Die Suche nach dem Schattendorf

 

 

 

 

 

 

Für Carolina

 

 

 

 

Annina Safran

 

 

 

 

Die Suche nach dem Schattendorf

 

 

 

Die Saga von Eldrid

 

 

 

Band 2

 

 

Erstes Kapitel
Besuch von Edmund Taranee

 

Schrill hallte der Klingelton durch die Stille. Mina zuckte zusammen. Gedankenverloren zog sie ihr Handy aus der Rocktasche und tippte auf die grüne Taste.

»Mina, er kommt«, schrie jemand am anderen Ende der Leitung. Die Stimme hörte sich so hysterisch an, dass Pixi aufgescheucht wurde und umherflatterte.

»Arndt?«, fragte Mina.

»Arndt Solas?«, fügte sie sichtlich irritiert hinzu. Ihr Gesprächspartner schnaufte ungeduldig auf.

»Ja, Mina. Ich bin es, Arndt Solas.«

»Weshalb meldest du dich gerade jetzt? Wir haben uns seit Monaten nicht mehr gesprochen.« Verwirrt strich sie sich eine weiße lange Haarsträhne aus dem Gesicht, die sich aus ihrem streng gebundenen Knoten gelöst hatte. Ihre Wangen leuchteten vor Aufregung.

»Mina! Das ist nicht wichtig. Er kommt zu dir. Er ist schon unterwegs«, brüllte es aus dem Handy.

Mina schwieg.

»Hast du mich verstanden?«

»Ja, Arndt. Ich bin nicht schwerhörig.«

Schweigen.

Pixi schwebte vor ihr hin und her.

»Mina?«, piepste die kleine Fee in hohen Tönen. »Wen meint er?«

»Wer kommt?«, donnerte sie sodann mit ihrer tiefen, unüberhörbaren Stimme weiter, als sie nicht sofort eine Antwort erhielt. Trotz ihrer Größe, die nicht mehr als eine Daumenlänge maß, konnte sie enorm laut werden und bekam dabei eine Stimme, die einem Bariton glich. Diese nutzte sie jedoch nur, wenn sie sich Gehör verschaffen wollte. Ansonsten hatte sie eine einer zarten Fee entsprechende wunderschöne, glockenhelle Stimme. Nervös flatterte sie mit ihren schillernden Flügeln.

»Wer war das?«, fragte Arndt. Er schrie nun nicht mehr, aber seine Sorge war nicht zu überhören. »Mina, wer ist bei dir?«

Mina Scathan atmete schwer auf. Ihre grauen Augen blitzten müde. »Bist du dir ganz sicher, Arndt?«

»Ja.«

»Woher weiß er es?«

»Von mir.« Arndt schwieg kurz. »Mina, wer ist bei dir? Bitte sag mir, was bei dir vor sich geht.«

Mina schüttelte den Kopf und seufzte. »Das kann ich nicht, Arndt. Wenn er wirklich auf dem Weg zu mir ist, muss ich mich vorbereiten.«

Sie legte das Handy in ihre Hand und wollte gerade auflegen, als er rief: »Mina, hast du ein Wesen aus Eldrid bei dir? Ist es das?«

Sie starrte nachdenklich auf das Handy und hielt es dann wieder ans Ohr.

»Warum hast du mit ihm darüber gesprochen, Arndt?«, fragte sie ernst. »Wir hatten eine Abmachung. Das hat mir gerade noch gefehlt. Genau jetzt.«

»Was willst du damit sagen, Mina?«, rief seine beunruhigte Stimme. »Bei dir stimmt doch etwas nicht. Ich komme sofort vorbei.«

»Du hast meine Frage nicht beantwortet«, erwiderte sie ruhig.

Aber Arndt hatte schon aufgelegt.

Mina wandte sich der kleinen Fee zu, die sie mit ihren großen Augen anstarrte. Sie war immer wieder niedlich anzusehen. Mit ihrem grünen Federkleid, den schillernd glänzenden großen Flügeln und dem winzigen Kopf, der von goldschimmernden Haaren bedeckt war. Gold, die Farbe von Eldrid. Alles schimmerte in Goldtönen in Eldrid. Wie auch die Geschöpfe, die dort lebten. Die meisten zumindest. Sie atmete tief durch. »Wir bekommen Besuch, Pixi«, erklärte sie mit leicht belegter Stimme. »Wir müssen das Spiegelbild einschließen.«

Sie stand regungslos in der Küche. Aber Pixi flatterte vor ihrem Gesicht hin und her und stemmte die Hände in die Hüften. Ihr kleiner Körper schillerte in allen nur erdenklichen Farben, und die zarten Flügel, die sie trugen, waren vor Aufregung kaum zu sehen.

»Mina, du musst mir jetzt sofort sagen, was hier los ist«, donnerte das winzige Geschöpf mit ihrer tiefen lauten Stimme los.

Mina löste sich aus der Erstarrung und blickte sie traurig an. »Die Mitglieder der Spiegelfamilien, Pixi. Sie wollen mit mir reden. Also statten sie mir einen Besuch ab. Jetzt gleich.«

Pixi runzelte die Stirn und hob fragend die Schultern.

»Ich habe die anderen Familien nicht informiert. Nachdem Uri mich besucht hatte, habe ich nur mit Arndt Solas gesprochen. Er versprach mir, es für sich zu behalten. Aber nun ist der alte Taranee auf dem Weg. Und er hat Fragen.«

»Edmund Taranee kommt hierher?«, piepste sie erschrocken und schlug sich die kleine Hand vor den Mund.

Mina nickte leicht und blickte sie ernst an.

»Und Arndt Solas auch. Fehlen nur noch Mitglieder der Ardis- und Dena-Familien, und wir würden eine Versammlung der Spiegelfamilien abhalten.«

Mina seufzte erneut und ging langsam aus der Küche. Sie wirkte in diesem Moment alt. Sehr alt.

Pixi flatterte ihr aufgeregt hinterher.

»Sie dürfen dich nicht sehen«, murmelte Mina wie zu sich selbst. »Ich werde versuchen, Edmund abzuwimmeln. Und Arndt ebenfalls. Ich kann ihm nicht mehr trauen.«

Sie blieb stehen und sah die Fee nachdenklich an. »Was machen wir mit dir und dem Spiegelbild? Ich muss euch beide verstecken. Meinst du, du kannst das Spiegelbild so lange in Schach halten? Ludmilla ist offiziell nicht in das Geheimnis der Spiegelfamilien eingeweiht, deshalb werden sie nicht nach ihr fragen. Das Spiegelbild ist in ihrem Zimmer. Vielleicht bleibt ihr einfach dort?«

Ohne Pixis Antwort abzuwarten, eilte sie zu Ludmillas Zimmer, scheuchte die Fee hinein und schloss die Tür. Mit zittrigen Fingern holte sie ihr Schlüsselbund aus der Rocktasche. Sie zögerte. Sollte sie die beiden einschließen? Dann würde Ludmillas Spiegelbild vielleicht erst recht anfangen zu lärmen.

Noch während sie überlegte, klingelte es energisch an der Haustür.

Mina stand im Flur und regte sich nicht. Sie lauschte in Ludmillas Zimmer hinein. Es war kein Laut zu hören.

Beim zweiten Klingeln, das von einem kräftigen Klopfen begleitet wurde, ging sie langsam zur Haustür. Ihr langer Rock rauschte leise, und sie knotete behände die Haare wieder zu einem Knoten zusammen. Die Brille, die an einer Kette um ihren Hals baumelte, schob sie sich auf den Kopf.

