SIMON STONE

STÜCKE

Herausgegeben
von Brangwen Stone

Deutsch von
Martin Thomas Pesl
und Brangwen Stone

FISCHER E-Books

Mit einem Nachwort
von Caroline Peters

Inhalt

Über Simon Stone

Simon Stone (*1984 in Basel) wuchs in Cambridge/England und Melbourne/Australien auf und wurde schon mit 16 Schauspieler. Nach seinem Abschluss an der Melbourne University arbeitete er außerdem als Autor und Theaterleiter. Mit der erfolgreichen Inszenierung und Überschreibung von The Wild Duck (Belvoir Theatre, Sydney 2011) gelang ihm international der Durchbruch. 2014 inszenierte Simon Stone zum ersten Mal in Deutschland am Theater Oberhausen (Die Orestie). 2015 wurde er mit seinem Film The Daughter (basierend auf The Wild Duck) zum International Film Festival nach Toronto und zu den Filmfestspielen von Venedig eingeladen.Im selben Jahr wurde er Hausregisseur am Theater Basel. Seit 2016 wurde er dreimal zum Theatertreffen eingeladen: John Gabriel Borkman (Burgtheater Wien/Theater Basel/Wiener Festwochen), Drei Schwestern (Theater Basel) und Hotel Strindberg (Burgtheater Wien/Theater Basel). Er gewann zahlreiche Preise, u.a. 2017 den Olivier Award for Best Revival für seine Lorca-Adaption Yerma (Young Vic, London/The Armory, New York). Mit seiner Adaption von Drei Schwestern wurde er 2017 in der Kritikerumfrage von Theater heute zum Autor des Jahres gewählt. 2018 bekam er den Kunstpreis der Akademie der Künste Berlin in der Kategorie Darstellende Kunst.

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Impressum

 

 

 

Originalausgabe

Erschienen bei FISCHER E-Books

 

© 2019 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main

 

Quellenhinweise am Schluss des Bandes

Aufführungsrechte: S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main

Covergestaltung: Sanaz HazeghNejad · sanaz.eu

Szenenfoto: Sandra Then

aus: HOTEL STRINDBERG (Koproduktion Burgtheater Wien / Theater Basel)

 

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.

ISBN 978-3-10-491139-7

Fußnoten

Diese Texte zwischen den Szenen sind Intertexte, die an den vier Seiten des schwarzen Kubus, der sich zwischen den Szenen über die Bühne senkte, während der Szenenwechsel gezeigt wurden.

AIGISTHOS

Z & Y = WACHMÄNNER, R= SANITÄTER

KASSANDRA

DIE WILDENTE

nach Henrik Ibsen

Koautor: Chris Ryan

 

Deutsch von Brangwen Stone

Personen

WERLE

GREGERS

HJALMAR

EKDAL

GINA

HEDVIG

 

 

Uraufführung: Belvoir Street Theatre, Sydney, 12. Februar 2011

MONTAG

8:59 Uhr

WERLE

Ich könnte dir ein belegtes Brötchen machen.

GREGERS

Seit wann kannst du das?

WERLE

Ich habe schon immer belegte Brötchen gemacht.

GREGERS

Ich habe noch nie miterlebt, dass du ein belegtes Brötchen gemacht hast.

WERLE

Möchtest du jetzt eins, oder nicht?

GREGERS

Nein, danke.

WERLE

Bist du müde?

GREGERS

Nein.

WERLE

Die Klimaanlage im Flieger trocknet mich immer aus.

GREGERS

Ja.

WERLE

Möchtest du ein isotonisches Sportgetränk?

GREGERS

Nein, danke.

WERLE

So mach ich das. Trinke zwei davon und dann bin ich wieder fit.

GREGERS

Mir geht’s gut, danke. Rauchst du immer noch?

WERLE

Ich versuche, damit aufzuhören.

GREGERS

Du versuchst?

WERLE

Anna mag es nicht. Sie ist um meine Gesundheit besorgt.

GREGERS

Stimmt was nicht?

WERLE

Kommt drauf an, wie man es sieht.

GREGERS

Was soll das heißen?

WERLE

Mach dir darüber keine Sorgen.

GREGERS

Mach ich mir auch nicht. Was soll es heißen?

WERLE

Nur. Du weißt schon. Es klappt nicht alles wie früher.

GREGERS

Was, also … untenrum?

WERLE

Wie bitte?

GREGERS

Entschuldige, ich dachte, du meintest –

WERLE

In dem Bereich ist alles in Ordnung.

GREGERS

Entschuldige, ich –

WERLE

Mir ist klar, was du meintest, und darum geht’s nicht.

GREGERS

Okay.

Pause.

WERLE

Ich hatte nicht erwartet, dass du kommen würdest.

GREGERS

Ich hatte nicht erwartet, dass ich kommen würde. Aber ich glaube, Mama hätte gewollt, dass ich komme.

WERLE

Das weiß ich zu schätzen.

GREGERS

Wie würde es denn aussehen, wenn der eigene Sohn nicht zu deiner Hochzeit auftaucht?

WERLE

Hör zu. Gregers. Ich habe darüber nachgedacht. Und ich habe beschlossen, du solltest die Firma übernehmen.

GREGERS

Was?

WERLE

Ich wäre aber immer noch das Aushängeschild.

GREGERS

Wieso das jetzt?

WERLE

Keine Angst. Wir würden nicht viel miteinander zu tun haben. Ich habe vor, eine Weile zu verreisen.

GREGERS

Wieso?

WERLE

Was meinst du wieso?

GREGERS

Du bist ein Megalomane. Wieso würdest du mich das Geschäft übernehmen lassen?

WERLE

Es wird Zeit. Du bist mein Sohn.

GREGERS

Stirbst du?

WERLE

Was? Nein.

GREGERS

Was ist los mit dir? Du hast gesagt, es sei was mit dir los.

WERLE

Gregers …

GREGERS

Was ist los?

WERLE

Nichts.

GREGERS

Papa.

WERLE

Okay. Ich werde blind.

GREGERS

Wie weißt du das?

WERLE

Mitten in meinem beschissenen Sichtfeld gibt es ein riesengroßes schwarzes Loch, und alles andere ist verschwommen.

GREGERS

Seit wann denn?

WERLE

Seit einem Jahr. Makuladegeneration.

GREGERS

Okay.

WERLE

Der Arzt hat gesagt, ich sei in einem halben Jahr wahrscheinlich total blind.

GREGERS

Scheiße. Kann ich irgendwie helfen?

WERLE

Du könntest ein paar Schritte nach links gehen.

GREGERS

Sorry?

WERLE

Du stehst mitten im Loch …

Gregers geht ein paar Schritte nach links.

Das ist besser. Die Welt sieht so aus, als ob jemand daran seine Zigarette ausgedrückt hat.

GREGERS

Ich dachte, das sei dein neuer Look.

WERLE

Was?

GREGERS

Die Sonnenbrille. Ich dachte, du würdest versuchen, cool zu sein.

WERLE

Nein … Hast du dich verändert?

GREGERS

Wie bitte?

WERLE

Ich kann nur deinen Umriss erkennen. Wie siehst du jetzt aus?

GREGERS

Oh. Hm. Ich glaube, ich bin ein bisschen gealtert.

WERLE

Echt?

GREGERS

Ja. Ich habe jetzt eine zerfurchte Stirn.

WERLE

Du solltest dir nicht so viele Sorgen machen.

