Martin, Wednesday Untrue

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Aus dem amerikanischen Englisch von Nina Frey

 

Zum Schutz der Persönlichkeitsrechte wurden einige Namen und charakteristische Merkmale von Personen verändert.

 

Die Originalausgabe erschien 2018 unter dem Titel Untrue. Why Nearly Everything We Believe About Women, Lust, and Infidelity Is Wrong and How the New Science Can Set Us Free bei Little, Brown Spark, New York.
© 2018 Wednesday Martin
© Berlin Verlag in der Piper Verlag GmbH, Berlin / München 2019

 

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Zitat

»Wir kennen nicht im Geringsten den letzten Grund der Sexualität … Der ganze Gegenstand ist noch in Dunkel gehüllt.«

Charles Darwin, Über die zwei Formen oder Dimorphie der Primula-Arten und deren merkwürdige sexuelle Beziehungen, 1862[1]

»Unsere Vorstellungskraft ist beschränkt von unserer Weltsicht.«

Patricia Gowaty, Distinguished Professor der Ökologie und Evolutionsbiologie, University of California, Los Angeles[2]

»Every sensible woman got a back door man.«

(»Jede Frau von Verstand hat noch ’n Mann in der Hinterhand.«)

Sara Martin, Strange Lovin’ Blues[3]

Einleitung

Gestatten: Die Ehebrecherin

Ehebrecherin. Schon das Wort ist aufgeladen. Mit Skandal, aber auch mit Kitzel. Es ist kein Wort für Jugendliche – dazu ist es zu gewichtig; es gehört jenen, die fortgeschritten sind an Lebenserfahrung und Mündigkeit und es also besser wissen müssten. Das weiche »Ehe«, das brutale »Brecherin« – lang dahingehauchte Weiblichkeit und knisternde Unaufrichtigkeit reiben sich hier aneinander, Seidenkleid gegen Anzug, erzeugen begriffliche Unruhe. Die Ehebrecherin passt ins Rollenpersonal des Film Noir, sie könnte einem Scheidungsprozess der 1950er-Jahre entstiegen sein. Sie trägt Nahtstrümpfe. Sie ist so wenig Kind wie Engel. Und so streng unser Urteil über sie auch ausfallen mag, eins müssen wir doch zugeben: Langweilig ist sie nicht.

Im Gegensatz zu »Ehebrecherin« und »Ehebruch« klingt »Monogamie« … nun, tatsächlich, das Wort klingt monoton. Und auch ein wenig nach gemütlicher Sitzgelegenheit: »Da, setz dich her zu mir auf die Monogamie.« Was ja auch genau den Tatsachen entspricht. Die Monogamie bildet die emotionale, kulturelle und sexuelle Grundlinie unserer Gesellschaft, sie ist uns Trost- und Zufluchtsort. Sexuelle Exklusivität, so versichern wir uns, ist die Domäne der ans Leben Wohlangepassten, der Gesunden, der sittlich Reifen. Die Ehebrecherin, der Ehebruch – sie sind das so ganz andere als dieser vertraute Ort, dieser Sicherheit stiftende Orientierungspunkt. So betrachtet, ist das Wort »Ehebrecherin« nicht nur sexy und interessant: Der Begriff hat etwas wissenschaftlich Klassifizierendes, Diagnostisches, er evoziert das Laster- und Unstatthafte, aber nicht weniger das Krankhafte. Und das aus gutem Grund.

Über viele Jahrzehnte hinweg haben Psychologen, Anthropologen und Naturwissenschaftler[4] in großer Zahl die Monogamie und die Paarbindung geradezu zum Fetisch erhoben, sie beharrlich zum »natürlichen« Kompetenzbereich der Frau erklärt, ja sogar behauptet, die heterosexuelle Zweierbeziehung sei der eigentliche Grund, warum der Mensch sich als herrschende Gattung durchsetzen konnte, während die anderen Homininen ins Gras bissen. Von der biologenseitig verbreiteten Auffassung, die Eizelle der Frau sei erlesen und anspruchsvoll, das notgeile Spermium hingegen wohlfeile Massenware, über die seit Darwin unhinterfragte Annahme der Primatenforscher, dass Männchen, die von multiplen Partnerinnen profitieren[5], im Wettbewerb um sexuell passive Weibchen stehen, die ihrerseits nach dem einen tollen Hecht suchen, bis hin zu den Psychotherapeuten und Sozialwissenschaftlern, die darauf beharren, Männer und Frauen seien darauf »gepolt« oder dazu bestimmt oder hätten sich darauf hinentwickelt, diesen einen Tanz der Geschlechterrollen zu tanzen – von praktisch jeder Seite bekommen wir zu hören, dass Untreue insbesondere für Frauen so unvorstellbar ist wie unerhört.

Und doch. Frauen begehren und betrügen. Und das macht die Menschen rasend. Shere Hite wurde angegriffen und mit dem Tod bedroht[6] und ging schließlich nach Deutschland ins Exil, nachdem sie die Ansicht geäußert hatte, dass 70 Prozent von uns fremdgehen[7]. Andere Statistiken reichen von bloßen 13 Prozent bis hin zu nicht weniger als 50 Prozent[8] an Frauen, die zugeben, einem Gatten oder Partner untreu geworden zu sein. Viele Fachleute meinen, die Zahlen dürften in Wirklichkeit noch höher sein, weil viele Frauen angesichts des vernichtenden Stigmas, das einer untreuen Frau anhaftet, dergleichen nicht eingestehen. Klar ist jedoch eins: Jahrzehnte nach der zweiten großen Feminismuswelle, nunmehr gestärkt an Autonomie, Erwerbskraft und Möglichkeiten und darüber hinaus bei den heutigen Mitteln digitaler Kommunikation, sind die Frauen dabei – um mit den Soziologen zu sprechen –, die Untreuelücke zu schließen[9]. Nur darüber sprechen, das tun wir nicht. Wenigstens nicht lauter als im Flüsterton.

