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Burkhard Wetekam

HAIFISCHE

am Strelasund

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VORAB

»Haifische am Strelasund« ist eine fiktive Geschichte. Ähnlichkeiten zu real existierenden Personen, Gegebenheiten und Institutionen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Inhalt

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Prolog

Selten standen die Heringe so dicht wie an diesem eisig kalten Frühjahrsmorgen im Jahr 1991. Die Angler auf der Hafenmole von Stralsund und auf dem Rügendamm zogen ihre Ruten mit ruckelnden Bewegungen aus dem graublauen Wasser. Staunend sahen sie zu, wie an ihren Paternostern bis zu fünf zappelnde Fische auf einmal in die Höhe stiegen. Die Heringe bissen auf alles, was sie trafen, auch auf den blanken Haken.

Es war erst acht Uhr morgens, aber es hatte sich herumgesprochen, dass dieser Tag einer der besten der Saison zu werden versprach. Schon zwei Dutzend Angler standen allein an der westlichen Mauer der Mole, neben sich Eimer und Taschen, manche hatten auch kleine Handwagen dabei. In ihrem Rücken die Kulisse der Altstadt von Stralsund: Die gewichtigen Speicherhäuser und die Türme der großen Kirchen hoben sich gegen einen hellblauen Himmel ab. Keiner der Angler hatte einen Sinn für die ehrwürdige Stadt, deren ehemals großer Reichtum doch auf nichts anderem beruhte als auf den silbern glänzenden Fischen, die jedes Jahr aufs Neue ihren Weg durch den Strelasund finden, um in den flachen Gewässern des Greifswalder Boddens ihren Laich abzulegen. Früher, so hieß es, soll das Gedränge im Wasser noch viel größer gewesen sein, sodass man vom Heringsleuchten sprach, wenn der Sund im Mondschein von den dicht unter der Wasseroberfläche wimmelnden Fischen glitzerte wie flüssiges Silber. Aber wer will das heute noch wissen? Im Jahr 1991 genügte den Anglern ihr kleines Glück, wenn sie mit einem bis zum Rand gefüllten Eimer nach Hause gehen konnten.

Einige dachten wohl schon daran, wie sie Freunden und Angehörigen von den reichen Fängen erzählen würden, als ein wütender Ausruf die geschäftige Angelei störte. Einige eilten dem zur Hilfe, dessen Angelhaken sich an einem schweren Gegenstand verfangen hatten, einem Objekt, das sich kaum rührte, aber doch auch nicht vollkommen starr zu sein schien und wie ein morscher Baumstumpf dicht unter der Oberfläche trieb. Mehrere Männer scharten sich um den verzweifelten Angler, der wohl schon ahnte, dass es bald nicht mehr nur um den Verlust seines Köders gehen würde. Zwei Männer, die in der Nähe von einem Boot aus angelten, kamen den Molen-Anglern zur Hilfe und tasteten mit ihrem Bootshaken unter Wasser herum wie in den Eingeweiden eines Ungetüms. Mit vereinten Kräften zogen sie an dem trägen Gegenstand. Und dann schienen die Strahlen der tiefstehenden Sonne auf den leblosen Körper eines einstmals kräftigen Mannes, an dessen linker Schläfe eine Wunde klaffte. Wie sich später herausstellte, war es ein Braunschweiger Autohändler, der selbst auch zum Angeln nach Stralsund gekommen war, einige Tage zuvor und ohne zu ahnen, dass er am Ende seiner Reise nun selbst an einem Haken hängend aus dem Wasser gezogen würde.

Sein offenes Boot wurde wenig später weiter nördlich an der Sundpromenade gefunden. Es hieß, der Mann sei in der Nacht trotz stürmischer Winde hinausgefahren, sei an Bord gestürzt, mit dem Kopf aufgeschlagen und bewusstlos ins Wasser gefallen. Aber von Anfang an gab es auch Zweifel an dieser Version, denn niemand konnte erklären, warum die Leiche des Autohändlers viel weiter südlich angespült wurde als das Boot. Einige behaupteten, es seien die Heringe gewesen, die den toten Körper bis vor die Hafenmole von Stralsund getragen hätten.

1

Sonntag

»Du musst Rocco unbedingt kennenlernen! Das wird witzig.«

»Könntest du die Vorleine nehmen?« Tom stand am Steuer seiner betagten Barkasse MATHILDA, die sich langsam durch den alten Marinehafen auf dem Dänholm schob. Es war windstill, etwas schwül und er schwitzte.

»Mein Gott, ich weiß gar nicht, wann ich ihn zuletzt gesehen habe«, rief Clara vom Bug nach hinten, »wahrscheinlich sind es schon zwanzig Jahre. Und dann ruft er gestern einfach so an.«

Zwischen den Stegen war nur wenig Platz zum Manövrieren. Fast alle Bootsparkplätze waren belegt, viele davon mit älteren Fahrzeugen, die verlassen wirkten.

»Ich meinte die andere Vorleine, Clara. Backbord – links. Ich kann das Boot nicht steuern, wenn wir …«

»Wir haben eine halbe Stunde lang am Telefon rumgealbert. Und das Lustigste war: Eigentlich wollte Rocco gar nicht mit mir sprechen, sondern mit dir.«

»Clara – die Vorleine!« Die Spitze der MATHILDA erreichte den Steg. Es gab keine Holzpfähle, an denen man das Bootsheck hätte festmachen können. Nur eine kleine Kunststoffboje, aber Tom schaffte es nicht, die Heckleine dort einzufädeln. Als sich die Barkasse unkontrolliert zu drehen begann, wurde ihm klar, dass es besser gewesen wäre, rückwärts in die Box hineinzufahren.

Clara stieg mit bemerkenswerter Ruhe auf den Steg und zog die Vorleine hinter sich her. In diesem Moment kam ein zotteliger, beigebrauner Hund angetrabt. Sie strich ihm liebevoll über den Kopf. Die MATHILDA rumpelte sanft gegen ein Ruderboot, das Tom übersehen hatte.