»Mach auf, Mina. Ich weiß, dass du da bist. Dein Auto steht in der Einfahrt und …« Ein höhnisches Lachen ertönte. »… du verlässt dein Haus ja sowieso so gut wie nie. Also mach auf!« Es war eine tiefe, befehlende Stimme.

Mina öffnete gemächlich die Tür und lächelte ihrem Gast distanziert entgegen.

»Edmund«, flötete sie betont höflich. »Du musst mir schon die Zeit lassen, zur Tür zu kommen.« Sie blickte dem alten Edmund Taranee in sein faltiges Gesicht. »Und wie ich sehe«, ein gewisser Spot machte sich in ihrer Stimme breit, »du kommst ohne deinen Schatten. Ich nehme also an, dass du ihn bisher auch nicht zurückholen konntest.«

 

Edmund Taranee schob sie energisch zur Seite und betrat das Haus. Seine Haltung war aufrecht, sein Gang leichtfüßig, aber bestimmt. Er hatte volles weißes Haar, das ihm trotz des strengen Seitenscheitels in die Stirn fiel. Er war ein großer schlanker Mann, und bis auf die Haare und die faltige Haut ließ nichts auf sein Alter schließen. Die graublauen Augen blitzten jugendlich, und seine Bewegungen waren leichtgängig wie die eines jungen Mannes. Gekleidet war er in einen dunkelblauen Anzug mit passender Weste, darunter ein blaugestreiftes Hemd, eine Seidenkrawatte mit einem Muster in verschiedenen Blautönen, und aus der Brusttasche schaute ein farblich abgestimmtes Einstecktuch hervor. Die Füße steckten in bordeauxfarbenen Lederloafern mit Troddeln in derselben Farbe.

Mina musterte ihn amüsiert. »Edmund, du hast nichts dazugelernt. Immer noch genauso eitel wie dein Spiegelwächter. Ihr habt schon immer gut zusammengepasst«, entfuhr es ihr schnippisch, während sie ihm mit betont gemächlichem Schritt folgte.

Edmund warf ihr einen zynischen Blick zu und setzte sich unaufgefordert an den Küchentisch.

»Kommen wir gleich zur Sache, Mina.« Seine Stimme klang hart und sachlich. »Ich habe gehört, dass dein Spiegelwächter dich besucht hat. Nach all der Zeit findest du heraus, dass dein Spiegel funktioniert, und du hältst es nicht für nötig, die anderen Spiegelfamilien zu informieren?« Herrisch schlug er die Hand auf den Tisch. »Wenn es wirklich stimmt, dass du im Besitz eines funktionierenden Spiegels bist, dann bist du verpflichtet, uns dies mitzuteilen.«

Fordernd sah er sie an. Mina lehnte noch immer in der Küchentür. Es gab zwei Türen in Minas Küche. Die eine führte in den Flur zur Haustür, die andere, genau gegenüberliegende, zu den restlichen Zimmern des Hauses und zur Treppe. Langsam löste sie sich von dem Türrahmen, strich bedacht ihren langen Rock zurecht und schritt auf Edmund zu. Sie stützte sich mit beiden Händen auf den Küchentisch und sah ihn mit funkelnden Augen an. Dabei stieg ihr Zornesröte in die Wangen. Sie schob ihren Kopf nach vorn und starrte ihren ungebetenen Gast an.

»Also gut, Edmund«, presste sie hervor. »Kommen wir zur Sache: Ich bin dir überhaupt keine Rechenschaft schuldig.« Ihre Stimme wurde mit jedem Wort lauter und schriller. »Ich habe meinen Schatten und meine Schwester an diese Welt verloren. Deshalb beschloss ich damals, den Spiegel meiner Familie, der Scathan-Familie, nicht mehr zu nutzen. Das teilte ich den Spiegelfamilien mit, und seitdem habe ich mich daran gehalten. Ich habe nie behauptet, dass unser Spiegel nicht funktioniert. Ich habe lediglich darüber informiert, dass der Scathan-Spiegel nicht mehr genutzt wird. Von seiner Funktionsfähigkeit war nie die Rede. Aber da ich weder Interesse an diesem Spiegel noch an Eldrid habe, ist das auch nicht relevant.« Sie schob ihr Gesicht ganz nah vor seines, so dass sich ihre Nasen fast berührten, und flüsterte: »Das ist unser Spiegel. Der Scathan-Spiegel.«

Edmund Taranee hielt ihrem Blick stand und bewegte sich nicht. Eisige Kälte stand in seinen Augen, während Mina ihn weiter anfuhr: »Die Scathan-Familie ist fertig mit Eldrid. Wir reisen nicht mehr nach Eldrid. Wir haben genug Verluste erlitten. Wie die anderen Spiegelfamilien mit ihren Spiegeln verfahren, interessiert uns nicht!«

Sie stieß ihm den Finger auf die Brust. »Lege dich nicht mit der Scathan-Familie an. Verstanden?«

Edmund Taranee wich nicht vor ihr zurück. Ohne den Blick zu senken, umschloss er ihren Finger mit seiner Hand und schob ihn von sich. Ruckartig erhob er sich und baute sich vor ihr auf. Sie zuckte noch nicht einmal, sondern legte den Kopf in den Nacken, um ihm ins Gesicht blicken zu können.

»Deine Entscheidungen sind für mich ohne Belang«, knurrte er. »Sie sind für die Spiegelfamilien bedeutungslos. Die Spiegel haben alle einen und denselben Zweck: als Portal nach Eldrid zu dienen. Dabei spielt es keine Rolle, ob sich eine Familie dazu entschließt, ihren Spiegel nicht mehr zu nutzen.« Ruckartig wandte er sich um und fing an, um den Tisch herum zu laufen. Dabei ließ er Mina nicht aus den Augen.

»Die Taranee-Familie nimmt weiterhin ihre Aufgaben wahr und bewacht ihren Spiegel. Auch wenn er nicht funktioniert. Seit Jahrzehnten versuche ich herauszufinden, warum das so ist. Wir sind bisher davon ausgegangen, dass es mit dem Verlust meines Schattens zusammenhängt. Ehrlich gesagt habe ich deinem Geschwafel, dass du dich weigerst, den Spiegel je wieder zu benutzen, nie Glauben geschenkt. Vielmehr habe ich vermutet, dass er nach dem Verlust deines Schattens und dem Missbrauch durch deine Schwester unbrauchbar geworden ist. Der Taranee-Spiegel dagegen hat nur seine Funktionstüchtigkeit eingebüßt. Jetzt jedoch, da ich weiß, dass euer Spiegel funktioniert, erwarte ich von dir, dass du ihn mir zugänglich machst und mich nach Eldrid beförderst. Ich habe ein Recht darauf, meinen Schatten zurückzufordern.«

Mina lachte hysterisch auf. »Ha. Ein Recht? Ein Recht, Edmund? Was für ein Recht? Unsere Familien sind einen Pakt eingegangen. Vor mehr als hundert Jahren haben wir einen Pakt geschlossen. Die fünf Spiegelfamilien: Die Scathans, die Taranees, die Solas‘, die Ardis‘ und die Denas. Einen Pakt, Edmund. Wir haben kein Gesetz unterschrieben, auch wenn du das gerne so siehst. Wir wollten Eldrid vor unserer Welt bewahren. Wir waren davon überzeugt, dass wir die magischen Wesen vor der Neugier der Menschen schützen müssten. Hätten wir gewusst, wie gefährlich Eldrid ist, hätten wir anders gehandelt. Aber wir sahen nur die wundervolle Welt, waren bezaubert, verzaubert – und sahen nicht die Gefahren. Wir waren Narren. Und diesen Irrtum hat unsere Familie teuer bezahlt. Wir müssen unsere Welt vor Eldrid schützen. Wenn du anderer Meinung bist«, ihr entfuhr ein höhnisches Krächzen, »und das ist typisch für die Taranee-Familie, dass ihr uns nicht zustimmt, dann bedauere ich dies. Dennoch steht der Scathan-Spiegel für Reisen nach Eldrid nicht mehr zur Verfügung. Und nun möchte ich dich höflich bitten, mein Haus zu verlassen!«

Sie machte eine einladende Handbewegung Richtung Haustür. Ihr gesamter Körper bebte vor Anspannung.