»Ich glaube, ich bin als Ansprechpartnerin für Sie gar nicht richtig geeignet, denn bei mir ist es echt … ungewöhnlich …«, pflegten die meisten Frauen vorauszuschicken, wenn wir uns zum Gespräch trafen. Wie das?, frage ich verwundert.

»Weil ich eine richtig ausgeprägte Libido habe. Und – ich glaube, ich bin einfach nicht geschaffen für die Monogamie«, erzählen sie mir zögernd, eine nach der anderen. Wir plaudern beim Kaffee, von Angesicht zu Angesicht, oder am Telefon. Sie fürchten, als absoluter Ausnahmefall meine Datenbasis zu kontaminieren. Sie halten sich für statistische Ausreißer. Sie seien Fremde unter dem Stamm der Frauen, deuten sie an, und glauben es auch. Aber wenn man aus dem Mund einer fest liierten Frau nach der anderen hört, sie sei in sexueller Hinsicht ungewöhnlich – weil sie mehr Sex möchte, als sie sollte, weil sie den Drang, die Versuchung zum Fremdgehen verspürt –, dann wird man das Gefühl nicht los, in Sachen weiblicher Lust, Sexualität und insbesondere Monogamie sei das »Ungewöhnliche« das »Normale« und das »Normale« bedürfe dringend einer Neudefinition.

Untrue ist ein Buch mit einem Standpunkt, und zwar diesem: Ganz unabhängig davon, was wir sonst von ihnen denken mögen, sind Frauen, die sich der Monogamie verweigern, mutige Frauen und ihre Erfahrungen und möglichen Motivationen aufschlussreich. Nicht nur, weil weibliche Untreue alles andere als selten vorkommt, sondern auch, weil die Sache als solche und unsere Reaktionen darauf taugliche Gradmesser der weiblichen Autonomie darstellen wie auch des Preises, den Frauen immer noch für Privilegien zahlen, die historisch den Männern gehörten.

Dieses Buch ist keine erschöpfende Auseinandersetzung mit der Literatur zur Untreue, auch wenn es immer wieder Bezug nimmt auf die lange, fachlich breit gespannte Reihe von Artikeln und Büchern, mit deren Hilfe ich versucht habe, das Thema in den Griff zu bekommen. Doch für jede der zahlreichen von mir zitierten Untersuchungen, die nahelegen, »außerpaarliches« weibliches Geschlechtsverhalten sei eine soziale, reproduktive Strategie, die Frauen in bestimmten Konstellationen über die Jahrtausende hinweg gute Dienste geleistet hat, gibt es andere Studien, die anders argumentieren und zu anderen Schlüssen kommen. Ich kann hier nur zu meiner Sichtweise hinführen, die geprägt ist von den Sozialwissenschaften und den Untersuchungen, auf die ich entweder selbst stieß oder durch Fachleute hingewiesen wurde: dass nämlich das, was wir heute weibliche Promiskuität nennen, ein Verhalten mit erstaunlich langer Tradition ist, mit einer fesselnden Geschichte und Vorgeschichte und einer um nichts weniger faszinierenden Zukunft. Und dass sie es verdient, vorurteilsfrei und aus unterschiedlichen Perspektiven betrachtet zu werden.

Allzu lange schon haben wir unsere sexuellen Probleme und kleinen Sünden ausschließlich den Psychotherapeuten und Psychologen überantwortet, in der Annahme, diese Fragen seien privat, wenn nicht gar pathologisch – dass sie in erster Linie in unseren emotionalen Altlasten wurzelten, in unseren Ursprungsfamilien, unseren »ganz persönlichen Schwierigkeiten«, zu vertrauen und uns hinzugeben –, und weiterhin angenommen, jene hätten die Lösungen parat. Doch diese vordergründig privatesten aller Fragen – wie und warum wir Sex haben, warum wir uns mit der Monogamie so schwertun – haben ebenfalls einen gewaltigen geschichtlichen und vorgeschichtlichen Unterbau. Biologische Einflüsse, soziale Kontrolle, kultureller Kontext, Ökologie – all diese Faktoren und noch mehr formen die weibliche Sexualität und die Palette unserer Möglichkeiten.

Die Neubewertung eines so komplexen Themas wie weibliche Untreue, das derart aufgeladene Reaktionen hervorruft, verlangt wohl nach einer Vielzahl von Perspektiven. Soziologie, Evolutionsbiologie, Primatologie und Literaturtheorie sind nur einige wenige wissenschaftliche Denk- und Sprechsysteme, die zu einem vertieften Verständnis beitragen können, indem sie die untreue Frau in einen anderen Rahmen setzen – einen, der es gestattet, mit ihr mitzufühlen und sie besser zu verstehen, und damit auch uns selbst.

Wir haben es hier also mit einem Werk der interdisziplinären Kulturkritik zu tun. Es filtert und verdichtet eine ganze Bandbreite gelehrter Forschungsergebnisse zur weiblichen Untreue und verwebt sie mit meinen ganz persönlichen Ansichten, meinen Interpretationen von Artikeln in wissenschaftlichen Fachzeitschriften, sozialwissenschaftlichen Studien, aber auch von Songs und Filmen der Popkultur. Um mich dem Thema Untreue zu nähern, habe ich dreißig Fachleute aus zahlreichen Gebieten befragt, darunter Primatologinnen, Kultur- und biologische Anthropologen, Psychologinnen, Sexualforscher, Soziologinnen und Mediziner ebenso wie »Unterstützer und Aktivisten selbstbestimmter Lebensführung«. Außerdem wollte ich die Sicht derjenigen einbringen, die weibliche Untreue selbst erfahren haben. Zu diesem Zweck schildere ich Anekdoten und Berichte von Frauen und Männern im Alter zwischen 20 und 93 Jahren, mit denen ich Interviews geführt habe, wie auch Erkenntnisse und Äußerungen von Menschen, mit denen ich mich in privaterem Rahmen über Untreue unterhalten habe.

