre und Jahrzehnte zusehends, wurde angepasst an aktuelle Umstände und Erfordernisse. Und so sehr, wie sich diese Leitlinie immer weiter von ihrem Ursprung entfernte, so sehr entfernte ich mich von mir selbst. Das führte zu einem Sturz, der nicht ganz leicht zu steigern sein dürfte: Der international erfolgreiche Topmanager landete höchst unsanft – als Häftling im Gefängnis. Eine „Fallhöhe“, die wohl nicht eben alltäglich ist.

Wie konnte es dazu kommen? Welche Fehler habe ich gemacht? Und vor allen Dingen: Was kann man daraus lernen? Diesen Fragen werde ich in diesem Buch nachgehen. Vielleicht kann es manchem Mut machen und eine Hilfe sein, Irrwege wie den meinen zu vermeiden.

Meine heutige Bilanz beinhaltet allerdings noch weitere Erkenntnisse: Es stimmt, in jedem Scheitern liegt auch eine Chance. Scheitern kann, wenn es erkannt und angenommen wird, die Basis für einen Neuanfang sein. Meine Lebensbilanz beweist aber sicher vor allem eines: Glück ist nicht an materielle Werte gekoppelt. Und vor allem: Glück ist nicht käuflich, ganz gleich, wie hoch der Preis ist, den wir dafür zu zahlen bereit sind!

1. FALSCHE WEICHENSTELLUNGEN

ODER WIE ENTSTEHT EIN PERFECT STORM?

Ein Scheitern in dem Umfang, wie ich es erlebte, kann nicht die unmittelbare Reaktion auf eine einzige Fehlentscheidung sein. Es war in meinem konkreten Fall vielmehr der Endpunkt eines schleichenden Prozesses. Ähnlich einem Perfect Storm hatte ich selbst über Jahre durch Fehler und Fehlentwicklungen die Voraussetzungen dafür geschaffen, dass der Sturm, der sich da zusammengebraut hatte, eine so zerstörerische Kraft bekam, dass er mich fortriss und nichts übrig ließ von dem, was mein Leben damals ausmachte.

Die Warnsignale hätte ich schon in einem frühen Stadium wahrnehmen können, ja müssen; sie waren da, unmissverständlich. Es wird wohl eine Kombination aus Überheblichkeit und selbstverliebter Anmaßung gewesen sein, die mich die Augen schließen und alle Warnhinweise übersehen und überhören ließ. So lange, bis es zu spät für eine Umkehr war.

DIE FRÜHE WARNUNG MEINES VATERS

Meine Beziehung zu meinem Vater war ungewöhnlich eng. Er war auf einem westfälischen Bauernhof groß geworden, war bescheiden und bodenständig. Er war mein Vorbild, mein bester Freund, mein Geschäftspartner, mein Vertrauter, mein Trauzeuge und der Taufpate meines ersten Kindes.

An eine wirklich ernste Auseinandersetzung mit meinem Vater kann ich mich, abgesehen von einer einzigen Ausnahme, nicht erinnern. Wenn ihm etwas missfiel, pflegte er das mit leichter Ironie zu thematisieren. Beispielsweise bei den Feierlichkeiten zur Stabsübergabe von meinem Vorgänger bei Bertelsmann auf mich. Zu diesem Anlass war vom Konzern ein Festakt veranstaltet worden, zu dem unter anderem der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder und der stellvertretende Regierungschef Joschka Fischer erschienen sowie insgesamt mehr als 1000 weitere Gäste, unter ihnen meine Eltern.

Als ich am Rande der Feierlichkeiten meinen Vater stolz nach seinem Eindruck fragte, sah er mir in die Augen und antwortete knapp, aber unverblümt: „Denkst du nicht, dass das alles ein bisschen zu viel ist hier?“ Treffender hätte man diesen Aufmarsch nicht beschreiben können.

Nur einmal kam es in unserer Vater-Sohn-Beziehung zu einer ernsthaften Störung. Ich war 16, als ich an einem Sommernachmittag die Treppenstufen zum Eingang unseres Hauses emporstieg und mein Vater mir im Hauseingang entgegenkam. Er trug einen Wäschekorb in seinen Händen, und ich sah an seinem Gesichtsausdruck sofort, dass er aufgeregt und sehr zornig war.

„Herr Nattermann hat mich wissen lassen, dass du im Unterschied zu deinen Geschwistern ein unangenehm arroganter Typ bist!“, sagte er. Ich spürte, wie er selbst litt bei diesen Worten.

