DIE ERSTE PRÜFUNG

Wer sich bei den Jan’Tep einen Magiernamen verdienen will, muss drei Voraussetzungen erfüllen. Die erste Voraussetzung ist die Kraft, die eigene Familie zu verteidigen. Die zweite ist die Fähigkeit, die Hohe Magie auszuüben, die unser Volk schützt. Die dritte besteht einfach nur darin, sechzehn Jahre alt zu werden. Wenige Wochen vor meinem sechzehnten Geburtstag wurde mir klar, dass ich wohl keine dieser drei Anforderungen erfüllen würde.

Über Sebastien de Castell / Katharina Orgaß / Gerald Jung

Sebastien de Castell hatte gerade sein Archäologiestudium beendet, als er mit der ersten Ausgrabung begann. Vier Stunden später begriff er, wie sehr er Archäologie hasste, und ließ sie kurzerhand hinter sich, um Musiker, Projektmanager, Kampfchoreograf und Schauspieler zu werden. Auf die eine oder andere Weise spiegeln sich all seine beruflichen Tätigkeiten in seinem Schreiben wider. Sebastien de Castell wurde in Kanada geboren und lebt heute in den Niederlanden.

Katharina Orgaß und Gerald Jung arbeiten seit Jahren als Übersetzerteam und haben u. a. Werke von Jonathan Stroud, Alan Bradley und Mary E. Pearson übersetzt.

Über das Buch

Kellens erstes Magierduell steht kurz bevor: die erste von vier Prüfungen, um sich seinem Clan als würdig zu erweisen. Das Problem ist nur, dass seine magischen Kräfte immer schwächer werden. Doch Kellen gibt nicht auf: Während seine Mitschüler mit Elementen zaubern, spielt er geschickt mit Worten. Als er mit seinen Tricksereien nicht weiterkommt, trifft er auf eine furchtlose Fremde. Gemeinsam stoßen sie auf eine Lüge, die alles infrage stellt, woran Kellen je geglaubt hat …

DIE ZWEITE PRÜFUNG

Die Macht eines Magiers kann wachsen oder schwinden. Macht kennt keinen Stillstand, so wie auch die Stärke einer Nation stets schwankend ist. Nur wer sich neue Kraftquellen erschließt, kann sich einen Magiernamen verdienen. Wer das nicht vermag, ist für unser Volk wertlos.

DIE DRITTE PRÜFUNG

Wer sich nur auf solche Zauber verlässt, die bereits bekannt sind, offenbart dem Feind die Wahl der Waffen. Unsere Magie darf nie stillstehen. Sie muss sich vielmehr anpassen und wandeln, damit sie uns vor jenen schützt, die sie uns neiden. Nur wer neue Zauber entwickelt, ist ein wahrer Jan’Tep und hat sich einen Magiernamen verdient.

DIE VIERTE PRÜFUNG

Die mächtigsten Zauber werden für gewöhnlich geheim gehalten. Ein Jan’Tep-Magier muss verschlüsselte Überlieferungen deuten können, zugleich muss er in der Lage sein, die Geheimnisse seiner Feinde zu enthüllen. Nur dann hat er seinen Magiernamen wahrlich verdient.

Epilog

Ich stapfte die Viertelmeile dorthin zurück, wo mein Pferd auf mich wartete, und schaute mir sein Bein an. Es schien ihm nicht mehr wehzutun, aber weil ich nicht viel von Pferden verstand, führte ich es vorsichtshalber bis zum Stadtrand am Zügel. Kurz darauf wachte ich auf und hatte den Mund voller Pferdehaare. Offenbar war ich im Gehen eingeschlafen und hatte das Gesicht an den Rumpf des Tieres gelehnt. Daraufhin kamen das Pferd und ich überein, dass es für uns beide weniger peinlich war, wenn ich aufsaß. Ich schwang mich unbeholfen in den Sattel und machte mich auf den Weg zu der Hütte, von der Ferius gesprochen hatte.

Ich kam bis zu der Stelle, wo die Straße einen Bogen beschrieb und aus der Stadt hinausführte, dann stellte sich mir jemand in den Weg.

»Du wirst nicht weggehen«, sagte Shalla. Sie hatte Tränen in den Augen, die Bänder an ihren Unterarmen verströmten ein blaues und gelbes magisches Leuchten, das ihre Hände umspielte.

Eine kurze Bewegung ihrer Finger verriet mir, dass sie einen Blitzzauber gebärden wollte. Weil das Pferd um meinetwillen schon genug durchgemacht hatte, stieg ich ab. »Freut mich, dass es dir wieder gut geht, Shalla.«

Sie nickte nur. Mehr Anerkennung dafür, dass ich bei dem Versuch, ihr das Leben zu retten, fast gestorben wäre, würde ich von ihr wohl nicht bekommen. »Mutter und Vater haben mich geheilt. Wir sind eine Familie.« Letzteres klang wie ein Vorwurf.

»Stimmt!«, sagte ich und gab mir Mühe, nicht zu bitter zu klingen. »Mutter, Vater und du – ihr seid eine Familie. Eine anständige Jan’Tep-Familie.« Ich wollte es schon dabei belassen, aber dann wurde mir klar, dass das, was ich gesagt hatte, zwar richtig, aber nicht vollständig war. »Und du bist meine Schwester, Shalla. Du wirst immer meine Schwester bleiben.«

»Dann komm zurück!«, flehte sie. Ihre Stimme brach und das Leuchten um ihre Hände erlosch.

»Für mich ist zu Hause kein Platz mehr.« Ich wischte mir mit dem Hemdsärmel über das linke Auge. Bald musste ich wieder Mer’esans Paste auftragen. »Für mich ist es vorbei, Shalla.«

Sie lief zu mir und fasste mich am Arm, eine für sie ungewohnt kindliche Geste. »Aber du darfst bleiben, verstehst du denn nicht? Vater hat schon so gut wie den gesamten Rat hinter sich, und sobald alle erfahren haben, was Ra’meth vorhatte –«

»Und auch, was unser Onkel vorhatte.«

Sie schüttelte energisch den Kopf. »Er war ein Sha’Tep. Alle verstehen das. Außerdem glauben sie, Vater hätte dich losgeschickt, um ihn aufzuhalten. Sie glauben, dass sich unsere Familie selbst um das Problem gekümmert hat. Um die Würde unseres Hauses zu wahren.«

Würde schien mir hier nicht die passende Wortwahl. »Aber Ke’heops hat dich nicht begleitet, um sich persönlich bei mir zu bedanken.«

Sie wurde verlegen. Offenbar hatte sie ihn gebeten mitzukommen. »Schon gut«, sagte ich. »Es ist besser so.«

»Es ist nicht so einfach«, entgegnete sie.