Kein einziges dieser Gespräche war langweilig. Frauen, die sich der sexuellen Exklusivität verweigern, lassen sich schlecht in Schubladen stecken – ganz überwiegend kamen sie mir von Grund auf normal vor. Nur dies eint sie: Sie haben gewagt, etwas zu tun, von dem uns eingetrichtert wurde, es sei unmoralisch, asozial und ein Verstoß gegen unsere elementaren Vorstellungen davon, wie Frauen von Natur aus sind und »sein sollten«. Mit ihrer Untreue, so die Soziologin Alicia Walker[10], missachten Frauen nicht bloß einen sozialen Kodex, sondern auch einen wohlgepflegten Geschlechterkodex.

Die Frauen, mit denen ich gesprochen habe, stellen natürlich keinen repräsentativen Querschnitt dar – darum ging und geht es mir nicht. Sie waren Geschichtenerzählerinnen – mal bedauernd, oft schuldbewusst oder unentschieden, gelegentlich aber auch völlig reuelos und sogar begeistert von dem, was sie getan hatten. Den nackten Realitäten der weiblichen Untreue, von denen ich in den Fachzeitschriften und Studien gelesen und von den Fachleuten gehört hatte, verliehen sie Fleisch und Farbe. Sie waren die erhitzten Gesichter der Statistiken, die Protagonistinnen ihrer eigenen Geschichte wie auch die des umfassenderen Narrativs: nämlich der Ambivalenz unserer Kultur gegenüber fremdgehenden Frauen.

 

Mein Interesse an der Besessenheit unserer Kultur von der untreuen Frau kommt nicht von ungefähr. Wie viele junge Frauen quälte auch ich mich in meinen Zwanzigern mit der Monogamie und dem Schreckgespenst der Fremdgeherin. Ich zog nach New York, wegen des pulsierenden Geistes- und nicht minder Nachtlebens, wegen der gleichgesinnten Menschen – und der riesigen Auswahl an möglichen romantischen und sexuellen Partnern. New York schien mir ein großartiger Ort, einen Freund zu finden – oder gleich mehrere. Und die fand ich auch. Immer nur mit einem Kerl auf einmal wollte ich ausgehen, einen säuberlichen Schlussstrich unter die Beziehung setzen, bevor der Nächste dran wäre, bis ich endlich auf »den Richtigen« stieße, den ich dann heiratete. So lautete die quasianerkannte Tradition serieller Monogamie. So machte man das einfach.

In der Praxis stellte sich das alles als etwas komplizierter heraus. Ich verfiel in ein Schema: mich mit einem Mann einlassen, tollen Sex haben, mich in ihn verlieben, eine Beziehung eingehen, eine sehr feste Beziehung eingehen, mich zu langweilen beginnen. Der nächste Schritt bestand regelmäßig in meinem Versuch, das Stürzende, Sinkende noch zu retten, meine Libido davon zu überzeugen, dass wir das hinkriegen konnten – und sollten. Welches nette Mädchen würde anders handeln? Was wäre das für eine junge Frau, die sich einfach aus psychosexuellem Überdruss gleich unsentimental und unromantisch verdrückt? »Komm schon, der ist doch wirklich toll«, redete ich mir und meiner Libido ein. Doch so leicht war mein Begehren nicht zu überzeugen, geschweige denn zu bestechen. Es kannte kein Pardon und hatte anderes im Sinn. Nämlich: sich einen anderen Kerl auszugucken, gegenseitige Anziehung zu spüren, ihr nachzugeben. Flog das auf oder rückte ich einfach selbst damit heraus, kam es unvermeidlich zu chaotischen, schmerzhaften Szenen. Die erhoffte Lösung, so erfuhr ich bald, war das also auch nicht. Es erwies sich, dass das offene Eingeständnis meiner Sehnsüchte – »Ich bin wirklich gern mit dir zusammen, aber ich würde mich gern auch mit anderen treffen« oder »Ich steh echt auf dich, aber mit Monogamie tu ich mich schwer« – etwas war, das sich meine schwulen Freunde, denen ich den Rat verdankte, vielleicht leisten konnten. (Später hörte ich mehrfach aus berufenem Mund, viele schwule Paare seien schon »einvernehmlich nichtmonogam« gewesen, bevor das Konzept überhaupt erfunden wurde[11].) Meine Verehrer jedoch waren getroffen, wie ich es an ihrer Stelle vermutlich auch gewesen wäre. Und so rächten sie sich, indem sie mir ihrerseits wehtaten – gaben mir zu verstehen, ich sei eine Schlampe, oder ließen mich einfach sitzen, verletzt und aufgewühlt, wie ich es vielleicht getan hätte. Und doch konnte ich es nicht ertragen, dass sie sich meinetwegen so schlecht fühlten, so wenig, wie ich ihre schlechte Meinung von mir ertrug – das Gefühl, etwas Schlechtes getan zu haben, selbst schlecht zu sein. Und obwohl ich den Drang verspürte, mich nebenher auszutoben, und das Interesse an einem einzigen Mann nie so lange aufrechtzuerhalten vermochte, wie ich es meinem Empfinden nach hätte tun sollen, so wollte ich diesem Modell der Nichtexklusivität meinerseits durchaus nicht unterworfen sein. Heuchlerischerweise wollte ich selbst Affären haben, ohne jedoch meinem Partner dasselbe zuzugestehen. Wie eine Enddreißigerin von sprühender Intelligenz und Schönheit es im Gespräch mit mir formulierte: »Ich will mit niemandem zusammen sein, der von einem Bett ins andere hüpft, aber selbst machen will ich es schon.« Und wie das Amen in der Kirche folgte das Lamento: »Was läuft denn da falsch bei mir?«[12]

Sie klagte auch darüber, noch immer alleinstehend und kinderlos zu sein, und schob es auf ihre »Unfähigkeit, sich auf jemanden einzulassen«, womit sie »monogam sein« meinte. Obwohl sie weder religiös war noch politisch konservativ, schleppte sie ihre eigene Katastrophenerzählung von den »Konsequenzen weiblicher Untreue« mit sich herum. Tun wir das nicht alle?

