Über das Buch

Wir erleben eine rapide Veränderung unserer Denk- und Lebensgewohnheiten und fühlen uns ihr gegenüber machtlos. »Das Denken selbst gerät in eine Globalisierungsfalle. Monoton dreht es sich im Kreis der beiden Grundfragen: Wie beherrscht man das Globale, fragen die einen, und wie rettet man es, fragen die anderen. « Der Philosoph Rüdiger Safranski hilft mit diesem Buch, sich zurechtzufinden in einem Ansturm von Eindrücken und Bedrohungen. Er ermutigt, Freiräume für Gleichgewicht und Handlungsfähigkeit zu schaffen, denn Globalisierung lässt sich nur gestalten, wenn darüber nicht die andere große Aufgabe versäumt wird: das Individuum, sich selbst zu gestalten.

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Rüdiger Safranski

Wieviel Globalisierung
verträgt der Mensch?

Carl Hanser Verlag

Inhalt

I Erste Natur, zweite Natur

II Globalisierung

III Globalismus

IV Verfeindungsgeschichten

V Weltfriede?

VI Das Globale und das andere Ganze

VII Das Individuum und sein Immunsystem

VIII Dickicht und Lichtung

IX Irrlichter der Lichtung

X Platz schaffen

I
Erste Natur, zweite Natur

Der Mensch ist ein Wesen, das sich zu sich selbst verhalten kann. Was man in einer philosophischen Tradition ›Vernunft‹ nennt, ist genau dieses Vermögen zum Selbstverhalten. Man hat ›Vernunft‹ von ›Verstand‹ unterschieden. ›Verstand‹ entdecken wir auch im Tierreich. Der Schimpanse, der durch Erfahrung lernt, mit einem Stock nach der Banane zu angeln, beweist verständiges Verhalten. Verstand ist am Werk, wo Werkzeuge hergestellt werden. Noch tierischer Verstand versteht sich auf die Mittel, die Zwecke aber werden ihm von den Instinkten vorgegeben. Vernunft, im Unterschied zum Verstand, vermag über Zwecke zu disponieren. Das setzt ein Selbstverhältnis voraus, das Selbstdistanz ermöglicht und folglich die Zweck-Mittel-Relation überblicken kann. Vernunft kommt ins Spiel, wenn das Wissen den Willen nicht nur begleitet, sondern ihn hervorbringt; kurz: wenn man sich langfristige Ziele setzen kann, für die man den Willen erst mobilisieren muß. Dazu muß man aus sich heraus-, über sich hinaustreten können. Die Karriere des Menschen als Vernunftwesen beginnt also mit dem Schritt des Aus-sich-Heraustretens, des Transzendierens.

Das transzendierende Tier, der Mensch, genießt die stolze Distanz, mit der er auf das Ganze blickt; das gibt ihm die Empfindung einer Gottähnlichkeit. Zugleich bemerkt er, daß er zwar aus sich heraustreten dabei aber doch nicht aus der Tierwelt austreten kann: er gehört ihr an. Er ist hin und her gerissen zwischen einem Gott, der das Ganze sieht, und einem Tier, das zum Ganzen gehört.

Was aber ist das Ganze? Schopenhauer hat es so gesehen: Im unendlichen Raum zahllose leuchtende Kugeln, um jede von welchen etwa ein Dutzend kleinerer beleuchteter sich wälzt, die, inwendig heiß, mit erstarrter, kalter Rinde überzogen sind, auf der ein Schimmelüberzug lebende und erkennende Wesen erzeugt hat.

Das ist eine globale Selbstwahrnehmung des Menschen, die kaum noch von einer Depression zu unterscheiden ist: das erkennende Leben entdeckt sich als Schimmelüberzug auf einem erkalteten Planeten.

Wenn die Vernunft solche Blicke auf das Ganze werfen kann, regt sich der Verdacht, daß man mit einer solchen Vernunft wie mit einer Krankheit geschlagen sein könnte. Ist sie nicht eine Überforderung? Sind wir nicht gerade deshalb ›Mängelwesen‹, weil wir auf einen zu weiten und zu fernen Horizont, eben auf das Globale, hinausblicken können? Ist unser Reichtum an Erkenntnissen und Perspektiven nicht auch unsere Schwäche?

