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ISSN 0949-4103

ISBN 978-3-73980-408-8

Habilitationsschrift, Universität Innsbruck, 2017

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Inhaltsverzeichnis

  1. Einleitung
  2. Die territoriale Ebene
  3. Die ergänzende Staatlichkeit des Schwäbischen Reichskreises
  4. Ergebnisse
  5. Anhang
  6. Quellen- und Literaturverzeichnisse

1. Einleitung

Am Vormittag des 14. September 1687 erhielt der Konstanzer Bischof Franz Johann Vogt von Altensumerau und Praßberg Besuch von Graf Jakob Hannibal II. von Hohenems. Der Hohenemser, der den Bischof in seiner Eigenschaft als Ausschreibender Fürst des Schwäbischen Reichskreises konsultierte, berichtete, „in waß sorgsamem standt sich der Embsische Estat dermahlen befinde“. Da sein Vetter, Reichsgraf Franz Karl, Hohenems verlassen und sich in die Eidgenossenschaft begeben habe, sei die „domus quasi deserta“ und er, Jakob Hannibal, deshalb „gemuessiget worden [...], als negster Agnat, nicht zwahr einige possession zuenehmen, sondern allein die nottwendige absicht alda zuehaben unndt zuehalten, bis entweder von seinem allerhöchsten orth anderwertige disposition geschehe, oder sein Vetter, Herr Graf Frantz Carl sich etwann von selbsten auf eine andere resolution begeben möchte“. Der Bischof reagierte umgehend. Noch am selben Tag schickte er einen Boten zu Graf Frobenius Ferdinand von Fürstenberg, dem Direktor des Schwäbischen Reichsgrafenkollegiums, nach Meßkirch, informierte ihn über das, was er erfahren hatte, und teilte ihm mit, dass es ihm nicht missfallen würde, wenn „nomine des gräflichen Collegij ohne Verzug eine aigne abschickhung ahn Herren Grafen Frantz Carl geschehen möchte, umb desselben intention undt gedanckhen allervorderist zue sondieren, unndt als dann nach befindenden dingen Ihme die weithere notturft vorzuestellen“. Wenn das geschehen sei – so führte der Bischof weiter aus – wäre es ihm recht, vom Grafen Fürstenberg persönlich besucht zu werden, „uf das wür mit demselben die sach noch mehrers überlegen unndt sodann auch in unnserem Nahmen mit des Herren Grafen verhofender erlaubnuss ihme die Commission mit aufgeben möchten“ 1. Derselbe Bote überbrachte dem Direktor des Schwäbischen Reichsgrafenkollegiums auch noch ein persönliches Schreiben von Graf Jakob Hannibal. Darin klagte dieser darüber, dass sein Vetter „in das Schweizerlandt […] mit sehr vill mobilien“ geflüchtet sei. Das gräfliche Haus laufe deshalb Gefahr, dass „ein höherer sich einnisten möchte“. Jakob Hannibal ersuchte Frobenius Ferdinand von Fürstenberg, sich der Sache anzunehmen, „damit nit unser hauß in einiges praeiudicium khumen möchte“ 2.

Wie unter dem Brennglas werden hier gleich eine Reihe von Problemen, aber auch von Spezifika kleinterritorialer Existenz3 im frühneuzeitlichen Heiligen Römischen Reich sichtbar. Der ‚Embsische Estat‘, in den lokalen Kirchenbüchern auch als „status Embensis“4 bezeichnet, war aufgrund der Verschuldung des regierenden Grafen und durch Turbulenzen in der Grafenfamilie in Schwierigkeiten geraten, in Schwierigkeiten, die seine Existenz ernsthaft zu bedrohen schienen. Nach Ansicht Jakob Hannibals bestand die Gefahr, dass sich „ein höherer“ in Hohenems „einnisten möchte“. Nach Lage der Dinge konnte damit nur das benachbarte Österreich gemeint sein, das den ‚Embsischen Estat‘ von drei Seiten, von Norden, Osten und Süden, einschloss, während er im Westen an die Eidgenossenschaft grenzte. Wenn Jakob Hannibal seinem Vetter unterstellt, dass er Familienvermögen in die Eidgenossenschaft gebracht habe und so die ökonomische Basis des Grafenhauses schwäche, ja gefährde, spricht er damit zwei zentrale Probleme kleinstaatlicher Existenz an, die zu dem von ihm beschworernen Szenario führen konnten: Das äußerst schmale ökonomische Fundament der Herrschaft und – damit verbunden – die Sorge um eine kontrollierte „intergenerationelle Weitergabe von Herrschaft und Besitz“ 5.

Deutlich wird aber auch, dass sich das Haus Hohenems diesen Problemen und dem übermächtigen Nachbarn nicht schutzlos ausgeliefert sah. Jakob Hannibal II. suchte und fand, wie sich im Folgenden zeigte, die Unterstützung des Schwäbischen Reichskreises, dessen Stand der ‚Embsische Estat‘ war, und des Schwäbischen Reichsgrafenkollegiums, dem die Hohenemser als Mitglieder angehörten. Damit sind zwei wichtige Organisationsformen kleinterritorialer Herrschaft angesprochen, die „überterritorial[e]“ des Reichskreises und die „genossenschaftlich[e] und einungsartig[e]“ des Grafenkollegiums6. Die Aktivierung dieser gleichsam ergänzenden Formen der Staatlichkeit gehörte zu den wichtigen Strategien der Reichsgrafen, „um die Fortexistenz ihrer vielfach gefährdeten Herrschaften zu sichern“ 7.

Wie auch der Verlauf des angesprochenen Konflikts zeigen sollte, stützte sich die Sicherung reichsgräflicher Herrschaft im ‚Embsischen Estat‘ noch auf eine weitere Organisationsform. Die lokalen Amtsträger – zu nennen sind in erster Linie die Landammänner von Hohenems und die Hofammänner von Lustenau – waren unverzichtbar, um sie gleichsam an der Basis, in den Gemeinden, zu vermitteln. Wer immer die Landesherrschaft ausübte, musste dafür Sorge tragen, dass sein Regierungshandeln bei den lokalen Amtsträgern auf Akzeptanz stieß und dass es von diesen an die Untertanen weiter vermittelt würde. Dieser „akzeptanzorientiert[e]“ Zug reichsgräflicher Herrschaft8, war für die kleinen, mindermächtigen Territorien überlebenswichtig.