Wie sie und wie noch viele der Frauen, die ich befragt habe, lernte ich, in diesen Angelegenheiten diskret zu sein. Ich hielt den Mund und stellte keine Fragen. Ich bemühte mich, nicht über meine eigenen Ausflüchte zu stolpern. Oft wäre ich um ein Haar aufgeflogen. Eine Zeit lang beschloss ich, das mit den Beziehungen einfach aufzugeben, weil mich beides so anstrengte: mein Bemühen um Treue und mein innerer Freibrief zur Untreue. Ich war mir sicher, dass etwas mit mir nicht stimmte. Wie konnte es sein, dass jeder junge Mann, der theoretisch und praktisch wie geschaffen für mich war, mir immer weniger begehrenswert erschien, je näher ich ihn kannte und je näher er mir kam? Es war doch bekannt, dass Frauen Intimität und Nähe brauchen. Und Verbindlichkeit.

Zugleich hatten nicht wenige meiner Freunde mich ihrerseits betrogen, und es hatte mir sehr wehgetan. Doch ihre Seitensprünge auf einer tieferen Ebene zu hinterfragen wäre mir nie eingefallen. So waren Männer eben, oder?

Die nächsten zehn, zwölf Jahre lang arbeitete ich, ging aus, hatte Beziehungen und Sex. Ich glaubte daran, dass ich »erwachsen werden«, aus meiner »verdrehten« Libido herauswachsen würde, dass Nichtmonogamie ein Stadium war, das Leute in ihren Zwanzigern eben durchmachten, und alles anders würde, wenn ich erst mal dreißig wäre. Ich würde zufriedener sein und alles besser überblicken, das Leben würde leichter.

Wurde es nicht. War ich in einer festen Beziehung, erlosch der sexuelle Funke innerhalb von ein, zwei Jahren, und ich kam mir deswegen mangelhaft vor – und auch, weil mir das wichtig genug war, das Ganze abzubrechen und nach neuen Abenteuern zu suchen. Hatte ich keine Beziehung, dann sehnte ich mich nach Sex und holte ihn mir. Auch das gab mir das Gefühl, ein Monster zu sein, da ja jeder weiß, dass Männer Sex mehr brauchen als Frauen.

Aber nach und nach merkte ich, dass es meinen gleichaltrigen Geschlechtsgenossinnen auch nicht besser ging. Jetzt, da wir älter waren, hatten wir mehr Klarblick und weniger Hemmungen, darüber zu sprechen. Selbst diejenigen von uns, die in sexuell exklusiven Beziehungen steckten, waren nicht völlig treu, wenigstens nicht im Geist. Wir malten uns Szenen mit anderen Männern aus, und manche von uns mit anderen Frauen. Und quälten uns deshalb. Einige von uns gingen fremd. Nach ein, zwei Jahren Pärchensex setzte bei uns allesamt die Langeweile ein, aber was konnten wir tun? Fremdgehen war aufwendig und mit einem gewaltigen Stigma behaftet. Dachten wir allerdings an die Leidenschaft und das Prickeln einer frischen Begegnung oder erlebten sie gar, dann schien es das Risiko wert. Und manchmal sogar dringend notwendig.

Warum? Hätten wir es nur gewusst. Der Entwicklungsbiologin Sarah Blaffer Hrdy zufolge standen meine Freundinnen und ich vor einigen typischen Dilemmas der zweifüßigen, beinahe ununterbrochen empfängnisbereiten, hochrangigen weiblichen Primatin, die im Schatten des Ackerbaus lebte[13]. Auf unser Alter kam es dabei gar nicht so sehr an, vielmehr auf unser Geschlecht. Entgegen allem, was wir gelernt und eingeimpft bekommen hatten, gierten viele von uns nach Abwechslung und Frische in der sexuellen Begegnung und hatten Schwierigkeiten mit der Monogamie, eben weil wir Frauen waren.

Einerseits verfügten wir über evolutionär gewachsene Gelüste und Bedürfnisse, die früher einmal besondere Anpassungsfähigkeit gewährt hatten. Unter bestimmten, gar nicht außergewöhnlichen ökologischen Umständen war Promiskuität eine kluge reproduktive Vorgehensweise, eine Strategie für frühe weibliche Homininae oder Menschenfrauen, mit höherer Wahrscheinlichkeit, mit hochqualitativem Samen befruchtet zu werden und zugleich die Zahl der Männer zu erhöhen, die bereit wären, sie während der Schwangerschaft zu unterstützen und sie und ihren Nachwuchs nach der Geburt mitzuversorgen.[14] Andererseits brachten uns nun ebendiese tief sitzenden, evolutionär gewachsenen Vorlieben mit einer Kultur in Konflikt, die uns noch nach der zweiten Feminismuswelle einredete, Frauen seien von Natur aus wählerisch, keusch und sexuell passiv. Und monogam. Männer wollten Sex, Frauen wollten auf die Bremse treten. War es nicht so?

Was für eine Erleichterung, als ich mit Mitte dreißig jemanden kennenlernte, den ich begehrte, den ich liebte, bei dem ich mir vorstellen konnte, mich für ihn zu entscheiden, jemanden, mit dem ich Kinder und ein gemeinsames Leben haben konnte. Jemand, dem ich treu bleiben konnte. Eine Zeit lang legte sich das sexuelle Schwirren in meinem Kopf. Bald war ich schwanger und dann völlig ausgelaugt von den Ansprüchen eines Kleinkinds, das irgendwann zum Vorschulkind wurde, und danach ging alles mit einem zweiten Kind von vorn los.

Doch als die schwerste Phase der Mutterschaft zu Ende ging, als das Stillen und die durchwachten Nächte vorüber waren und ich langsam wieder ich selbst wurde, eine Erwachsene, die über ihren eigenen Geist und Körper bestimmt, da entdeckte ich, dass sich bis auf den Ehering an meiner linken Hand nicht viel verändert hatte. Mein Mann und ich hatten zum Glück wieder Sex – Sex, der mir Spaß machte, und zwar viel. Warum also war ich ihm im Kopf untreu?