Ich musste unwillkürlich lächeln. Dann zog ich sie am Haar. Solche dummen Sachen hatten wir als Kinder immer gemacht – kleine Neckereien, hinter denen wir unsere Zuneigung verbargen. In unserer Familie umarmte man sich nicht oft, aber diesmal war mir das egal, und ich zog Shalla an mich. Erstaunlicherweise wehrte sie mich nicht mit einem Blitz, einem Feuerstoß oder einem bösen Blick ab.

»Alles kann bleiben, wie es ist«, sagte sie störrisch und klammerte sich an mich, als könnte der Wind mich sonst wegpusten. »Vater meinte, du musst nicht mal ein Sha’Tep werden. Du bleibst bei uns, bis er und Mutter eine Lösung für … für deinen Zustand finden.«

»Laut unseren Gesetzen kann jeder, der den Schwarzschatten hat, ungestraft umgebracht werden. Wieso sollte Vater mir da erlauben, unter seinem Dach zu leben?«, fragte ich und wusste im selben Augenblick die Antwort: Der große und ehrenwerte Ke’heops hatte erkannt, dass man manchmal auch unschöne Dinge tun musste, um ein Haus wie das unsere zu beschützen. Ich hatte bewiesen, dass ich diese unschönen Dinge für ihn erledigen konnte. Er wollte mich auf unsere Feinde ansetzen. Meine Seele ist ohnehin nicht mehr zu retten.

Ich schob Shalla sanft von mir. »Ich hab dich lieb, kleine Schwester. Schätze mal, das wird sich nie ändern.«

Ihre Augen wurden ganz schmal. »Schätze mal? Du redest schon wie diese Ferius! Aber du bist kein Argosi-Streuner. Du bist ein Jan’Tep aus dem Hause Ke!«

Ich dachte an die Karte in meiner Tasche – die mit dem Bild, das nach meinem Vorbild gestaltet worden war. »Spellslinger – der Trickser«. Eine Diskordanzen-Karte, die den Lauf der Welt ändern konnte. Das klang so gar nicht nach mir.

Aber es klang auch gar nicht so übel.

Ich packte den Sattelknauf und stieg wieder auf. »Ich bin ein Sechzehnjähriger mit einem einzigen Zauber, einer Baumkatze als Geschäftspartner und einem schwarzschattigen Todesurteil im Gesicht.« Ich schnalzte mit den Zügeln. »Ich muss herausfinden, ob ich mehr sein kann als das.«

Shalla stellte sich mir in den Weg und gebärdete schon einen Zauber, gegen den ich nichts ausrichten konnte. »Bleib stehen, sonst strecke ich dich nieder, Kellen! Es ist mein voller Ernst!«

Ihre Magie leuchtete so hell, dass der Sand auf der Straße funkelte. »Folge deinem Gewissen, Shalla. Das ist das Einzige, was uns allen bleibt.«

Ich schnalzte noch einmal mit den Zügeln und das Pferd setzte sich widerwillig in Bewegung. Noch widerwilliger ließ uns Shalla vorbei. Wir waren noch nicht weit gekommen, da rief sie mir nach: »Sie werden dich jagen, ist dir das klar? Ohne den Schutz des Clans ist jeder Jan’Tep-Magier auf dem ganzen Kontinent dazu verpflichtet, dich zu töten! Die Daroman werden dich nicht aufnehmen, ebenso wenig wie die Berabesk. Du bist ganz allein, Kellen! Du musst den Rest deines Lebens als Ausgestoßener verbringen.«

Ich hielt das Pferd an, drehte mich noch einmal zu meiner Schwester um und schenkte ihr mein schönstes Lächeln. »Schätze mal, ich ziehe die Bezeichnung ›Vogelfreier‹ vor.«

Danksagung

Um die Welt von Die Karten des Schicksals – SPELLSLINGER zum Leben zu erwecken, bedurfte es sieben komplizierter und riskanter Zauber. Zum Glück waren meine persönlichen literarischen Meistermagier dieser Herausforderung gewachsen.

Der Inspirationszauber

Wie bei fast allen meinen Büchern hat mein Freund und gelegentlicher Schreibpartner Eric Torin die entscheidenden Fragen gestellt, ohne deren Beantwortung es dieses Buch nicht gäbe.

Der Durchhaltezauber

Romane konnte ich erst schreiben, nachdem ich meiner Frau Christina begegnet bin. Sie macht das Eheleben zu einem so spannenden Abenteuer, dass ein verpeilter Einzelgänger, wie ich einer war, einfach nicht widerstehen konnte.

Der Beratungszauber

Die ehemaligen und derzeitigen Mitglieder meiner großartigen (und schonungslosen) Schreibgruppe haben viele verschiedene Versionen von SPELLSLINGER – Die Karten des Schicksals zu sehen bekommen und mir immer wieder mit (schonungsloser) Offenheit gesagt, was funktionierte und was überarbeitet werden musste. Dafür werde ich Kim Tough, Will Arndt, Brad Dehnert, Claire Ryan, Sarah Figueroa und Jim Hull von Narrative First ewig dankbar sein.

Auch etliche meiner Lieblingsmenschen haben sich die Zeit genommen, frühe Fassungen des Romans zu lesen, und mir auf die Sprünge geholfen. Dafür bedanke ich mich bei Anna Webster, Mike Church, Sandra Glass, Sarah Bagshaw, Dougal Muir, Kat Zeller und Sam Chandola.

Der Klarheitszauber

Meine Lektorin, die ungemein freundliche und ungemein hartnäckige Matilda Johnson, hat mich gezwungen, ihr so viele Fragen zu Kellen und seiner Welt zu beantworten, bis ich selbst einigermaßen überzeugt war, dass die Magie wirken könnte.

Der Funkelzauber

Talya Baker von Hot Key Books hat meine Prosa nicht nur auf Hochglanz poliert, sondern mit ihren Adleraugen auch Schwachstellen entdeckt, die ich übersehen hatte.

Die Veröffentlichungsmagie

Ohne meine unvergleichlichen Agenten Heather Adams und Mike Bryan wäre dieses Buch nie erschienen. Die beiden haben die ideale Heimat dafür gefunden, auch dank des unerschütterlichen Mark Smith, der schon meiner ersten Buchreihe eine Chance gegeben hat. Ich bedanke mich auch bei Jane Harris für ihre Hilfe bei der Lösung kniffliger Probleme im Zusammenhang mit gewissen gemeingefährlichen Tierchen.