Herr Nattermann war damals Pächter einer Shell-Tankstelle nur wenige Hundert Meter von unserem Elternhaus entfernt und hatte sich bei meinem Vater beschwert, ich würde ihn und seine Mitarbeiter von oben herab behandeln. Mein Vater war so erregt, als er mir berichtete, was Herr Nattermann über mich gesagt hatte, dass seine Stimme hörbar zitterte und der Wäschekorb mitsamt seinen Händen ebenfalls. „Nie darfst du arrogant sein, Thomas! Bitte ändere dein Verhalten, versprich es mir!“

Ich hörte die Stimme meines Vaters, hörte seine fast flehentlich vorgetragene Aufforderung. Zugleich spürte ich Auflehnung in mir wachsen, stummen Protest – und gewaltigen Ärger. Ich war wütend auf Herrn Nattermann, und ich verachtete ihn und das, was er über mich gesagt hatte. Ich wollte nicht so sein, wie Herr Nattermann es erwartete, das wusste ich in diesem Moment ganz genau. Stattdessen beschloss ich dort auf den Treppenstufen, dass ich anders sein wollte, etwas Besonderes, und mir von niemandem würde vorschreiben lassen, wie ich mich zu verhalten hatte.

Die frühe und sehr eindeutige Botschaft meines Vaters zum Thema Arroganz erreichte mich an diesem Nachmittag nicht. Selbstkritik übte ich fortan nicht mehr. Später empfand ich derart kritische Hinweise wahlweise sogar als eine Art Lob oder als Ansporn, noch arroganter zu sein. Ob dies der Zeitpunkt war, an dem ich begann, das „Ich-bin-ich-Prinzip“ zu verändern, es anzupassen an die jeweiligen Gegebenheiten, kann ich heute nicht mehr mit Sicherheit sagen. Sicher ist aber, dass ich damals entschied, mich künftig lieber abzuheben, und sei es durch Arroganz, als mich anzupassen und in der Masse unsichtbar zu werden.

Vermutlich wollte ich dadurch mein Selbstwertgefühl und meine Bedeutung steigern. Tatsächlich ließ mein Entschluss aber in den folgenden Jahren einen tiefen Graben zwischen mir und meinem sozialen Umfeld wachsen. Mein Verhalten rief Ablehnung hervor, und je stärker das der Fall war, desto mehr sehnte ich mich nach dem Zuspruch, der mir versagt blieb – und wurde dennoch immer uneinsichtiger. Es war ein fataler Teufelskreis, den ich nicht erkannte. Oder nicht erkennen wollte.

„WENN SIE WAS KÖNNEN, DANN KOMMEN SIE ZU UNS!“

Die Vorlesungen von Dr. Jan Hensmann an der WWU Münster erfreuten sich 1979 großer Beliebtheit. Dies mochte auch daran liegen, dass Jan Hensmann nicht nur ein sehr erfolgreicher Verlagsmanager war und als Vorstandsmitglied bei Gruner & Jahr für das Zeitschriftengeschäft verantwortlich, sondern darüber hinaus in seinen Vorlesungen mit außerordentlich intelligentem Witz Fallstudien aus dem Verlagsmanagement behandelte.

Am Tag seiner Antrittsvorlesung hatte sich im Hörsaal H3 der WWU das gesamte Professorium der betriebswirtschaftlichen Fakultät versammelt. Jan Hensmann sprühte vor Charisma und Esprit. Er berichtete von der Markteinführung der Zeitschrift Geo in den USA, schilderte seine Flüge mit der Concorde nach New York und beendete seinen Vortrag mit den Worten: „Liebe Studierende, wenn Sie ein sehr gutes Examen machen, dann gehen Sie um Gottes willen in die Wissenschaft – und wenn Sie etwas können, dann kommen Sie zu uns!“

Ich war hingerissen von diesem Mann, von seiner Intelligenz, seiner spürbaren Macht als Manager, von seinem offensichtlichen Erfolg. Ich beschloss noch im Hörsaal, dass auch ich Manager in der Medienbranche werden wollte. Ich wollte so werden wie dieser Jan Hensmann: mit der gleichen Leichtigkeit von Erfolg zu Erfolg eilen, international ausgerichtet, überlegen, schlagfertig und mit einem solchen Charisma ausgestattet, dass selbst hoch angesehene Professoren der Betriebswirtschaftslehre dagegen blass wirken. Gegen diese Aura des Erfolgs schien alles andere geradezu unbedeutend und provinziell. Und ich spürte förmlich in mir die Überzeugung wachsen, dass ich in der Hensmann’schen Terminologie „etwas kann“.