Ich hatte Fantasien, die ich ihm nicht erzählen wollte, Tagträume, in denen es zur Sache ging, ohne romantischen Weichzeichner. Bücher und Filme mit sexuell eindeutigem Inhalt gefielen mir so gut wie zuvor, wenn nicht noch besser. Auch Schwärmereien hatte ich, für völlig unpassende Männer – verheiratete oder solche, die viel zu jung für mich waren oder viel zu alt. Sogar für Frauen konnte ich schwärmen, obwohl ich mit ziemlicher Sicherheit wusste, dass ich nicht lesbisch war, noch nicht einmal bisexuell. Was war man nur für eine Ehefrau und Mutter, wenn man solche Empfindungen hatte?

Inzwischen war ich älter, und meine Arbeit als Publizistin gestattete mir eine gewisse Freiheit in meinen geistigen und beruflichen Zielen. So befragte ich Therapeuten und aufgeschlossene befreundete Mütter und Fachleute und wandte mich von Neuem der Anthropologie und der Primatologie zu, besonders den Arbeiten der feministischen Anthropologinnen und der neuen, wegweisenden Sexualforschung, die von Frauen betrieben wird. Was war für Frauen sexuell normal? Warum war es so schwer, treu zu sein?

Ich hatte eine lange Liste an Fragen. Wer ist die Frau, die fremdgeht?, wollte ich wissen. Und warum tut sie es? Unterscheiden sich ihre Gründe von denen eines Mannes? Was trennt die Frau, die tatsächlich fremdgeht, von denen, die nur darüber nachdenken? Wie erleben Frauen, die fremdgehen, ihre Untreue, und wie gehen sie damit um? Und woher kommen die Gefühle, die wir als Gesellschaft diesen Frauen entgegenbringen: Faszination, persönliche Betroffenheit, die Überzeugung, dass ihnen Einhalt geboten gehört, dass sie bekehrt und bestraft werden müssen, dass man etwas gegen sie unternehmen muss? Zu guter Letzt stellte ich mir noch die Frage, was wir von der untreuen Frau wirklich lernen können – über weibliches Begehren, über weibliche Lust, über unsere Fixierung auf Frauen, die wir für »trügerisch« halten, und über die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft von Partnerschaft und Bindung?

Ich wollte auch wissen, was sich für junge Frauen geändert hat, seit ich eine gewesen war. Und inwieweit diese Veränderungen das Leben der Frau allgemein beeinflussten, über verschiedene Altersgruppen, sozialökonomische Gruppen und Identitäten hinweg. Noch während ich dies schreibe, finden gewaltige Umwälzungen statt. #MeToo und der Backlash dagegen führen in Echtzeit vor, was bei all diesen Geschichten über weibliche sexuelle Autonomie eigentlich auf dem Spiel steht.

Das gegenwärtig medial transportierte Bild von #MeToo reduziert die menschlichen Akteure der Bewegung noch immer auf eine von zwei säuberlich geschiedene Kategorien: Die Frauen sind Opfer und Anklägerinnen (was zutrifft), die Männer entweder Täter (was auf einige zutrifft) oder möglicherweise selbst zu Unrecht beschuldigte Opfer. Doch diese vergröberte Darstellung übersieht, was meiner Meinung nach der vielleicht bedeutendste Aspekt all der #MeToo-Geschichten ist, die Frauen jetzt erzählen: Es ist Männern nicht mehr erlaubt, Frauen mit Worten und Taten zu sagen, dass die Entscheidung für Sex allein beim Mann liegt.

Männer wie Harvey Weinstein, Matt Lauer und Charlie Rose haben Ökosysteme kultiviert, in denen Männer einen Anspruch darauf hatten, sich mit gut aussehenden Frauen zu schmücken, um diese zu entmachten und zugleich die eigene Macht zu vergrößern. Unterdessen befördern Männer, die entweder gar nichts auf die ausdrückliche Zustimmung der Frau geben oder sie trivialisieren, eine Weltsicht, nach der weibliches Einverständnis nur eine Dreingabe darstellt oder ein Hindernis, das es zu umschiffen gilt. In dieser Vorstellung ist das weibliche Begehren ein bloßes Sahnehäubchen auf dem Kuchen, um den es wirklich geht: was Männer wollen. Faktisch zerstört das Verhalten dieser Männer die sexuelle Selbstbestimmtheit der Frau. #MeToo nicht. #MeToo hält dagegen: »Ich bin keine Ableitung deiner Begierden.«

Jetzt folgt die zweite Welle: Frauen, die sagen: »Es kommt nicht mehr infrage, mich sexuell zu belästigen, mich sexuell zu nötigen und sich außerhalb der Regeln der ausdrücklichen Zustimmung zu bewegen, denn ich verweigere mich dem, was du mir mit diesem Verhalten sagst – dass Sex etwas ist, was nicht ich wollen darf, sondern nur du. Ich habe meine eigene Begierde und ein Recht auf sexuelle Selbstbestimmtheit.« Zu dem Zeitpunkt, da ich dies schreibe, mag sich das noch gefährlich anhören und auch kompliziert – was würde mit Frauen geschehen, die mit so einer trotzigen Erklärung gegen unsere reduzierten und reduzierenden medialen Kategorien aufbegehren und gegen das Denken, das dahintersteht? Weit besser, sich einstweilen hinter der massiven, schützenden und vertrauten Vorstellung zu verschanzen, dass Frauen »es« nicht wollen, Männer dagegen schon.

Was gab es doch an offensiver Verzweiflung über #MeToo: Die Bewegung mache aus Frauen »Opfer«, die »Ohnmachtssofas« bräuchten. Und Wehgeschrei, wie unromantisch die Einvernehmlichkeit doch sei, geradezu der Tod des Flirts. Und dass #MeToo es irgendwie schaffe, Frauen ihrer Lust und ihrer Selbstbestimmung zu berauben. Ich hingegen beobachte genau das Gegenteil. Zu Ende gedacht bedeutet es, dass wir über weiblich zentrierten Sex und weiblich zentrierte Sexualität sprechen, uns auf das Begehren der Frau konzentrieren, ihre Lust, das, was ihr zusteht. Vielleicht werden #MeToo und #TimesUp in den kommenden Monaten und Jahren den kulturellen Raum für eine neue Realität öffnen: die der weiblichen sexuellen Anspruchshaltung.