»Kannst du jetzt bitte erst mal die Vorleine festmachen!?«

»Schrei doch nicht so! Ich mache ja schon.«

Langsam, sehr langsam schob sich die MATHILDA dahin, wo sie eigentlich von Anfang an hatte stehen sollen. Im Grunde genommen war es vollkommen egal, wie unprofessionell das Anlegemanöver aussah. Kein Mensch war Zeuge in diesem abgelegenen Teil des Hafens, es gab keinen Wind, der die Barkasse hätte wegtreiben können. Und Tom war so langsam gefahren, dass selbst das deplatzierte Ruderboot durch den Stoß nur verträumt vor sich hin schaukelte. Trotzdem ärgerte er sich. Er fühlte sich nicht ernst genommen, wenn ein ungepflegter Hund wichtiger war als das Anlegemanöver der MATHILDA. Er schluckte seinen Ärger runter und warf Clara unsanft die Heckleine zu. »Sagtest du, dass dieser Rocco mit mir sprechen wollte? Wieso denn nur?«

Clara entwirrte mit einem geschickten Handgriff die Leine und zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Hab vergessen, ihn zu fragen. Aber das kann er dir nachher ja selber sagen.«

»Und du kennst ihn aus der Grundschule?«

»Er war so etwas wie der Klassen-Clown. Einen Kopf kleiner als ich und irgendwie total süß. Wir haben ihn alle geliebt, weil er so irre komische Sprüche gemacht hat und überhaupt keinen Respekt vor unserer Lehrerin hatte. Und das will schon was heißen. Frau Tröger war ein richtiger Besen. Alter Kader und so.«

Tom wischte sich den Schweiß von der Stirn. Das langgezogene Hafenbecken lag in einem Einschnitt und war ringsum von Bäumen und Sträuchern umgeben. Die Luft stand so still, als hätte noch nie ein Windhauch diesen abgelegenen Ort erreicht. »Rocco – ist das sein richtiger Name?«

»Ich kenne jedenfalls keinen anderen. Seine Mutter war Italienerin, glaube ich.«

»Weißt du, was er beruflich macht?«

»Er betreibt neuerdings einen Fischbrötchenhandel, früher hat er Uhren repariert und verstopfte Rohre gereinigt und bis vor Kurzem hatte er einen Imbissstand in Rostock. Und dann hat er noch zwei oder drei andere Sachen genannt, aber das konnte ich mir nicht merken. Wahrscheinlich ist er der lustigste Fischbrötchenhändler in ganz Vorpommern.«

»Na, das kann ja was werden.«

Der alte Marinehafen lag an einem Kanal, der die Insel Dänholm in zwei ungleiche Hälften teilte. Sie wurden in geradezu zwingender Logik als Großer und Kleiner Dänholm bezeichnet. Etwas weniger klar war, woher der Name »Dänholm« stammte: Vielleicht hatte er mit einer Seeschlacht gegen die Dänen zu tun, vielleicht rührte er auch einfach nur daher, dass in früheren Jahrhunderten rund um die Insel häufig dänische Schiffe ankerten.

Zwischen Rügen und der wohlhabenden Stadt Stralsund gelegen, war die Insel seit jeher ein strategisch wichtiger Ort. Sie wurde jahrhundertelang militärisch genutzt. Schweden, Franzosen, Brandenburger – alle hatten den Dänholm irgendwann mal erobert und alle waren auch irgendwann wieder vertrieben worden. Alte Wallanlagen und überwucherte Reste von Schanzen bezeugten, was in den Geschichtsbüchern stand. Die deutsche Bundesmarine hatte nach dem Mauerfall das Interesse an dem Areal verloren, sodass sich seit den frühen 1990er-Jahren eine bunte Mischung aus Museen, Behörden, sozialen Einrichtungen, Wassersportfreunden und Künstlern in den verstreut liegenden Gebäuden angesiedelt hatte. Tom mochte dieses eigenwillige Nebeneinander, und es gefiel ihm, dass das Inselchen trotz seiner interessanten Lage und dem vielen Grün noch immer in einem Dornröschenschlaf zu liegen schien.

Die beiden Inselteile waren durch eine schmale Brücke verbunden, die zugleich den Freizeithafen von den Kaianlagen der Wasserstraßen- und Schifffahrtsverwaltung abgrenzte. Dort lagerten rote und grüne Tonnen und andere Gerätschaften, die die Wasserbehörde für ihre Einsätze auf der Ostsee und in den Boddengewässern benötigte. Diesseits der Brücke saßen hier und da Leute auf ihren Booten, ein leises Gluckern und Vogelgezwitscher waren zu hören, dazu von fern das dumpfe Rumpeln irgendwelcher Baumaschinen. Hin und wieder rauschte ein Personenzug über den Rügendamm. Im angrenzenden Backsteingebäude, wo sich eine kleine Werft niedergelassen hatte, betätigte jemand eine Schleifmaschine.

Sie lagen an einem Steg, der zu einer Segelschule gehörte. Tom wusste, dass die – wenn überhaupt – nur eine geringe Gebühr verlangten. Immerhin sollte die MATHILDA eine Woche hier liegen bleiben. Da lohnte es sich, auf den Preis zu achten. Er befestigte die übrigen Leinen, trank einen Schluck Wasser und ließ die Hafenatmosphäre auf sich wirken. Die meisten Boote, die hier lagen, waren kleiner als die MATHILDA, aber viele in einem ähnlich fortgeschrittenen Alter. Er hatte das Gefühl, in einem vergessenen Idyll angekommen zu sein.

Der zottelige Hund stand schon wieder am Boot und betrachtete Tom, als wolle er ihn an irgendetwas erinnern. »Bist du der Hafenmeister?«, fragte er den Hund. Das Tier zwinkerte mit seinen schwarz-glänzenden Augen, wandte sich ab und trottete davon. Tom schaute ihm hinterher und beobachtete, wie der Hund bei einer betagten Motorjacht stehen blieb. Und auf eben dieser Jacht entdeckte er einen Menschen. Tom ging hin und sah vor sich einen Mann, etwa fünfzig Jahre alt, der auf dem Holzdeck hockte und sich über eine Kunststoffschale mit toten Fischen beugte. Er trug Jeans und ein kariertes Hemd, das schon lange keine Waschmaschine von innen gesehen hatte. Seine spärlichen Haare waren genauso wenig frisiert wie das Fell des Hundes.

»Gibt es hier einen Hafenmeister?«, fragte Tom.

Der Typ ließ den Fisch, den er gerade ausnehmen wollte, in die Schüssel fallen und kam mit einem blutigen Küchenmesser in der Hand auf ihn zu. »Wo liegste denn? Hm, da drüben? Mehr als zehn Meter Bootslänge?« Er schien angestrengt zu rechnen. Dann erinnerte er sich an Toms Frage. »Ach so, ich mache hier den Hafenmeister. Ich wohne auch hier.« Er zeigte auf das ausgeblichene Holzdeck seiner Jacht, das mit Gerümpel, Kräuterschalen und Blumenkästen vollgestellt war. Vermutlich hatte sich das Boot seit Jahren nicht mehr aus dem Hafen bewegt. »Zehn Euro«, sagte der selbsternannte Hafenmeister.

»Pro Woche?«

»Am Tag natürlich.«

»Zehn Euro kannste vergessen«, mischte sich Clara ein, die von einem ersten kurzen Landgang zurückkehrte. »Das einzige Klo ist total dreckig. Und ob ich mich im nüchternen Zustand in die Dusche traue, weiß ich auch noch nicht.«

Der Mann fuhr sich mit dem Handrücken über die Stirn und führte das blutige Messer in einem weiten Bogen durch die Luft. »Na ja, ist halt nicht Saint Tropez hier. Sagen wir fünfzig für die Woche.«

»Dreißig, höchstens. Und nur, wenn du das Klo putzt.«

»Vierzig. Mein letztes Angebot.«

»Dreißig.«

»Verbrecher seid ihr, wisst ihr das? Echte Verbrecher. Fünfunddreißig.«

Tom biss die Zähne zusammen, um nicht zu lachen.