Mit dem Ende seiner Präsentation war ich unumstößlich überzeugt: Ich würde diesen Traum realisieren und erfolgreich werden. Und ich war bereit, dafür fast jeden Preis zu zahlen. Das „Ich-bin-ich-Prinzip“ begann aufzuweichen.

TANZEN AUF ZU VIELEN HOCHZEITEN

Nach dem Examen erhielt ich von Professor Heribert Meffert, dem hoch angesehenen Betriebswirtschaftler und „Marketing-Papst“ an der WWU Münster, das Angebot, bei ihm als Assistent zu arbeiten. Aber auch mein Vater wollte mich in den eigenen Betrieb einbinden. Ich überlegte, ob ich ihn bei dem Aufbau einer Produktionsstätte in Griechenland unterstützen sollte. Professor Meffert hatte mir zunächst eine halbe Stelle angeboten, die ich annahm und die mir, wie ich damals glaubte, Raum lassen würde, parallel halbtags für meinen Vater tätig zu sein. Ich wurde also so etwas wie ein unternehmerisch-wissenschaftlicher Assistent.

Diese Konstellation führte allerdings schnell zu extremen Herausforderungen und Belastungen, wie ich schmerzhaft lernen musste. Die beiden Aufgaben ließen sich beim besten Willen nicht miteinander verbinden. Während der Wissenschaftler sich am heimischen Schreibtisch hochkomplexen Fragestellungen widmet und sich mit Engagement an der Universität in der Lehre betätigt, erfordert die unternehmerische Tätigkeit ein Höchstmaß an räumlicher und zeitlicher Flexibilität und unbegrenzten zeitlichen Einsatz.

Arbeitete ich in dem Assistentenzimmer in Münster an Diplomarbeiten oder Seminararbeiten, plagte mich das Wissen, dass währenddessen zahlreiche unternehmerische Herausforderungen und Entscheidungen unbearbeitet blieben. Arbeitete ich zusammen mit meinem Vater an dem Griechenland-Projekt, dachte ich an die Aufgaben, die mir von Professor Meffert anvertraut worden waren und die unbearbeitet auf meinem Schreibtisch lagen. Aus einem zielstrebigen, zuversichtlichen Diplom-Kaufmann wurde in kürzester Zeit ein getriebener, fahriger, unruhiger junger Mann, dem stets bewusst war, dass die Dinge, die er gerade bearbeitete, nicht die Qualität hatten, wie es der Fall gewesen wäre, wenn er sich uneingeschränkt auf sie hätte konzentrieren können.

Ich wurde immer hektischer. Täglich fuhr ich zwischen Münster und Düsseldorf hin und her, flog freitags mit Olympic Airways nach Thessaloniki und kehrte am Sonntagabend völlig erschöpft wieder zurück nach Düsseldorf. Ich begann Fehler zu machen, oberflächlich zu werden. Meine Arbeit entsprach längst nicht mehr den Qualitätsanforderungen, die ich selbst an mich stellte.

Erst ein Hörsturz machte mir klar, dass ich psychisch und physisch an meine Grenzen gestoßen war. Ich hatte mich übernommen, mir zu viel zugemutet. Und ich fasste den Vorsatz, mich künftig nur noch auf eine Aufgabe zu fokussieren. Mein Leben bekam eine neue Ausrichtung, und das „Ich-bin-ich-Prinzip“ wurde erneut an die Gegebenheiten angepasst: Nicht alles ist machbar, Fehler muss man erkennen und sich auf die eine Aufgabe konzentrieren, ohne nach links oder rechts zu schauen; die Firma hat Vorrang vor allem anderen, auch vor privaten und persönlichen Bedürfnissen.

Wenn ich heute auf diese Phase zurückblicke, wird offenbar, dass die Erkenntnis damals zwar eine richtige war, ich aber zugleich einen katastrophalen Fehler beging: So sinnvoll die Konzentration auf eine Aufgabe war, so falsch war die allumfassende, eindimensionale Ausrichtung auf den Beruf. Ein fataler Fehler, der sich später fürchterlich rächen würde.

Von dem, was heute mit dem Begriff „Work-Life-Balance“ beschworen wird, war ich meilenweit entfernt. Persönliche Bedürfnisse, Talente und Interessen ordnete ich den beruflichen Belangen kompromisslos unter.