GREGERS

Ja. Das versuch ich ja.

WERLE

Sonst noch was?

GREGERS

Ach du weißt schon. Die Lachfalten. Von denen gibt es aber weniger. Ich habe eine neue Narbe.

WERLE

Ach ja?

GREGERS

Ja, am Arm.

WERLE

Was ist denn passiert?

GREGERS

Ich habe damit ein Fenster eingeschlagen.

WERLE

Zeig mal.

GREGERS

Okay.

Gregers hält seinen Arm ganz nah an Werles Gesicht.

WERLE

Nicht schlecht.

GREGERS

Du wirst für eine Weile verreisen?

WERLE

Ich dachte, ich könnte noch ein bisschen was von der Welt sehen. Ein letzter Blick. Verlängerte Flitterwochen sozusagen.

GREGERS

Wie alt ist sie denn?

WERLE

Achtundzwanzig.

GREGERS

Heilige Scheiße.

WERLE

Beruhig dich.

GREGERS

Heilige verdammte Scheiße.

WERLE

Okay.

GREGERS

Achtundzwanzig.

WERLE

Ja. Achtundzwanzig.

GREGERS

Sie könnte deine Enkeltochter sein.

WERLE

Das ist mir auch eingefallen.

GREGERS

Bald siehst du sie nicht mal mehr.

WERLE

Meine anderen Sinne habe ich noch.

GREGERS

Ich freue mich darauf, sie kennenzulernen.

WERLE

Verlieb dich bloß nicht in sie.

GREGERS

Da besteht keine Gefahr.

WERLE

Das ist mein Ernst. Sie ist sehr hübsch.

GREGERS

Mach dir keine Sorgen, Papa. Ich werde deine Verlobte nicht ficken.

WERLE

Sie wird heute Abend da sein.

GREGERS

Heute Abend?

WERLE

Hast du was vor?

GREGERS

Ehrlich gesagt, ja. Ich werde mit Hjalmar zu Abend essen.

WERLE

Hjalmar Ekdal?

GREGERS

Ja.

WERLE

Wieso isst du denn mit ihm zu Abend?

19:30 Uhr

HJALMAR

Wow.

GREGERS

Ja.

HJALMAR

Das ist ja komisch.

GREGERS

Ja.

HJALMAR

Wusstest du, dass ich deine Nummer immer noch auf meinem Handy gespeichert hatte?

GREGERS

Echt?

HJALMAR

Als ich deinen Namen auf dem Display gesehen habe, hatte ich fast einen Herzinfarkt. Ich habe ja schon seit, wie viele Jahre sind es denn –?

GREGERS

Achtzehn Jahre.

HJALMAR

Achtzehn? Mensch.

GREGERS

Ja.

HJALMAR

Ich kann’s ja nicht fassen, dass du immer noch die gleiche Nummer hast.

GREGERS

Ich kann’s ja nicht fassen, dass du immer noch das gleiche Handy hast.

HJALMAR

Nein, das ist schon mein viertes Handy seitdem, ich habe die Kontakte einfach immer wieder übertragen.

GREGERS

Ich hoffe, du hattest keine anderen Pläne für heute Abend.

HJALMAR

Ach, nein, nein.

GREGERS

Bevor du irgendwas sagst, ich lade dich ein.

HJALMAR

Das ist nicht notwendig.

GREGERS

Nein, ich werde die Firmenkreditkarte benutzen, es als Geschäftsessen von der Steuer absetzen.

HJALMAR

Okay. Vielen Dank.

GREGERS

Du siehst gut aus.

HJALMAR

Tu ich das?

GREGERS

Ja, das tust du.

HJALMAR

Ich fühle mich wie ein Fünfzigjähriger.

GREGERS

Du hast gesagt, du hättest Kinder?

HJALMAR

Ein Kind.

GREGERS

Das ist ja sehr erwachsen von dir.

HJALMAR

Ich weiß.

GREGERS

Wie alt ist –

HJALMAR

Sie. Hedvig. Sie ist fünfzehn.

GREGERS

Fünfzehn. Das war sicher –

HJALMAR

Ja, ich war noch ziemlich jung.

GREGERS

Wie ist das passiert?

HJALMAR

Wir hatten Sex. Nein, im Ernst, es war keine Absicht.

GREGERS

Der Sex?

HJALMAR

Nein, das Kind.

GREGERS

Aber es ist schön?

HJALMAR

Ja, unglaublich.

GREGERS

Ja.

HJALMAR

Der größte Glücksfall meines Lebens.

GREGERS

Hast du eine Foto von ihr? Vom Bumserfolg?

HJALMAR

Sie wird nicht gerne fotografiert.

GREGERS

Liegt wahrscheinlich am Alter.

HJALMAR

Ja.

GREGERS

Sie müsste in der …

HJALMAR

Sie ist im letzten Schuljahr.

GREGERS

Echt?

HJALMAR

Sie hat ein Jahr übersprungen.

GREGERS

Ekdal-Gene.

HJALMAR

O Gott, hoffentlich nicht. Wenn die letzten zwei Generationen irgendwelche Anhaltspunkte bieten.

GREGERS

Wie geht’s deinem Vater?

HJALMAR

Ganz okay. Ist jetzt schon seit einer Weile aus dem Gefängnis raus. Er lebt bei uns. Arbeitet ein bisschen für deinen Vater.

GREGERS

Echt?

HJALMAR

Ja. Ich glaube, sie haben ihn irgendwo in der Buchhaltungsabteilung versteckt.

GREGERS

Hjalmar, es tut mir leid, was ihm passiert ist. Dieser schreckliche Betrugsfall.

HJALMAR

Gott, nein. Es tut mir leid, dass dein Vater wegen diesen beschissenen Landkarten da reingezogen wurde. Aber ich freue mich, dass du es mir nicht mehr übelnimmst.

GREGERS

Dir übelnehmen?

HJALMAR

Ja, dass du nach so vielen Jahren bei mir angerufen hast, da fällt mir ein Stein vom Herzen.

GREGERS

Wieso denkst du, dass ich es dir übelgenommen habe?

HJALMAR

Das Ganze war eine totale Katastrophe. Als dein Vater gesagt hat, du würdest nicht mehr mit mir reden wollen –

GREGERS

Das hat er dir gesagt?

HJALMAR

Ich … Ich schätze es wirklich, dass du dich bei mir gemeldet hast. Wirklich.

GREGERS

Sicher.

HJALMAR

Mensch. Siebzehn Jahre.

GREGERS

Achtzehn Jahre.

HJALMAR

Achtzehn.

GREGERS

Und du bist jetzt verheiratet und hast ein Kind. Wie heißt deine Frau schon wieder?

HJALMAR

Gina.

GREGERS

Stimmt. Das hattest du gesagt.

HJALMAR

Eigentlich kennst du sie ja schon.

GREGERS

Ja?

HJALMAR

Sie hat früher für deinen Vater gearbeitet.

GREGERS

Gina …

HJALMAR

Ja, Gina Hansen. Sie war etwa zwei Jahre lang seine Haushälterin.

21:49 Uhr

Ekdal, sehr betrunken, mit Ente unter seinem Arm.

EKDAL

Die Kellnerin hatte Cankles. Wisst ihr, was ein Cankle ist? Hm?

GREGERS

Nein.