Clara blieb eiskalt. »Zweiunddreißig.«

Der Messermann grunzte. Clara überließ es Tom, das Geschäft an Ort und Stelle abzuwickeln. Sie wandten sich zum Gehen.

»Ich heiße übrigens Detlef«, sagte der Hafenmeister kleinlaut.

»Schön«, sagte Tom, ohne sich noch einmal umzudrehen. »Wir sind Bonnie und Clyde.«

2

»Das wäre doch genial, wenn du in den nächsten Tagen für Rocco arbeiten könntest, während ich im Museum mit den Kindern Fische male.«

Tom antwortete nicht. Eigentlich war der große Platz auf der Stralsunder Hafeninsel ein Ort nach seinem Geschmack. Der weite unbebaute Raum, eingefasst von den Backsteinmauern der mächtigen Speicherhäuser und dem weißen Schiffskörper der GORCH FOCK I, lud zum Schlendern und Träumen ein. Dazwischen die eigenwillig moderne Architektur des Ozeaneums, mehrere weiße Baukörper, die Körperformen eines Wales imitierend. Tom fand es mutig und richtig, gerade hier nicht nur die Illusion einer guten alten Zeit zu erzeugen, sondern auch moderne Akzente zu setzen. So gegensätzlich diese Gebäude sich auch inszenierten, sie erzählten alle davon, worum es in dieser Stadt seit Jahrhunderten ging: das Meer und was man in ihm, auf ihm und mit ihm machen konnte. Der Reichtum des Meeres war auch der Reichtum der Stadt. Und wer daran zweifelte, wurde von kernigen Windböen ermahnt, die über das Pflaster hinwegfegten, den Geruch nach Salz, Fisch und Schlamm mit sich trugen. Kleine garstige Wellen klatschten gegen die Kaimauer, weiter draußen kräuselte sich das blaugraue Wasser im Hafenbecken. Tom fand es erstaunlich, dass man hier eine vollkommen andere Luft atmen konnte als auf dem Dänholm, der in einer halben Stunde Fußweg zu erreichen war. »Eigentlich könnte ich mir auch vorstellen, mal eine Woche auf Tourismus zu machen«, sagte er.

»Ach komm, das erledigst du nebenbei.«

Sie warteten mittlerweile seit zwanzig Minuten auf den Fischbrötchenhändler, der sich verspätet hatte und auch telefonisch nicht erreichbar war. Clara blickte sich immer wieder suchend um und versuchte, zwischen den zahlreichen Touristen ihren früheren Mitschüler zu entdecken. »Rocco hatte damals wunderschöne, lockige Haare.«

»So so.«

»Und braune Augen. Ich weiß noch genau, wie seine Augen aussahen.«

»Tatsächlich?«

»Sie waren so rundlich. Richtige Kulleraugen. Mensch, ist das lange her. Sag mal, nerve ich dich mit meinen Erzählungen?«

»Naja …«

»Rocco hat damals die ganze Klasse verrückt gemacht – und unsere Lehrerin dazu. Das war halt so kurz nach der Wende, da waren hier oben in Vorpommern nicht so viele Halbitaliener unterwegs.«

Tom hatte keine große Lust, für Rocco zu arbeiten. Er hatte grundsätzlich keine Lust auf Rocco.

Clara trat von einem Fuß auf den anderen und blickte auf ihre Uhr. »Ist ja blöd, dass er nicht kommt. Ich wollte euch doch wenigstens miteinander bekannt machen, bevor ich zur Vorbesprechung mit der Museumspädagogin und den Kindern gehe.«

»Allein auf der Basis deiner Kindheitserinnerungen werde ich den Mann jedenfalls nicht erkennen.«

Clara hatte ihm eine Reihe von Anekdoten aus dem Leben ihres Grundschulkameraden erzählt und damit seine Stimmung langsam, aber stetig absinken lassen. Tom hatte nie Spaghetti um Türklinken gewickelt oder mit einem brennenden Papierflieger dem Lehrerzimmer den Krieg erklärt. Er hatte auch nie auf dem Dach der Turnhalle Handstand gemacht und anschließend in einer Strickmütze Geld gesammelt. Dieser Rocco musste schon in der dritten Klasse ein Held gewesen sein. Wenn sich die Entwicklung des kleinen Halbitalieners so fortgesetzt hatte, dann würde er inzwischen zu einer Kreuzung aus Superman und Jeanne d’Arc gereift sein.

Tom war genervt – weniger von Clara als von sich selbst. War er etwa eifersüchtig auf diesen Rocco Schulze? Er sog die Hafenluft ein und versuchte, sich von diesem unerfreulichen, klebrigen Gefühl zu befreien. Zwischen Familien, Schulklassen und älteren Ehepaaren blieb sein Blick an einem Mann im gelben Hemd und einer weiten, karierten Hose hängen, der über den Kai schlenderte, als würde ihm die gesamte Hafeninsel gehören – gelassen, gleichgültig, selbstbewusst. Er wirkte wie der Spross einer weitverzweigten und einflussreichen Clownsfamilie.

Als der Flaneur Clara erblickte, richtete sich sein schmächtiger Körper auf. Er änderte seinen Kurs und steuerte zügig auf sie zu. »Clara-Schatzi!«, rief er so laut, dass sich einige der umstehenden Hafenbesucher umdrehten. Die beiden umarmten sich herzlich.

Tom reichte Rocco die Hand. »Habe schon viel von Ihnen gehört«, sagte er und bemühte sich dabei um einen freundlichen Ton.

»Lass uns Du sagen«, rief Rocco und klopfte mit der Linken auf Toms Schulter, während er seine Rechte mit einem festen Griff umschloss. »Du bist also ein Meisterdetektiv!?«

»Ichbin …«

»Er nennt sich lieber ›Privatermittler‹«, erklärte Clara, »und hat schon einige brisante Fälle gelöst.«

Tom war die Schmeichelei unangenehm. »Es kommt immer drauf an, worum es geht – die meisten Probleme auf der Welt sind größer, als dass ich sie auch nur ansatzweise lösen könnte.«

Rocco lächelte süßlich und legte Clara die Hand auf den Arm. »Bescheiden, intelligent – was hast du da für einen interessanten Mann«, säuselte er.

Clara lachte und betrachtete Rocco von seinem Lockenkopf bis zu den spitzen Lederschuhen. »Du bist noch immer so ein Possenreißer, genau wie damals, oder? Ich hätte nie gedacht, dass du mal Fischbrötchen verkaufst. Warum nicht Pizza?«

Er hob die Hand. »Claralein, das sind doch Klischees. Aus Italien kommt nicht nur Pizza, es kommen auch elegante Autos, feine Mode, raffinierte Dessous.« Er blickte ihr unverhohlen in den Ausschnitt, was Clara aber diskret übersah.