Die vorliegende Studie setzt sich zum Ziel, den Aufbau des ‚Embsischen Estats‘ als eines typischen Kleinterritoriums im frühneuzeitlichen Heiligen Römischen Reich zu untersuchen. Die Termini ‚Embsischer Estat‘ und ‚Status Embensis‘ sind nicht eindeutig. Von den gräflichen Beamten wurden sie in der Regel synonym für die Reichsgrafschaft Hohenems und für das Gesamtterritorium des schwäbischen Kreisstandes, also für die Reichsgrafschaft und den Reichshof Lustenau, verwendet. In diesem Sprachgebrauch spiegeln sich die Bemühungen des Grafenhauses und seiner Beamtenschaft wider, Lustenau als einen integrierenden Bestandteil der Reichsgrafschaft zu betrachten und seine verfassungsrechtliche Sonderstellung zu ignorieren. Im amtlichen Lustenauer Schrifttum – sowohl in dem der Gemeinde als auch in jenem der Pfarrei – wurde dagegen konsequent zwischen Reichsgrafschaft und Reichshof unterschieden9. In der vorliegenden Arbeit werden die beiden Begriffe ‚Embsischer Estat‘ bzw. ‚Status Embensis‘ ausschließlich für das Gesamtgebilde des Kreisstandes Hohenems verwendet.

Der zeitliche Bogen wird vom Beginn des 17. Jahrhunderts, als die Reichsgrafen von Hohenems die Kreisstandschaft im Schwäbischen Reichskreis erwarben, bis zum Ende des Heiligen Römischen Reiches gespannt. Es wird danach zu fragen sein, wie insbesondere Reichsgraf Kaspar die hohenemsische Staatsbildung vorantrieb und wo diese an ihre Grenzen stieß, wie dieser ‚Estat‘ in den folgenden beiden Jahrhunderten organisiert war und welche Strategien zur Sicherung und Erhaltung der Herrschaft dabei eingesetzt wurden.

Die „frühmoderne Staatsbildung“ – Johannes Burkhardt bezeichnet sie nach der Konfessionalisierung als den zweiten wichtigen Institutionalisierungsprozess, der im 16. Jahrhundert seinen Ausgang nahm10 – wurde und wird gerne als Modernisierung interpretiert. Wenn auch eingeräumt wird, dass die Entwicklung „nicht völlig geradlinig“ verlief, so wird doch postuliert, dass das „Ziel politischen Handelns [...] die Rationalisierung und Institutionalisierung von Herrschaft“ gewesen sei11. Daher wurde der Blick lange Zeit hauptsächlich auf die Bürokratisierungs-, Zentralisierungs- und Verrechtlichungsprozesse gerichtet. Kanzleien, Räte und Amtsträger, „über die der Herrscher zunehmend politische Entscheidungen vorbereitete und durchsetzte“ 12, die politischen Eliten und ihre Veränderungen – verwiesen sei nur auf das Vordringen der universitär gebildeten Juristen13 –, die Stände, aber auch die normative Ebene der Gesetzte, Mandate, Policeyordnungen etc. waren wichtige Untersuchungsgegenstände. Ihnen muss auch in dieser Untersuchung über den ‚Embsischen Estat‘ gebührende Aufmerksamkeit eingeräumt werden.

Zu Recht ist allerdings darauf hingewiesen worden, dass man aber bei einer allzu starken Betonung des Modernisierungsparadigmas Gefahr laufe, sich „den Blick auf die Eigenheiten“ der frühen Neuzeit zu verstellen. Wer „frühneuzeitliche Herrschaftsformen nur als Teil eines zielgerichteten politischen Prozesses, der auf den modernen Staat hinführt“, beschreibe, komme nicht umhin, frühneuzeitliche Staaten im Vergleich zu jenen des 19. und 20. Jahrhunderts als „defizitär“ aufzufassen14. Es waren nicht zuletzt mikrohistorische Untersuchungen zu Franken und Schwaben, zwei Regionen im Alten Reich, die durch eine ausgesprochene „herrschaftliche Kleinkammerung“ 15 geprägt waren, die gezeigt haben, dass der „ergebnisorientierte, modernisierungstheoretische Blick auf landesstaatliches Wachstum ein erhebliches Problem“ darstellen kann. Häufig ergab sich so nämlich ein „negative[r] Befund“, und es entstand ein Bild von „herrschaftsrechtliche[n] Kuriositäten, Zersplitterungen, Unfertigkeiten und Verworrenheiten, die mit den zur Verfügung stehenden verfassungsrechtlichen Sprachkategorien schwer zu fassen waren“ 16. Die genannten mikrohistorischen Untersuchungen mahnen dazu, „die Diskursivität von Herrschaft in räumlicher wie in inhaltlicher Hinsicht“ nicht außer Acht zu lassen17. Zu den wichtigsten Erkenntnissen der jüngeren Forschung gehört auch, dass in einem frühneuzeitlichen Kleinterritorium wie dem ‚Status Embensis‘ „Herrschaft […] nicht einseitig von oben nach unten“ verlaufen konnte, sondern dass ein „funktionales Teilen“ unumgänglich war18. Daher müssen in dieser Studie verschiedene Organisationsformen von Herrschaft in den Blick genommen werden. Auf der territorialen Ebene des ‚Embsischen Estats‘ rückt neben den bereits angedeuteten Bürokratisierungs- und Verrechtlichungsprozessen die Mitwirkung der kommunalen Amtsträger – vor allem der Ammänner – in den Focus. Auf dieser Ebene hatte die Herrschaft der Reichsgrafen von Hohenems also über weite Strecken einen „akzeptanzorientiert[en]“ 19 Charakter.