HJALMAR

Hey, Papa, komm, lass uns –

EKDAL

Komm, schau dir das an. Das ist ein Cankle. Eine Kombination von ankle, also Knöchel auf Englisch, und calf, also Wade. Das Bein geht quasi nahtlos in den Fuß über. Eine Einheit. Wie alt bist du denn jetzt? Ende dreißig?

GREGERS

Ja.

EKDAL

Hjalmar ist auch Ende dreißig.

GREGERS

Ja.

EKDAL

Wie waren sie denn?

GREGERS

Was?

EKDAL

Deine Dreißiger.

GREGERS

Ähm … sie waren okay.

EKDAL

Ich habe meine Dreißiger geliebt. Leute sprechen immer von ihren Zwanzigern, aber ich war in meinen Zwanzigern total durch den Wind. Ich wusste in meinen Zwanzigern nicht, wo mir der Kopf steht, aber dann kamen die Dreißiger. Man entspannt sich mehr. Alles gleicht sich aus. Aber dann die Vierziger. Tja, das steht auf einem ganz anderen Blatt. Lass uns nicht über die Vierziger reden, vergessen wir mal die Fünfziger, wir freuen uns einfach mal auf die Sechziger. Ich glaube, das wird ein gutes Jahrzehnt sein.

HJALMAR

Komm, wir holen dir ein Glas Wasser, Papa.

EKDAL

Was hatte sie denn? Frau Cankles? Hat uns einfach rausgeschmissen.

HJALMAR

Nichts. Sie hat einfach ihre Arbeit gemacht.

EKDAL

Oh. Ihre Arbeit. Jeder macht seine Arbeit. Jeder hat viel zu tun. Jeder arbeitet in seinem eigenen Edelrestaurant.

HJALMAR

Wir sollten jetzt gehen.

EKDAL

Ich glaube, du musst fahren.

HJALMAR

Das ist okay.

EKDAL

Ich sollte ihn nach Hause fahren. Damit er was trinken konnte. Hast du was getrunken?

HJALMAR

Ja.

EKDAL

Was Feines? Er hat gesagt, es würde vielleicht was Feines sein.

HJALMAR

Papa.

EKDAL

Was war es denn? Französisch?

GREGERS

Das war es in der Tat.

EKDAL

Mmm.

HJALMAR

Komm schon, Papa.

EKDAL

Es überrascht mich, dass sie ihr erlauben Röcke zu tragen. Klar, man kann seine Angestellten nicht auf der Basis ihrer Knöchel aussuchen, aber man könnte sie wenigstens mit einer Hose verhüllen.

HJALMAR

Mensch, Papa.

EKDAL

Es war sehr schön, dich zu sehen … ähm …

GREGERS

Gregers.

EKDAL

Wir haben früher zusammen Fußball gespielt.

GREGERS

Das stimmt.

EKDAL

Es tut mir leid. Ich habe nicht gemerkt, dass ich zu viel getrunken habe. Ich bin normalerweise sehr vorsichtig. Aber ich hab’s nicht gemerkt, bevor es zu spät war. Kann ich dir meinen Autoschlüssel geben?

HJALMAR

Klar.

EKDAL

Ich bin total besoffen. Die Ente kommt in den Kofferraum.

HJALMAR

Ja. Es tut mir leid, den Abend so abrupt zu beenden.

GREGERS

Kein Problem.

HJALMAR

Das ist mir total peinlich. Hier lang, Papa. Vielleicht können wir uns ja noch mal treffen, bevor du gehst?

23:21 Uhr

Gregers packt seine Tasche.

WERLE

Es war eine komplizierte Zeit, Gregers. Sie war krank. Unsere Beziehung war schwierig. Ich bereue die Affären. Sehr. Als deine Mutter krank wurde, habe ich versucht, ihr zu helfen. Aber es hat nichts gebracht. Für ein paar Jahre habe ich mich damit zurechtgefunden. Aber irgendwann wollte ich wieder glücklich sein.

GREGERS

Und warst du glücklich?

WERLE

Ja. Kurz. Aber sie hat immer einen Weg gefunden, mich wieder in ihr Unglück reinzuzerren. In den letzten Monaten ihres Lebens habe ich mir vorgemacht, es könnte wieder so sein wie früher, als wir jung waren. Es ging ihr eine Weile lang besser. Sie war in der Klinik gewesen, und die neuen Medikamente haben gut funktioniert. Ich habe aufgehört, mich mit anderen Frauen zu treffen. Ich war wie ein verliebter Teenager. Es war idiotisch von mir, dass ich es nicht vorausgesehen habe. Ich hatte einen Fehltritt, und das werde ich mir immer vorhalten, aber du bist ein Narr, wenn du glaubst, sie hätte sonst keinen anderen Grund dazu gefunden. Es war nicht das erste Mal, dass sie es versucht hat.

GREGERS

Das hast du mir nie gesagt.

WERLE

Ich wollte dich nicht beunruhigen.

GREGERS

Ich glaube, du wolltest nicht, dass ich mitbekomme, was du treibst.

WERLE

Das stimmt nicht. Du warst ein empfindlicher Junge. Du hättest das nicht verkraftet.

GREGERS

Du behandelst mich aber immer noch wie einen Sechsjährigen, der Angst im Dunkeln hat.

WERLE

Du warst damals viel niedlicher.

GREGERS

Ich wusste damals noch nicht, was für einen Vater ich habe. Weißt du, dass Mama mich angerufen hat, bevor sie sich umgebracht hat?

WERLE

Wirklich?

GREGERS

Sie hat mir gesagt, was los war.

WERLE

Wieso hast du mir das nicht gesagt?

GREGERS

Mensch, Papa, weil ich nicht wollte, dass es wahr war. Was war so besonders an ihr?

WERLE

Gregers.

GREGERS

Hat es sich gelohnt?

WERLE

Natürlich nicht … Ich nehme an, das bedeutet, dass du die Firma nicht übernimmst?

GREGERS

Nein.

WERLE

Oder zur Hochzeit kommst.

GREGERS

Nein.

WERLE

Lohnt es sich zu versuchen, deine Meinung zu ändern?

GREGERS

Nein.

WERLE

Dann alles Gute.

GREGERS

Danke.

WERLE

Gregers?

GREGERS

Ja?

WERLE

Du hast Hjalmar aber nichts davon erzählt, oder?

GREGERS

Nein.

WERLE

Du hast es auch nicht vor, oder?

23:57 Uhr

HJALMAR

Du erinnerst dich doch noch an Gregers?

GINA

Natürlich.

GREGERS

Schön, dich wiederzusehen.

GINA

Ja.

GREGERS

Entschuldige. Es ist fast Mitternacht.

HJALMAR

Das ist völlig in Ordnung.

GREGERS

Es war zu spät, noch ein Hotelzimmer zu bekommen.

HJALMAR

Kein Problem. Du kannst im Gästezimmer schlafen.

GREGERS

Tut mir leid, dass ich hier so hereinplatze, Gina.

GINA

Nein, nein. Wir waren noch wach.

GREGERS

Danke, das ist sehr nett von euch.

HJALMAR

Gott, du bist sicher müde.

GREGERS

Eigentlich bin ich putzmunter. Liegt vielleicht am Jetlag.

GINA

Hjalmar, könntest du bitte das Schlafsofa ausklappen?

HJALMAR

Mach ich.

GINA

Bediene dich gerne jederzeit an den Sachen im Kühlschrank.

GREGERS

Danke.