Edmund Taranee durchbohrte sie mit seinen kalten blaugrauen Augen und rührte sich nicht. In diesem Moment klingelte es erneut. Mina setzte ein künstliches Lächeln auf. »Ach, ich vergaß zu erwähnen, dass dein Freund, Arndt Solas, ein schlechtes Gewissen bekam und sich deshalb auf den Weg hierher gemacht hat. Sicherlich möchtest du ihn begrüßen.«

Mit diesen Worten ging sie zur Tür.

»Also ist es wahr«, hörte sie Edmunds düstere Stimme hinter sich. Sie reagierte nicht, sondern öffnete die Tür.

Arndt Solas hatte blaue wässrige Augen und ein von Falten und Furchen durchzogenes Gesicht. Auf der Nase saß eine große schwarze Hornbrille mit dicken Gläsern, die die Augen kleiner wirken ließen. Seinen Kopf bedeckten außer einem dunklen kargen Kranz im Nacken kaum Haare. Der untersetzte Körper steckte in einem zerknitterten weißen Hemd und einer verschlissenen braunen Jacke, die mit Flecken übersät war. Die Hose war an einigen Stellen geflickt, und die Lederschuhe waren abgetragen.

Er stürmte an Mina vorbei, so schnell ihn seine alten wackeligen Beine tragen konnten. Den Stock vor sich in der Luft herumfuchtelnd lief er in die Küche und blieb schwer atmend vor Edmund Taranee stehen.

»Du wagst es nicht …«, krächzte er.

Edmund blickte ihn an. Ein selbstgefälliges Lächeln umspielte seinen Mund.

»Arndt Solas«, näselte er. »Welch eine Freude, dich so schnell wiederzusehen!« Er ließ sich wieder am Küchentisch nieder.

Arndt starrte ihn entgeistert an und rang immer noch nach Luft.

»Arndt, mein Lieber«, fiel Mina Edmund ins Wort. »Wie schön, dass du mich besuchst. Die Umstände könnten erfreulicher sein. Aber du kommst zu spät zu unserer kleinen Zusammenkunft, denn leider wollte Edmund mich gerade verlassen. – Nicht wahr, Edmund?«, fauchte sie und rüttelte an seinem Stuhl.

Er warf ihr einen erstaunten Blick zu.

»Ich gehe nirgendwohin, Mina. Ich bin hier, um Antworten zu erhalten, und ich verlasse dieses Haus erst, wenn ich weiß, was hier vor sich geht.« Seine Stimme hallte durch die Räume des Hauses wie ein kalter Windhauch.

Mina kniff die Augen zusammen. Sie blieb wie versteinert stehen und krallte sich an dem Stuhl fest, auf dem Edmund saß.

»Du hast mich wohl nicht richtig verstanden, Edmund. Es gibt nichts mehr zu besprechen. Wir sind hier fertig. Der Scathan-Spiegel steht als Portal nicht zur Verfügung. Jetzt nicht und in Zukunft auch nicht. Und nun bitte ich dich ein letztes Mal höflich zu gehen!«

Ihre Stimme war schrill. Sie hatte Mühe, sich zu beherrschen. Der alte Taranee rührte sich jedoch nicht.

Arndt Solas, der seinen Atem wiedergefunden hatte, saß ihm inzwischen gegenüber und starrte den Alten verbissen an.

»Du hast sie gehört, Edmund. Lass es gut sein. Du wirst hier nichts erreichen. Du weißt genauso gut wie ich, dass du sie nicht zwingen kannst, den Spiegel zum Leuchten zu bringen. Er reagiert nicht unter Druck. Wenn du unbedingt nach Eldrid reisen willst …« Arndt hielt kurz inne und sah Edmund zweifelnd an. »… und dich in die Gefahr bringen willst, verbannt zu werden, dann schicke ich dich durch unseren Spiegel, den Solas-Spiegel, nach Eldrid. Er wird mir gehorchen. Versuche es doch noch einmal mit unserem Spiegel, wenn der Taranee-Spiegel wirklich nicht reagieren mag.«

»Was heißt hier ›mag‹«, knurrte Edmund. »Du weißt genauso gut wie ich, dass der Taranee-Spiegel seit dem Verlust meines Schattens nicht mehr leuchtet. Und der Solas-Spiegel hat seiner Familie so oft nicht gehorcht – warum soll ich meine Zeit mit dem Solas-Spiegel verschwenden, wenn der Scathan-Spiegel garantiert leuchtet?«

Er wandte sich wieder Mina zu, die wie versteinert neben ihm stand und sich auf die Stuhllehne stützte.

»Ist es nicht so, Mina Scathan?«, flüsterte er kaum hörbar.

»Edmund Taranee«, donnerte Mina los. »Verlasse augenblicklich mein Haus. Ich habe dir nichts mehr zu sagen.«

Sie hatte sich über ihn gebeugt, als wollte sie ihn mit ihrem Körper ersticken. Edmund rutschte vom Stuhl und richtete sich zu seiner vollen Körpergröße auf. So standen sie sich bebend gegenüber und starrten sich in die Augen.

Arndt hob beschwichtigend die Hände. »Hört auf damit«, flehte er sie hilflos an. »Ihr habt keine Kräfte, mit denen ihr euch messen könnt. Weder hier noch in Eldrid. Ihr seid beide schattenlos. Also hört damit auf.«

Mina und Edmund wandten ihm ihre Köpfe zu und funkelten ihn an.

»Das ist genau der Grund, warum ich hier bin. Ich möchte meinen Schatten zurückverlangen«, zischte Edmund.

»Aber nicht durch meinen Spiegel«, presste Mina hervor.

»Also widersprichst du mir nicht, wenn ich behaupte, dass der Scathan-Spiegel funktioniert?«, wisperte Edmund Taranee voller Genugtuung.

Mina schob das Kinn nach vorn und schwieg. Sie zeigte mit ausgestrecktem Arm auf die Haustür.

»Geh«, flüsterte sie, während sie ihm fest in die Augen sah. »Du wirst hier nichts erreichen. Nicht, solange der Scathan-Spiegel in meinem Haus steht und sich in meiner Obhut befindet.« Sie atmete schwer. »Und daran wird sich so bald nichts ändern. Also, raus hier, Edmund. Du bist nicht erwünscht.«

Der alte Taranee sah von Arndt zu Mina, kniff die Augen zusammen und verließ wortlos die Küche. Während er zur Haustür ging, rief er: »Das hier ist noch nicht vorbei, Mina Scathan! Das ist noch nicht vorbei.«

Mit einem Krachen fiel die Haustür ins Schloss.

 

Erleichtert ließ Mina sich auf den Stuhl fallen.