Freilich konnte auch ihr Kleinterritorium nicht alle staatlichen Leistungen erbringen. Es war gewissermaßen auf eine ergänzende ‚Staatlichkeit‘ angewiesen, die auf der Ebene des Schwäbischen Reichskreises und des Schwäbischen Reichsgrafenkollegiums anzusiedeln ist. Hier kann die Herrschaft als „überterritorial“ und „vernetzt“ beschrieben werden. Es soll also auch „die Bedeutung derjenigen Personen und Institutionen außerhalb der Figur des Landesherren und seiner Administration“ herausgearbeitet und ihr „Beitrag zu einer funktionierenden Herrschaftspraxis“ gewürdigt werden20. Herrschaft wird dabei „in ihren kommunikativen Prozessen und damit als dynamisches Phänomen“ verstanden21.

Wenn die Reichsgeschichte, wie unlängst festgestellt wurde, „weder in Orthodoxie noch in pietätvoller Langeweile erstarrt [ist], sondern [...] sich […] als ein weithin dynamisches Forschungsfeld“ versteht, „das sehr unterschiedliche, durchaus konfligierende Zugriffe erlaubt“ 22, so scheint es durchaus legitim und sinnvoll zu sein, sich ihr auch von unten, gewissermaßen von den Wurzeln her zu nähern. Eine Studie zu einem frühneuzeitlichen Kleinterritorium wie dem ‚Embsischen Estat‘ kann so auch einen kleinen, bescheidenen Beitrag zu wenigstens einem der „neue[n] Interpretationsansätze zum Alten Reich“ leisten, die Nicola Schümann ausmacht: Sie kann helfen zu verstehen, wie seine „auf Komplementarität und Subsidiarität angelegte politische Organisationsform, deren Ebenen [...] in Form konsensualer Aushandlungsprozesse miteinander verkehren“ 23, in der Praxis funktionierte. In Anlehnung an das Modell des „komplementären Reichs-Staates“ 24 oder jenes der „Doppelstaatlichkeit“ 25 des Alten Reiches kann an diesem Beispiel gezeigt werden, dass „die grundlegende herrschaftlich-territoriale Ebene […] nicht überall die ganze regionale staatliche Verwaltungsleistung“ erfasste und dass daher „zwei voll institutionalisierte Zwischenebenen darüber und darunter einbezogen werden“ müssen: die Reichskreise, die nicht nur eine Art Exekutive darstellten und vor allem im Bereich der infrastrukturellen Maßnahmen eine wichtige Rolle erfüllten, sondern im Falle der „kleineren Herrschaften“ außerdem auch „einen Teil der landesstaatlichen Leistungen“ übernahmen26, und die Gemeinden, die insbesondere bei der Festlegung und Durchsetzung von Normen eine bedeutende Rolle spielten27. So kann ein Puzzlestein im Bild eines „arbeitsteilige[n] politische[n] System[s]“ 28 mit „kommunizierenden Verfassungsebenen“ 29 ausgeleuchtet werden.

Ein Blick „von unten“ auf das Heilige Römische Reich kann auch insofern aufschlussreich sein, als dieses, wie Dietmar Schiersner jüngst in einem interessanten Interpretationsansatz betont hat, einen ausgesprochen „regionalen Charakter“ aufwies. Schiersner deutet das Alte Reich als eine Art „territorium non clausum“, das sich „jenseits von Fragen nach seinem staatlichen Charakter als binnendifferenzierter Überlagerungsbereich politischer, rechtlicher, sozialer oder kultureller Faktoren begreifen läßt“, und verweist auf die Bedeutung der „Polyterritorialität“ für seinen Zusammenhalt. Diese habe zwangsläufig zur Ausweitung der „kommunikative[n] Kontaktzonen“ geführt. Eine intensive und permanente Kommunikation sei entscheidend für „[s]owohl – vertikal – die besondere Form herrschaftlicher Zentralität wie auch – horizontal – die Kohärenz des Reiches“ gewesen. Schiersner fasst dies folgendermaßen zusammen: „Die spezifische, offene Struktur des Reiches und deren kommunikative Konsequenzen ermöglichten es, den politisch und verfassungsrechtlich prekären Status über Jahrhunderte in der Schwebe zu halten und die Kohärenz des Reiches – nicht zuletzt im Horizont der politischen Kräfte und der Menschen der Zeit – zu verbürgen“ 30.

Schließlich hat die jüngere Forschung herausgearbeitet, dass sich der Typus des Kleinterritoriums, wie er uns auch im ‚Embsischen Estat‘ entgegentritt, hinsichtlich der sozialen und politischen Verhältnisse „zusehends als eigentlicher Standard territorialer Verfassungsrealität im Alten Reich“ erweist31. Reichsgrafschaften machten nicht nur zahlenmäßig einen durchaus bedeutenden Teil des Alten Reiches aus, die meisten von ihnen existierten und funktionierten auch bis zuletzt. 1792 gab es immerhin noch 99 Reichsgrafschaften32. Allein im Schwäbischen Kreis betrug ihre Zahl um 1800 noch 28. Sie machten damit rund 28 Prozent aller Stände (99) im Kreis aus33. Ihr Anteil an der gesamten Kreisfläche betrug etwa 22 Prozent34, der an der gesamten Kreisbevölkerung knapp 11 Prozent35. Diese Werte liegen deutlich über jenen, die für das gesamte Heilige Römische Reich ermittelt werden konnten. Hier lebten im letzten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts immerhin ca. 16 Prozent der Bevölkerung in kleinen und kleinsten Territorien, in Reichsritterherrschaften, in Prälatenherrschaften, in Reichsgrafschaften und Reichsstädten36. Würde man also den Anteil der Reichsgrafschaften und der anderen kleinen Reichsstände am Staatsbildungsprozess im Alten Reich ausblenden, so würde man damit einen – sowohl was die Fläche als auch was die Einwohnerzahl betrifft – nicht unbeträchtlichen Teil des gesamten Gebildes ausblenden37.