GINA

Wenn sonst nichts ist, gehe ich jetzt wieder ins Bett.

GREGERS

Danke noch mal. Gute Nacht.

GINA

Gute Nacht.

HJALMAR

Gute Nacht, Schatz. Ich komme gleich nach.

GINA

Gregers?

GREGERS

Ja?

GINA

Was war denn mit deinem Vater?

HJALMAR

Gina.

GINA

Sorry, ist das unhöflich von mir?

GREGERS

Nein, überhaupt nicht. Seine Verlobte hat bei ihm übernachtet, und die Dinge sind gerade etwas angespannt mit der Hochzeitsplanung. Da dachte ich mir, ich mache mich für eine Weile aus dem Staub. Keine Angst, ich suche mir morgen ein Hotel.

DIENSTAG

7:44 Uhr

GINA

Das ist Hedvig.

GREGERS

Hallo Hedvig.

HEDVIG

Hallo. Wo hast du meine Jacke hingetan, Mama?

GINA

Ich hab sie nirgends hingetan.

HEDVIG

Du musst sie irgendwo hingetan haben, weil ich sie nicht finden kann.

GINA

Vielleicht hast du sie verlegt?

HEDVIG

Ich verlege sie nicht. Du räumst auf und tust Sachen an dumme Orte.

GINA

Wenn du sie ausziehen würdest, wenn du nach Hause kommst, und sie dann sofort in deinen Schrank hängen würdest, dann müsste ich nicht –

HEDVIG

Mama, ich habe keine Zeit, hier zu stehen und mit dir darüber zu streiten, was das beste System ist –

HJALMAR

Hey. Griesgram. Wir haben Besuch.

HEDVIG

Papa, ich brauche meine verdammte Jacke.

HJALMAR

Hey.

GINA

Hedvig.

HEDVIG

Ich muss noch vor der ersten Stunde zur Bibliothek, und jetzt habe ich nur noch eine halbe Stunde, und ich kann nicht ohne verdammte Jacke in die Schule.

HJALMAR

Also, wir versuchen das jetzt noch mal. Das ist Gregers. Er ist ein alter Schulfreund von mir.

HEDVIG

Übernachtest du hier?

GREGERS

Letzte Nacht habe ich hier übernachtet.

HEDVIG

Wieso?

GINA

Hedvig.

HEDVIG

Was?

GINA

Du solltest frühstücken.

HEDVIG

Wieso?

GINA

Du bist gerade sehr kurz angebunden.

HEDVIG

Ich habe ihn bloß gefragt, warum er hier übernachtet hat.

GINA

Er heißt Gregers.

HEDVIG

Ich weiß, wie er heißt. Ich bin nicht taub.

HJALMAR

Gregers wohnt bei uns, weil ich ihn ganz lange nicht gesehen habe und ihn eingeladen habe.

HEDVIG

Wie lange bleibst du?

GREGERS

Also eigentlich wollte ich heute –

HJALMAR

Bleib doch noch eine Nacht. Wir könnten heute Abend zusammen essen. Dann kannst du alle kennenlernen.

GREGERS

Ich lasse euch mal besser in Ruhe.

HJALMAR

Du störst uns nicht.

GREGERS

Also, wenn es euch wirklich nichts ausmacht …

HJALMAR

Es macht uns nichts aus, oder, Gina?

GINA

Nein. Nein, überhaupt nicht.

HJALMAR

Siehst du?

GREGERS

Das wäre schön.

HEDVIG

Ich habe heute Abend keine Zeit zum Abendessen.

HJALMAR

Wieso nicht?

HEDVIG

Ich hatte vor, zur Unibibliothek zu gehen.

HJALMAR

Ist der Abgabetermin für die Hausarbeit nicht schon heute?

HEDVIG

Das ist die Hausarbeit für Geschichte. Am Freitag muss ich noch eine Hausarbeit für Deutsch abgeben.

GINA

Wieso musst du denn zur Unibibliothek?

HEDVIG

Weil ich die Bücher, die ich für die Hausarbeit brauche, in der Schulbibliothek nicht kriegen kann.

HJALMAR

Kannst du nicht morgen hin?

HEDVIG

Morgen habe ich Feldhockey.

HJALMAR

Ach so. Hockey. Ich könnte dich doch von der Schule abholen und zur Uni fahren. Dann wären wir alle rechtzeitig zum Abendessen zu Hause?

HEDVIG

Okay.

GINA

Du hast doch heute Nachmittag ein Fotoshooting mit einem Paar.

HJALMAR

Das kannst du doch übernehmen, oder nicht?

GINA

Ja, könnte ich, aber eigentlich wollte ich unsere Steuererklärung machen.

HJALMAR

Aber Gregers Werle ist ja nicht jeden Tag da.

GREGERS

Mach dir nicht zu viel Mühe.

GINA

Wir kriegen es schon hin.

HJALMAR

Prima. Hast du das gehört, Papa?

EKDAL

Hä?

HJALMAR

Abendessen. Heute Abend.

EKDAL

Wir essen jeden Abend.

HJALMAR

Aber heute kommt Gregers zum Abendessen.

EKDAL

Heute kommt wer?

HJALMAR

Gregers. Als Gast.

EKDAL

Wer?

HJALMAR

Gregers Werle. Er steht direkt vor dir.

GREGERS

Hallo.

EKDAL

Bist du Haakons Sohn?

GREGERS

Genau.

EKDAL

Ich habe dir beigebracht, wie man Fußball spielt.

GREGERS

Ja, das stimmt.

EKDAL

Bist du immer noch scheiße?

GREGERS

Ja.

HJALMAR

Hey, Papa, erinnerst du dich noch daran, wie er diesen Fallrückzieher versucht hat?

GREGERS

Danke, Hjalmar, du weckst gerade eine schmerzliche Erinnerung. Sie werden nie erraten, wo ich letztes Jahr war, Herr Ekdal.

EKDAL

Hä?

GREGERS

Bei unserem Sägewerk.

EKDAL

Das Sägewerk?

GREGERS

Wo Sie früher immer waren.

EKDAL

Im Wald?

GREGERS

Genau.

EKDAL

Ich habe da früher gejagt. Habe in der ersten Jagdsaison neun Wildschweine erlegt. Wie geht es dem Wald?

GREGERS

Nicht mehr viel davon übrig, um ehrlich zu sein.

EKDAL

Was meinst du, es ist nicht mehr viel davon übrig?

GREGERS

Das meiste ist abgeholzt worden.

EKDAL

Baume zu fällen war noch nie eine gute Idee. Das verstehen Leute heutzutage. Es ist aber zu spät. Er wird Vergeltung üben.

GREGERS

Wer?

EKDAL

Der Wald.

HJALMAR

Papa hat einige ziemlich merkwürdige Theorien über die Welt.

GREGERS

Hjalmar sollte dich mal hinbringen.

EKDAL

O nein. Ich werde da nie wieder hin. Das ist ein unheilverkündender Ort.

GREGERS

Aber die Jagd vermissen Sie doch sicher?

EKDAL

Die Jagd vermissen? Ich habe hier alles, was ich brauche.

GREGERS

Was meinen Sie?

EKDAL

Soll ich’s ihm sagen?

HJALMAR

Papa.

GREGERS

Was denn?

EKDAL

Komm schon, Sohn.

HJALMAR

Okay.

EKDAL

Kannst du ein Geheimnis bewahren?

GREGERS

Klar.