Die Anrufung verwandter Seelen

Ich danke allen, die sich immer wieder auf neue Autoren und Bücher einlassen. Zu den größten Freuden meines Berufs gehört es, Leserinnen und Lesern zu begegnen, die nicht einfach nur Fans sind, sondern auch Weggefährten auf den verschlungenen Pfaden fantastischer Abenteuer.

 

 

 

 

Für meinen Bruder Peter, der schon immer eine
Schwäche für unausstehliche Viecher hatte.

4

Der Donner

Was danach geschah, erlebte ich wie eine Reihe von Blitzen – kleine helle Funken in der Dunkelheit, die mich auf dem Rückweg von der Stadtoase ins Haus meiner Familie umfing. Es begann damit, dass mich mein Vater aufhob und mir ins Ohr flüsterte: »Nicht vor ihnen weinen. Wenn du weinen musst, verkneif es dir noch eine Weile.«

Ein Jan’Tep muss stark sein, ermahnte ich mich selbst. Eigentlich bin ich keine Heulsuse, denn ich habe noch nie die Erfahrung gemacht, dass Heulen irgendwas bewirkt. Aber ich war erschöpft und enttäuscht und mehr als nur ein bisschen verängstigt, deshalb musste ich mich ziemlich zusammenreißen, um gedämpft zu erwidern: »Ist gut, ich weine nicht.«

Mein Vater nickte mir kurz zu, ein flüchtiges Lächeln huschte über sein Gesicht. Auf einmal spürte ich eine innere Wärme. Hat er gerade einen Feuerzauber gewirkt? Was natürlich Unsinn war, denn solange er mich trug, konnte er gar nicht die entsprechenden Gebärden vollführen.

In der Oase standen alle steif und stumm da. Nur Osia’phest lag immer noch im Sand, doch sein Gebrummel verriet, dass er allmählich wieder zu sich kam. Panahsi, Nephenia, Tennat und meine anderen Mitschüler gafften uns einfach nur an.

Mein Vater war ein kräftiger Mann, über eins achtzig groß und mit tiefschwarzem Haar – ein krasser Gegensatz zu den Blondtönen, die sowohl Shalla als auch ich von unserer Mutter geerbt hatten. Sein Bart und Schnurrbart waren stets penibel gestutzt und er strahlte auf Schritt und Tritt eine imponierende Würde aus. Er war in jeder Hinsicht so stark, wie es von einem Jan’Tep erwartet wurde: körperlich, geistig und vor allem magisch. Sogar in Panahsis Augen las ich hin und wieder einen gewissen Zweifel daran, ob ich tatsächlich der Sohn eines so mächtigen Mannes wie Ke’heops war.

»Ich kann allein stehen«, sagte ich, weil mir meine Schwäche vor den anderen Schülern peinlich war, doch er setzte mich nicht ab.

Shalla kam zögerlich zu uns herüber. »Vater, sei bitte nicht böse auf –«

»Schweig!«, schnitt er ihr das Wort ab. Meine Schwester verstummte. Er versuchte, die Situation einzuschätzen, ließ den Blick vom einen zum anderen wandern. Ich wusste, dass er die Anwesenden so mühelos durchschaute, als könnte er in ihre Köpfe hineinsehen. Er beobachtete ihre Reaktionen auf sein Kommen – verstohlene Blicke und niedergeschlagene Augen. Er machte sich ein Bild von der Lage, indem er die Angst oder das schlechte Gewissen jedes Einzelnen analysierte. Auf einmal blickte er leicht irritiert und ich wandte den Kopf. Er musterte die Frau, die mir das Leben gerettet hatte.

»Du da – wie heißt du?«, fragte er.

Sie kam einen Schritt näher, als wollte sie beweisen, dass sie keine Angst vor ihm hatte. »Ferius Parfax«, antwortete sie und streckte die behandschuhte Hand aus, um mir etwas vom Gesicht zu wischen. »Du solltest ihn baden. Das Pulver könnte noch einmal eine heftige Reaktion auslösen, wenn es tiefer in die Haut eindringt.«

Sie hatte kaum ausgeredet, als mein Vater auch schon kommandierte: »Du kommst mit!«

Auch wenn Ferius Parfax trotz der einen weißen Locke in ihrem roten, vom Grenzerhut mühsam gebändigten Haarschopf etliche Jahre jünger als mein Vater aussah, stemmte sie die Hände in die Hüften und lachte schallend. »Sieh mal einer an! Und ich dachte immer, ihr Jan’Tep kennt sämtliche Zaubersprüche, die’s gibt!«

Allgemeines Raunen und erschrockenes Luftschnappen bei meinen Mitschülern, am lautesten von Shalla. Niemand sprach so mit Ke’heops, schon gar nicht eine dahergelaufene, magielose Daroman. Ich blickte zu meinem Vater auf und sah, wie seine Wangenmuskeln kurz hervortraten, doch dann sagte er höflich: »Entschuldige bitte. Würdest du uns nach Hause begleiten? Ich hätte ein paar Fragen, die für die Genesung meines Sohnes wichtig sein könnten.«

Ferius zwinkerte mir zu, als hätte sie soeben an einem staubtrockenen Tag ein Gewitter herbeigezaubert. »Klar doch.«

Auf einmal hatte ich das Gefühl, ich müsste mich an der Unterhaltung beteiligen. »Ich heiße übrigens Kellen.«

»Freut mich, dich kennenzulernen, Kellen«, erwiderte sie und nahm den Hut ab, um ihn sofort wieder aufzusetzen. Die Daroman haben lauter solche komischen kleinen Rituale.

Eine Bewegung ganz in der Nähe zog unsere Aufmerksamkeit auf sich. Osia’phest war dabei, sich mit erstaunlich wenig Unterstützung der Schüler, die um ihn herumstanden, aufzurappeln. »Hochverehrter Ke’heops –«

»Helft ihm!«, befahl mein Vater.

Sofort griffen zwei Schüler Osia’phest unter die Arme und zogen ihn hoch. Der alte Zaubermeister tappte ein paar unsichere Schritte auf uns zu. »Wenn ich vielleicht die Begleitumstände erklären …«

»Ruh dich aus«, entgegnete mein Vater. »Deine Schüler sollen dich nach Hause bringen. Wir unterhalten uns morgen.«

Osia’phest sah aus wie jemand, den man gerade zu einer Gefängnisstrafe verurteilt hat. Ferius schnaubte abfällig. »Magier!«, sagte sie, als bedeutete das Wort in ihrer Sprache etwas anderes als in unserer.

Als ich sah, wie der Alte von meinen Mitschülern praktisch weggeschleift wurde, wie sie dabei die Augen verdrehten und sich immer wieder nach mir umwandten, schämte ich mich auf einmal. »Ich kann allein stehen«, wiederholte ich.