Könnten wir Frauen es dahin bringen, uns das gleiche natürliche Anrecht, den gleichen Drang nach Aufregung, Prickeln und sexuellem Genuss zuzugestehen wie den Männern? Und wenn wir das täten, was änderte sich dann wohl noch? Wie könnte dieser neue Blick auf die weibliche Sexualität – »von Natur aus« autonom, angriffslustig und abenteuerhungrig – im größeren Maßstab gedacht die Ordnung der Dinge auf den Kopf stellen? Was könnte es bedeuten, die »Lücke sexuellen Anspruchsdenkens« zu schließen? Die Ehebrecherin wartet in vielerlei Hinsicht schon lange darauf, dass wir sie einholen. Denn was auch immer die Folgen sind: Frauen, die betrügen, tun das oft aus einer reinen Anspruchshaltung heraus – sie beanspruchen menschliche Bindung, Verständnis und ganz bestimmt auch Sex.

Ein solcher Paradigmenwechsel – nicht dahin, dass alle Frauen fremdgehen, sondern dass wir Frauen unser sexuelles Schicksal selbst in die Hand nehmen und die Hauptfiguren unserer eigenen Sexualgeschichte werden – könnte wenigstens teilweise befördert werden durch die sozialen Medien und Technologien, seien es nun Selfies oder aber Apps wie das frauenfreundliche Bumble und Pure, womit man theoretisch binnen Minuten einen Sexpartner in der jeweiligen Umgebung finden kann. (Der Werbespruch von Pure lautet: »Um Probleme geht’s beim Therapeuten, bei Pure geht’s um Spaß«, und die Splash-Seite empfiehlt: »Tut hinterher so, als würdet ihr euch nicht kennen – keine Anrufe, keine Nachrichten, kein öffentlicher Kontakt.«[15] Der Anteil an weiblichen Usern, so erfuhr ich von der Sextechnologie-Expertin Bryony Cole[16], sei erstaunlich hoch.)

»Mit dem iPhone hat sich mein ganzes Leben verändert«, erzählte mir eine Mittzwanzigerin. »Keine Nachricht blinkt quer über mein Handy-Display. Kein Facebook-Kommentar, den dann jeder sieht, kein Tweet, den mein Freund dann liest und sagt: ›Wer ist der Typ, der da deine Tweets likt?‹ Ich konnte einfach Apps verwenden – Snapchat, DMs auf Instagram und überall –, um mich bei Leuten zu melden, die ich ewig nicht gesehen hatte, und um mich zum Sex zu verabreden.[17]« Diese Technologien verändern die sexuelle Ökologie um uns herum. Die zuletzt erwähnte Frau zum Beispiel lebt in einer engmaschigen dominikanischen Community, wo die Männer der Nachbarschaft »ein Auge« auf die Frauen haben, was durch die Apps erschwert wird. Außerdem müssen wir die Frage überdenken, wie sich Fremdgehen im digitalen Zeitalter überhaupt definiert. Sexting? Doppeldeutige Nachrichten? Intimer E-Mail-Verkehr ohne Körperkontakt? Wird es in nicht allzu ferner Zukunft Sexroboter nicht nur für Männer, sondern auch für Frauen geben? Und was würden wir von denen wollen? Wenn wir sie benutzen, ist das dann Fremdgehen?

Noch eine Neuerung: die polyamore Bewegung, die im letzten Jahrzehnt einen Aufschwung erlebt hat und nach Expertenmeinung zum großen Teil von Frauen vorangetrieben und angeführt wird. Polyamorie – also mit mehr als einer Person auf einmal zusammen zu sein und das auch offen zu bekennen – ist eine Alternative, die wie vorher die offene Ehe und der Swinger-Lebensstil Frauen neue Freiheiten eröffnet.[18] Doch würden sich dort nicht dieselben alten Rollenbilder und Stereotype, die gleichen Stigmatisierungsformen wie Slut-Shaming und zwischenmenschliche Gewalt wiederfinden, unter denen Frauen, »die aus der Reihe tanzen«, seit jeher leiden?

Einer Frau, der Mittel und Macht oder Prominenz zu Gebote stehen, wie Tilda Swinton zum Beispiel – die Berichten zufolge zeitweise mit ihrem Ex- und ihrem aktuellen Partner zusammengelebt hat, jedoch verneint, dass es sich um eine »Doppelbeziehung« oder eine »Ménage-à-trois« handle –, mag man vielleicht zugestehen, mit mehr als einem Mann auf einmal eine intime Beziehung zu haben.[19] Aber der Normalfrau mit dem Durchschnittseinkommen? Und wie steht es mit nichtweißen Frauen, deren Sexualleben, Sehnsüchte und Vorlieben seit Langem besonderer Überwachung und sozialer Kontrolle ausgesetzt sind? Wird die Polyamorie auch ihr Leben verändern?

Und was soll »weibliche Untreue« überhaupt bedeuten in einem Kontext, in dem sich immer mehr Millennials als Postgender bezeichnen – also die säuberliche Trennung in zwei gegensätzliche Kategorien ablehnen, die bisher unser Leben definiert und Bedeutungen wie Heterosexualität und Homosexualität, männlich und weiblich, treu und untreu gestiftet haben? Ich war überrascht, wie oft ich den Satz »Ich bin nicht binär« aus den Mündern von Menschen in ihren Zwanzigern und Dreißigern hörte, und beeindruckt von der Überzeugung, mit der er mittlerweile von so vielen Leuten gelebt wird.