HJALMAR

Es ist nicht gerade legal.

EKDAL

Es schadet doch keinem?

GREGERS

Wovon sprecht ihr?

HEDVIG

Von Opas Wald.

GREGERS

Wald?

HEDVIG

Oben.

EKDAL

Es war früher ein Dachboden.

HEDVIG

Aber jetzt ist es ein Wald.

HJALMAR

Aber du darfst keinem davon erzählen. Sonst sitze ich ganz schön in der Scheiße.

EKDAL

Es hat mit ein paar Hasen angefangen. Jetzt gibt es auch ein paar Hühner und Tauben.

GREGERS

Da oben gibt es auch Tiere?

HEDVIG

Sie haben Bäume und Gras und einen kleinen Teich. Es ist wirklich wie im Wald.

GINA

Außer dass alles aus Plastik ist.

HEDVIG

Die Tiere wissen nicht, dass alles aus Plastik ist.

GINA

Ich glaube, die Hasen haben es wahrscheinlich in dem Moment rausgekriegt, wo sie versucht haben, am Gras zu knabbern.

GREGERS

Es klingt schön.

HJALMAR

Es hält Papa bei Laune.

EKDAL

Und wir haben vergessen, unseren Neuzugang zu erwähnen.

GREGERS

Ja, ich wollte eigentlich danach fragen. Die Ente.

HEDVIG

Meine Ente.

GREGERS

Sie gehört dir?

EKDAL

Keine gewöhnliche Ente.

GREGERS

Nicht?

EKDAL

Keine gekaufte Ente. Das ist eine besondere Ente.

GREGERS

Echt?

EKDAL

Siehst du es nicht?

GREGERS

Was?

EKDAL

Hat er Grütze zwischen den Ohren?

HJALMAR

Papa.

EKDAL

Es ist eine Wildente.

HEDVIG

Es ist meine Wildente. Dein Vater hat sie mir geschenkt.

GREGERS

Mein Vater?

HEDVIG

Er hat sie abgeschossen.

GREGERS

Mein Vater hat diese Ente abgeschossen?

EKDAL

Weißt du, was Enten machen, wenn sie aus dem Himmel geschossen werden, Gregers? Sie fallen ins Wasser und tauchen dann bis nach ganz unten – so tief wie nur möglich – und klammern sich an den Wasserpflanzen fest. Und sie verstecken sich da unten, warten auf ihren möglichen Tod, wollen nur nicht erwischt werden. Aber diese Ente hat ihren Meister gefunden. Der Golden Retriever deines Vaters ist ihr nachgetaucht und hat sie rausgefischt.

GREGERS

Und so habt ihr sie bekommen?

EKDAL

Nicht sofort, nein. Zuerst hat dein Vater sie nach Hause genommen und hat versucht, sich um sie zu kümmern, aber es ging ihr nicht gut, und schließlich hat er Peterson gesagt, er soll sie beseitigen.

HJALMAR

Peterson hatte Mitleid mit ihr. Hat sie Papa gegeben. Für seinen Wald.

GREGERS

Es scheint ihr ja ganz gutzugehen.

EKDAL

Auf jeden Fall. Sie wird immer dicker. Der Flügel ist fast geheilt. Ich erwarte aber nicht, dass sie wieder in der Wildnis leben können wird, ich glaube, sie hat jetzt total vergessen, wie es da draußen ist.

GREGERS

Von jetzt an nur noch Plastikbäume. Es sah ziemlich komisch aus, als Sie gestern Abend mit dieser Ente unter dem Arm aufgetaucht sind, Herr Ekdal. Ich dachte vielleicht, die ist zum Essen gedacht.

HJALMAR

Ah –

EKDAL

Was ist denn gestern Abend passiert?

HJALMAR

Nichts, Papa, nichts.

EKDAL

Was redet der da?

HJALMAR

Weißt du noch, wie du uns gestern Abend vom Restaurant nach Hause gefahren hast?

EKDAL

Daran erinnere ich mich nicht.

HJALMAR

Doch hast du.

EKDAL

Ich habe die Ente mitgebracht?

HJALMAR

Red keinen Unsinn, Papa, warum hättest du die Ente mitgebracht? Das wäre doch seltsam.

EKDAL

Also, wir haben uns gestern Abend schon gesehen?

GREGERS

Nur kurz.

EKDAL

Entschuldige. Ich hab’s vergessen. Wie merkwürdig.

18:15 Uhr

EKDAL

Du darfst deiner Mutter nicht davon erzählen.

HEDVIG

Werde ich auch nicht. Versprochen.

EKDAL

Sie wird mich kastrieren, wenn sie davon was hört.

HEDVIG

Ekelig.

EKDAL

Was ist das?

HEDVIG

Ein Gewehr.

EKDAL

Was für ein Gewehr?

HEDVIG

Ein großes Gewehr?

EKDAL

Was für ein großes Gewehr?

HEDVIG

Weiß ich nicht.

EKDAL

Das ist eine Flinte.

HEDVIG

Okay.

EKDAL

Eins nach dem anderen. Die innere Weite des Laufes nennt man Kaliber. Das ist eine Kaliber 12.

HEDVIG

Okay.

EKDAL

Siehst du, dass sie zwei Läufe hat?

HEDVIG

Ja.

EKDAL

Wie heißt das wohl?

HEDVIG

Doppellauf?

EKDAL

Fast. Das ist eine doppelläufige Schrotflinte. Aber es gibt zwei Arten doppelläufige Flinten. Die Doppelflinte, mit zwei nebeneinanderliegenden Läufen, und die Bockflinte, mit zwei übereinanderliegenden Läufen. Welche ist die hier?

HEDVIG

Das ist eine Doppelflinte.

EKDAL

Genau. Verschiedene Flinten haben auch verschiedene Abzugssysteme.

HEDVIG

Abzugssysteme?

EKDAL

Hast du je von einer Vorderschaftrepetierflinte gehört?

HEDVIG

Wie in Terminator 2?

EKDAL

Die in Terminator 2 hatte eine Hebelmechanik, aber ja, du hast verstanden, worum es geht. Wie ein Gewehr neu geladen wird, nachdem ein Schuss abgefeuert wird.

HEDVIG

Was für ein Abzugssystem hat diese Flinte?

EKDAL

Das ist ein Repetiergewehr, das man nicht absetzen muss, um neu zu laden.

HEDVIG

Wieso hast du keine Vorderschaftrepetierflinte?

EKDAL

Dazu bräuchte ich einen grünen Waffenschein, statt einen gelben, und müsste einmal im Monat offizielles Schießtraining machen. Das ist mir zu viel Aufwand.

HEDVIG

Aber du warst doch früher ein Soldat?

EKDAL

Ja, früher. Aber jetzt nicht mehr.

HEDVIG

Wieso muss man mehr Training machen, wenn man eine Vorderschaftrepetierflinte haben möchte?

EKDAL

Die sind sehr leicht nachzuladen. Deshalb sind vollautomatische Waffen auch verboten. Es ist damit viel zu leicht Amok zu laufen.

HEDVIG

Also ein Massaker?

EKDAL

Genau. Wenn du mit dieser Waffe hier in ein Einkaufszentrum gehen würdest, um Amok zu laufen, könntest du nicht sehr viele Leute umbringen. Weil du immer wieder nachladen müsstet.

HEDVIG

Verstanden.