Der Mensch ist, mit Nietzsche gesprochen, das nicht festgestellte Tier. Ein Halbfabrikat: ein Wesen, das nicht restlos fertig ist, sondern sich erst noch vervollständigen muß und dafür die bemerkenswerte Fähigkeit besitzt, die natürlichen Mängel mit Geschick und Intelligenz zu kompensieren. Mängelwesen — das bedeutet: die Instinktausstattung des Menschen ist — im Vergleich zum übrigen Tierreich — unzureichend. Der Mensch kann sich nicht auf seine Instinkte verlassen, er hat zu viele Optionen. Es gibt zu wenig Zwang und zu viel Freiheit. Wo ihn die Natur im Stich läßt, mußte er, um überleben zu können, seine Evolution selber in die Hand nehmen. Man kann es auch so formulieren: Der Mensch ist von Natur aus auf Künstlichkeit, also auf Kultur und Zivilisation angewiesen. Als das nicht festgestellte Tier, gestaltet er — durch Kultur also — seine Natur, die kulturelle zweite Natur. In der Phantasie war er immer schon ein Stück weiter und hat seine zweite Natur imaginär antizipiert und eingeübt. Beispielsweise unternahm er in der Religion, in der Metaphysik und im Märchen die ersten Flugversuche. Seitdem wir wirklich fliegen können, verlieren Religion, Metaphysik und Märchen an Bedeutung. In seiner ersten Natur ist der Mensch ein angstbestimmtes Wesen. Überall lauern Gefahren, und da bei ihm die Phantasie stärker entwickelt ist als die Instinkte, sieht er in der bedrohlichen Außenwelt lauter phantastische Kausalitäten. Um von seinen eigenen Phantasien nicht überwältigt zu werden, mußte der Mensch das Erkennen erfinden. Und so erkannte er beispielsweise, daß meteorologische Verhältnisse den Blitz erzeugen. Es war dann nicht mehr ein Gottesgericht, das den Menschen als Blitz in ihr Gewissen einschlug. Statt zu beten, baute man lieber Blitzableiter. Die zweite Natur, die wir uns schaffen, ist, neben vielem anderen, eine solche Blitzableiterkultur. Sie bedeutet Entlastung, Einschränkung der Angst, Risikominderung. Mit der Technik schaffen wir uns Prothesen, Panzer, Schalen, Schutzräume.

Kein Zweifel: Die Kultur von Technik und Wissenschaft bekommt uns in der Regel gut. Doch wir haben auch Probleme damit, weshalb uns bisweilen der Verdacht beschleicht, daß es vielleicht besser wäre, weniger zu wissen. Dieser Verdacht ist so alt wie die Kultur selbst.

In der griechischen Antike gab es eine Konkurrenz zwischen theoretischer Neugier, repräsentiert durch die Philosophie, und der Kunst der Tragödie. Platon liebte die Tragödie nicht, denn ihre Weisheit liegt darin, bestimmte Dinge im Dunkeln oder unentscheidbar zu lassen. Man denke an das Drama zwischen Antigone und Kreon, wie es sich auf der Bühne des Sophokles abspielt. Eigentlich haben beide Recht, woraus eine furchtbare Kollision entsteht — mit tragischem Ausgang. Daß jeweils beide Recht haben können, will ein Philosoph wie Platon nicht akzeptieren: den Dingen auf den Grund zu gehen, bedeutet für ihn, eine eindeutige Entscheidung über das Gute und das Schlechte treffen zu können. Der richtige Logos weiß, was richtig ist. Zur Tragödie kommt es aus der Sicht Platons nur dann, wenn mangelnde Erkenntnis die einmal gegebenen Verhältnisse trübt. Nehmen wir eine tragische Figur wie Ödipus, von der man nicht sagen kann, daß es ihr gut bekommen sei, alles über sich herausgefunden zu haben. Ohne das Furchtbare, das er erfuhr, hätte er besser leben können. Das Wissen-Wollen ist ihm zum Verhängnis geworden. Ein drittes Beispiel ist Prometheus, der im griechischen Mythos den Menschen das Feuer bringt und damit ihren kulturellen Aufstieg erst ermöglicht. Weniger bekannt ist eine andere Version des Mythos, die Euripides berichtet. Dort hockten die Menschen dämmernd und tatenlos in ihren Höhlen, denn sie kannten die Stunde ihres Todes. Sie wußten zuviel. Da kam Prometheus und schenkte ihnen das Vergessen. Zwar wußten sie nun weiterhin, daß sie sterben würden, nicht aber, wann. Indem Prometheus ihnen dieses unzumutbare und nicht lebbare Wissen nahm, entlastete er sie, und so kam unter ihnen wieder der Arbeitseifer auf, und den stachelte Prometheus mit dem Geschenk des Feuers noch zusätzlich an.