Und schließlich wirft das Buch einen Blick auf »weibliche sexuelle Fluidität«, ein Begriff, den die Psychologin Lisa Diamond geprägt hat. Damit wird die Tendenz einer großen Zahl von Frauen beschrieben, auch abseits ihrer üblichen sexuellen Orientierung zu begehren und dies gelegentlich auch auszuleben, und zugleich die wachsende soziale Akzeptanz dieser Tatsache. Als Elizabeth Gilbert, die Verfasserin von Eat Pray Love, ihren Mann wegen ihrer besten Freundin verließ, durchbrach sie einerseits hergebrachte Muster, entsprach aber damit auch einem Profil von Frauen, deren Art zu lieben flexibler ist als die Kategorien, die wir noch darauf anwenden. Wie beeinflusst die sexuelle Fluidität der Frau unsere Ehen, Partnerschaften, Affären und Freundschaften? Ist eine Frau, die feststellt, dass sie lieber mit einer Frau zusammen wäre als mit ihrem Mann, auch »untreu«?[20]

Mit jeder Unterhaltung, mit jedem Artikel und jedem Fachgespräch ist vor meinen Augen ein farbigeres Bild entstanden von dem, was es heißt, Frau und sexuell autonom zu sein, während von meiner anfänglichen Mutmaßung, dass meine Freundinnen, meine Interviewpartnerinnen und ich in unseren sexuellen Sehnsüchten, Fantasien und manchmal sogar Praktiken irgendwie krank oder extrem seien, immer weniger übrig blieb. Die Dinge, die ich erfuhr, stellten auch meine tiefe, niemals überprüfte Annahme infrage, es gebe die eine oder beste Art, ein Paar zu sein oder eine Beziehung zu führen. Die Expertinnen und Experten sowie die Teilnehmerinnen, mit denen ich für dieses Buch Gespräche führte, die Literatur, die ich wälzte, die Feldforschung, die ich durchführte, die Anekdoten, die man mir anvertraute, all das gab mir ein ganz neues Bewusstsein davon, wie und warum Frauen sich der sexuellen Exklusivität verweigern oder es gerne täten, wie sie damit leben und was es bedeutet, treu zu sein.

Erstes Kapitel

Entfessle deinen Geist

Was zieht man bloß an zu einem ganztägigen Workshop zur einvernehmlichen Nichtmonogamie?

Es war ein typisch freudloser Vorfrühlingsmorgen in Manhattan, verregneter und kälter als erhofft. Der Kurs, an dem ich teilnahm, war eigentlich auf Psychotherapeuten zugeschnitten, aber gegen einen Obolus von 190 Dollar waren auch neugierige Autorinnen und Durchschnittsbürgerinnen wie ich willkommen.

Vielleicht machte ich mir auch zu viele Gedanken, als ich so vor meinem überquellenden Kleiderschrank stand und die Möglichkeiten durchspielte. Doch dieses dringende Bedürfnis, nicht nur etwas Angemessenes zu tragen, sondern sich auch angemessen und zugleich ein klein wenig rebellisch zu geben, erinnerte mich an den ständigen Tauschhandel mit uns selbst, in den wir uns stürzen, wenn es um Monogamie geht.

Ich starrte auf all die Blusen, Hosen und Kleider und dachte an unsere großen und kleinen Zugeständnisse und an den gewaltigsten Handel überhaupt: den, bei dem wir die totale, schwindelerregende sexuelle Autonomie und Selbstbestimmtheit gegen die Sicherheit der Zweisamkeit eintauschen. Dieses Mysterium – ich muss jenen Teil von mir auslöschen, der sich nach einem ganzen Universum aus anderen verzehrt, und erkaufe mir damit das Vermögen, Kinder aufzuziehen, zu arbeiten und die Nacht durchzuschlafen, ohne mich mit der Frage herumzuquälen, was du, mein ein und einziger Anderer, wohl gerade so treibst, wenn wir nicht beisammen sind – ist das schlagende, klagende Herz von Freuds Das Unbehagen in der Kultur und noch vielem anderen, was über das Eingehen der lebenslangen Paarbindung geschrieben worden ist.[21] Die Libido muss aufgegeben oder bezähmt werden, um der Stabilität willen. Irgendwie unterstellen wir, dieser Akt sei gewissermaßen ein entwicklungsgemäßer Imperativ, das Gütesiegel der Reife und Gesundheit, und dass er überdies Frauen leichterfalle, dass er ihrer »Natur« entgegenkomme.

War dieser Kompromiss, samt seinen stillschweigenden Annahmen über Geschlecht und Begehren, auf irgendeine Weise vermeidbar? Heute würde ich vielleicht etwas Neues lernen, von Menschen, die versucht haben, ihn zu umschiffen. Ich hatte sie schon regelrecht vor Augen, die wissent- und willentlich Nichtmonogamen und ihre Helfer vor Ort – Ninjas in scharfen schwarzen Jumpsuits und Aviator-Sonnenbrillen, verstohlen, geschult in Selbstverteidigung und von außerordentlicher körperlicher Geschmeidigkeit.

Ich entschied mich schließlich für eine geblümte Bluse, einen roten Mantel und schwarze Jeans. In letzter Minute schminkte ich mir noch die Lippen knallrot, weil es Freitag war und ich zu einem Workshop über einvernehmliche Nichtmonogamie ging, auch wenn ich den Begriff jedes Mal, wenn ich jemandem davon erzählte, zu einem Workshop für »nicht einvernehmliche Monogamie« verballhornte.

»Das lässt tief blicken«, hatte eine befreundete Psychoanalytikerin gescherzt, als ich mir beim Plaudern wieder meinen Wortverdreher geleistet hatte. Sie hätte sich gern selbst angemeldet, aber zu viel zu tun. »Bitte bring mir einen Haufen anonymer Begegnungen mit!«, schrieb mir am bewussten Morgen eine andere Seelenklempnerfreundin, die es aus dem gleichen Grund nicht geschafft hatte, augenzwinkernd Psychiater, die Swingern helfen, mit Swingern gleichsetzend. Und mit Sexsüchtigen. »Der arme Joel«, neckte mich mein Agent voll falschen Mitleids mit meinem Gatten, als ich von meinem Tageseinsatzplan berichtete. Im Lauf der vielen Monate und Gespräche wurde mir eines sehr klar: Untreue, Promiskuität, Nichtmonogamie oder mit welchem Etikett man die Verweigerungspraxis sexueller Exklusivität auch bekleben will – das Thema fasziniert und verstört die Menschen ziemlich quer durch die Bank.