Arndt sah sie besorgt an. »Geht es dir gut, Mina? Du bist plötzlich so blass.«

Sie warf ihm einen verachtenden Blick zu: »Nein, Arndt. Mir geht es nicht gut. Dieser ungebetene Gast hat mich viel Kraft gekostet. Und dich möchte ich jetzt auch bitten zu gehen.«

Arndt sah sie erstaunt an. »Du bist doch nicht etwa sauer auf mich?«

Als sie nicht antwortete, nestelte er an seiner Jacke herum und blickte betreten auf den Küchentisch. »Es tut mir leid, Mina. Es ist mir rausgerutscht. Er hat mich mal wieder versucht zu zwingen, unseren Spiegel zum Leuchten zu bringen. Unter Zwang funktionierte er nicht. Wie schon so oft zuvor. Er wurde wütend. Beschimpfte mich. Bedrängte mich. Ich solle mich mehr anstrengen. Ich wollte aber gar nicht, dass der Spiegel funktioniert. Bodan kann die Taranees nicht leiden. Wie würde er reagieren, wenn ein Taranee durch seinen Spiegel reist? Deshalb habe ich ihm gesagt, dass der Scathan-Spiegel auf jeden Fall funktionieren würde, da dich Uri vor ein paar Monaten besucht habe. Es sprudelte einfach aus mir heraus, ohne dass ich es wollte. Ich wollte ihn nur loswerden.«

Arndt warf ihr einen verzweifelten Blick zu. »Du weißt, wie er sein kann, Mina. Glaub mir, ich wollte das nicht. Es tut mir leid.«

Mina blickte ihn prüfend an und schwieg.

Zweites Kapitel
Der Aufbruch

 

Ludmilla trat ganz nah an den Wasserfall heran, der vor Uris Höhle in die Tiefe rauschte, und spürte die eiskalten Spritzer auf ihrem Gesicht. Sie hatte sich entschieden. Sie würde mit Lando und dem Unsichtbaren auf eigene Faust nach Godal suchen und versuchen, ihre Aufgabe zu erfüllen. Ungeduldig trat sie von einem Fuß auf den anderen. Am liebsten wäre sie sofort losgelaufen, bevor sie Zweifel bekäme.

»Wo treffen wir Eneas? Oder ist er etwa schon hier?« Ludmilla sah sich um, als Lando direkt vor dem Höhleneingang stehen blieb. Skeptisch starrte sie auf den Weg, der in den dunklen Teil von Eldrid, nach Fenris, führte. Dieser Unsichtbare war ihr nicht geheuer. Er hatte eine aufbrausende Art und etwas an sich, was ihr Unbehagen bereitete. Was es genau war, konnte sie selbst nicht sagen.

Lando grinste, aber auch er schien angespannt. »Er kommt noch«, zischte er.

»Wart ihr hier verabredet? Wie kommuniziert ihr eigentlich? Wie die Spiegelwächter?«, plapperte Ludmilla weiter.

Er schenkte ihr einen kurzen Seitenblick, der an ihren langen, dunkelroten Haaren hängen blieb, die im Schein des Wasserfalls glänzten. Ihre Turnschuhe, die ursprünglich weiß gewesen waren, hatten eine grau-braune Farbe angenommen, und ihre Jeans hing ausgebeult an ihren schlaksigen Beinen hinunter. Sie fing Landos Blick auf und strich sich verlegen über ihr nicht mehr ganz so weißes T-Shirt.

»Er sollte sich nur beeilen. Nicht, dass Ada aufwacht oder Uri zurückkommt. Dann haben wir unsere Chance verpasst«, drängelte sie weiter. Wie lange würde er auf Eneas warten wollen? Sie wollte nicht mehr warten. Sie hatte das Warten satt. In Eldrid ging alles so langsam zu. Zumindest mit Uri. Die Wesen hier handelten bedacht. Sehr bedacht, und das benötigte Zeit. Zuviel Zeit. Zeit, die sie nicht hatten, denn die Ereignisse überschlugen sich. Genau in diesem Moment demonstrierte Zamir seine Macht. Die riesige Schattenwolke wuchs stündlich, und die Berggeister würden sich mit ihm verbünden, wenn die Ratsmitglieder nicht schnell genug waren. Godal trieb sein Unwesen und hatte eine Oberhexe, Amira, getötet.

Ludmilla erschauderte bei dem Gedanken an die Zeremonie, der sie hatte beiwohnen müssen. Ein abgehackter Kopf. Hunderte von Hexen, die sich heulend und trauernd in Uris Höhle versammelt hatten. Wie lange würde es wohl noch dauern, bis Zamir mächtig genug war, seine Verbannung zu durchbrechen? Nicht auszudenken, was geschehen würde, wenn er sich frei bewegte und nicht mehr auf die Späher und seine Informanten angewiesen wäre. Das durfte nicht passieren. Vorher musste sie den Schattenkönig, Godal, einfangen, an sich binden und zu ihrer Großmutter Mina nach Hause bringen. Als Wiedergutmachung für die Taten ihrer Großmutter war sie bereit, ein großes Opfer zu erbringen. Für Mina und für Eldrid. Für diese magische Welt, die sie komplett in ihren Bann gezogen hatte.

Sie würde die Gefahr, ihren eigenen Schatten zu verlieren, in Kauf nehmen. Das war es ihr wert. Ganz davon abgesehen, dass sie ihren Schatten eh nicht leiden konnte. Er war ihr nicht geheuer. Wie er dalag. Schwarz und blass, mit seinen glühenden Augen. Er führte eine Art Eigenleben. Es schüttelte sie. Dabei hatte Lando ihr gerade erst erklärt, dass sie sich mit ihm auseinandersetzten musste. Sie solle lernen, ihn zu kontrollieren. Dann würde er seine Mächte mit ihr teilen. Ludmilla atmete bei dem Gedanken tief durch und warf einen kurzen Blick auf ihren Schatten. Als er ihr den Kopf zuwandte und seine roten Augen aufblitzen, zuckte sie zusammen und schaute schnell zu Lando, der nervös vor ihr hin und her lief. Während sie ihn beobachtete, fiel ihr auf, dass er genauso aussah wie vor ein paar Tagen in Bodans Hütte, als sie sich kennengelernt hatten: Die braunen kurzgeschorenen Haare, die unterschiedlich farbigen Augen, der hagere drahtige Körper, der in den Leinensachen steckte, und die leichten Schuhe, die fast jedes Wesen in Eldrid trug.

Vielleicht sollte ich das nächste Mal andere Schuhe mit in diese Welt bringen? Das wäre doch mal eine Geschäftsidee, dachte Ludmilla grinsend, während sie die dünnen Ledermokassins betrachtete. Als sie Landos Blick auffing, erstarrte sie. Wie konnte sie sich mit solchen Belanglosigkeiten beschäftigen? Beschämt starrte sie auf ihre Turnschuhe und besann sich auf die eigentliche Situation, in der sie sich befand: Sie war im Begriff davonzulaufen. Mal wieder. Dieses Mal nicht vor Zuhause, das hatte sie bereits hinter sich, sondern vor Uri, der als sicherer Beschützer galt. Und das, um sich in Gefahr zu bringen. Um eine riskante Mission alleine zu erfüllen. Nur mit Lando und diesem Unsichtbaren an ihrer Seite.

»Können wir nicht schon einmal losgehen?« Sie wischte diese Gedanken fort und warf Lando einen ungeduldigen Blick zu. Ihre hellen blauen Augen blitzten dabei.