In der griechischen Tragödie und im Mythos ist ein Problem gesehen und begriffen, das darin besteht, daß es in den Angelegenheiten des Wissens und damit in der zweiten Natur, also der Kultur, zuviel des Guten geben kann, eine Selbstüberforderung durch Technik und Wissen. Das Problem läßt sich auch so formulieren: Wie weit kann der Mensch sich mit seiner zweiten Natur — also der kulturellen — von der ersten Natur entfernen? Kann seine zweite Natur nicht in einen sogar selbstzerstörerischen Gegensatz zur ersten Natur geraten?

Das Problem läßt sich an vielen Beispielen erörtern. Besonders nachdrücklich stellt es sich bekanntlich bei der Waffentechnik. Es läßt sich nicht leugnen, daß unsere emotionale Grundausstattung uralt ist, gewissermaßen zur ersten Natur gehört. Das gilt auch für unser Aggressionspotential. Aber statt Keulen, die eine begrenzte Reichweite haben, besitzen wir jetzt die moderne Waffentechnik. Ein Knopfdruck und Hunderttausende sterben. Wir können uns die Wirkung unseres Handelns kaum noch vorstellen. Wir können mehr herstellen als wir uns vorstellen können. Das alles ist bekannt und wird bedacht, ohne daß damit freilich das Problem aus der Welt ist. Und diese Spannung betrifft heute das Problem der Globalisierung.

Die Globalisierung hat in den letzten Jahrzehnten eine ungeheure Dynamik erfahren, aber ihre Vorgeschichte reicht weiter zurück. Ich gebe zwei Beispiele. Die große Industrie hat den Weltmarkt hergestellt … Die fortwährende Umwälzung der Produktion … zeichnet die Epoche aus … Alle festen eingerosteten Verhältnisse mit ihrem Gefolge von altehrwürdigen Vorstellungen und Anschauungen werden aufgelöst … Alles Ständische und Stehende verdampft, alles Heilige wird entweiht, lesen wir in einem Text aus dem 19. Jahrhundert.

Ein anderer Autor schrieb ungefähr zur selben Zeit: Jetzt kann sich eine kleine Landstadt und ihre Umgebung mit dem, was sie hat, was sie ist, und was sie weiß, absperren: bald aber wird es nicht mehr so sein, sie wird in den allgemeinen Verkehr gerissen werden. Dann wird, um der Allberührung genügen zu können, das, was der Geringste wissen und können muß, um vieles größer sein als jetzt. Die Staaten, die … sich dieses Wissen zuerst erwerben, werden an Reichtum und Macht und Glanz vorausschreiten, und die andern sogar in Frage stellen können.

Beide Texte stammen aus der Mitte des 19. Jahrhunderts; der erste findet sich im »Kommunistischen Manifest« von Marx und Engels; der zweite im Roman »Nachsommer« von Adalbert Stifter. Der eine Text ist revolutionär, der andere konservativ. Aber aus beiden Perspektiven folgt, daß die moderne Globalisierung schon zu jener Zeit begonnen hat und im damaligen Bewußtsein als der Beginn einer Zukunft erlebt wird, die, wie wir inzwischen wissen, seitdem nicht aufgehört hat zu beginnen.

Das von Menschen gemachte Netzwerk der zweiten Natur, das wie ein Schimmelpilz unseren blauen Planeten überzieht, ist global. Im 16. Jahrhundert wurde in Nürnberg der erste Globus angefertigt. Seitdem gibt es ein materielles, wenn auch nur modellhaftes Pendant zum globalen Bewußtsein. Man bekam, wenigstens im Modell, die Welt in die Hand. Knapp fünfhundert Jahre später haben dann unsere Weltraumpiloten zum ersten Mal wirklich einen Blick auf unsere Welt als Globus werfen können. Seitdem haben wir uns wie an alle Bilder so auch an dieses Bild gewöhnt. Die Mondlandung 1969 und der Blick aus dem Weltraum, vom Mond auf unseren blauen Planeten, ist wahrscheinlich die Geburtstunde des modernen globalen Bewußtseins. Damals begann der Absturz von der Euphorie in die Panik. Denn indem die Weltgesellschaft und die Weltgeschichte wie noch nie zuvor in die Globalisierung hineingerissen wird, erwacht auch der angstvolle Zweifel, ob es nicht zuviel oder zuviel falsche Globalisierung gibt, ob man sich überhaupt noch in der richtigen Veranstaltung befindet. Die Zweifel und das Unbehagen münden schließlich in die anthropologische Frage: wieviel Globalisierung verträgt der Mensch?