Tom räusperte sich. »Vielleicht könntest du mal erzählen, was du von mir erwartest – dann kann ich dir eine Einschätzung geben, ob eine Zusammenarbeit überhaupt sinnvoll ist.«

Rocco grinste. »Oh, ich glaube, es wird ernst.«

»Das solltet ihr beide in Ruhe besprechen«, sagte Clara und wandte sich wieder Rocco zu. »Ich find’s toll, dass das jetzt noch geklappt hat. Wir haben uns bestimmt viel zu erzählen. Kommst du heute Abend auf unser Boot? Liegt drüben auf dem Dänholm.«

»Euer Boot? Sono entusiasta! Ich bringe eine Flasche Wein mit, okay?«

»Sehr okay.« Sie sah auf ihre Armbanduhr. »Ich muss jetzt aber unbedingt los.«

Rocco schickte ihr eine Kusshand hinterher.

Als Clara verschwunden war, blickten sich Tom und Rocco einen Augenblick lang abwartend an. Rocco hatte ein braungebranntes Gesicht mit breiten Ringen unter den Augen und einer markanten Nase. Seine Lippen waren schmal und Tom fand, dass er bei näherem Hinsehen nicht mehr wirkte wie ein heiterer Clown, sondern eher wie ein müder Komiker, der aus seiner Rolle gefallen war und nicht mehr zurückfand.

»Tja«, sagte Rocco, »dann will ich dir mal mein neues Geschäft zeigen.«

Sie umrundeten das Café Gumpfer und erreichten Roccos »Geschäft« nach wenigen Minuten Fußweg. Es erhob sich etwa vier Meter hoch aus dem Kanal, der die Hafeninsel von der übrigen Altstadt trennte, war aus leuchtend blau lackierten Planken gefertigt und schon aus der Ferne verriet der Geruch nach Fett und Rauch seinen Zweck. Der Kutter hing etwas schief im Wasser und trug am Bug den Namen TURIN, wohl eine Referenz an die Herkunft des Besitzers. Rocco blieb in zehn Metern Entfernung stehen und verfiel in den Tonfall eines Stadtführers. »Wie du siehst, räuchern wir direkt an Bord, wir haben natürlich auch verschiedene Sorten eingelegter Heringe im Angebot. Du kannst Bratkartoffeln oder Pommes bekommen, fünf verschiedene Salate dazu. Die Dips zum Bratfisch werden von mir persönlich entwickelt, die Angebote wechseln täglich. Mein momentaner Favorit ist eine Mischung aus Senf, Honig und Minze.«

»Schön – und wo ist das Problem?«

Rocco deutete erst nach rechts, dann nach links. »Das eine Problem liegt hier, das andere Problem dort drüben.«

Tatsächlich boten in Sichtweite zwei weitere Kutter Fischbrötchen feil. Sie nahmen die TURIN regelrecht in die Zange. Bei der Konkurrenz luden zudem einige Tische, über denen große Sonnenschirme aufgespannt waren, zum Verweilen ein. Roccos Stimme klang plötzlich dünn und klagend.

»Die haben mich verarscht. Erst die Lizenzgebühren, zack, nach oben – explodiert. Dann haben sich diese miesen Kutter an meinen rangeschlichen, jede Woche ein Stück weiter. Außerdem hat mir niemand gesagt, dass wir auch Sitzgelegenheiten anbieten dürfen. Das ist ein einziger, mieser Betrug.«

»Wer entscheidet das denn alles?«

»Ich sehe, du stellst die richtigen Fragen. Das läuft über eine neu eingerichtete Stelle beim Ordnungsamt.«

Sie gingen zu Roccos Fischbrötchenkutter. Er begrüßte die Verkäuferin mit Handschlag. »Such dir was aus – geht alles aufs Haus!«

Tom wählte und musste zugeben, dass Rocco nicht zu viel versprochen hatte: Ein knuspriges Brötchen beherbergte ein köstlich mariniertes Heringsfilet, dazu etwas Zwiebel und ein Blatt Salat. So ein Fischbrötchen hatte es nicht nötig, mit irgendwelchen Saucen darüber hinwegzutäuschen, dass der Fisch nicht wirklich frisch war. »Kannst du mit denen vom Ordnungsamt nicht noch mal verhandeln?«, fragte Tom.

»Zu spät. Und das Schlimme ist: Die Ausschreibung gilt für zwei Jahre. – Das ist aber noch nicht alles.« Er sah sich um, als hätte er Angst, belauscht oder beobachtet zu werden. »Diese beiden Dreckskutter da: Offiziell sind das zwei verschiedene Unternehmen. Aber dahinter steckt eine einzige Familie. Porca miseria – wenn die sich nicht absprechen, soll mich der Teufel holen. Morgens, wenn die Leute zum Hafen pilgern, dann senken sie manchmal plötzlich die Preise. Beide gleichzeitig. Mittags gehen die Leute dann natürlich dahin, wo sie schon morgens die günstigen Preise gesehen haben. Die wollen hier kein Geld verdienen, die wollen mich fertig machen. Am Ende schaffen die das auch. Und sobald ich aufgebe, ziehen sie die Preise rauf bis zum Abwinken.« Rocco hatte seine lässige Pose gegen eine opernhafte Empörung getauscht. »Ich habe versucht, mit dem entscheidenden Mann vom Ordnungsamt zu sprechen«, sagte er, »der ist ganz neu im Geschäft und hat überhaupt keinen Stil, kein Feingefühl. Ein Stein ist das, ein Mensch ohne Herz, will nicht einen Millimeter weg von dem, was in der Ausschreibung stand. Jeder vernünftige Mensch muss doch sehen, dass das so hier nicht geht, oder?« Er sah Tom aus seinen großen braunen Augen an.

»Ich kenne die Gepflogenheiten nicht, aber streng genommen kann er die Bedingungen der Ausschreibung ja nicht nachträglich ändern, …«

Rocco klatschte vor Verzweiflung in die Hände und blickte in den Himmel. »Klar, dass du das auch so siehst. Bist ja ein guter Deutscher. Aber man kann doch wenigstens reden. Nicht mehr – nur ein freundliches Gespräch führen.« Roccos Anklage mündete in einem Jammerlaut.

Tom musste tief einatmen, um nicht zu lachen. Er war beinahe soweit, mit Claras Schulfreund Mitleid zu bekommen.

Der griff nach Toms Oberarm und sprach mit der Stimme eines Verschwörers weiter. »Wenigstens etwas habe ich erreicht: Wir treffen uns heute Abend. Er hat in irgendeiner Kneipe seine Skatrunde, will aber auf keinen Fall, dass ich zwischen den Skatbrüdern auftauche. Also haben wir uns an einer sehr einsamen und zugigen Stelle verabredet. Ich verspreche mir wenig von diesem Gespräch mit hochgeklapptem Mantelkragen – aber ich lasse nichts unversucht.«

»Tja, jetzt weiß ich noch immer nicht, was ich eigentlich tun soll«, sagte Tom.