Den ersten Schritt zu einem Leben mit täglich nicht unter 14 Arbeitsstunden vollzog ich, ohne dass mir dies bewusst war. Nur noch einen Tag am Wochenende verbrachte ich fortan durchschnittlich zu Hause und auch diesen überwiegend am Schreibtisch in meinem Arbeitszimmer. Ich glaubte, alles richtig zu machen – und machte doch in der Konsequenz meiner Vorgehensweise vieles falsch.

DER MENTOR ALS VORBILD?

Einen Mentor zu haben gehört heute zum guten Ton, das Angebot an wie auch immer gearteter beratender Begleitung ist geradezu explosionsartig gewachsen. Coaching ist der aktuelle Zeitgeist-Trend. Junge Startup-Unternehmer suchen genauso konsequent nach einem geschäfts- und branchenerfahrenen Coach wie Juniorpartner in Unternehmensberatungen oder Karrieristen in Großkonzernen nach Mentoren. Rat ist gefragt, Hilfe in schwierigen Entscheidungssituationen, eine Referenz, falls erforderlich, und ein kritisches Feedback zu Persönlichkeitsentwicklung oder zum Auftreten.

Mein Mentor trat 1986 in mein Leben: Dr. Mark Wössner war damals Vorstandsvorsitzender der Bertelsmann AG, und ich hatte mich als sein Assistent beworben. Da ich aber aus seiner Sicht die Anforderungskriterien für diese Tätigkeit nicht erfüllte, bot er mir statt der angestrebten Position die Assistenz des Geschäftsführers von Mohndruck an. Ich hatte eigentlich ablehnen wollen. Doch dann entschied ich mich, das Angebot doch anzunehmen. Ich wollte ihm beweisen, dass er unrecht hatte; dass ich besser war, als er glaubte.

Mark Wössner war ohne Frage eine Ausnahmeerscheinung: intelligent, durchsetzungsstark, mit ausgeprägtem Selbstbewusstsein ausgestattet, machtbewusst, führungsstark, emphatisch und zu allem Überfluss damals auch noch gut aussehend. Bei solcherart Stärken konnte er sich die eine oder andere Schwäche erlauben: Reinhard Mohn hielt ihn für eitel, er wirkte hin und wieder arrogant, und er tat sich schwer mit schwierigen Personalentscheidungen. Sein Auftritt konnte laut bis raumfüllend sein; Bescheidenheit gehörte nicht zu seinen besonderen Stärken.

Wössner war ein anstrengender, fordernder Mentor. Er führte mich mit harter Hand. Sollte ich in seiner Anwesenheit einen Vortrag halten, war ich durch seine Präsenz lange so sehr verunsichert, dass ich nur einen Bruchteil meines Leistungsvermögens abrufen konnte. Er begleitete mich über Jahre so kritisch, dass ich als Jungvorstand sogar hinwerfen wollte.

Nach meinem Vater prägte mich Wössner sicher am stärksten. Er war nicht nur Mentor, sondern auch Vorbild. Irgendwann begannen sich die Grenzen zwischen beidem zu verschieben. Ich wollte so sein wie er. Ich begann sein Verhalten zu kopieren, wurde immer unkritischer ihm gegenüber. Das führte dazu, dass ich langsam, aber sicher immer weiter von meinen Prinzipien abrückte, um seine Anerkennung zu gewinnen. Statt meinen Werten und Prinzipien wurden Mark Wössners Ansichten und Verhalten mein neuer Maßstab.

War ich noch ich?

Je stärker ich mich später aber von seiner Aura freimachte, je mehr mich eigene Erfolge trugen, je eigenständiger ich Wurzeln in der internationalen Geschäftswelt schlug und je konsequenter ich meine eigenen Sichtweisen vertrat und umsetzte, desto mehr spürte ich seine Irritation. Meine zunehmende Eigenständigkeit wurde von ihm als ein Entziehen verstanden. Ich wehrte mich wiederum gegen Einmischungsversuche in meine Zuständigkeiten. Diese Situation wurde zunehmend unausgewogen und schwierig. Als Reinhard Mohn sich von ihm trennte, griff ich nicht ein.

So sehr ich das Konzept der Mentorenschaft unterstütze, so wenig sollte es in einem Fall praktiziert werden, in dem der Mentee in einem direkten Abhängigkeitsverhältnis zu seinem Mentor steht.