Doch in diesem Moment nahm sie eine Bewegung hinter sich wahr. Sie fuhr herum und sah gerade noch, wie Eneas seine sichtbare Gestalt annahm. Er überragte fast den Höhleneingang, neben dem er stand, so groß war er. Seine Statur glich der eines Riesen, nur dass sie schmal und flach war, wie ein in die Länge gezogenes Gummi. Der riesige Körper glitzerte in allen Farbfacetten und war doch fast durchsichtig. Ludmilla musste schon wieder an ein Surfbrett denken und biss sich auf die Lippen, damit sie nicht lachen musste.

Lando machte einen Satz in die Luft und lief mit ausgebreiteten Armen auf ihn zu.

»Eneas, mein Lieber«, lachte er übermütig. »Lang, lang ist es her. Wie gut, dass du meine Nachricht erhalten hast.«

Die Farbe des Unsichtbaren wechselte in ein frisches Grün, er ließ sich auf ein Knie hinab und umarmte Lando herzlich. Ludmilla meinte sogar ein Lächeln auf den dünnen Lippen zu erkennen. Sie starrte die beiden Wesen fasziniert an. Lando klopfte Eneas auf die kaum sichtbaren Oberarme, wobei er sich streckte, um diese zu erreichen. Eneas versprühte durchsichtige, glitzernde Funken, während er Lando an den Schultern packte und ihn anlachte. Dann blickte er zu Ludmilla, und seine Farbe wurde dunkler. Er nickte ihr ernst zu, während er zu Lando sagte: »Ich nahm an, dass du länger brauchst, um sie zu überreden.«

Seine Stimme war sehr hoch und dünn. Zudem klang ein Echo mit. Ob das an dem fast durchsichtigen Körper lag?

Lando hob die Augenbrauen. »Mit Überreden hatte das nichts zu tun. Sie weiß selbst, dass sie es tun muss. Und auf die Spiegelwächter können wir nicht länger warten.«

Er lächelte sie wissend an.

Ludmilla holte tief Luft, doch sie kam nicht dazu, auch nur einen Ton hervorzubringen, denn in dieser Sekunde legte Lando den Finger auf die Lippen und duckte sich. Eneas verschwand augenblicklich. Bevor sie begriff, was geschah, packte Lando sie und zog sie in den Schatten des Höhleneingang. Er presste sie mit seinem Arm gegen die Wand und stellt sich schützend vor sie. Sie wagte kaum zu atmen. Vor dem Eingang der Höhle tobte der Wasserfall. Sie konnte nichts Ungewöhnliches wahrnehmen. Doch gerade, als sie sich aus Landos Umklammerung lösen wollte, warf er ihr einen eindringlichen Blick zu. Und da hörte sie es. Es war ein Geräusch wie von einem brausenden Wirbelsturm. Kleine starke Böen peitschten vor der Höhle hin und her. Kalte Luft wurde in den Höhleneingang gedrückt, so dass Ludmilla augenblicklich Gänsehaut bekam.

Es dauerte nur wenige Minuten, dann legte sich der Sturm, und alles schien wie vorher.

Vorsichtig löste Lando seinen Griff und packte sie an der Hand. Er zog sie wortlos mit sich und wählte den linken Weg, der vom Wasserfall und Uris Höhle wegführte. Der Weg, der in den dunklen Teil von Eldrid führte, nach Fenris. Lando zog sie hinter sich her, als wäre sie mit einem Seil an ihn gebunden.

Ludmilla stolperte mehrere Male, bis sie sich auf ihre Kraft besann. Sie konnte schnell laufen. Sehr, sehr schnell und sicherlich viel schneller als ein Formwandler. Sobald sie das begriffen hatte, überholte sie ihn mühelos und stellte sich vor ihn, was ihn dazu zwingen sollte, stehen zu bleiben. »Was war das?«

Er stoppte abrupt ab und sah sie zögerlich an. »Waldgeister«. Als sie ihn weiterhin fragend ansah, fuhr er fort: »Für lange Erklärungen haben wir keine Zeit. Die Geisterwelten sind aufgebracht. Erst die Berggeister, dann die Schneegeister und nun auch noch die Waldgeister. Wir müssen aus dem Wald raus. Egal, ob hell oder dunkel. Die Waldgeister sind hier zu Hause, und mit denen ist nicht zu spaßen. Wir sollten uns ihnen nicht entgegenstellen. Also«, er atmete lange aus und holte Luft, »du hast dich an deine Kraft erinnert. Das ist gut. Jetzt musst du sie nutzen. Ich verwandle mich in einen Jaguar, der ist schnell genug für dich, und ich bleibe mit dir auf dem Boden. Für mich ist es einfacher, mich in einer Tiergestalt in dieser Geschwindigkeit fortzubewegen. Deine Art des Laufens ist für mich zu ermüdend. Okay?«

Er blickte ihr prüfend in die Augen, während Ludmilla langsam nickte. Waldgeister? Davon hatte ihr bisher niemand erzählt. Bevor sie sich darüber weitere Gedanken machen konnte, verwandelte er sich vor ihren Augen in einen Jaguar. Es dauerte nicht länger als ein paar Sekunden, dennoch wich sie zurück, als die Raubkatze sie anfauchte.

»Und wo ist Eneas?«, fragte sie, während sie sich in Bewegung setzte. Neben ihr knackte ein Ast, und für eine Sekunde erkannte sie ein funkelndes Auge. Sie lächelte unsicher und konzentrierte sich auf ihre Kraft.

Sie hätte gern noch gefragt, ob Lando den Weg kannte, aber dazu kam es nicht. Der Jaguar war unglaublich schnell, sodass sie sich auf ihre Füße konzentrieren musste, um Schritt halten zu können.

Drittes Kapitel
Uri und die Waldgeister

 

Schwer atmend richtete sich Uri vom Waldboden auf. Sein Gesicht war schmerzverzerrt. Er griff sich an die Brust und würgte. Goldene Flüssigkeit quoll aus dem Mund, während die Gedanken durch den Kopf schossen: Bodan. Bodan verlor seinen Schatten, und es bereitete ihm unerträgliche Schmerzen. Er spürte den Verlust, als wäre es sein eigener. Und noch während er sich sorgte und mit seinem Bruder litt, nahm er eine Schadenfreude wahr, die nur von Zamir stammen konnte. Auch wenn er sich sicher war, dass Zamir nicht wusste, warum Uri solchen Schmerz empfand, so war ihm klar, dass er seine Schwäche ausnutzen würde. Er ließ sich auf die Knie fallen und schloss die Augen. In Gedanken rief er die anderen beiden Spiegelwächter: »Meine Brüder, Kelby, Arden. Ihr spürt den Schmerz ebenso wie ich. Bodan hat seinen Schatten verloren. Ich begreife nicht, wie das passieren konnte. Es ist eine entsetzliche Tragödie. Jedoch müssen wir handeln. Wir müssen uns jetzt verbünden und unsere Kräfte vereinen, damit Zamir den Verbannungszauber nicht brechen kann. Er wird unsere Schwäche ausnutzen. Darüber bin ich mir im Klaren. Deshalb benötige ich eure Unterstützung. Wir treffen uns in unserem Zelt. Ich bitte euch inständig, kommt so schnell wie möglich zum Zelt auf der Waldlichtung von Teja.«

 

Uri richtete sich auf und blickte zum Himmel. Über ihm kreisten kreischend die Späher. Wie hatten sie ihn finden können? Doch er erlaubte sich keine weitere Verzögerung. So schnell ihn die Füße trugen und er seine Kräfte mobilisieren konnte, rannte er zu dem Treffpunkt. Das transparente Zelt, das nur für die Spiegelwächter sichtbar war, stand schon parat. Es funkelte in der Sonne, während er darauf zuraste. Stürmisch, er fühlte seine Kräfte zurückkommen, riss er die unsichtbare Tür auf. Aber Kelby und Arden waren nicht da. Uri sah sich ungläubig um, als könnte er seinen Augen nicht trauen. Was hielt sie auf? Erneut rief er sie.