Die genannten Zahlen belegen auch, dass sich Kleinterritorien bis zum Ende des Heiligen Römischen Reiches als überlebensfähig erwiesen haben38. Traditionell wurde die Ursache für das Überleben dieser kleinen Gebilde vor allem in ihrer Klientelfunktion für den Kaiser gesehen. Wegen ihrer Bedeutung für das Reichsoberhaupt als Parteigänger habe dieser seine ‚schützende Hand‘ über sie gehalten. Tatsächlich lässt sich – zumal für den Schwäbischen Kreis – nicht übersehen, dass vor allem die Reichsgrafen und die Reichsprälaten sich im Kreiskonvent oft der Sache des Kaisers angenommen haben. Es wäre allerdings verfehlt, ihnen in ihrem Ringen um Eigenständigkeit eine rein passive Rolle zuzuweisen. Die jüngere Forschung hat – mit einigem Erfolg – danach gefragt, welche eigenen Strategien die Reichsgrafen entwickelten, „um die Fortexistenz ihrer vielfach gefährdeten Herrschaften zu sichern“ 39. Es erwies sich, dass die Reichsgrafschaften und andere Kleinterritorien keineswegs reformunfähig gewesen sind. Sie verstanden es durchaus, sich den Anforderungen der Zeit zu stellen und diese zu bewältigen40.

Es gibt also nicht zuletzt aus der Perspektive der Reichsgeschichte ausreichend Grund, sich mit der Geschichte eines staatlichen Gebildes wie des ‚Emsischen Estats‘ zu beschäftigen. Joachim Whaley verweist darauf, dass die Reichsinstitutionen bis zuletzt recht gut funktionierten und dass es bis zuletzt eine lebhafte Reformdiskussion gab. Er sieht darin Belege dafür, dass die Zeitgenossen an ein Überleben des Reiches geglaubt und an diesem durchaus interessiert waren41. In dieser Arbeit muss es daher auch darum gehen, dieses Urteil aus dem regionalen Blickwinkel zu überprüfen.

Für den ersten Teil dieser Arbeit (Kapitel 2), der sich mit der territorialen Ebene beschäftigt, konnte auf zahlreiche Vorarbeiten zurückgegriffen werden42. Diese wurden durch Bestände aus dem Archiv der Reichsgrafen von Hohenems43 ergänzt. Insbesondere wurden für diesen Bereich der Arbeit serielle Quellen wie die Rentamtsrechnungen und die oberamtlichen Verhörprotokolle herangezogen. Für die Ebene der Kommunen stand weiter das Archiv des Reichshofs Lustenau, das sich zum Teil im Vorarlberger Landesarchiv und zum Teil im Historischen Archiv der Marktgemeinde Lustenau befindet44, zur Verfügung.

Inwieweit die hohenemsische Staatlichkeit durch den Reichskreis ergänzt wurde, wurde bislang – von einzelnen Aspekten abgesehen45 – noch nicht systematisch erforscht. Der zweite Teil dieser Arbeit (Kapitel 3) fußt daher weitgehend auf Quellen, die bisher von der regionalen Forschung zu Hohenems kaum wahrgenommen wurden, auf Kreistagsakten und Akten des Schwäbischen Reichsgrafenkollegiums, die sich in den Beständen des Archivs der Reichsgrafschaft Hohenems sowie im Archiv des Schwäbischen Reichskreises befinden, das im Hauptstaatsarchiv Stuttgart aufbewahrt wird46.

Die im Archiv der Reichsgrafschaft Hohenems überlieferten Kreistagsakten umfassen an die 150 Verzeichnungseinheiten. Sie sind – mit zahlreichen Überschneidungen – chronologisch geordnet. In ihnen finden sich neben den Abschieden der Konvente Gewaltbriefe und Instruktionen für die Hohenemser Vertreter, ihre Berichte an den Reichsgrafen bzw. seine Beamten, eine fast unüberschaubare Zahl von Militärakten und Rechnungen aller Art, zahlreiche Kreismandate und Patente zu allen den Kreis betreffenden Themen. Dazu kommen noch Protokollabschriften verschiedener Art, darunter von Kreisviertelskonferenzen, Kompaniekonferenzen etc. Ebenfalls erhalten haben sich in diesen Beständen Denkschriften der, bzw. für die Hohenemser Vertreter bei den verschiedenen Konventen. In den genannten Beständen des Archivs der Reichsgrafschaft Hohenems befinden sich auch zahllose Akten zum Schwäbischen Reichsgrafenkollegium. Sie sind in ihrer Struktur den Kreistagsakten ganz ähnlich und wurden in der Regel jenen beigelegt.

Bei einem Gutteil der im Archiv der Reichsgrafschaft Hohenems liegenden Kreistagsakten handelt es sich um eine „Parallelüberlieferung“ 47. Sehr viele Dokumente finden sich sowohl im Archiv des Schwäbischen Kreises als auch in jenem der Reichsgrafschaft Hohenems. Ähnlich wie im Fränkischen Kreis schuf auch hier im Grunde „[j]eder Kreisstand [...] seine eigene Dokumentation“ 48. Wie geht man methodisch mit diesem Befund um? Und lässt sich daraus ein besonderer Gewinn erzielen? Zunächst muss die Forderung Theils, stets zu prüfen, „[w]as genau [...] Originalüberlieferung“ und was kopiale Überlieferung sei49, auch in unserem Fall ernst genommen werden. Ein Verzicht auf diesen Vergleich kann leicht zu Missverständnissen führen. Die bisher in der Literatur vertretene Ansicht, dass Hohenems 1603 die Kreisstandschaft erworben habe, hat wohl in der Nicht-Beachtung der Stuttgarter Überlieferung ihren Ursprung. Aus der erstmaligen Nennung eines Hohenemser Vertreters im Kreisrezess des Jahres 1606 wurde geschlossen, dass die Aufnahme 1603 erfolgt sein müsse. Tatsächlich wird ein Hohenemser Vertreter nur in dem kopial im reichsgräflichen Archiv überlieferten Dokument genannt, im Original, das im Kreisarchiv liegt, fehlt dieser dagegen – aus gutem Grund, nämlich weil die Aufnahme erst 1606 erfolgte50.