EKDAL

Also, wie gesagt, ist das ein Repetiergewehr. Man öffnet es so. Das hier ist der Verschluss, und hier tut man die Patronen rein.

HEDVIG

Die Kugeln?

EKDAL

Das sind nicht Kugeln. Das sind Schrotpatronen.

HEDVIG

Die Hülle ist aus Plastik.

EKDAL

Genau. Das ist die Patronenhülse. Innen drin sind viele kleine Kügelchen. Wie heißen die wohl?

HEDVIG

Ich weiß es nicht.

EKDAL

Schrot. Daher der Name.

HEDVIG

Oh.

EKDAL

Heutzutage wird Schrot aus Tungsten hergestellt, aber als ich jung war, haben wir noch Bleischrot benutzt, aber das ist jetzt illegal.

HEDVIG

Wieso?

EKDAL

Hast du von Bleivergiftungen gehört?

HEDVIG

Ja.

EKDAL

Blei macht dein Nervensystem kaputt.

HEDVIG

Bleistifte hatten früher auch Blei drin.

EKDAL

Nein, hatten sie nicht, das ist ein weitverbreiteter Irrtum. Die Mine in Bleistiften war schon immer aus Graphit und nicht aus Blei.

HEDVIG

Aber Herr Paris hat gesagt –

EKDAL

Herr Paris ist ein Idiot. Zieh deine Ohrenschützer an.

Sie ziehen ihre Ohrenschützer an. Jetzt müssen sie lauter sprechen, um einander hören zu können.

Und deine Schutzbrille.

Sie setzen ihre Schutzbrillen auf.

Die erste Sicherheitsregel lautet: Finger weg vom Abzug, bis die Waffe auf ein Ziel gerichtet ist und du bereit bist zu schießen. Finger weit weg vom Abzug. Richte die Waffe nach unten oder nach oben, damit du niemanden umbringst, wenn ein Schuss aus Versehen abgefeuert wird. Das ist die Sicherung. Die darfst du erst entsichern, wenn du zum Schießen bereit bist. Aber verlass dich nicht auf sie, bloß weil sie an ist. Sie ist eine mechanische Vorrichtung, und mechanische Vorrichtungen können versagen. Also nie, auch wenn die Sicherung an ist, mit der Waffe rumalbern. Nun. Das Schießen.

HEDVIG

Endlich.

EKDAL

Hab es nie eilig, eine Schusswaffe abzufeuern, Hedvig. Waffen können sehr viel Schaden anrichten. Wenn du nicht vorsichtig mit einer Waffe umgehst, kann sie unbeabsichtigte Schäden verursachen.

HEDVIG

Sorry.

EKDAL

Kein Problem. Also. Identifiziere dein Ziel. Setze die Flinte so an der Schulter an.

HEDVIG

Okay.

EKDAL

Wenn du zum Schießen bereit bist, entsicherst du die Waffe. So. Und dann drückst du so ab.

Er drückt ab.

HEDVIG

O Gott. Das ist ja heftig.

EKDAL

Möchtest du mal?

HEDVIG

Okay.

EKDAL

Ich sichere die Waffe wieder. Bitte schön.

HEDVIG

Die ist ja schwer.

EKDAL

Ja, das ist sie. Finde dein Ziel. Worauf willst du schießen?

HEDVIG

Auf die rote Büchse da drüben.

EKDAL

Gut. Setze die Waffe so an der Schulter an. Okay. Jetzt entsichern.

HEDVIG

Mach ich.

EKDAL

Nun, wenn du so weit bist, kannst du abdrücken.

MITTWOCH

17:48 Uhr

GINA

Hallo.

WERLE

Hallo.

GINA

Ich habe gelesen, dass du heiraten wirst. Herzlichen Glückwunsch.

WERLE

Danke. Lange nicht gesehen.

GINA

Ich weiß. Danke, dass du gekommen bist.

WERLE

Keine Ursache. Was ist los?

GINA

Gregers wohnt gerade bei uns.

WERLE

Ich verstehe.

GINA

Was hat sich zwischen euch abgespielt?

WERLE

Er hat mit mir Schluss gemacht.

GINA

Mit dir Schluss gemacht?

WERLE

Ich weiß nicht. Wie soll ich es denn sonst beschreiben?

GINA

Also weiß er Bescheid.

WERLE

Es tut mir leid, Gina. Er sagt vielleicht gar nichts.

GINA

Meinst du?

WERLE

Ich weiß es nicht. Ich habe ihn nie wirklich verstanden.

19:38 Uhr

GINA

Mach das Licht bitte an, Schatz.

HEDVIG

Mir geht’s gut.

GINA

Wie kannst du die Buchstaben bei dem Licht überhaupt sehen?

HEDVIG

Es ist hell genug.

GINA

Hjalmar?

HJALMAR

Hm?

GINA

Kannst du mal mit ihr reden?

HJALMAR

Ich schaue fern.

GINA

Sie liest im Dunklen.

HJALMAR

Sieht doch okay aus. Alles okay, Schatz?

HEDVIG

Könnt ihr beide still sein? Mama, ich brauche für den Freitagsausflug Geld.

GINA

Wann?

HEDVIG

Ähm? Am Freitag.

GINA

Danke, Schlaumeier. An welchem Freitag?

HEDVIG

Diesen Freitag.

GINA

Ich denke schon. Hast du die Rechnung von der Druckerei irgendwo gesehen? Hjalmar?

HJALMAR

Was?

GINA

Die Rechnung. Von der Druckerei.

HJALMAR

Die ist doch im Aktenschrank.

GINA

Da ist sie nicht.

HJALMAR

Ich habe sie in den Aktenschrank getan.

GINA

Hier ist die Mappe mit den Rechnungen. Sie ist nicht dabei.

HJALMAR

Lass mich mal gucken.

Er schaut in die Mappe rein.

Hier.

GINA

Oh. Gregors Sachen sind weg.

HJALMAR

Ja, er ist in ein Hotel gezogen. Er hat uns diese Schachtel Pralinen da gelassen.

GINA

Du hast sie ja alle schon gegessen. Es sind nur noch die Beschissenen übrig.

HJALMAR

Das sind keine Beschissenen.

GINA

Klar. Was guckst du?

HJALMAR

Einen Tierfilm.

EKDAL

Ach so? Worüber?

HJALMAR

Wale.

EKDAL

Echt?

HJALMAR

Die US-Armee tötet Wale.

EKDAL

Wie?

HJALMAR

Siebzehn Wale sind in den Bahamas gestrandet. Die US-Armee hat da Unterwasser-Sonartests gemacht. Die Wale hatten Hirnblutungen, waren desorientiert und sind an einem Strand gestorben.

HEDVIG

O Gott.

GINA

Hjalmar.

HJALMAR

Was?

GINA

Sie versucht zu arbeiten.

HJALMAR

Auf den Kanarischen Inseln ist es später auch passiert.

HEDVIG

Das ist ja schrecklich.

GINA

Wie kommst du mit deiner Hausarbeit voran, Schatz?

HEDVIG

Ich weiß nicht. Das Buch ist superlangweilig. Meine Aufgabe ist es quasi, Gründe zu erfinden, warum das Buch interessant ist, damit es dem Lehrer nicht peinlich sein muss, dass er das Buch vor vierzig Jahren toll fand.

HJALMAR

Nur noch ein Jahr.

HEDVIG

Was?

HJALMAR

Nur noch ein Jahr, und dann musst du keinem mehr vorgaukeln, dass dich was interessiert.