»Kelby«, donnerte er in Gedanken. »Arden.«

Er horchte in sich hinein. Aber er erhielt keine Antwort. Das Einzige, was er hörte, war das aufgeregte Pochen seines Herzens.

»Wo seid ihr? Warum seid ihr noch nicht hier?«, fragte er immer wieder.

Aber keine Stimme in seinem Kopf antwortete ihm.

»Seid ihr immer noch beleidigt, weil ich den Plan mit Ludmilla verfolgt habe?«, fragte Uri ungläubig. »Habt ihr nicht gespürt, wie Bodan seine Kräfte verlor? Seid ihr nicht geschwächt?«, fuhr er aufgeregt fort.

Er saß allein in der Mitte des Zeltes auf dem mit einer Art Segeltuch bedeckten Boden und starrte vor sich hin, während er in Gedanken mit den anderen Spiegelwächtern sprach. Er redete auf sie ein und wurde dabei immer unruhiger. Die Zeit rannte ihm davon. Zamir konnte jede Minute angreifen. Und seine Brüder waren beleidigt? Er konnte und wollte das nicht glauben.

Schließlich hörte er ein Flüstern in seinem Kopf. »Wir kommen, Uri! Wir sind ebenfalls angegriffen worden, aber wir kommen. Wir sind auf dem Weg.«

»Was soll das heißen? Ihr seid angegriffen worden? Von wem?«

Noch bevor er eine Antwort erhielt, ergriff eine heftige Windböe das Zelt. Fassungslos wandte sich Uri um. Der Wind pfiff durch die dünnen Wände und drückte ihn zu Boden. Er versuchte, sich mit aller Kraft aufzurichten, aber er war zu geschwächt. Die Luft peitschte durch das Zelt wie eine Flutwelle, und er konnte kaum atmen. Mit großer Mühe beschwor er die goldene schützende Seifenblase hervor. Selbst diese Magie kostete ihn viel Kraft. Bodans Verlust hatte ihm einen Großteil von seiner Stärke genommen, sodass er unter dem Schutzzauber, mit dem er die Seifenblase hervorrief, bebte. Er gab sich nur ein paar Sekunden, um zu verschnaufen und neue Kräfte zu sammeln. Langsam richtete er sich auf und bewegte sich auf den Ausgang des Zeltes zu. Wer wagte es, das Zelt anzugreifen? Wäre es Zamir, würde er ihn direkt attackieren und ihn nicht erst auf die Lichtung hinauslocken. Aber wer oder was war es dann? Waldgeister, schoss es ihm durch den Kopf. Das müssen die Waldgeister sein. Aber warum sind sie so aufgebracht?

Er zögerte. Noch nie in seinem langen Leben hatte er einem Waldgeist gegenübergestanden. Es waren scheue Geister, die sehr empfindlich reagierten, wenn es um ihre Territorien ging. Dennoch erlaubten sie die Durchquerung ihrer Wälder, solange die Passanten den Wald würdigten und nicht beschädigten. Uri konnte sich nicht erklären, warum nun auch noch die Waldgeister aufgebracht waren.

Beschwichtigend hob er die Hände, während er, immer noch in der schützenden Seifenblase verharrend, aus dem Zelt heraustrat. Die zarten Wände erzitterten, als eine besonders harte Böe auf sie traf. Uri taumelte rückwärts. »Ihr seid aufgebracht«, dröhnte seine tiefe Stimme über die Lichtung und hallte an den Bäumen wider.

»Ich verstehe das«, log er.

Der Wind wurde etwas schwächer. Uri wagte es, seine schützende Position zu verlassen, trat nun auf die Lichtung und hob die Hände über den Kopf, als würde eine Waffe auf ihn gerichtet.

»Lasst uns reden«, rief er, wobei er die Singsang-Stimme verwandte. »Bitte«, fügte er fast unterwürfig hinzu.

Der Sturm ebbte ab. Ein leichter Windhauch umspielte sein Gesicht, sodass sich seine Haare vom Kopf abhoben, als wären sie elektrisiert.

Uri lächelte unsicher. »Bitte«, wiederholte er. »Erweist mir den Respekt, den ich euch entgegenbringe«, forderte er mit besänftigender Stimme.

Vor ihm erhob sich aus dem Nichts eine grüne Gestalt, die in einer grünen Wolke mitten in der Luft erschien. Sie war drei Köpfe größer als Uri, hatte einen weiblichen Oberkörper und war vollständig von dunkelgrünem Moos bedeckt. Sie schwebte über dem Boden, ihr Unterkörper steckte in der Wolke, und um sie herum flogen kleine Geschöpfe, die aussahen wie grüne, fliegende Ameisen. Der Waldgeist hatte Ähnlichkeit mit den Hexen von Eldrid, nur dass alles an ihr grün war. Lange Haare, wie Algen, hingen an ihr herab, Ranken und Blumen schmückten ihren Hals und Oberkörper wie Ketten. Sie hatte eine scharfkantige Nase, und stechend grüne Augen blitzten aus dem ansonsten moosbedeckten Gesicht.

Uri deutete eine Verneigung an.

»Es ist mir eine Ehre«, begann er ehrfürchtig. »Bisher hat es noch kein Waldgeist für nötig gehalten, sich mir zu zeigen.«

Ihr Gesicht verzog sich zu einer erzürnten Fratze. »Wir waren auch noch nie so verärgert, Uri«, herrschte sie ihn an, wobei sich die kleinen fliegenden Wesen aus ihrer Wolke lösten und ihn umschwirrten. Die winzigen Waldgeister erzeugten dabei so viel Wind, dass Uri erneut ins Taumeln geriet.

Beschwichtigend hob er die Hand.

»Bitte«, forderte er leise, während er sich mühsam aufrecht hielt. Die Knie zitterten so sehr, dass er sich auf ihnen abstützte, um seine Schwäche zu verbergen. Waldgeister waren äußerst emotional und gerieten schnell in Rage. Schwäche kannten sie nicht. Wenn er ihnen nun durch sein Verhalten offenbarte, wie wenig Magie er in diesem Moment besaß, würden sie ihn verhöhnen und nicht mehr ernst nehmen. Aber Spiegelwächter mussten von allen Wesen in Eldrid respektiert und geachtet werden. Sollte eine der Geisterwelten den Stand der Spiegelwächter nicht mehr anerkennen, wäre die Ordnung in Eldrid in Gefahr. Also musste er seine gesamten noch verbliebenen Kräfte sammeln und diesem Waldgeist aufrecht entgegentreten. Er hob den Kopf und blickte ihr in die Augen. Sie schaute streng auf ihn herab, während ihre kleinen Gehilfen ihn umschwirrten. Auf ihren Fingerzeig hin ließen die Geschöpfe von ihm ab. Uri nickte dankbar, brachte aber kein Wort heraus. Fragend blickte er in das grüne Gesicht.

»Du fragst uns ernsthaft, warum wir so aufgebracht sind?«, hauchte sie. Ihre Stimme war keifend und schrill.

Uri zog die Stirn in Falten und nickte leicht, wobei er zu Boden blickte, um ihr noch mehr Respekt zu zollen.