Auch die irrige Annahme Weltis, dass Hohenems nach der Linienteilung zeitweise über zwei Stimmen im Kreiskonvent, je eine für Hohenems bzw. Hohenems-Vaduz, verfügt habe51, lässt sich durch die Berücksichtigung der Stuttgarter Überlieferung widerlegen. Im Archiv der Reichsgrafschaft Hohenems haben sich für den Kreiskonvent des Jahres 1642 zwei Gewaltbriefe für Dr. Johann Kreitmann erhalten, je einer für Hohenems und einer für Vaduz-Schellenberg52. Ein Vergleich mit dem im Archiv des Schwäbischen Kreises überlieferten Kreistagsprotokoll zeigt jedoch, dass die Kreiskanzlei den für Hohenems-Vaduz ausgestellten Brief zurückgewiesen und damit das vermeintliche Vaduzer Votum nicht akzeptiert hat53.

Die in den Archiven der einzelnen Stände überlieferten Kreistagsakten sind, obwohl sich in ihnen vieles findet, was kopial überliefert ist und für sich genommen „kaum eigenständigen Quellenwert besitzt“, unverzichtbar. Mit diesen sind nämlich „immer wieder auch Unterlagen vermischt, die die jeweilige besondere Kreispolitik, die besonderen Beziehungen jedes Mitglieds zum Kreis spiegeln und daher für die Geschichte des Kreises von erheblicher Bedeutung sind“ 54. Das gilt selbstverständlich auch für Hohenems. Da es in dieser Arbeit vor allem darum geht, zu erschließen, inwiefern der Kreis zu einem Handlungsfeld für den ‚Embsischen Estat‘ geworden ist, erwies sich die Überlieferung zum Kreis im reichsgräflichen Archiv als besonders bedeutsam.

Im Archiv des Reichshofs Lustenau finden sich wertvolle Ergänzungen, welche die Bedeutung des Kreises für die Kommunen im ‚status Embensis‘ widerspiegeln. Die private Chronistik einer lokalen Magistratenfamilie, der Ammannfamilie Hollenstein, gewährt weiter Aufschluss darüber, wie der Reichskreis und das Heilige Römische Reich auf der Ebene der Gemeindeleute wahrgenommen wurden. Die den Untersuchungszeitraum betreffenden Abschnitte der Hollensteinischen Familienannalen55 wurden von dem Priester Johann Viktor Hollenstein dem Älteren (*1726, †1799)56 und seinem Neffen, dem Arzt Dr. Johann Karl Hollenstein (*1760, †1810)57, verfasst. Ihre Aufzeichnungen beschränkten sich nicht allein auf Familiengeschichtliches. Sie berichteten regelmäßig auch über die Bedingungen, unter denen die Mitglieder dieser Magistratenfamilie ihre Ämter ausübten. Dabei kommen wiederholt auch der Schwäbische Kreis und sein Konvent ins Blickfeld. Sie gewähren damit gleichsam einen Blick ‚von unten‘ auf den Reichskreis und seine Bedeutung für die Gemeinden im ‚Embsischen Estat‘, so dass sich auf dieser Basis wenigstens ansatzweise die Frage diskutieren lässt, inwiefern der Kreis zu einer Bezugsgröße für die Gemeindeleute wurde und ob sich auch hier so etwas wie ein ‚Kreispatriotismus‘ erkennen lässt.


1 HStAS, B 571 Bü 427: Bischof Franz Johann von Konstanz an Graf Frobenius Ferdinand von Fürstenberg, 14.9.1687.

2 HStAS, B 571 Bü 427: Graf Jakob Hannibal von Hohenems-Vaduz an Graf Frobenius Ferdinand von Fürstenberg, 14.9.1687.

3 Nach Helmut Gabel sind die typischen Kennzeichen frühneuzeitlicher Kleinterritorien, dass sie nicht ständisch verfasst waren, dass „Gemeinde“ und „Land“ weitgehend ineinander fielen, dass sich „grund- und landesherrliche Befugnisse“ oft „in einer Hand“ konzentrierten und dass sie finanziell und administrativ oft Schwächen aufwiesen. Vgl. GABEL, Widerstand und Kooperation, S. 16. Diese Kennzeichen treffen im Großen und Ganzen auf den ‚Embsischen Estat‘ zu. Analog dazu können die Reichsgrafen von Hohenems begrifflich in die Kategorie der „Kleinpotentaten“ eingeordnet werden. Dieser Terminus wurde von Johannes Arndt eingeführt. Seiner Meinung nach sind Begriffe wie „Reichsfürsten“, „Reichsgrafen“ oder „Reichsfreiherren“ „zur Beschreibung einer differenzierten politischen und sozialen Wirklichkeit nur begrenzt geeignet“. Sie taugen „[i]nfolge der adligen Aufstiegsdynamik“ nach 1648 lediglich zur juristischen Definition der „[f]ormale[n] Standeszugehörigkeit“, hinsichtlich der sozialen Einordnung kommt ihnen nur beschränkte Erklärungsmacht zu. Arndt wählte stattdessen ein „Sozialmodell“ als Ausgangpunkt für seine Untersuchungen und unterschied „zwischen den großen ‚staatsfähigen‘ Reichsfürsten und den übrigen Potentaten [...], die keine Chance zur eigenen Staatsbildung hatten“. Als typische Kennzeichen für einen Kleinpotentaten nennt er „eine persönliche Standesqualität, die ihm eine rechtlich unabhängige Qualität im Verhältnis zu einem anderen Reichsfürsten erlaubte“, den Besitz von Reichslehen und Reichsfreiheit, die volle Landesherrschaft sowie Stimmberechtigung auf dem Reichstag – meist allerdings nur über eine Kuriatstimme – und im Reichskreis. Vgl. ARNDT, Der deutsche Kleinpotentat, S. 64-65.