Rocco blickte ihn mit schief gelegtem Kopf an und schob seine Mütze zurecht. Dann rückte er so dicht an Tom heran, dass der Duft seines Rasierwassers das Fett-Rauch-Gemisch durchkreuzte. »Ich glaube«, sagte Rocco mit leiser Stimme, »dass hier nur noch der direkte Gegenangriff hilft. Ich muss mich verteidigen – das wird jeder verstehen, oder? Die anderen arbeiten mit unschönen Mitteln, also arbeite ich auch mit unschönen Mitteln. Hattest du schon mal mit Buttersäure zu tun?«

»Buttersäure?«

»Stinkt erbärmlich und verdirbt jedem die Lust am Essen. Wenn man die Einrichtung eines solchen Kutters gründlich mit dieser Substanz behandelt, dauert es viele Tage, bis der Gestank verschwunden ist.«

»Und du meinst, …?«

»Die Kutter sind mit einer Plane verschlossen. Du brauchst nur ein scharfes Messer. Heute Nacht um drei, wenn die letzten Hafenkneipen zugemacht haben, kommst du hierher, ein Schnitt, du verteilst einen Liter Säure und verschwindest. Eine Sache von zwei Minuten – so schnell hast du noch nie gutes Geld verdient. Säure und Atemschutz beschaffe ich.«

Tom blickte Rocco irritiert an. »Das ist ein Scherz, oder?«

»Meinst du?«

»Du willst testen, wie weit ich gehen würde.«

»Denkst du das?«

»Es wäre mir lieb, wenn du mir jetzt mitteilen würdest, was ich in Wirklichkeit machen soll!«

Roccos Augen verengten sich zu faltigen Schlitzen, während sich seine Mundwinkel einzudrehen schienen. Es sah aus, als hätte er gerade auf eine Zitrone gebissen. »Versteh doch! Ich kann es nicht selbst machen, weil ich sofort unter Verdacht gerate. Ich brauche ein verlässliches Alibi. Das ist alles schon arrangiert. Ab Mitternacht bin ich bei der Gabi in besten Händen.« Er zeigte ein schmutziges Grinsen und senkte seine Stimme ein weiteres Mal. »Heute Nacht wäre perfekt. Schlechtes Wetter ist angesagt, also sind auch keine Leute unterwegs. Die Hafenbeleuchtung taugt nichts. Teure Designerleuchten, die kaputtgehen, wenn du sie scharf anguckst.«

»Das … das ist absurd. Für was hältst du mich? Für einen Kleinkriminellen? Für einen Saboteur? Hat dir Clara nicht gesagt, dass ich …«

»Gar nichts hat sie mir gesagt – ich habe damit gerechnet, dass ich auf einen einsatzfreudigen, mutigen Mann treffe.«

»Das ist nicht mutig, das ist unanständig.«

Rocco sah Tom mit blitzenden Augen an. »Mamma mia, um Anstand schert sich außer dir kein Mensch. Dich kennt hier keiner. Selbst wenn du beobachtet werden solltest, verschwindest du einfach wieder aus der Stadt und fertig. Kaum Risiko, aber gutes Geld. Für jeden vollen Tag, den diese Halunken nichts verkaufen können, zahle ich dir 200 Euro. Das wird ganz schnell eine Zahl mit drei Nullen.«

Tom starrte auf die Hand, die Rocco ihm unauffällig, aber doch fordernd entgegenstreckte. »Schlag ein – es ist das beste Angebot seit Langem für dich!«

3

Marten Oltdorp saß in einer Kneipe im Osten Berlins und kritzelte mit einem Bleistift auf der Rückseite einer Einladung zur Fraktionssitzung herum. Er schreckte hoch, als er dicht an seinem Ohr eine sonore Stimme vernahm.

»Interessante Skizze, was wird das?«

Als er in das glatte und braungebrannte Gesicht von Dr. Johann Wenderoth blickte, war er erleichtert. Trotzdem faltete er das Papier zusammen, bevor er dem schlanken und hochgewachsenen Mann die Hand reichte. »Sie haben mich ganz schön erschreckt.«

»Eine meiner wichtigsten Aufgaben – die Mitglieder Ihrer Fraktion und einige andere Tagträumer in dieser Republik durch notorische Verweise auf die Realität erschaudern zu lassen.«

Marten ging nicht auf die Stichelei ein und wartete, bis sich sein Gesprächspartner gesetzt hatte. Wenderoth war 35 Jahre alt, promovierter Betriebswirt und galt als ehrgeiziger Nachwuchspolitiker der Konservativen, ein Hoffnungsträger, ganz wie er selbst. Sie hatten für ihr Treffen eine Kneipe in Friedrichshain gewählt, die Marten noch aus seiner Zeit als Referent beim Naturschutzbund kannte. Hier mussten sie weder mit zufällig anwesenden Journalisten noch mit überraschend auftauchenden Fraktionskollegen rechnen.

Wenderoth nahm Platz und betrachtete Marten neugierig, aber auch irgendwie kühl. »Ich denke, Verschwörer wie wir könnten sich duzen.«

»Gerne«, sagte Marten.

»Und diese Skizze, was war das jetzt?«

Marten faltete das Papier wieder auseinander und hielt es Johann vor die Nase.

Der Konservative las mit gerümpfter Nase: »Naturschutzverband, Erneuerbare Energien, Meeresforschung, Ost-Europa-Gruppe, Mehrheitsfraktion im Folketing, zwei EU-Kommissare. Alle Achtung – ist das ein neues Netzwerk organisierter Kriminalität?«

Marten lächelte gequält. »Ich denke, du hast einen ganz ähnlichen Verbrecherring aktiviert. Unter etwas anderen Vorzeichen natürlich.«

Johann nickte. »Wie besprochen. Mir sind dabei zwei Dinge aufgefallen: Erstens war es nicht schwer, in der Sache eine breite Zustimmung zu bekommen. Es ist fast schon grotesk: Egal, wen du fragst – diese Gaspipeline durch die Ostsee will im Grunde genommen kein Mensch haben. Es gibt keinen einzigen zwingenden Grund für den Bau dieser Pipeline. Auch die Wirtschaft hält das Projekt für unnötig. Alle sagen das hinter vorgehaltener Hand, aber niemand traut sich, vorzutreten und die Stimme zu erheben. Zu den ökologischen Problemen muss ich dirja nichts erzählen.«

»Und was war das Zweite, was dir aufgefallen ist?«

»Wir haben uns auf ein gefährliches Spiel eingelassen. Ein heimliches Bündnis zwischen Regierungspartei und Opposition – das kann, wenn es nicht klappt, für uns beide den politischen Tod bedeuten. Selbst dann, wenn wir in der Sache tausend Mal recht haben.«

»Aber wenn es klappt, wird es uns weit nach vorn katapultieren«, sagte Marten.