HEDVIG

Echt?

HJALMAR

Außer wenn du kein Interesse an Jura oder Medizin hast, dann musst du halt noch fünf Jahre lang so tun als ob.

HEDVIG

Wer sagt, dass ich Jura oder Medizin studieren werde?

HJALMAR

Was?

HEDVIG

Ich hab mir überlegt, ich gehe vielleicht auf die Schauspielschule.

HJALMAR

Was zur Hölle redest du da?

HEDVIG

Ich habe über meine Interessen nachgedacht, wie die Karriereberaterin an der Schule uns ja rät, und dabei ist mir aufgegangen, dass ich meine Kreativität ausleben sollte.

HJALMAR

Verdammt nochmal, Gina. Sag doch mal was.

GINA

Sie nimmt dich auf den Arm.

HJALMAR

Tut sie das?

HEDVIG

Ja, das tut sie. Du bist geistesgestört.

HJALMAR

Das war überzeugend. Vielleicht solltest du wirklich auf die Schauspielschule.

HEDVIG

Wirklich?

HJALMAR

Nein.

EKDAL

Ich war früher Schauspieler.

HEDVIG

Nein, das warst du nicht.

EKDAL

Doch war ich. In der zehnten Klasse. Faust. Ich habe Gretchen gespielt.

HEDVIG

Du warst sicher schrecklich.

EKDAL

Wieso sagst du das?

HJALMAR

Weil du ein Mann bist.

HEDVIG

Ich weiß immer, wenn du lügst.

EKDAL

Aber vielleicht sind das ja Köderlügen?

HEDVIG

Köderlügen?

EKDAL

Schlechte Lügen, um dich davon zu überzeugen, dass du weißt, wann ich lüge, damit ich mit unheilvolleren Lügen davonkomme.

HEDVIG

Echt?

EKDAL

Das wirst du nie wissen.

HJALMAR

Möchte jemand Kniffel spielen?

ALLE

Nein.

EKDAL

Nein.

HEDVIG

Warst du je bei einer Schulaufführung dabei?

GINA

In der Grundschule habe ich mal ein Monster in Wo die wilden Kerle wohnen gespielt.

HJALMAR

Echt?

GINA

Siehst du? Man lernt jeden Tag was Neues.

HJALMAR

Wir sind schon seit sechzehn Jahren verheiratet und überraschen einander immer noch.

HEDVIG

Ich glaub nicht, dass ich heiraten will.

GINA

Wieso nicht?

HEDVIG

Ich weiß nicht. Die meisten Leute lassen sich doch eh scheiden.

GINA

Wir sind nicht geschieden.

HEDVIG

Die Eltern von Elin haben sich scheiden lassen. Jedes zweite Wochenende muss sie bei ihrem Vater wohnen, und der lebt am Ende der Welt. Im Winter braucht sie ungefähr drei Stunden, um dahin zu kommen. Sie geht deshalb zum Psychologen. Sie wurde mit Depression diagnostiziert. Ich heirate auf gar keinen Fall.

HJALMAR

Musst du auch nicht.

HEDVIG

Wieso habt ihr es denn gemacht?

GINA

Weil wir wollten. Wir haben uns geliebt.

HJALMAR

Liebe, süße Liebe.

HEDVIG

War es nicht einfach, weil Mama mit mir schwanger war?

HJALMAR

Was? Wer hat dir das gesagt?

HEDVIG

Opa.

HJALMAR

Papa.

EKDAL

War es nicht so?

HJALMAR

Trotzdem. Ziemlich unromantisch.

GINA

Wir hätten auch sonst geheiratet, Hedvig, du hast alles einfach ein bisschen beschleunigt.

HJALMAR

Und denk nicht, dass du unerwünscht warst, oder so was.

GINA

Wir haben uns sehr gefreut.

HJALMAR

Das Beste in unserem Leben.

HEDVIG

Okay, Leute, jetzt wird’s peinlich.

HJALMAR

Hedvig … Kniffel?

GINA

Lass sie in Ruhe, Hjalmar.

HJALMAR

Mir ist langweilig. Der Walfilm war doch nicht so interessant. Die Strandungen waren der Höhepunkt.

HEDVIG

Mama?

GINA

Ja?

HEDVIG

Wie zum Teufel konntest du dich in Papa verlieben?

HJALMAR

Weil ich wie John Stamos aussehe.

GINA

Du siehst überhaupt nicht wie John Stamos aus.

HEDVIG

Wer ist John Stamos?

HJALMAR

Der Schlagzeuger der Beach Boys.

GINA

Er war nicht der Schlagzeuger der Beach Boys.

HJALMAR

Er war von 85 bis 92 der Schlagzeuger der Beach Boys. Er war auch in Full House.

HEDVIG

Was ist Full House?

HJALMAR

Hast du einen Freund?

HEDVIG

Nein, aber wenn schon?

HJALMAR

Ich würde dir sagen, du solltest ihn zum Abendessen einladen.

HEDVIG

Echt?

HJALMAR

Absolut. Dann würde ich ihn am Kragen packen und ihm sagen, dass er seine Finger von dir lassen soll.

HEDVIG

Okay, dann sage ich dir auf gar keinen Fall Bescheid, wenn ich einen Freund habe.

HJALMAR

Ich werde es rauskriegen.

HEDVIG

Wie?

HJALMAR

Ich werde deine Telefongespräche abhören.

HEDVIG

Ähm. Nein, das wirst du nicht.

HJALMAR

Ähm doch, werde ich. Ich werde deine Handyrechnung anschauen, alle Handynummern da drauf anrufen, und wenn ein Junge abnimmt, dann sage ich ihm, dass ich ihn überfahren werde, wenn er nicht aufhört, anzurufen.

HEDVIG

Du bist ein Psychopath.

HJALMAR

Das kannst du gerne glauben.

GINA

Denkst du schon an einen?

HEDVIG

Was?

GINA

Schwärmst du für jemanden?

HEDVIG/HJALMAR

Das sag ich dir nicht.

GINA

Wieso nicht?

HEDVIG/HJALMAR

Werde ich einfach nicht.

HJALMAR

Hast du ihn schon geküsst?

HEDVIG/HJALMAR

Das sag ich dir nicht.

HJALMAR

Wieso nicht?

HEDVIG/HJALMAR

Werde ich einfach nicht.

HEDVIG

Sehr witzig.

GINA

Ich glaube, es wäre schön, wenn du einen Freund hättest, Hedvig.

HJALMAR

Ich nicht.

GINA

Wir könnten ihn zum Abendessen einladen. Zusammen Filme schauen. Du könntest mit ihm über Sport reden, Hjalmar.

HJALMAR

Ich mag keinen Sport.

GINA

Autos.

HJALMAR

Ich mag keine Autos. Außer wenn ich damit Hedvigs Freund überfahre.

GINA

Dann solltest du dir ein paar Gesprächsthemen einfallen lassen.

HJALMAR

Oder Hedvig könnte das mit dem Freund einfach lassen.

Hjalmars Handy klingelt.

Wo ist mein Handy?

HEDVIG

Ich benutze es gerade als Duden.

HJALMAR

Im Regal steht ein echter Duden. Gib mal her.

HEDVIG

Mach mal eine Rolle rückwärts.

Er nimmt ab.

HJALMAR

Hey. Wo bist du? Nein, wir haben schon gegessen.

Okay. Klingt gut. Ja. Bis bald.