Mein Vater machte ein skeptisches Gesicht, stellte mich aber auf die Füße. Sofort knickten meine Knie wieder ein und mir wurde schwindlig. Ich hatte mich gewaltig überschätzt.

»Hab auch noch nie erlebt, dass sich jemand so schnell von einem angehaltenen Herzen erholt hätte.« Ferius klopfte mir auf den Rücken. Allerdings war es kein anerkennendes Klopfen, sondern sie packte mich dabei am Schlafittchen, damit ich nicht vornüberkippte.

Meinem Vater gelang es bewundernswert, so zu tun, als hätte er nichts gemerkt. Mit einem großen Schritt stellte er sich so vor mich, dass die anderen nicht sahen, wie Ferius mich jetzt mit beiden Händen festhielt. »Ihr anderen habt alle ein Zuhause, in das ihr zurückkehren könnt«, wandte er sich an meine Mitschüler. »Also los.«

Im Nu war die Oase wie leer gefegt. Niemand richtete auch nur ein Wort an mich, Panahsi nicht und auch nicht Nephenia. Selbst Tennat traute sich nicht, mich zu beleidigen.

Als alle bis auf Shalla und Ferius weg waren, drehte sich mein Vater zu der Daroman-Frau um und nickte. Sie nahm die Hände weg und ich taumelte sofort rückwärts. Mein Vater fing mich auf. »Schlaf jetzt«, sagte er.

Es war weder ein Befehl noch ein Zauberspruch. Ich hätte wach bleiben können, wenn ich es energisch genug versucht hätte. Andererseits bestand die verschwindend kleine Möglichkeit, dass sich das Ganze, wenn ich einschlief und irgendwann wieder aufwachte, nur als demütigender Albtraum herausstellte. Darum schloss ich hoffnungsvoll die Augen.

1

Das Duell

Die alten Zaubermeister behaupten immer, Magie würde nach etwas schmecken. Glutzauber zum Beispiel wie ein Gewürz, das auf der Zungenspitze brennt, Atemzauber eher mild und kühl, als nähme man ein Minzblatt zwischen die Lippen. Sand, Seide, Blut, Eisen … jeder Zauber hat seinen eigenen Geschmack. Der wahre Könner – also ein Magier, der sogar außerhalb einer Oase Zaubersprüche wirken kann – kennt sie alle.

Und ich? Ich hatte keinen blassen Schimmer, wonach die Hohe Magie schmeckte, und genau deshalb steckte ich gerade ziemlich heftig in der Klemme.

Tennat wartete schon auf mich. Er stand innerhalb der sieben Marmorsäulen, die sich rings um die Oase der Stadt erhoben. Weil er die Sonne im Rücken hatte, streckte sich sein Schatten die ganze Straße hinauf, mir direkt entgegen. Wahrscheinlich hatte er sich diesen Standort genau deshalb ausgesucht. Sein Plan ging auf, denn mein Mund war jetzt so trocken wie der Sand unter meinen Füßen, und das Einzige, was ich schmeckte, war Panik.

»Lass es bleiben, Kellen!«, flehte Nephenia und beschleunigte ihren Schritt, um zu mir aufzuschließen. »Du kannst immer noch einen Rückzieher machen.«

Ich blieb stehen. Eine warme südliche Brise strich sanft durch die rosafarbenen Blüten der Tamarisken auf beiden Seiten der Straße. Kleine Blütenblätter tanzten durch die Luft und leuchteten in der Nachmittagssonne wie die Funken eines Feuerzaubers. Tja, in diesem Moment hätte ich ein bisschen Feuermagie gut gebrauchen können. Genau genommen hätte ich mich mit jeder Sorte Magie zufriedengegeben.

Nephenia spürte mein Zögern und fügte an: »Tennat hat in der ganzen Stadt damit geprahlt, dass er dich fertigmacht, wenn du hier auftauchst.« Nicht sehr hilfreich.

Ich grinste. Hauptsächlich deshalb, weil mir nichts Besseres einfiel, um die Angst daran zu hindern, aus meinem Magen in mein Gesicht hochzukriechen. Bis jetzt war ich noch nie zu einem Magierduell angetreten, aber ich ahnte, dass es keine besonders schlaue Taktik war, so auszusehen, als sei man vor lauter Furcht gelähmt. »Geht schon klar«, entgegnete ich und ging weiter.

»Nephenia hat recht, Kel«, sagte Panahsi, der jetzt ebenfalls schnaufend aufholte. Er schlang den rechten Arm um den dicken Verband, der seine Rippen zusammenhielt. »Du musst nicht meinetwegen gegen Tennat antreten.«

Ich ging ein bisschen langsamer und verkniff es mir, genervt die Augen zu verdrehen. Panahsi hatte das Zeug dazu, einer der besten Magier unserer Generation zu werden. Vielleicht würde er eines Tages sogar das Gesicht unseres Clans am Hof des Fürsten sein. Schade nur, dass seine von Natur aus muskulöse Statur wegen seiner Begeisterung für Gelbbeertörtchen allmählich unter einer Speckschicht verschwand. Außerdem kämpften seine eigentlich anziehenden Züge mit einem Hautproblem, das in unmittelbarem Zusammenhang mit der erwähnten Süßspeise stand. Mein Volk kennt viele Zaubersprüche, aber keine, die gegen Fettleibigkeit und heftige Verpickelung helfen.

»Hör nicht auf die beiden, Kellen!«, rief mir Tennat zu, als wir uns dem Rund der weißen Marmorsäulen näherten. Er hatte einen Kreis von ungefähr einem Meter Durchmesser in den Sand gezogen und verschränkte die Arme vor der Brust. Die Ärmel seines schwarzen Leinenhemds hatte er abgeschnitten, damit auch ja alle sahen, dass er nicht nur eins, sondern bereits zwei der Bänder auf seinen Unterarmen entfacht hatte. Die eintätowierte metallische Tinte schimmerte und waberte unter der Haut, als er die Atem- und Eisenmagie beschwor. »Ich find’s echt toll von dir, dass du dein Leben wegwirfst, um die Ehre deines schwabbeligen Freundes zu verteidigen.«

Ein paar Zuschauer, allesamt Schüler wie wir, lachten. Die meisten hatten sich hinter Tennat aufgestellt und konnten vor Aufregung kaum stillstehen. So ein derber Kampf ist immer ein sehenswertes Spektakel. Außer für denjenigen, der die Prügel einstecken muss.