Und aufgrund meines vielen Nachhakens und Nachbohrens und des Lesens und der Interviews und einfach meines Daseins als Frau wusste ich, dass das Schreckgespenst der untreuen Frau noch immer gesträubte Nackenhaare, erhöhten Blutdruck und Wutausbrüche auslöst, gesellschaftsübergreifend. Für Sozialkonservative gilt weibliche Untreue – das Ergreifen dessen, was als männliches Privileg betrachtet wird, also im Sexuellen das zu tun, was man will – als Symptom allgemeiner Verderbnis und Bedrohung des Sozialgefüges. (»Madame! Was sind Sie doch für eine dekadente, erbärmliche Frau. Kein Wunder, dass das Abendland untergeht – schauen Sie doch einfach mal in den Spiegel«, mailte mir eine selbst ernannte »traditionalistische Medienpersönlichkeit«, nachdem ich einen Artikel über weibliche Sexualität veröffentlicht hatte.)

Unter Progressiven, besonders unter jenen, die sich als »sex-positiv« bezeichnen, mag weibliche sexuelle Selbstbestimmtheit toleriert werden, vielleicht sogar gepriesen. Doch auch in ihrer Welt dürfte eine Frau, die eine Affäre hat, mit einem wesentlich kritischeren Adjektiv bedacht werden als »selbstbestimmt«. (An der Echokammer der wahnhaften Hillary-Hasser aus dem Lager der Sanders- wie auch der Trump-Unterstützer konnte man beobachten, wie die Vorstellung weiblicher Autonomie den Geifer der Linken genauso entfesseln kann wie den der Rechten.) Viele Verfechter »offengelegter« Nichtmonogamie wiederum halten Transparenz für vorzugswürdig, dagegen Untreue sowohl von männlicher als auch von weiblicher Seite für unethisch. Aber bei den über lange Zeiträume abgelagerten Schichten aus Historie und Ideologie ist es schwer, einen Raum auszumachen, wo über der heimlich untreuen Frau keine Wolke der Düsternis schwebt, so aufgeklärt die Umstände ansonsten auch erscheinen mögen. Jeder und jede, so stellte ich fest, hatte offenbar eine Meinung über die Frau, die sich der sexuellen Exklusivität verweigert, ob sie es nun geradeheraus tut oder im Verborgenen.

Auf Cocktailpartys über mein Forschungsgebiet zu sprechen konnte den Peinlichkeitsfaktor merklich erhöhen. Etliche Menschen wollten gern mit mir über weibliche Untreue reden, hatten dazu selbst Fragen an mich. Aber nicht weniger häufig erwies sich der Stoff als Gesprächskiller. Nach ein paar unbehaglichen Konversationsverläufen zog ich es vor zu erzählen, ich schriebe ein Buch über »weibliche Autonomie«. Es schien nur rücksichtsvoll, ein unbequemes Faktum hinter einer Halbwahrheit zu verstecken, um jene zu schonen, die nicht wirklich Lust auf das Thema hatten. Oder um ihrem Zorn, ihrer Missbilligung zu entgehen, die mich mittraf, wenn ich das »U«-Wort in den Mund nahm. »Das haben schon einige von uns abgekriegt«, hörte ich mehr als einen Mann knurren, als müsste mir das Grund genug sein, doch lieber über Squaredance zu schreiben. Ein Kollege, mit dem ich offen über meine Arbeit sprechen konnte und auf dessen Meinung ich etwas gab, blickte mich über seinen Schreibtisch hinweg an und erklärte: »Ein Psychiater, den ich kenne, sagt, Frauen, die fremdgehen, sind alle nicht richtig im Kopf.«

Bei einer Essenseinladung fragte ich einen Paartherapeuten, der bis zu diesem Augenblick wirklich reizend gewirkt hatte, nach seiner Fachmeinung zum Gegenstand Nichtmonogamie. »Solche Menschen sind einfach … nicht recht gesund!«, haspelte er. Die Anwesenden – allesamt belesene, bedachte, überlegte und umsichtige Leute – stimmten ein, sprachen von »Krankheit« und »Instabilität«. »Sein Gebiet sind die Gesunden, und Ihr Thema sind Ungesunde«, sagte eine Frau liebenswürdig, als verstehe sich das von selbst. Und das waren alles noch nette Menschen. Sprach ich mit Freundinnen und Bekannten über meine Arbeit, äußerte ich oft versuchsweise die Thesen, verpflichtende Monogamie sei ein feministisches Problem und ohne weibliche sexuelle Autonomie sei die ganze weibliche Autonomie in Wahrheit gar keine. Damit konnte ich die volle Bandbreite von Reaktionen ernten, von begeisterter Zustimmung über völlige Verwirrung – was hatten Monogamie und Untreue mit Feminismus zu tun? – bis hin zur Verdammung fremdgehender Frauen als »gestört«, »egoistisch«, »nuttig« und, mein Favorit, »Rabenmütter«. Und das aus dem Munde von Frauen, die sich selbst als Feministinnen bezeichneten.

Doch die weitaus häufigsten Antworten waren Gegenfragen: »Warum interessierst gerade du dich für so etwas?« Und: »Was sagt dein Mann denn dazu?« Der Ton rangierte zwischen ostentativer Neugier und Anklage, und was damit eigentlich gemeint war, war klar: Meine Recherchen zur Untreue machten auch mich, zuallermindest mittelbar, zur Schlampe.

Doch ich hatte den Eindruck, dass die Leute beim Workshop hier etwas anders waren.

Die »Arbeit mit nichtmonogamen Paaren« fand in einem gesichtslosen Familienhilfezentrum im Nirgendwo zwischen Midtown West und Chelsea statt. (Später erfuhr ich, dass die Gegend einst zum sogenannten Tenderloin[22] gezählt hatte, im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert das Vergnügungs- und Rotlichtviertel Manhattans, und dass sich just in dieser Straße einmal ein Bordell ans andere gereiht hatte.[23] Unter Sozialreformern hatte die Ecke »Zirkus Satans« und »modernes Gomorrha« geheißen.[24])