»Auch das ist meiner Meinung nach nicht ausgemacht. Wenn es gelingt, einen so großen Druck aufzubauen, dass das Projekt gestoppt wird, könnte das eine Kettenreaktion auslösen. Der Wirtschaftsminister wird zurücktreten müssen – aber er wird das nicht freiwillig tun. Am Ende könnte er die Fraktionen derartig verunsichern, dass es zu einem Misstrauensvotum oder Neuwahlen kommt.«

Marten spürte ein Kribbeln im Nacken. Rücktritt, Misstrauensvotum, Neuwahlen. Ihm war klar, dass ihre Kampagne eine Regierungskrise nach sich ziehen konnte, aber es war doch noch einmal etwas anderes, diese Worte aus dem Mund eines Politikers zu hören, der wusste, was er sagte. »Heißt das, du bekommst kurz vor dem Ziel kalte Füße?«

Wenderoth sog die Luft ein und blickte den Kollegen etwas hochnäsig an. »Natürlich nicht – was ich einmal angefangen habe, ziehe ich auch durch. Ich komme aus Ostwestfalen, da machen wir das so. Aber wir müssen uns maximal absichern.« Johanns Stimme hatte etwas von ihrem sonoren Klang verloren. Er schien zu schwitzen.

Trotzdem musste Marten lächeln. Er fand es interessant, dass ein rational abwägender Mensch wie Johann Wenderoth, wenn er existenzielle Entscheidungen zu treffen hatte, sich auf etwas Irrationales wie die Wesenszüge seines regionalen Volksstamms berief.

Der Konservative blickte ihn durchdringend an. »Das Zeitfenster wird sich bald schließen. Wenn die Klage vor dem Bundesverfassungsgericht abgewiesen ist – womit ich stark rechne –, dann fangen die noch am gleichen Tag mit den Baggerarbeiten an. Die politische Bereitschaft, dann noch eine Kehrtwende einzuleiten, wird massiv sinken. Ein nachträglicher Ausstieg wird zu unkalkulierbaren Schadenersatzforderungen führen. Das bedeutet: Wir brauchen in den nächsten Tagen das Startsignal – oder wir müssen das Ganze abblasen.«

Marten fuhr sich mit der Hand durchs Haar. »Ich sehe das genauso.«

»Was ist mit deinem ominösen Informanten? Kann der liefern? Und ist dem eigentlich klar, was alles an ihm hängt?«

»Ich fahre noch heute Nachmittag nach Stralsund und werde mich morgen mit ihm treffen. Er hat mir zugesichert, dass er bis dahin harte Fakten liefert, die das gesamte Genehmigungsverfahren infrage stellen.«

»Ein allgemeiner Hinweis wird nicht ausreichen.«

»Ich sagte doch: harte Fakten.«

»Und dieser Informationsbeschaffer ist verlässlich?«

Marten nickte. »Absolut. Ich nenne ihn mal Mr. X. Damit hast du sicher kein Problem, oder?«

Johann schüttelte den Kopf. Es war für ihn das Beste, offiziell nie von dem Mann gehört zu haben, der in die Schlammgrube gestiegen war.

»Mr. X ist kein Öko-Romantiker, sondern ein harter Hund. Der hat schon vor Alaska bei Windstärke 11 norwegische Walfänger attackiert. Später ist er Jurist geworden. Er weiß, was er liefern muss.«

Johann Wenderoth lehnte sich zurück und nippte an dem Bier, das seit Beginn ihres Gesprächs unangetastet vor ihm stand. »Na schön. Das wird dann der erste Schritt, auf den meine Unterstützer warten: eine Skandal-Meldung über das Genehmigungsverfahren. Dann folgt der Eilantrag beim BVG, dem sie stattgeben müssen. Vorläufiger Baustopp. Die Presse wird weitere Details aus der Provinzbehörde ausgraben, die mit dem öffentlichen Sturm überfordert ist. Die Stimmung im Land kippt, sofern es überhaupt je eine Stimmung für diese Pipeline gegeben hat. Wir starten ein buntes Konzert kritischer Statements aus allen Ecken und in allen Tonlagen. Es kann klappen, wenn es so läuft. Morgen Abend werde ich alle meine Schäfchen beisammen haben. Mein letztes Gespräch führe ich mit dem Vorstandsvorsitzenden eines börsennotierten Versicherungskonzerns.«

Marten sah ihn erstaunt an. »Tatsächlich? Hätte ich nicht erwartet.«

»Versicherungen denken langfristig. Die wissen genau, dass der Klimawandel eines der größten Risiken für die Wirtschaft ist. Die Entscheidung für eine neue Gaspipeline zementiert unsere zögerliche Klimapolitik …«

»… das Wort ›zögerlich‹ klingt mir in diesem Zusammenhang etwas zu wohlwollend …«

»Lieber Kollege, wir gehören eben doch verschiedenen Lagern an – meine Partei steht seit jeher für eine maßvolle Sprache. Wie auch immer: Die Klimapolitik wird auf viele Jahre zementiert. Raus aus der Kohle und rein ins billige Erdgas, anstatt gleich das zu tun, was zehn Jahre später nicht mehr abzuwenden sein wird. Die Pipeline befreit die Politik vorübergehend von dem Druck, ernsthaft am Umbau des Energiesystems zu arbeiten. Sie werden mal wieder von ›Brückentechnologie‹ sprechen, aber in Wahrheit geht es um Macht und Geld, wie immer. Den russischen Bären politisch einhegen, indem man ihm noch mehr Gas abkauft. Wer für zehn Milliarden eine Leitung baut, der will auch, dass sich das Investment rentiert – bis es soweit ist, wird also sehr viel Gas nach Europa fließen müssen. Und das, obwohl es längst genug Transportkapazitäten gibt, wie sogar das Deutsche Wirtschaftsinstitut bestätigt hat. Wir werden überschwemmt mit billigem russischem Gas.«

»Alle Achtung – ist das aus dem Entwurf für deine Bundestagsrede?«

»Wenn es erst einmal so weit wäre«, sagte Johann seufzend. »Das Interessante mit Blick auf meine Partei ist ja, dass der Wunsch, die Pipeline loszuwerden, unsere schwach ausgeprägte Öko-Fraktion mit den Erzkonservativen vereint, die nachts noch immer vom bösen Russen träumen. Und die Atlantiker wissen schon lange nicht mehr, ob sie für oder gegen Fracking-Gas aus den Staaten votieren sollen.«

Marten war erleichtert, dass sein politischer Komplize so in Fahrt kam. Es war beinahe die gleiche Stimmung wie an dem Abend, als sie – vollkommen ungeplant – zum ersten Mal ins Gespräch gekommen waren. Erschöpft, aber auch aufgewühlt von einer zermürbenden Ausschusssitzung hatten sie nach zwei oder drei Bier zur beiderseitigen Überraschung festgestellt, dass sie in einigen Punkten exakt die gleichen Positionen vertraten. Dass sie dabei ganz unterschiedliche Argumente nutzten, hatte an diesem Abend keine Rolle gespielt.