Panahsi war vielleicht keine so strahlende Erscheinung wie unsere alten Kriegsmagier, deren Porträts in die Säulen eingemeißelt waren, trotzdem war er doppelt so gut wie Tennat. Es gab auch überhaupt keine Erklärung dafür, weshalb er bei seinem eigenen Duell mit ihm so kläglich versagt hatte. Sogar jetzt noch, nach über zwei Wochen Bettruhe und wer weiß wie vielen Heilzaubern, war er so mitgenommen, dass er es kaum zum Unterricht schaffte.

Ich grinste meinen Gegner breit an. Wie alle anderen war Tennat überzeugt, dass ich ihn nur aus purem Übermut als Gegner für meine erste Prüfung ausgesucht hatte. Manche unserer Mitschüler glaubten, dass ich Panahsi rächen wollte, schließlich war er so gut wie mein einziger Freund. Andere dachten, ich wollte Tennat einfach mal einen Dämpfer verpassen, weil er ständig alle tyrannisierte und obendrein die Sha’Tep-Dienerschaft schikanierte, die selbst nicht über Zauberkräfte verfügte.

»Lass dich nicht von ihm provozieren, Kellen«, sagte Nephenia und legte mir die Hand auf den Arm.

Bestimmt vermuteten einige Leute auch, dass ich das alles auf mich nahm, um Nephenia zu beeindrucken, das Mädchen mit den glänzenden braunen Haaren und dem eigentlich nicht ganz ebenmäßigen, aber für mich trotzdem wunderschönen Gesicht. So wie sie mich jetzt ansah, mit dieser atemlosen Sorge um mein Wohlergehen, hätte man nie gedacht, dass sie mich in all den Jahren, die wir schon Mitschüler waren, kaum beachtet hatte. Offen gestanden hatte mich auch sonst kaum jemand beachtet. Heute aber schon. Heute beachteten mich alle, sogar Nephenia. Vor allem Nephenia.

Nur aus Mitleid? Vielleicht, aber von dem besorgten Ausdruck, der die Lippen umspielte, die ich schon so lange küssen wollte – nämlich seit ich begriffen hatte, dass es beim Küssen nicht darum ging, den anderen zu beißen –, wurde mir ganz schwindlig. Dazu ihre Hand auf meiner Haut … Hatte sie mich überhaupt schon mal angefasst?

Doch ich hatte mir diesen Zweikampf wirklich nicht ausgesucht, um sie zu beeindrucken, also schüttelte ich ihre Hand sanft ab und betrat die Oase.

Ich habe gelesen, dass andere Kulturen das Wort »Oase« für einen Fleck fruchtbaren Bodens inmitten einer Wüste verwenden. Bei den Jan’Tep ist eine Oase etwas ganz anderes. Jede der sieben Marmorsäulen stand für ein Element der wahren Magie. Innerhalb des Säulenkreises, der einen Durchmesser von zehn Metern hatte, gab es keine Bäume und auch keine anderen Pflanzen, nur einen schimmernden Teppich aus silbernem Sand, der sogar bei starkem Wind nie über die von den Säulen bezeichnete Grenze hinauswehte. In der Mitte war ein flaches Steinbecken, dessen glänzender Inhalt weder aus Wasser noch aus Luft bestand, aber abwechselnd anstieg und dann wieder in sich zusammenfiel. Das war die wahre Magie. Das Jan.

»Tep« bedeutet »Volk«. Daran sieht man, wie wichtig die Magie für uns ist. So wichtig, dass meine Vorfahren, als sie hierherkamen, wie schon andere Völker vor ihnen, ihren alten Namen ablegten und seither als die »Jan’Tep«, das »Volk der Wahren Magie«, bekannt sind.

Theoretisch jedenfalls.

Ich kniete mich hin und zog ebenfalls einen Schutzkreis um mich. Einen ziemlich unförmigen.

Tennat lachte. »Auweia, jetzt krieg ich aber Schiss.«

Trotz seiner Aufschneiderei war mein Gegner nicht halb so einschüchternd, wie er sich offenbar einbildete. Er war zwar drahtig und hinterhältig, aber nicht besonders groß. Genau genommen war er so mager wie ich und außerdem einen halben Kopf kleiner. Was ihn irgendwie noch fieser wirken ließ.

»Seid ihr beide nach wie vor entschlossen, dieses Duell durchzuführen?«, fragte jetzt Meister Osia’phest und erhob sich von seiner Steinbank am Rand der Oase. Dabei sah der alte Zaubermeister nicht Tennat an, sondern mich. Es war also klar, von wem alle dachten, dass er noch einen Rückzieher machen würde.

»Kellen kneift nicht!«, erklärte meine Schwester und trat hinter unserem Lehrer hervor. Shalla war erst dreizehn und damit jünger als wir alle, aber sie war schon mitten in ihren Prüfungen. Sie war als Magierin begabter als alle anderen Anwesenden (bis auf Panahsi vielleicht), was auch daran zu erkennen war, dass sie bereits vier der Bänder an ihren Armen, nämlich die für Atem-, Eisen-, Blut- und Glutmagie, entfacht hatte. Es gab Magier, die ihr Leben lang keinen Zugriff auf die vierte Disziplin erlangen würden, aber meine kleine Schwester hatte sich fest vorgenommen, alle zu meistern.

Und wie viele Bänder hatte ich entfacht? Wie viele der eintätowierten Symbole unter meinen Hemdsärmeln würden schimmern und wabern, wenn ich die Hohe Magie meines Volkes anrief?

Null.

Wobei natürlich auch ich innerhalb der Oase die Übungszauber ausführen konnte, die alle Schüler lernen. Ich beherrschte die entsprechenden Gebärden genauso gut wie jeder meiner Mitschüler, wenn nicht sogar besser. Ich konnte jede Silbe der Formeln fehlerlos intonieren und mir die abwegigsten Diagramme vorstellen. Ich beherrschte jede Nuance der Zauberei – bis auf den eigentlichen magischen Teil.

»Sag das Duell ab, Kellen«, riet mir Nephenia gedämpft. »Dir fällt bestimmt noch etwas anderes ein, wie du die Prüfungen ablegen kannst.«

Das war ja das Problem! Ich wurde bald sechzehn und das hier war meine letzte Chance, allen zu beweisen, dass ich das Zeug dazu hatte, mir meinen Magiernamen zu verdienen. Was wiederum bedeutete, dass ich alle vier magischen Prüfungen bestehen musste, angefangen mit dem Duell. Wenn ich durchfiel, war ich gezwungen, mich den Sha’Tep anzuschließen und den Rest meines Lebens damit zu verbringen, für einen meiner ehemaligen Mitschüler zu kochen, zu putzen und ihn sonst wie zu bedienen. Ein erniedrigendes Schicksal für jeden, aber erst recht für ein Mitglied meiner Familie – für den Sohn des großen Ke’heops. Durchfallen war einfach nicht drin.