4 PfA Hohenems, Sterbe- und Trauungsbuch 1722-1770, S. 36.

5 BUSCH, Herrschen durch Delegation, S. 10.

6 BUSCH, Herrschen durch Delegation, S. 11-12. Auch Matthias Schnettger betont die Bedeutung von Reichskreis und ständischen Kollegien für die kleinen Reichsstände. Die Reichskreise stellten „einen wichtigen institutionellen Rahmen für die interständische Kooperation bereit“, wobei nachbarschaftliche Aspekte im Vordergrund standen. Über den Grafenverein wurde „Kooperation […] innerhalb bestimmter ständischer Gruppen“ organisiert. SCHNETTGER, Kleinstaaten, S. 622-623.

7 BUSCH, Herrschen durch Delegation, S. 9.

8 BUSCH, Herrschen durch Delegation, S. 11.

9 Von gräflicher Seite wurde immer wieder die Meinung vertreten, mit der Erhebung der Reichsritter von Ems zu der Hohenems in den erblichen Reichsgrafenstand und der Umwandlung ihrer Reichsritterherrschaft in eine Reichsgrafschaft wäre der Reichshof Lustenau, der sich seit 1395 in ihrem Pfand- und seit 1526 in ihrem Allodialbesitz befand, stillschweigend in die neue Reichsgrafschaft inkorporiert worden. Diese Argumentation wurde vom Haus Habsburg nach der Belehnung mit der Reichsgrafschaft Hohenems nach 1765 aufgenommen. Damit rechtfertigte es die vorübergehende widerrechtliche Inbesitznahme Lustenaus. Die Hofleute von Lustenau konnten sich im 17. Jahrhundert gegen die Begehrlichkeiten des Hauses Hohenems ebenso erfolgreich zur Wehr setzen wie gegen Ende des 18. Jahrhunderts die Allodialerbin des letzten Reichsgrafen von Hohenems gegen jene des Hauses Habsburg, als sie in einem Prozess vor dem Reichshofrat die Rückgabe des Reichshofes Lustenau erwirken konnte. Vgl. dazu: WELTI, Reichsgrafschaft; WELTI, Heimfall; SCHEFFKNECHT, Der Reichshof Lustenau und das Ende des Alten Reiches.

10 Vgl. BURKHARDT, Das Reformationsjahrhundert, S. 136-138.

11 FREIST, Einleitung, S. 10.

12 FREIST, Einleitung, S. 10.

13 Im 16. Jahrhundert traten zunehmend universitär geschulte Juristen aus dem Bürgertum an die Stelle adeliger Amtsträger. Als jedoch „der Adel nachstudiert hatte“, pendelten sich „gemischte Formen“ ein. BURKHARDT, Das Reformationsjahrhundert, S. 169.

14 FREIST, Einleitung, S. 10. Wolfgang Reinhard weist darauf hin, dass der Staat, wie er im 19. Jahrhundert definiert und „zur Rechtsperson erklärt“ wurde – gemeint ist ein Gebilde mit dem „Staatsgebiet als ausschließliche[m] Herrschaftsbereich“, einem „Staatsvolk als seßhafte[m] Personenverband mit dauernder Mitgliedschaft“, dem „Monopol der legitimen Anwendung von physischer Gewalt“ nach innen und der „rechtliche[n] Unabhängigkeit von anderen Instanzen“ nach außen –, „nur vom ausgehenden 18. bis zum zweiten Drittel des 20. Jahrhunderts“ existiert habe. REINHARD, Geschichte der Staatsgewalt, S. 16. Vgl. dazu auch SCHORN-SCHÜTTE, Staatsformen, S. 124-134.

15 Zum Begriff „Kleinkammerung“ vgl. KIESSLING, Geschichte Schwabens, S. 119; HOLENSTEIN/ULLMANN, ‚Landgemeinde‘ und ‚Minderheiten‘ in der Frühen Neuzeit, S. 27 (Zitat).

16 ULLMANN, Methodische Perspektiven, S. 194. Sabine Ullmann verweist darauf, dass schon der Versuch, „eine vom historischen Staatsrecht vorgegebene ‚höchste obrigkeitliche Gewalt‘ empirisch auf lokaler Ebene auszumachen“, häufig ins Leere zielen musste. Stattdessen „fanden sich Bündelungen verschiedener Hoheitsrechte, die unter wechselnden machtpolitischen Konstellationen in Konkurrenz ausgeübt wurden, ohne dass ein verfassungsrechtliches Merkmal, wie etwa die lange Zeit dafür favorisierte Blutgerichtsbarkeit, darunter herausragte“. Ebenda, S. 194. Bereits Johannes Burkhardt hat festgestellt, dass wir stattdessen vielmehr auf eine „komplexe regionale Rechtslegitimation“ der Landesherrschaft stoßen, zu welcher die „geschickt genutzte Grundherrschaft“, die Hochgerichtsbarkeit, „eine Kombination von Gerichtsrechten“, „die raumgreifenden Forst- und Wildbannrechte“ sowie „die Hoheit repräsentierenden Regale“ zu zählen sind. Entscheidend scheine gewesen zu sein, dass ein Landesherr mehrere verschiedene Rechte in seiner Hand bündeln konnte, wobei „der Ansatz ganz verschieden sein“ konnte, auf jeden Fall sei wichtig gewesen, dass der Landesherr „möglichst viele dieser Rechte in einer Hand“ sammelte. Erst ihre „regionale Akkumulation […] bei einem Träger aber lief auf eine Gebietsherrschaft hinaus“. BURKHARDT, Das Reformationsjahrhundert, S. 165.

17 ULLMANN, Methodische Perspektiven, S. 196. Sabine Ullmann verweist darauf, dass „Landeshoheit […] ein von der Staatswissenschaft des 18. Jahrhunderts konzeptionalisierter Anspruch als der Zielpunkt von Territorialpolitik seit dem spätmittelalterlichen Landesausbau“ sei. Ebenda, S. 196. Luise Schorn-Schütte verweist analog darauf, dass es auch für die Termini „Staat“ und „Staatsgewalt“ keine „intersubjektiv kommunizierbare Definition“ geben könne. Im selben Maße, wie wir uns davor hüten müssten, „zeitgenössische Begriffe“ in die Vergangenheit zu projezieren, müssten wir uns des Konstruktionacharakters dieser Begriffe bewußt sein. Vgl. SCHORN-SCHÜTTE, Staatsformen, S. 133.