Sie wussten beide, dass Wenderoth das größere Risiko einging. Ihm würde man eine inoffizielle Komplizenschaft mit Teilen der Opposition ausgesprochen übel nehmen. Marten hingegen würde den Deal mit dem jungen Konservativen in der Fraktion als strategische Meisterleistung verkaufen können. »Es ist schon verrückt, wie viel jetzt von unserem Informanten abhängt«, sagte er nachdenklich.

»Weißt du irgendetwas darüber, was Mr. X herausgefunden hat?«

Marten zuckte mit den Schultern. »Nicht wirklich.« Er hielt es für ratsam, Johann nichts davon zu erzählen, dass er seit Tagen vergeblich versuchte, Kontakt zu dem Mann aufzunehmen, den sie Mr. X nannten. So sehr er es auch verstehen konnte, dass der keine Kommunikationsspuren legen wollte, ließ die Situation Marten allmählich nervös werden. Und Johann wäre noch viel nervöser geworden, hätte er gewusst, wie die Sache stand.

Während er über das labile Verhältnis zu Wenderoth nachdachte, hatte Marten plötzlich das dringende Bedürfnis, sich umzudrehen. Es war wieder dieses Gefühl, beobachtet zu werden – ein Gefühl, das ihn seit Kurzem immer wieder überkam, zuletzt oft mehrmals am Tag.

Johann bemerkte Martens Unwohlsein. »Was ist los?«, fragte er und blickte sich nun ebenfalls um. »Stimmt was nicht?«

»Doch, alles gut«, sagte Marten gezwungen. »Ich hatte gerade … ich dachte, dass wir von dem Mann am Tisch neben der Tür beobachtet werden, aber es ist sicher nur eine Täuschung.«

Johann ließ seinen Blick beiläufig zur Tür schweifen. »Ein Ostberliner Frührentner und Pegeltrinker, würde ich sagen – da gibt es Tausende von.«

»Mir schien, dass ich ihn schon irgendwo gesehen habe.« Er musste plötzlich lachen. »Wahrscheinlich genau deshalb – weil es von seiner Sorte so viele gibt.«

Sie stießen die Bierkrüge gegeneinander und tranken aus. Marten spürte, dass seine Stimmung zu kippen drohte. Er wollte das Johann nicht spüren lassen und beeilte sich, das Treffen zu beenden.

Später ging er durch die Straßen von Friedrichshain. Die Luft war mild, es waren viele Leute unterwegs, Studenten, Hipster, Penner. Aber keine grauhaarigen Agenten, die ihn, den jungen Politiker, observieren oder gar bedrohen wollten. Er musste sich von diesen Wahnvorstellungen endlich befreien. Es war nichts anderes als ein Abbild seiner eigenen Zweifel, seiner Angst, dass alles ganz furchtbar schiefgehen konnte.

Es hätte ihm gut getan, zu Hause anzurufen, bei Stefanie und der kleinen Gil, aber er wusste, dass es klüger war, damit zu warten, bis er auf der Autobahn war. Er packte das Nötigste für ein paar Tage an der Küste ein und freute sich darauf, bald wieder in seine Heimat zu kommen.

4

»Das wird eine interessante Woche«, sagte Clara, in deren Stimme noch immer die Begeisterung mitschwang, die sie schon den ganzen Tag über versprühte. »Nur acht Kinder, aber alle recht aufgeweckt und interessiert.« Sie ließ sich mit einem Glas Wein in der Hand vorsichtig auf einen der beiden Liegestühle nieder, die Tom auf das Deck gewuchtet hatte. »Wir werden Schiffe, alte Häuser und Fische im Ozeaneum beobachten, ein bisschen fotografieren und verschiedene Maltechniken ausprobieren. Diese Stadt ist ein Geschenk für alle, die Natur und Kunst zusammenbringen wollen. Ich träume schon seit Tagen in Blau.«

Tom sah sie entgeistert an. »Du machst was?«

»Wenn ich träume, hat alles so einen meerblauen Schimmer, nicht sehr leuchtend, aber trotzdem irgendwie intensiv.«

»Das ist mir noch nie passiert. Ich glaube, ich träume meist in Schwarz-Weiß.«

Sie saßen an Deck der MATHILDA und genossen die friedliche Stimmung. Ein leichter Abendwind hatte die drückende Luft des Nachmittags vertrieben. Tom blickte in den Himmel, dessen mildes Blau sich mit dem orangen Licht der tief stehenden Sonne verband.

»Was ist jetzt eigentlich bei deinem Gespräch mit Rocco herausgekommen? Seid ihr euch einig geworden?«

»Sozusagen.« Tom dachte an den lautstarken Wortwechsel, der das Treffen mit Rocco beendet hatte. Nicht mal das Fischbrötchen hatte er aufgegessen, obwohl es wirklich lecker gewesen war, wie er gerne zugab.

»Und was hast du vor? Ich hatte das Gefühl, dass Rocco echte Probleme hat.«

»Ja, so könnte man das nennen.« Tom gähnte demonstrativ. Er hatte keine Lust, die friedliche Stimmung zu zerstören, aber die Chancen standen nicht gut, dass sich das vermeiden ließ.

Clara richtete sich aus ihrem Liegestuhl auf. »Jetzt erzähl doch mal! Was habt ihr besprochen?«

»Wir waren uns einig darüber, dass es besser wäre, wenn ich nicht für Rocco arbeite.«

»Was!? Wieso nicht?«

»Was er vorhat, verstößt gegen meine Prinzipien.«

Clara schüttelte irritiert den Kopf. »Seit wann hast du Prinzipien?«

»Oh, ich habe eine Menge Prinzipien. Ich schlage keine Kinder, ich vermeide Autofahrten, wenn ich auch auf einer Wasserstraße ans Ziel komme. Ich scheue Konflikte, wenn sie mit Messern oder Schusswaffen gelöst werden, und ich weigere mich, Leuten, die ich gar nicht kenne, nachts Buttersäure in ihren Kutter zu kippen.«

Für einen Augenblick war Clara sprachlos. Sie blickte Tom mit offenem Mund an. »Das heißt, …«

»Genau. Er will seine Konkurrenten durch Sabotageakte ausschalten, wenn sein heutiges Gespräch mit dem zuständigen Menschen vom Ordnungsamt zu keinem Erfolg führt. Und um nicht selbst in Verdacht zu geraten, hatte er die wunderbare Idee, mich für die Drecksarbeit einzuspannen.«

»Das war bestimmt ein Scherz, oder?«

»Keineswegs. Dieser Rocco tritt auf wie ein Harlekin, aber in Wirklichkeit ist er ein Halunke.«