Sie seufzte schwer. »Dann seid ihr Spiegelwächter euch keiner Schandtat bewusst?«, fragte sie und hielt dabei ihren Finger drohend in die Luft, um ihre kleinen Geister in Schach zu halten.

Uri schüttelte heftig den Kopf: »Nein. Was haben wir getan, dass die Waldgeister so aufgebracht sind? Wir sind uns tatsächlich keiner Schuld bewusst. Ihr müsst uns glauben: Die Spiegelwächter würden euch Waldgeister nie absichtlich verärgern. Ganz im Gegenteil: Wir schätzen euch und eure Arbeit sehr. Ihr schützt unsere Wälder, unsere Natur. Auch ihr leistet einen Beitrag zum Fortbestehen dieser Welt.« Seine Stimme war matt, aber aufrichtig.

»Wenn ihr uns so schätzt, warum lasst ihr es dann zu, dass unsere Ruhe gestört wird? Unsere Wälder werden zerstört und ihr seht seelenruhig zu?«, zwitscherte sie ungeduldig, mit einer vogelähnlichen Stimme.

Uri runzelte erneut die Stirn. »Wie meint ihr das? Wer stört eure Ruhe? Wer zerstört die Wälder?«

Der Waldgeist schrie ungeduldig auf. »Ihr wisst nicht, was in Eldrid vor sich geht?«, wetterte sie. »Wie kannst du nur so unwissend sein, Uri? Bist du zu sehr mit den Berggeistern beschäftigt, die sich am Gebirge zu schaffen machen, um zu realisieren, dass sie auch unsere Wälder durchkämen?«

Uri fuhr zusammen und sah den Waldgeist entgeistert an. »Die Berggeister?«, stotterte er.

Wieder schnaufte der Geist erzürnt auf. Die kleinen Gehilfen umschwirrten Uri, jedoch ohne starken Wind zu erzeugen.

»Das ist …«, begann Uri, aber ihm fehlten die Worte. Seine Gedanken überschlugen sich. Waren Kelby und Arden von Berggeistern aufgehalten worden? Hatte Bodan seinen Schatten an einen Berggeist verloren? Nicht an Godal?

»… undenkbar«, stotterte er. »Berggeister außerhalb des Gebirges, in eurem Territorium, hat es seit Anbeginn dieser Welt nicht gegeben. Wir Spiegelwächter sind tatsächlich damit beschäftigt, herauszufinden, was die Berggeister im Schilde führen, wo sie die Städter hingeschafft haben und ob sie sich mit Zamir verbündet haben. Dabei hat mich aber die Nachricht noch nicht erreicht, dass die Berggeister das Gebirge verlassen haben und in den Wald vorgedrungen sind. Bisher sind sie nur in der Stadt Fluar außerhalb des Gebirges gesichtet worden. Aber nicht im Wald.«

Er atmete schwer. »Seid versichert, dass wir versuchen, die Situation unter Kontrolle zu bringen. Eine Delegation von Ratsmitglieder befindet sich auf dem Weg nach Fluar, um mit den Berggeistern zu verhandeln. Wir müssen ein neues Abkommen mit ihnen treffen. Dazu gehört selbstverständlich auch, dass sie euer Territorium, Teja, den Wald, akzeptieren.«

Der Waldgeist lachte schrill auf. »Akzeptieren? Ihr geht tatsächlich davon aus, dass sich die Berggeister von einem Abkommen beeindrucken lassen? Sie bewegen sich gerade durch Teja, als wäre es eine Steppe und nicht unser wunderschöner Wald. So wie sie sich aufführen, werden sie sich nicht an irgendwelche Absprachen halten. Wenn sie überhaupt mit sich verhandeln lassen.«

Uri starrte den Waldgeist fassungslos an. Die Geisterwelten waren völlig außer Kontrolle. Wie hatte das passieren können? Ohne dass er etwas davon bemerkt hatte? Mit den Berggeistern zu verhandeln war in der Tat ein schwieriges Unterfangen. Aber was hatten sie für eine Wahl? Sie mussten versuchen, Eldrid vor ihnen zu schützen. Sie wussten noch nicht einmal, was sie im Schilde führten. Und nun waren sie schon soweit vorgedrungen. Uri durchschüttelte es.

Der Waldgeist aber war am Ende ihrer Geduld. Sie stieß eine Windböe aus, die Uri wie ein Schlag traf. Er taumelte und fiel rücklings in das Gras. Er fasste sich an die Brust, die schmerzte, da er keine Luft bekam. Kaum lies der Wind nach, sprudelte es aus ihm heraus. Goldene Funken traten aus seinen Händen, Augen und Haaren und übergossen sich auf dem Boden der Lichtung.

Seine Gegnerin hatte sich über ihn gebeugt und betrachtete ihn voller Abscheu. »Ihr seid so schwach, ihr Spiegelwächter. Aber ihr haltet euch für so mächtig. Wir haben den Respekt verloren, Spiegelwächter. Ihr könnt unsere Wälder nicht mehr beschützen, das sehe ich. Ihr seid viel zu schwach, um den Kampf mit den Berggeistern aufzunehmen. Wir werden uns selbst darum kümmern müssen. Aber seid vergewissert«, sie erhob ihren knochigen Finger und bohrte ihn in die Brust, »wenn wir mit den Berggeistern fertig sind, wird Eldrid in einem ganz anderen Glanz erstrahlen.«

Sie wandte sich stolz ab und stieg in ihrer Wolke empor.

»Nein, bitte«, krächzte Uri. Mühsam rappelte er sich auf und hob einen schwach glühenden Finger. »Ihr dürft euch nicht mit den Berggeistern bekriegen. Das wird schrecklich enden.«

Aber der Waldgeist lachte nur auf. »Schlimmer, als es jetzt ist, kann es nicht werden. Die Berggeister müssen in ihre Schranken verwiesen werden, und wir werden uns darum kümmern. Ihr seid dazu nicht fähig.«

Mit diesen Worten stieg die grüne Wolke in den Himmel und schoss in den Wald hinein. Noch bevor Uri auch nur einen Laut herausbrachte, war sie verschwunden, und der Wind legte sich wieder.

Viertes Kapitel
Bodan

 

Fassungslos starrte Bodan in die schwarze Nebelwolke, die Godal den Berggeistern in die Gesichter geblasen hatte. Auch er konnte nicht sehen, wie der Schattenkönig mit seinem Schatten den Krater hinaufflog und verschwand. Aber er spürte, dass sich sein Schatten von ihm entfernte und wie die Kräfte aus ihm wichen. Das war das letzte Gefühl, das er hatte. Und dann, dann spürte er nichts mehr. Keine Macht, keine Magie. Nichts. Er lehnte kraftlos gegen die warme Felswand des Gebirges Odil, während sich die Gewissheit in sein Bewusstsein einbrannte. Langsam und unwiderruflich: Godal hatte ihn zu einem schattenlosen Wesen gemacht. Sein Schatten war nicht mehr an seiner Seite. Er war zwar immer noch ein Spiegelwächter, aber einer ohne magische Fähigkeiten. Konnte er überhaupt existieren? Er befühlte vorsichtig seinen Körper. Aber der fühlte sich normal an. Die kupferfarbene Haut glitzerte, aber sie glühte nicht mehr. Kein Funkenregen ergoss sich über den Boden, als er prüfend die Hände betrachtete. Vorsichtig hob er einen Fuß, auch das ging. Bodans Körper war intakt, nur seine Mächte waren mitsamt seinem Schatten verschwunden. In diesem Moment schoss es ihm durch den Kopf: Er war nun vollkommen nutzlos für die Berggeister. Sie würden ihn nicht länger am Fuß des Kraters arbeiten lassen. Die Frage war, ob sie ihn überhaupt noch arbeiten ließen oder ihn … Bodan stockte. Er vermochte den Gedanken nicht zu Ende zu denken. Wie würde er jetzt den Fluss erreichen können? Ohne die Fähigkeit, den Felsen zum Schmelzen zu bringen? Er würde einen anderen Weg finden müssen, um zu den Flussgeistern zu gelangen. Das war seine einzige Chance der Flucht. Die Flussgeister. Es waren gutmütige Geister, die zwar ihre Ruhe schätzten, aber dem Kontakt zu den Wesen von Eldrid nicht abgeneigt waren. Sie hatten ihm in der Vergangenheit schon öfter aus misslichen Situationen geholfen. Sie würden ihm wieder helfen. Hier und jetzt. Davon war er überzeugt.