18 BUSCH, Herrschen durch Delegation, S. 11. Tobias Busch definiert „funktionales Teilen“ von Herrschaft als „die vorübergehende oder dauerhafte Wahrnehmung von Rechten, Pflichten und Kompetenzen durch eine Person oder Institution für eine andere Person oder Institution“. Ebenda, S. 11.

19 BUSCH, Herrschen durch Delegation, S. 11.

20 BUSCH, Herrschen durch Delegation, S. 11-12.

21 ULLMANN, Methodische Perspektiven, S. 205-206 (Zitat) und 197. In der jüngeren Literatur wird darauf hingeweisen, dass mikro- und landeshistorische Untersuchungen einen wichtigen Beitrag für die Erforschung des „Wachstum[s] der Staatlichkeit unter den besonderen Bedingungen der vormodernen Verfassungsstrukturen zu leisten im Stande sind“. Gleichzeitig wird gelegentlich beklagt, dass deren Ergebnisse von der Frühneuzeitforschung zu wenig rezipiert würden. Sabine Ullmann verweist in diesem Zusammenhang kritisch auf BAHLCKE, Landesherrschaft, Territorien und Staat. In diesem Standardwerk würden „strittige Territorialisierungsprozesse in kleinräumigen Zuschnitten weitgehend ausgeblendet“, wodurch der Eindruck entstehe, dass „[d]ie Vorgänge der staatlichen Verdichtung und die daraus folgende Territorialpolitik [...] in ihrem Ablauf [...] erfolgreich“ gewesen seien. Ausgeblendet werde, dass es „zahlreiche Fälle des Scheiterns“ gegeben habe und dass der Prozess insgesamt sehr konfliktanfällig gewesen sei.

22 CARL, Das Alte Reich in der neueren Forschungsliteratur, S. 94.

23 SCHÜMANN, Diplomaten, Deputationen und Depeschen, S. 40.

24 Georg Schmidt hat bereits vor mehr als einem Jahrzehnt sein Modell des „komplementären Reichs-Staates“ vorgestellt. Beim Terminus „Reichs-Staat“ handelt es sich um einen „Quellenbegriff des 17. und 18. Jahrhunderts“, der „den gesamtstaatlichen Zusammenhang von Kaiser und deutschen Reich(sständen)“ bezeichnet, „ein Reich, das zwar Staat ist, dessen Staatsbildung aber nie abgeschlossen werden konnte“. Das Adjektiv „komplementär“ soll andeuten, „daß das, was gemeinhin als einheitliche Staatsgewalt begriffen und etwa in Frankreich beim König konzentriert war oder in England als »King in Parliament« umschrieben wird, im frühneuzeitlichen Deutschland auf verschiedene Träger verteilt war“. Schmidt unterscheidet – idealtypisch – drei Träger oder Ebenen: das Reich, die Reichskreise und die Territorialstaaten. Jede Ebene hatte dabei jeweils eigene Zuständigkeiten: Das Reich – gemeint sind Kaiser, Reichstag sowie die beiden obersten Reichsgerichte, nämlich Reichskammergericht und Reichshofrat – war für „Außenverteidigung und Rechtssystem“, die Kreise für „Exekutionswesen und Infrastruktur“ und die Territorien schließlich für „Verwaltung und Disziplinierung der Untertanen“ zuständig. Vgl. SCHMIDT, Geschichte des Alten Reiches, besonders S. 40-44, Zitate S. 42, 269, 44; SCHMIDT, Komplementärer Staat und föderative Nation; SCHMIDT, Sonderweg und Modell für Europa oder Staat der deutschen Nation.

Die Verteilung der Staatsaufgaben auf diese verschiedenen Ebenen führten im Reich zu einer „komplementäre[n] Gewaltenteilung“, die freilich nicht mit dem modernen Begriff gleichgesetzt werden darf. SCHÜMANN, Diplomaten, Deputationen und Depeschen, S. 40. Darauf weisen Johannes Burkhardt und Wolfgang Wüst mit Blick auf die Exekutivfunktionen der Reichskreise eindringlich hin: „Es ist sicher überzogen, wenn man behaupten wollte, im Reich sei der Reichstag die Legislative, Reichshofrat und Reichskammergericht die jurisdiktionelle und die Reichskreise die exekutive Gewalt. So glatt geht das nicht auf; der Reichstag fungierte z. B. auch als rechtliche Appellationsinstanz, der Reichshofrat als Regierungsgremium. Aber wenn man die Exekutive dann ausschließlich beim Reichsoberhaupt sucht, und den Anteil, den die Reichskreise als kaiserlose Verfassungsinstitution daran hatten, völlig übersieht, übersieht man eben auch die halbe Exekutive und gelangt zu einem völligen Fehlurteil über die Wirkungsweise und Wirksamkeit des Reichssystems“. BURKHARDT/WÜST, Einleitung, S. 7.