DIE PRÄMIE UND DIE ILLUSION DER UNABHÄNGIGKEIT

Die Geräuschkulisse war hoch an jenem Abend in der Bar des Hotels Four Seasons in Midtown New York, die Stimmung zu fortgeschrittener Stunde angeregt, Gläser klirrten. Neben mir saß ein Bertelsmann-Kollege und Mitglied des Teams, das in den zurückliegenden Tagen den Verkauf der Bertelsmann-Beteiligung an AOL technisch abgewickelt hatte. Wir prosteten uns überschwänglich zu.

Ich fühlte mich großartig. Der Beteiligungsverkauf würde nicht nur das Eigenkapital des Konzerns um den Faktor 8 wachsen lassen, sondern auch mein persönliches Konto. Der Bonus, den ich mit Reinhard Mohn schon vor Längerem vereinbart hatte, war in seiner Höhe abhängig von der Wertentwicklung der AOL-Beteiligung. Und er würde im hohen zweistelligen Millionenbereich liegen, das wurde mir in diesem Moment bewusst.

„Ab jetzt bin ich unabhängig!“, rief ich meinem Kollegen zu, um die Geräuschkulisse um uns herum zu übertönen. „Ich werde im Konzern ab sofort offen meine Meinung sagen und Entscheidungen nicht mehr mittragen, die ich für falsch halte.“

Sein Blick hätte mich warnen müssen: Er sah mich mit einer Mischung aus Verständnislosigkeit und Missgunst an.

In der Folge beschäftigte mich die Frage, wer die Anlage und Verwaltung dieses erheblichen Geldbetrages professionell übernehmen sollte. Das Ergebnis dieser Überlegungen mündete in den Weg zur Privatbank Sal. Oppenheim und deren Partner Josef Esch, der in der Oppenheim-Esch-Holding meine Gesamtvermögensverwaltung übernahm.

Letzterer war mit seinem bulligen Äußeren, dem kahlen Kopf, seinem begrenzten Sprachschatz und den ihn umgebenden Bodyguards so ziemlich genau das Gegenteil meiner Vorstellung eines seriösen Geschäftspartners. Dass ich mich dennoch auf ihn einließ, war dem blendenden Glanz des Namens Sal. Oppenheim geschuldet – und meiner Gier, Steuern sparen zu wollen. Das eine sprach meine Eitelkeit an, und das andere machte mich taub für kritische Einwände.

Nach der Auszahlung des Bonus interessierte ich mich für den Kauf eines Hauses in St. Tropez. In einem Telefonat berichtete ich Paul Desmarais sen., damals zusammen mit seinem Geschäftspartner Albert Frère Gesellschafter bei Bertelsmann, von meinen Plänen.

„Pass auf, wenn du mit den großen Hunden pinkeln gehst“, gab er mir warnend mit auf den Weg. Doch auch diese Warnung schlug ich in den Wind. Die Koordinaten meines Lebens waren bereits uneinholbar verschoben: Angestellte bevölkerten unseren Haushalt, die Anschaffungen wurden immer umfangreicher und kostspieliger, die Zahl der Wohnsitze erhöhte sich ebenso wie die der Autos.

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An jenem Abend in der Bar des Hotels Four Seasons ahnte ich nicht, dass mich die bevorstehende Bonuszahlung und die folgende Verbindung mit Oppenheim-Esch nicht etwa wirtschaftlich unabhängig machen, sondern im Gegenteil der Ausgangspunkt dafür sein würden, dass meine Tätigkeit für Bertelsmann endete und dass ich dazu auch mein gesamtes Vermögen verlieren würde.

Ich habe nicht nur die Werte verloren, die einst das Gerüst für meine Leitlinien waren, ich habe mich selbst verloren. Und hier ist auch die Ursache des nachfolgenden materiellen Verlustes begründet.

Ich habe selbst die Bedingungen dafür geschaffen, dass sich die Dinge zum Perfect Storm entwickeln konnten. Diese Beispiele zeigen das anschaulich – heute für mich in einer unmissverständlichen Klarheit. Damals nahm ich die Warnsignale nicht wahr. Es hätte unter Umständen vielleicht auch gut ausgehen können, der Sturm hätte vorbeiziehen oder früh genug abflauen können, vielleicht hätte auch ein „blaues Auge“ gereicht. Aber vermutlich hätte ich dann niemals in diesem Maße aus meinen Fehlern gelernt und nicht dieses Buch geschrieben.