Allerdings hatte ich Tennat nicht deswegen zum Zweikampf herausgefordert.

»Lasst euch gesagt sein, dass das Gesetz diejenigen nicht schützt, die sich einer Prüfung unterziehen«, mahnte Osia’phest mit brüchiger Stimme. »Nur jene, die dem Kampf mit unseren Gegnern gewachsen sind, können einen Magiernamen beanspruchen.«

Schweigen senkte sich über die Oase. Wir alle kannten die Liste der Schüler, die sich den Prüfungen zu früh gestellt hatten. Wir alle kannten die Geschichten, wie sie umgekommen waren. Osia’phest blickte mich noch einmal fragend an. »Bist du wahrlich vorbereitet?«

»Na klar«, antwortete ich scheinbar unbekümmert. Eigentlich redeten wir nicht so mit unserem Lehrer, aber meine Strategie erforderte es, ein gewisses Selbstvertrauen zur Schau zu stellen.

»Klar«, äffte mich Tennat nach und nahm Verteidigungshaltung ein. Schulterbreit auseinanderstehende Füße, locker herabhängende Arme – allzeit bereit, die Zauber zu wirken, die er sich für unser Duell zurechtgelegt hatte. »Letzte Chance, dich zu verdrücken, Kellen. Wenn wir einmal loslegen, höre ich erst auf, wenn du erledigt bist.« Feixend sah er Shalla an. »Ich möchte nicht, dass die schrecklichen Schmerzen, die ich dir zufüge, deiner Schwester unnötig Kummer bereiten.«

Falls Shalla diese kindische Imitation von Barmherzigkeit überhaupt mitbekam, ließ sie sich nichts anmerken. Sie stand einfach nur da, stemmte die Hände in die Hüften und ihre hellblonde Mähne wehte anmutig im Wind. Ihr Haar war dicker und glatter als das strohige Gestrüpp auf meinem Kopf, das mir immer wieder in die Augen fiel. Beide hatten wir den hellen Teint unserer Mutter geerbt, nur dass er bei mir nach immer wieder auftretenden Krankheitsphasen wesentlich ungesünder wirkte. Bei Shalla betonte er die feinen Gesichtszüge, die die Aufmerksamkeit praktisch jedes Schülers aus unserem Clan auf sich zogen. Wobei sie sich natürlich für keinen von ihnen interessierte. Ihr war bewusst, dass sie talentierter war als wir alle, und sie war fest entschlossen, alles daranzusetzen, Obermagus zu werden wie unser Vater. Für Jungs war in dieser Gleichung einfach kein Platz.

»Shalla hat mit meinen Schmerzensschreien bestimmt kein Problem«, murmelte ich.

Sie fing meinen Blick auf und erwiderte ihn mit einer Mischung aus Verwunderung und Argwohn. Sie wusste, dass ich alles tun würde, um meine Prüfungen zu bestehen. Gerade deshalb behielt sie mich so scharf im Auge. Was du auch denken magst, Shalla – bitte halt die Klappe. Ich flehe dich an.

»Als derjenige Schüler, der die wenigsten Bänder entfacht hat«, fuhr Osia’phest fort, »hast du die Wahl der magischen Disziplin für das Duell, Kellen. Welche Waffe wählst du?«

Alle warteten gespannt. Wie gesagt, hier in der Oase war jeder von uns in der Lage, ein bisschen Magie zu beschwören – jedenfalls so viel, dass es zum Üben genügte. Aber das war nichts im Vergleich dazu, was man anstellen konnte, wenn man erst einmal seine Bänder entfacht hatte. Weil Tennat bereits Eisen und Atem zur Verfügung standen, wäre ich verrückt gewesen, eines von beiden zu wählen.

»Eisen«, sagte ich so laut, dass es auch jeder hörte.

Meine Mitschüler starrten mich ungläubig an, als hätte ich den Verstand verloren. Nephenia wurde ganz blass, Shalla kniff skeptisch die Augen zusammen. Panahsi machte Anstalten, Einwände zu erheben, aber ein Blick von Osia’phest ließ ihn verstummen. »Ich glaube, ich habe dich nicht richtig verstanden«, sagte unser Lehrer gedehnt.

»Eisen!«, wiederholte ich.

Tennat grinste. Dem Eisenband an seinem Unterarm entströmte ein hellgrauer Schimmer und schlängelte sich um seine Hände. Alle Anwesenden wussten, wie sehr Tennat für Eisenmagie schwärmte – für die Art und Weise, wie sie den Gegner erbarmungslos niedermachte. Man sah ihm die Begeisterung an, die Erregung darüber, dass er gleich hochkarätige Magie ausüben durfte. Wie gern hätte auch ich gewusst, wie sich das anfühlte!

So ungeduldig war er, dass seine Finger bereits die Gebärden für die Zaubersprüche durchgingen, die er gegen mich einsetzen wollte. Dabei lernt man doch zum Thema Duelle als Erstes, dass nur ein Schwachkopf seine Karten aufdeckt, bevor der eigentliche Kampf beginnt. Weil ich Tennat aber auf gar keinen Fall mit Eisenmagie schlagen konnte, glaubte er offenbar, er hätte nichts zu verlieren.

Und deshalb grinste auch ich.

In den letzten paar Wochen hatte ich jedes einzelne Duell verfolgt, bei dem Tennat gegen andere Schüler angetreten war. Mir war aufgefallen, dass sogar begabtere Schüler – solche, die ihn eigentlich mit Leichtigkeit hätten besiegen können – letztlich immer hatten aufgeben müssen.

Irgendwann war mir ein Licht aufgegangen.

Magie ist im Grunde nichts anderes als Trickserei.

In der Oase war es still, fast friedlich. Ich glaube, alle warteten darauf, dass ich nervös loskicherte und in letzter Sekunde verkündete, alles sei bloß ein Witz gewesen. Stattdessen straffte ich die Schultern und neigte meinen Kopf erst nach links und dann nach rechts, bis die Halswirbel knackten. Meine Zauberkünste wurden davon zwar nicht besser, aber vielleicht wirkte ich so entschlossener.