25 Johannes Burkhardt spricht von „Doppelstaatlichkeit“ des Alten Reiches und meint damit einen dritten Weg der Staatsbildung zwischen „Einstaatlichkeit“ und „Mehrstaatlichkeit“. In seinem Modell erfolgt der Staatsaufbau des Reiches auf mehreren Ebenen: Die obere Ebene bildeten der Kaiser und jene Institutionen, die für das ganze Reich zuständig waren, der Reichstag, das Reichkammergericht und der Reichshofrat, die untere die zahlreichen Territorien und ihre Fürsten, wobei beide Ebenen eng miteinander verzahnt waren, etwa dadurch, dass der Kaiser gleichzeitig Reichsoberhaupt und österreichischer Landesfürst war, und dadurch, dass die Fürsten in den Institutionen des Reiches vertreten waren. Vgl. BURKHARDT, Vollendung und Neuorientierung, besonders S. 28-31 und 171-208; BURKHARDT, Europäischer Nachzügler oder institutioneller Vorreiter, besonders S. 300; BURKHARDT, Das Reformationsjahrhundert, S. 178-199; BURKHARDT, Deutsche Geschichte in der Frühen Neuzeit, S. 69-71; BURKHARDT, Die Friedlosigkeit der Frühen Neuzeit, besonders S. 535-537. Dazu auch: CARL, Das Alte Reich in der neueren Forschungsliteratur, S. 89. Es soll nicht verschwiegen werden, dass Georg Schmidt und Johannes Burkhardt mit ihren Interpretationen des Alten Reiches nicht nur auf Zustimmung gestoßen sind. Vgl. SCHILLING, Reichs-Staat und frühneuzeitliche Nation der Deutschen oder teilmodernisiertes Reichssystem, besonders S. 391-392; SCHILLING, Das Alte Reich – ein teilmodernisiertes System; REINHARD, Frühmoderner Staat und deutsches Monstrum, besonders S. 344-345. Nicola Schümann verweist darauf, dass bei allen – teilweise wohl begründeten – Vorbehalten gegenüber den von ihnen entwickelten Modellen, die Kritiker Schmidts und Burkhardts anerkennen mussten, dass ihre Modelle sehr viel zum Verständnis des Alten Reiches beitragen können. So richtete sich die Kritik auch nicht auf die Modelle als Ganzes. Die Kritik am komplementären Reichs-Staat des Georg Schmidt entzündete sich beispielsweise in erster Linie an seiner „scharfe[n] Pointierung“. Die „Gegeninterpretationen“ lehnten vor allem seine modernistischen Bewertungen ab, behielten aber im Großen und Ganzen „das Grundkonzept einer Mehrebenenstruktur“ bei. Vgl. SCHÜMANN, Diplomaten, Deputationen und Depeschen, S. 40.

26 BURKHARDT, Vollendung und Neuorientierung, S. 172. Vgl. dazu auch ebenda, S. 188-199.

27 BURKHARDT, Vollendung und Neuorientierung, S. 199-208.

28 BURKHARDT, Die Friedlosigkeit der Frühen Neuzeit, S. 536.

29 BURKHARDT, Deutsche Geschichte in der Frühen Neuzeit, S. 69.

30 SCHIERSNER, Überblick von unten, S. 319-321.

31 GABEL, Widerstand und Kooperation, S. 11-12.

32 Vgl. BUSCH, Herrschen durch Delegation, S. 7, auch Anm. 3.

33 Um 1800 gab es im Schwäbischen Kreis vier geistliche (4,05%) und 13 weltliche Fürsten (13,13%), 23 Prälaten (23,23%), 28 Grafen und Herren (28,28%) sowie 31 Reichsstädte (31,31%). Vgl. NÜSKE, Reichskreise und Schwäbische Kreisstände um 1800, S. 9.

34 Die geistlichen Fürstentümer machten mit 72,8 qm 11,82%, die Prälatenherrschaften mit 48,2 qm 7,82%, die weltlichen Fürstentümer mit 294,5 qm 47,82%, die Grafschaften mit 135,6 qm 22,02% und die Reichsstädte mit 64,7 qm 10,5% der gesamten Kreisfläche (615,8 qm) aus. Vgl. NÜSKE, Reichskreise und Schwäbische Kreisstände um 1800, S. 16-18.

35 Die geistlichen Fürstentümer machten mit 176.000 Einwohnern 11,74%, die Prälatenherrschaften mit 94.800 Einwohnern 6,32%, die weltlichen Fürstentümer mit 817.450 Einwohnern 54,51%, die Grafschaften mit 163.700 Einwohnern 10,91% und die Reichsstädte mit 247.750 Einwohnern 16,51% der gesamten Kreisbevölkerung aus. Vgl. NÜSKE, Reichskreise und Schwäbische Kreisstände um 1800, S. 16-18.

36 Vgl. ARETIN, Das Alte Reich, Bd. 3, S. 16-17; HARTMANN, Bevölkerungszahlen und Konfessionsverhältnisse, S. 366-368; BUSCH, Herrschen durch Delegation, S. 8.

37 Vgl. dazu BUSCH, Herrschen durch Delegation, S. 7-8.

38 So zeigt auch die Reichspublizistik, „daß im 17. Jahrhundert und bis weit ins 18. Jahrhundert hinein selbstverständlich von einer Überlebensfähigkeit und hinreichenden Effizienz von Kleinstaaten ausgegangen wurde“. SCHNETTGER, Kleinstaaten, S. 631-632.

39 BUSCH, Herrschen durch Delegation, S. 9.

40 Nach Matthias Schnettger basierte eine negative Antwort auf die Frage nach der Reformfähigkeit der deutschen Kleinstaaten in der Regel auf einer Staatsdefinition, die „die Entwicklung hin zum modernen, territorial geschlossenen und homogenen Anstaltsstaat“ zum Ideal erhoben hat. Er plädiert dafür, danach zu fragen, „ob sich nicht eine eigene Rationalität frühneuzeitlicher Kleinstaaten erkennen läßt“, und verweist darauf, „daß bestimmte Aspekte des modernen Staats, nicht zuletzt der Hang zu einer Militarisierung und offensiven Außenpolitik, der bekanntlich einen wesentlichen Impuls für die Reformen des 18. Jahrhunderts in Preußen und Österreich darstellte, für Kleinstaaten per se nicht nachzuvollziehen waren“. Hier hätten sich „traditionelle Ansichten über den Staat“ länger gehalten. In den Kleinstaaten sei eine „Konzentration auf Rechts- und Friedewahrung“ sowie auf die „Disziplinierung der Untertanen und Förderung ihrer Wohlfahrt als zentrale Staatsaufgaben“ erfolgt. SCHNETTGER, Kleinstaaten, S. 631-632.

41 Vgl. WHALEY, Germany and the Holy Roman Empire, vol. II, S. 602-613 und 636-644; WHALEY, Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation und seine Territorien, Bd. 2, S. 692-705 und 731-739.

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