II
Globalisierung

Zunächst einige Tatsachen.

Wir leben in einem Zeitalter der Globalisierung, keine Frage. Es gibt seit der Atombombe eine globale Gemeinschaft der Bedrohung. Raketen erreichen jeden Punkt der Erde. Das Atomwaffenpotential erlaubt den kollektiven Selbstmord der Menschheit und die globale Verwüstung. Das Leben auf dem Globus steht zur Disposition. Kriege beschränken sich nicht mehr auf Regionen und werden auch nicht mehr nur von Staaten geführt. Entstaatlichte Gewalt oder ein Terrorismus mit wechselnden staatlichen Stützpunkten sowie die damit eng zusammenhängende organisierte Kriminalität operieren global und versuchen, an Massenvernichtungswaffen heranzukommen. Seit dem 11. September wissen wir es, aber schon vorher mußten wir es befürchten. Eine terroristische Umfunktionierung der zivilen Atomnutzung, beispielsweise durch einen Anschlag auf ein Atomkraftwerk, ist jederzeit möglich. Auch andere hochgefährliche, einstweilen noch zivil genutzte Techniken, wie Bio- und Gentechnik, können terroristisch eingesetzt werden — mit globaler Auswirkung. Diese Stichworte mögen genügen, um darauf hinzuweisen, daß die moderne Globalisierung mit der Globalisierung von Angst und Schrecken begonnen hat.

Das gilt auch, wie bekannt, für den ökologischen Aspekt der Globalisierung. Der ökonomische und industrielle Raubbau auf der Erde, in der Luft und zu Wasser verdichtet sich zu einer einzigen furchtbaren Drohkulisse. Globalisierung in diesem Sinne bedeutet Plünderung unseres Planeten.

Die Liste der Schrecken, die mit Globalisierung verbunden oder sogar auf sie zurückgeführt werden können, läßt sich fortsetzen. Krankheiten geraten wirklich oder phantasmatisch in den Sog der Globalisierung. Aids verwandelt die Welt in eine globale Ansteckungsgemeinschaft. Auch die Überbevölkerung gehört zum schreckenerregenden Aspekt der Globalisierung.

Dazu kommen die im engeren Sinne ökonomischen und technischen Vorgänge der Globalisierung, durch welche die Dichte der Vernetzung wächst: wirtschaftlich, kulturell, touristisch, wissenschaftlich, technisch und kommunikativ. Nach einer Definition der OECD ist die Globalisierung der Wirtschaft jener Prozeß, durch den Märkte und Produktion in verschiedenen Ländern zunehmend voneinander abhängig werden infolge des grenzüberschreitenden Handels mit Gütern, Dienstleistungen und Arbeitskräften und der Bewegung von Kapital und Technologie. Mit der Globalisierung triumphiert ein Kapitalismus, der nach dem Zusammenbruch des Ostblocks zum allein dominierenden Wirtschaftsmodell geworden ist. Trotz der fortbestehenden politischen und religiösen Unterschiede vereinheitlichen sich die Wirtschafts- und Technikformen, allerdings auf verschiedenen Entwicklungsniveaus. Es gibt Gegenbewegungen, die aber auf Kapital und westliche Technik angewiesen bleiben. Die Deregulierung der Finanzmärkte ruiniert ganze Volkswirtschaften. Global operierende Konzerne entmachten die lokale und legitimierte Politik. Kapitalströme gehen wie die wirklichen Ströme über Grenzen hinweg und verursachen nicht nur im metaphorischen Sinne Überschwemmungen und Wildwuchs hier und Austrocknung und Dürre dort. Das Ganze wirkt wie eine Naturkatastrophe globalen Ausmaßes, ist aber menschengemacht, wenngleich nicht geplant. Es geht dabei technisch und kalkuliert zu, mit durchgerechneten Strategien der Gewinnmaximierung. Die Prozesse sind im einzelnen rational und im Ganzen unvernünftig. Dabei ist für Öffentlichkeit gesorgt. Mit Hilfe der globalen Informationstechnologie kann man überall auf der Welt wissen, was überall auf der Welt geschieht.