Tennat schnaubte verächtlich. Das tat er andauernd, nur war es diesmal lauter. »Jemand wie du, der schon zusammenklappt, wenn er eine Leuchtglaslaterne entzünden will, müsste eigentlich bei der Wahl seiner Gegner vernünftiger sein, oder?«

»Stimmt«, erwiderte ich knapp und krempelte die Ärmel hoch, damit er die matten, leblosen Tätowierungen meiner eigenen sechs Bänder sah. »Darum solltest du dich lieber fragen, warum ich ausgerechnet dich herausgefordert habe.«

Er musste überlegen und entgegnete dann ungemein schlagfertig: »Vielleicht hast du ja Todesträume und weißt, dass ich dich am schnellsten auf den grauen Weg befördern kann, damit dein Leiden ein Ende hat.«

»Könnte sein. Aber damit es spannend bleibt, behaupte ich einfach mal, dass ich andere Gründe habe.«

»Zum Beispiel?«

Darauf hatte ich eigentlich antworten wollen, dass ich mich mit dem Schatten verbunden hätte – der siebten und tödlichsten Art der Magie, jenem Zauber, der uns allen verboten war. Wenn ihm das keine Angst einjagte, hätte ich hinzugefügt, dass die wahrhaft großen Magier unter unseren Vorfahren die Hohe Magie anwenden konnten, ohne ihre Bänder überhaupt entfacht zu haben. Doch als ich zu einer Erwiderung ansetzte, sah ich einen Falken über uns hinwegfliegen und entschied mich spontan für eine andere Taktik.

»Wenn man sein Schutztier gefunden hat, braucht man seine Bänder nicht.«

Daraufhin schauten alle nach oben, und Tennats ärgerliche Miene verriet mir, dass er nervös wurde. »Kein Mensch verbindet sich heutzutage noch mit Schutztieren. Abgesehen davon – wie soll ausgerechnet jemand mit so wenig Zauberkraft ein Tier an sich binden? Du spinnst, Kellen. Nie im Leben!«

Ich sah, dass der Falke einen kleineren Vogel verfolgte. »Schnapp ihn dir, Süßer!«, raunte ich gerade so laut, dass es alle mitbekamen. Sie schienen die Luft anzuhalten, als der Falke die Klauen in seine Beute schlug. Aus mir wäre sicherlich ein ausgezeichneter Schauspieler geworden, wenn dieser Beruf bei den Jan’Tep nicht streng verboten wäre.

»Na schön, na schön.« Osia’phest fuchtelte mit den Händen, als wollte er unseren unsinnigen Schlagabtausch mit einem Bannzauber beenden. Bestimmt wusste der Alte, dass ich mir kein Schutztier zugelegt hatte, aber wahrscheinlich gehörte es sich nicht, einen anderen Magier bloßzustellen, auch wenn derjenige offensichtlich dreist log. »Vor einem Duell gibt es traditionell stets ein gewisses … Imponiergehabe, aber jetzt reicht es allmählich. Seid ihr so weit?«

Ich nickte. Tennat zeigte keine Reaktion, als sei allein die Vermutung, er könne nicht so weit sein, eine Beleidigung.

»Gut«, sagte Osia’phest. »Dann fange ich mal an zu zählen.« Er holte übertrieben tief Luft, denn er sagte lediglich: »Sieben!«

Der Wind frischte auf und ließ mein weites Hemd flattern. Ich trocknete mir die Hände ungefähr zum zehnten Mal an dem Leinenstoff ab und räusperte mich, um das Kratzen im Hals loszuwerden. Jetzt bloß nicht husten. Keine Schwäche zeigen. Ganz egal, was kommt.

»Sechs.«

Tennat grinste mich so siegessicher an, als würde ich gleich mein blaues Wunder erleben. Wahrscheinlich hätte er mich tatsächlich eingeschüchtert, wenn ich nicht gewusst hätte, dass er alle seine Gegner mit diesem Grinsen zu beeindrucken versuchte. Außerdem machte ich mir vor Angst sowieso schon in die Hose.

»Fünf.«

Der Vogel segelte wieder über uns hinweg. Ich schaute nach oben und zwinkerte ihm demonstrativ zu. Tennats Grinsen wurde schief. Er hielt mich zwar für einen hoffnungslosen Schwächling, nahm mir aber trotzdem ab, dass ich mich mit einem Schutztier verbunden hatte. Was für ein Idiot.

»Vier.«

Tennat vollführte mit der linken Hand die Gebärde für einen Schildzauber, wobei er sicherheitshalber nach unten schielte, ob er auch alles richtig machte. Ja, er war eindeutig verunsichert.

»Zwei.«

Zwei? Und wo war drei geblieben? Konzentrier dich, verdammt noch mal! Mit der Rechten führte Tennat jetzt die Gebärde für den eisernen Angriffszauber aus, den wir meistens einfach Leibschneider nannten. Dazu formte er die Finger so, dass sie mir die größtmöglichen Schmerzen verursachen konnten. Er hielt den Kopf immer noch gesenkt, aber es sah so aus, als würde er schon wieder grinsen.

»Eins.«

Ja, er grinste. Vielleicht ist das Ganze doch keine so gute Idee?

»Fangt an!«, rief Osia’phest.

Ich spürte sofort einen stechenden Schmerz im Leib.

Wie gesagt: Magie ist reine Trickserei.

Größtenteils.

Ein Beobachter hätte kaum mitbekommen, dass überhaupt etwas geschah. Es gab weder grelle Blitze noch Donnerschläge, nur das Abendlicht und die laue Brise von Süden. Eisenmagie ruft keine sichtbaren oder hörbaren Effekte hervor – deshalb hatte ich sie mir ja ausgesucht. Der eigentliche Kampf spielte sich im Inneren unserer Körper ab.

Tennat streckte die rechte Hand aus: Mittel- und Ringfinger waren zum Zeichen des Messers aneinandergelegt, Zeigefinger und kleiner Finger zur Gebärde des Ziehens und Reißens gekrümmt. Sein Wille bohrte sich in meinen Brustkorb und glitt an meinen Organen entlang. Der dadurch verursachte Schmerz – eher ein dumpfes, grauenvolles Ziehen als ein stumpfer oder scharfer Schnitt – löste in mir das Verlangen aus, mich zu Boden zu werfen und um Gnade zu betteln. Mist – er ist schnell und stark ist er auch. Warum kann ich nicht so stark sein?

Ich reagierte mit einem spöttischen Auflachen. Sein Gesichtsausdruck verriet mir, dass ich ihm damit tatsächlich Angst einjagte. Den Zuschauern ging es vermutlich genauso, denn Selbstbewusstsein gehörte sonst nicht unbedingt zu meinen Eigenschaften.

Ich wurde wieder ernst und sah ihn fest an. Dann streckte ich die Hand aus, als wollte ich die Luft durchbohren – eine Gebärde, die für einen Schüler wie mich viel zu energisch und auf jeden Fall viel zu schnell ausfiel, wenn gleichzeitig ein Abwehrzauber aufrechterhalten werden musste. Während Tennats Gebärden sorgfältig und präzise waren, fielen meine lockerer, fast lässig aus – etwas, das nur wenige gewagt hätten.