»Das glaube ich nicht.« Clara ließ sich wieder in den Liegestuhl fallen und blickte kopfschüttelnd auf eine kleine Segeljacht, die von einem grauhaarigen Mann in gelber Regenjacke in den Hafen gesteuert wurde. »Wenn er so etwas wirklich vorhat, dann muss er ja richtig in Schwierigkeiten stecken. Er hat sich da bestimmt in etwas verrannt.«

»Ich kann dir sagen, was sein Problem ist: Er hat einfach nicht kapiert, dass er hier in Stralsund mit seinem Fischbrötchenverkauf keinen Erfolg haben wird. Er hat sich verkalkuliert und unterschätzt, dass die Konkurrenz hier mit zweifelhaften Methoden arbeitet. Das ist aber schon seit Jahren so, wenn ich das richtig in Erinnerung habe. Das lief damals unter dem Stichwort ›Fischbrötchenkrieg‹.«

»Hast du wenigstens versucht, ihn von diesen Dingen abzuhalten?«

Tom zuckte mit den Schultern. »Rocco ist erwachsen.«

»Er scheint ein Riesenproblem zu haben.« Clara schlug nach einer Mücke, die auf ihren Oberarm zum Einstich ansetzte. »Du hättest ihm vorschlagen können, Alternativen zu entwickeln, mit der Konkurrenz verhandeln, das Angebot verbessern, die Preise flexibler gestalten, was weiß ich. Du bist doch sonst kreativer.«

»Ich bin Privatermittler, kein Unternehmensberater.«

»Und ganz schön arrogant. Ich habe das Gefühl, dass du Rocco nur deshalb auflaufen lässt, weil er ein alter Freund von mir ist.«

»Und ich habe das Gefühl, dass du ein Bild von Rocco mit dir herumträgst, das nicht mehr stimmt. Du erinnerst dich an ein lustiges Kerlchen aus der Grundschule und denkst, dass er heute noch immer so wäre, nur ein paar Zentimeter größer.«

»Ich bin nicht naiv. Aber was ist mit dir? Du kennst ihn seit vier Stunden und glaubst, ihn besser einschätzen zu können als ich.«

Tom sog die Abendluft ein. Er wollte den Disput nicht zum Streit ausufern lassen.

»Pass auf«, sagte Clara, »wenn Rocco gleich kommt, dann überlässt du es mir, diese Sache mit ihm zu besprechen, ja? Ich möchte hier keine Hahnenkämpfe oder so etwas.«

»Das würde ich gerne tun.«

»Was meinst du mit ›würde‹«?

»Rocco wird nicht kommen.«

»Was?!« Clara warf sich zur Seite, sodass sie beinahe aus dem Liegestuhl fiel.

»Naja, ich war am Ende unseres Gespräches der Meinung, dass es unter den gegebenen Umständen keine so gute Idee ist, wenn er heute Abend hier aufs Boot kommt.«

»Du hast ihn ausgeladen, nachdem ich ihn eingeladen hatte?«

»So würde ich das nicht nennen, ich habe nur den Gedanken geäußert, dass wir beide, also er und ich, den Abend vermutlich nicht genießen würden, wenn wir ihn, also den Abend, gemeinsam auf diesem Boot verbrächten.«

Clara presste sich die Handballen gegen die Schläfen. »Oh, Tom, das ist doch nicht wahr! Warum hast du mich nicht wenigstens gefragt, bevor du das tust? Wir hätten das doch noch mal besprechen können. Ich glaube, Rocco ist in einer schwierigen Situation. Er braucht Hilfe – und nicht eine derartig derbe Zurückweisung.«

Tom schob die Unterlippe vor. »Klar, du freust dich ja schon den ganzen Tag über nichts anderes als über diesen merkwürdigen Fischbrötchendealer, diesen Hanswurst vom Apennin, diesen …«

»Ey, halt den Mund! Was ist eigentlich los? Du warst schon heute Mittag so unfreundlich zu Rocco – da gab es doch noch gar keinen Grund.«

»Ich mag ihn halt nicht.«

»Und ich mag es nicht, wenn du mir eine alte Bekanntschaft so mies machst. Kann es sein, dass du … Bist du etwa eifersüchtig?« Sie sah ihn mit schief gelegtem Kopf an.

Tom zog es vor, nicht zu antworten. Er blickte stur vor sich hin und warf ein kleines Steinchen, das er aus einer Ritze gekratzt hatte, in das Hafenbecken, wo es mit einem leisen »Plitsch« versank.

»Ich fasse es nicht! Rocco ist ein Freund aus der Grundschulzeit, den ich seit über zwanzig Jahren nicht gesehen habe. Ich fand ihn lustig damals. Er ist ein Stück Erinnerung. Es gibt keinen Grund, eifersüchtig zu sein. Glaubst du wirklich, dass ich mit so einem wie ihm … also so einem Fischbrötchenhändler …«

»Es gab seit heute Morgen kein anderes Thema. Rocco hier, Rocco da. Er ist der strahlende Held deiner Kindheit – okay – aber wir leben ja hier und jetzt.«

Clara nickte. Mit plötzlicher Entschlossenheit stand sie auf. »Da hast du allerdings recht. Wann hat er sich mit diesem Typen von der Stadtverwaltung verabredet?«

»Erst sehr spät, um elf, glaube ich. Merkwürdig, wie die hier Geschäftliches besprechen.«

»Okay. Ich werde Rocco jetzt anrufen und sehen, ob ich ihn vorher noch treffen kann. Und dann werde ich ihm ein paar Tipps geben, wie er sich gegenüber dem Stadtfuzzi verhalten soll. Ich glaube nämlich, dass er in solchen Situationen ungeschickt ist. Vielleicht begleite ich ihn sogar bei dem Gespräch. Das hättest du übrigens auch anbieten können. Und wahrscheinlich würdest du es sogar besser hinbekommen als ich. Aber das scheint dir ja egal zu sein. Alles muss man selber machen!«

Tom sah zu, wie Clara unten in der Barkasse verschwand. Er hörte sie rumoren und kurz telefonieren. Als sie wiederkam, hatte sie einen Pullover übergezogen und einen Rucksack auf dem Rücken, in dem ein länglicher Gegenstand steckte. »Du musst nicht auf mich warten«, rief sie ihm zu, bevor sie auf den morschen Steg sprang. Der zottelige Hund des Stegwarts stand auf dem Boot seines Herrchens und beobachtete neugierig, wie sie mit schnellen Schritten dem Land zustrebte.

5

Montag

Morgens war es besonders schlimm. Der Schmerz ging von der Körpermitte aus, knapp über dem Becken, strahlte ins linke Bein aus, zog sich auch den Rücken hinauf und ließ jede Bewegung zur Tortur werden. Fichtner stöhnte vor Schmerz, als er es endlich geschafft hatte, sich nach einer nahezu schlaflosen Nacht im Bett aufzusetzen.