Bodan wandte sich dem kleinen Spalt in der Felswand zu, den er hatte freilegen können. Er warf einen letzten Blick auf den Nebel, der die Berggeister einhüllte. Die Zeit war knapp. Bald würde sich der Nebel lichten, und sie würden ihn entdecken und sich überlegen, was sie mit ihm machten. Darauf wollte er nicht warten. Bodan hielt den Atem an, zog den rundlichen Bauch ein und versuchte, sich durch die Öffnung zu zwängen. Aber sie war sehr eng, und während er schob und drückte, bemerkte er, dass er stecken blieb.

Die Hälfte seines Körpers war bereits durch den Spalt verschwunden, als die Stimme eines Berggeistes ertönte: »Was war das?« Ungläubigkeit sprach aus ihr.

»Das war der Schattenkönig«, erwiderte die Stimme, die zu dem König der Berggeister, Raan, gehörte. »Und er hat dem Spiegelwächter seinen Schatten gestohlen. Habt ihr das gesehen? Einfach so!« Auch er schien fassungslos zu sein. »Dabei wäre der Spiegelwächter von großem Nutzen für uns gewesen«, knarrte er.

Bodan hielt den Atem an. Verzweifelt versuchte er, den Bauch durch den Spalt zu zwängen. Er zog und schob, aber nichts bewegte sich. Sein Kopf war noch auf der Seite des Kratergrunds, so dass er sich vorsichtig umwandte, um zu erkennen, ob die Berggeister ihn schon entdeckt hatten.

»Ihm nach«, schrie Raan außer sich. »Worauf wartet ihr? Er darf uns nicht entwischen. Holt euch diesen Schatten zurück.« Sofort verwandelten sich drei der Berggeister in riesige Nebelwolken und schossen den Krater hinauf. Dann wandte sich Raan dem Gang zu, in dem Bodan steckte. Sein riesiges felsiges Gesicht erschien am Eingang und spähte umher. Schließlich entdeckte er ihn. Der Kopf des Berggeistes schwebte zu ihm hinüber.

»Wolltest du uns verlassen, Spiegelwächter?«, dröhnte der Berggeistkönig.

Bodan schluckte hart und suchte nach einer passenden Antwort.

»Das würde ich dir nicht raten«, fuhr der Geist mit leiser bedrohlicher Stimme fort. »Stell dir vor, wir fangen diesen Schattenkönig mitsamt deinem Schatten ein. Dann könnten wir dafür sorgen, dass er ihn dir zurückgibt, und das ist sicherlich in deinem Interesse, oder?«

In Bodans Kopf explodierten die Gedanken. Glaubten die Berggeister wirklich, dass sie Godal gefangen nehmen könnten? Aber was, wenn doch? Was, wenn er so seinen Schatten zurückbekam? Würden sie ihm den einfach so überlassen? Und was würde geschehen, wenn sie Godal nicht fangen konnten? Dann wäre er ein nutzloser Spiegelwächter für sie.

Bodan fixierte den Berggeist mit festem Blick, obwohl ihn inzwischen jeder einzelne Knochen in seinem Körper schmerzte und der Spalt ihm die Luft abschnürte. »Ja, das wäre tatsächlich in meinem Interesse«, presste er mit Mühe hervor.

Er blickte in das steinerne Gesicht des Berggeistes, und in diesem Moment quoll eine Erinnerung aus der hintersten Ecke seines Gehirns hervor. Es hatte eine Zeit in Eldrid gegeben, da hatten die Berggeister nicht geschlafen. Sie hatten aber ihr Territorium, Odil, das Gebirge, nicht verlassen. Die Wesen von Eldrid hatten schon immer Angst vor ihnen.

In diesem Moment unterbrach Raan den Gedankengang: »Ja, das denke ich mir, denn ihr Spiegelwächter wart schon immer zu selbstherrlich und zu überheblich, um die Alte Kunst zu erlernen.«

»Die Alte Kunst?«, entfuhr es Bodan leise. Er erinnerte sich vage an die Alte Kunst. Es war eine geächtete Kunst. Die Kunst, seinen Schatten an sich zu binden. Dazu mussten die Wesen lernen, mit ihren Schatten zu sprechen. Aber die Wesen von Eldrid sprachen nicht mit ihren Schatten. Für sie reichte es schon, dass ihre Schatten ihre Mächte ebenfalls besaßen. Eine Kommunikation mit den Schatten war für die meisten Geschöpfe undenkbar. Es hatte aber eine Zeit gegeben, da hatten alle Wesen von Eldrid die Alte Kunst erlernen müssen, um sich zu schützen. Um ihre Schatten und ihre magischen Kräfte zu beschützen.

Und plötzlich traf es Bodan wie ein Schlag, und er erinnerte sich: Sie hatten sich vor den Berggeistern schützen müssen. Die Angst vor den Berggeistern hatte dazu geführt, dass die Alte Kunst erlernt worden war. Denn damals hatten die Berggeister nicht geschlafen. Sie hatten zwar das Gebirge nicht verlassen, hatten aber Gefangene genommen, um mit den Schatten der Gefangenen zu sprechen.

Bodans Erinnerungen wurden erneut unterbrochen. »Ja, die Alte Kunst«, tönte Raan. »Es war damals eine völlig unnötige Vorsichtsmaßnahme der Wesen des Lichts, sich so vor uns schützen zu wollen. Denn wir wollten keine Schatten stehlen. Der Einzige, der Schatten von seinen Herren trennen wollte, war der Spiegelwächter, von dem auch dieser Schattenkönig gesprochen hat. Zamir.«

Bodan entfuhr ein ungläubiges Stöhnen. »Schon damals?«

Raan schien dieses Thema zu interessieren. Denn er schwebte näher. »Ja, schon damals«, bestätigte er neugierig. »Wusstet ihr davon nichts?« Bodan sah ihn erstaunt an, und Raan schien eine Antwort zu erwarten, also schüttelte er den Kopf.

»Aber da war doch noch dieser andere Spiegelwächter. Der, der mit uns sprechen wollte. Der uns vor Zamir warnen wollte.«

Bodan verzerrte das Gesicht vor Schmerz, er steckte noch immer in dem Felsspalt fest, und bei diesen Worten zerriss es ihm fast das Herz. »Uri?«, flüsterte er mehr zu sich selbst. Er hatte damals den Verdacht gehegt, dass Uri Zamir gedeckt hatte. Die beiden hatten schon immer ihre ganz eigene Beziehung zueinander gehabt.