Erst passierte gar nichts. Weil ich Tennats Willen immer noch in den Eingeweiden spürte, grinste ich ihn erneut an, um ihm klarzumachen, dass seine Niederlage ohne Zweifel bevorstand. Als er mich ein paar qualvolle Sekunden forschend musterte, ließ das schmerzhafte Ziehen in meinem Inneren ein wenig nach. Dann huschte plötzlich verblüfftes Entsetzen über sein Gesicht.

In diesem Augenblick begriff ich, dass ich ihn tatsächlich besiegen konnte.

Der andere Grund, weshalb ich mir den Eisenzauber ausgesucht hatte, obwohl ich ihn selbst gar nicht ausführen konnte, war nämlich der, dass ein Magier, der den Leibschneider wählt, einen zweiten Zauber – das Herzschild – einsetzen muss, um sich selbst zu schützen. Dabei handelt es sich aber nicht um einen Schild, wie ihr ihn euch vielleicht vorstellt: so ein großes rundes Ding, mit dem man Hiebe abwehrt. Vielmehr benutzt man magische Kräfte, um die Form und Unversehrtheit seiner Organe zu erhalten. Man muss sich das eigene Herz, die Leber, die … na ja, den ganzen Kram vor Augen rufen und versuchen, alles zusammenzuhalten. Sobald man aber in Panik gerät, etwa weil man glaubt, der andere Magier wäre stärker und man hätte ihm nichts entgegenzusetzen, kann es passieren, dass man versehentlich die eigenen Organe zerquetscht.

Auf diese Weise hatte Tennat nämlich Panahsi besiegt. Er hatte ihm schwere innere Verletzungen zugefügt, obwohl niemand außer mir – nicht einmal Tennat selbst – es mitbekommen hatte. Pan hatte so verzweifelt versucht, sich zu schützen, dass er am Ende seine eigenen Organe zerdrückt hatte. Und jetzt hatte ich Tennat dermaßen davon überzeugt, dass mir sein Zauber nichts anhaben konnte, dass er die Beherrschung verlor. Ich litt immer noch scheußliche Schmerzen, aber darauf war ich vorbereitet. Tennat dagegen war völlig überrumpelt.

Erst wehrte er sich und verstärkte seinen Angriff auf mich noch, ohne zu merken, dass er sich dabei selbst immer mehr schadete. Meine Knie zitterten und vor meinen Augen verschwamm alles, als mich der Schmerz überwältigte. Dabei war mir mein Plan so einleuchtend vorgekommen …

Plötzlich taumelte Tennat aus seinem Kreis heraus. »Schluss!«, ächzte er. »Ich … ich gebe auf!«

Der eiserne Griff seines Zaubers verflüchtigte sich, ich bekam wieder Luft. Allerdings gab ich mir große Mühe, dass man mir meine ungeheure Erleichterung nicht ansah.

Osia’phest schritt auf Tennat zu, der keuchend auf die Knie gesunken war. »Beschreibe uns, was du gespürt hast«, forderte unser Lehrer ihn auf.

Tennat sah ihn an, als wäre der alte Mann ein Trottel, wofür ihn die meisten unserer Mitschüler ohnehin hielten. »Ich dachte, ich müsste gleich sterben. So hat es sich angefühlt!«

Osia’phest ignorierte den feindseligen Tonfall. »Hat es sich genauso angefühlt wie bei den anderen Schülern?«

Mir fuhr der Schreck in die Glieder, als mir klar wurde, dass Osia’phest Verdacht geschöpft hatte. Tennat sah erst mich an und dann wieder den Alten. »Na ja … anfangs nicht. Sonst fühlt es sich ja immer an, als ob einen eine Hand packt, aber bei Kellen war es irgendwie anders … schlimmer … wie lauter Ranken, die sich um meine Eingeweide schlingen, und dann habe ich gespürt, wie er meine Organe zusammenquetscht.«

Osia’phest schwieg eine ganze Weile. Der Wind frischte auf und legte sich wieder. Die anderen Schüler staunten mich immer noch an. Wie konnte jemand, der noch kein einziges seiner Bänder entfacht hatte, den besten Kämpfer unserer Klasse besiegen? Aber alle hatten Tennat wanken sehen und gehört, wie er beschrieben hatte, dass ihn eine überlegene Macht überwältigt hatte. Schließlich sagte Osia’phest: »Gut gemacht, Kellen aus dem Hause Ke. Es sieht ganz so aus, als hättest du deine erste Prüfung bestanden.«

»Die anderen drei bestehe ich auch noch!«, verkündete ich selbstbewusst.

Ich hab’s geschafft!, dachte ich und unbändige Freude durchströmte mich. Ich habe ihn besiegt! Ich habe gewonnen! Vorbei das stundenlange Starren auf meine Unterarme, vorbei die inbrünstigen Gebete, mit denen ich erfolglos versucht hatte, die eintätowierten buchstabenähnlichen Symbole aufzubrechen, um die Bänder zu entfachen. Vorbei die durchwachten Nächte, in denen ich gegrübelt hatte, wann ich wohl aus meinem Elternhaus verstoßen würde, um ein Sha’Tep zu werden und mein Leben als Händler, Buchhalter oder, meine Vorfahren mögen mir beistehen, als Tennats persönlicher Diener zu fristen.

Einige meiner Mitschüler applaudierten. Vermutlich hatte sich keiner außer Panahsi und vielleicht Nephenia gewünscht, dass ich Tennat bezwang, aber Sieger sind bekanntlich immer beliebt. Sogar Tennat verbeugte sich vor mir – mit so viel Würde, wie er noch aufbrachte. Was seine eigenen Prüfungen betraf, hatte ich seinem Status nicht schaden können, denn jeder Schüler hatte drei Duellversuche und Tennat hatte schon mehrere Zweikämpfe gewonnen.

»Na dann«, sagte Osia’phest abschließend. »Kommen wir zum nächsten Gegnerpaar und –«

»Halt!«, rief da jemand und zerschmetterte mit größerer Wucht als jeder Zauber alles, was ich geleistet hatte, und alles, was ich jemals leisten würde. Mir fiel das Herz in die Hose, als sich meine Schwester an Osia’phest vorbeidrängte und, die Hände in die Hüften gestemmt, vor mir aufbaute. »Kellen hat geschummelt«, sagte sie schlicht.

Und damit fielen alle meine Hoffnungen und Träume einfach so in sich zusammen.

2

Der Verrat

(Shalla ist von einem Dämon besessen! Ich bin im Besitz der achten Form der Magie! Der Rat der Magier hat mich gesandt, um euch alle auf die Probe zu stellen! Das alles hier ist ein Traum – ihr träumt nur!),