Er legt auf.

GINA

War das Gregers?

HJALMAR

Ja. Ich gehe mit ihm in die Kneipe.

GINA

Was jetzt?

HJALMAR

Das ist doch okay, oder?

GINA

Ich dachte, du wolltest noch an dem Porträt arbeiten?

HJALMAR

Ich schau mir die Bilder später an.

GINA

Wieso kann er nicht hier einfach herkommen und hier was mit dir trinken?

HJALMAR

Ich weiß nicht. Aber es ist doch manchmal auch schön, unter vier Augen zu quatschen.

GINA

Ist irgendwas?

HJALMAR

Glaub ich nicht.

GINA

Wieso kannst du dich dann nicht einfach morgen mit ihm treffen?

HJALMAR

Er wird nicht mehr lange hier sein.

GINA

Hjalmar, könntest du bitte –

HJALMAR

Warum bist du gerade so komisch?

GINA

Okay. Dann. Bleib nicht zu lange aus.

HJALMAR

Ich bleibe nicht lange aus. Liebe dich. Hey Versagerin. Viel Glück mit der Hausarbeit.

20:45 Uhr

HJALMAR

Hast du jemals daran gedacht zu heiraten?

GREGERS

Nicht wirklich. Ich habe mich eine Weile lang gefragt, ob ich vielleicht schwul bin.

HJALMAR

Echt?

GREGERS

Aber anscheinend muss man sich zu Männern hingezogen fühlen, um schwul zu sein.

HJALMAR

Ja, das ist schon ein wichtiges Kriterium.

GREGERS

Ja, also nicht schwul. Aber neulich ist mir aufgefallen, dass ich immer mit gutaussehenden, aber total seelenlosen Frauen ausgehe.

HJALMAR

Ach ja?

GREGERS

Sie erweisen sich im Endeffekt immer als viel weniger interessant, als sie am Anfang zu sein scheinen. Bei der Trennung sind wir beide immer sehr gefasst. Wir teilen unsere Habseligkeiten gerecht auf. Wir sind sehr höflich. Sogar nett. Wir versprechen, dass wir Freunde bleiben werden, rufen einander in den ersten paar Monaten noch regelmäßig an, bis wir entdecken, dass wir gar nichts gemeinsam haben.

HJALMAR

Hoppla.

GREGERS

Ich glaube, ich war mal verliebt. Es hat mich total überrumpelt, weil sie nicht sehr schön war. Nicht hässlich, aber auf jeden Fall nicht hübsch. Mir war es immer ein bisschen peinlich, wenn ich meinen Kollegen ihr Bild gezeigt habe. Wenn ihr Gesicht auf einem Foto eingefroren war, sah sie ein bisschen unbeholfen aus, außer Proportion. Aber wenn sie sich bewegt hat, war es total anders. Hypnotisierend. Ich musste ständig an sie denken. Während des Monats, in dem ich mit ihr zusammen war, habe ich in der Arbeit nichts auf die Reihe bekommen, hab kaum was gegessen, musste oft mitten im Date aufs Klo, um mich zu übergeben, weil ich so unglaublich nervös war. Ich kann sie immer noch riechen. Sie wurde schwanger. Ich hatte Angst. Ich hab sie verlassen.

HJALMAR

Fuck.

GREGERS

Ja.

HJALMAR

Hast du sie seitdem gesehen?

GREGERS

Nein. Sie hat mich einen Monat lang jeden Tag angerufen. Ich habe nie abgenommen. Schließlich hat sie aufgegeben.

HJALMAR

Hat sie das Baby bekommen?

GREGERS

Nein. Sie hat mir einen Brief geschickt, in dem stand, dass ich mir keine Sorgen machen muss, sie hätte es abgetrieben und würde es mir nicht nachtragen, und wenn ich je Lust hätte, mit ihr was zu trinken und alles zu besprechen, sollte ich mich einfach bei ihr melden. Sie war etwas ganz Besonderes. Verdammt nochmal.

Wie hast du denn Gina kennengelernt?

HJALMAR

Ach. Das war eine interessante Zeit. Es war kurz nachdem Papa ins Gefängnis gekommen ist. Ich war völlig am Boden. Es war ständig in den Nachrichten. Wir waren bankrott. Ich hatte keinen auf der Welt, hab jeden letzten Cent meines Bafögs versoffen, bin immer wieder durchgefallen und wurde exmatrikuliert. Wusstest du, dass ich damals in einer Wohnung, die deinem Vater gehörte, leben durfte? Und einmal die Woche kam eine Putzfrau. Jeden Dienstagmorgen war es glaube ich. Und eines Morgens war die Putzfrau plötzlich Gina. Ich sollte eigentlich gar nicht da sein. Dein Vater hatte mir gesagt, ich sollte spätestens um acht Uhr raus, damit sie putzen konnten, aber ich war besoffen und ohnmächtig und war erst ein paar Stunden früher ins Bett gegangen. Sie hat mich mit einem Schrei geweckt, als sie ins Schlafzimmer kam. Es war wie ein merkwürdiger feuchter Traum. Eigentlich sollte es ja eine andere Frau sein, eine ältere polnische Dame mit einem Muttermal auf der Lippe. Und plötzlich hatte die sich in eine, ich weiß nicht, Göttin verwandelt, die mit einem Staubsauger in der Hand am Ende meines Bettes stand. Ich habe sie eingeladen, mit mir einen Kaffee trinken zu gehen. Sie sagte nein. Die Woche darauf hat sie auch nein gesagt, und die nächsten fünf Wochen auch. Aber schließlich hat die Hartnäckigkeit gesiegt. Sie war schüchtern. Sie hatte noch nie eine ernsthafte Beziehung gehabt, obwohl sie älter war als ich. Ich meine damit nicht, dass sie eine Jungfrau war, du Arschloch, aber ich musste sie schon nach allen Regeln der Kunst umwerben. Ich wusste, dass ich eine einmalige Frau gefunden hatte, und wusste, dass ich mich zusammenraffen musste, um sie für mich zu gewinnen, und langsam, aber sicher hat sie mir auch meine Selbstachtung wiedergegeben. Hedvig kam dann ungefähr ein Jahr später. Ein paar Jahre später wurde Papa aus dem Gefängnis entlassen, und wir haben eine kleine Familie aufgebaut. Wir haben eigentlich keine Freunde, und das bereue ich auch, aber das Fotostudio hält uns auf Trab. Die Arbeit macht nicht so viel Spaß. Hochzeiten. Geburtstage. Porträts. Ab und zu machen wir mal einen Fotoshooting für eine Kochzeitschrift. Spannender wird es nicht. Ich hab vor einer Weile gedacht, ich könnte wieder was Eigenes machen. Eine Ausstellung. Aber es hat nicht geklappt. Die Privatschule, auf die Hedvig geht, wird jedes Jahr teurer, und wir müssen jeden Cent zweimal umdrehen, um uns die Schulgebühren leisten zu können. Gina meint, es sei ein Fehler gewesen, sie da hinzuschicken, aber Hedvigs Noten sind super. Sie ist ein Genie. Ich weiß, ich sollte das als Vater nicht sagen. Aber sie ist ein Genie. Weißt du, als ich letztes Jahr bei einer Preisverleihung in der Aula von Hedvigs Schule saß und gehört habe, wie sie ihren Namen gerufen haben, war mir plötzlich klar, dass ich die ganzen letzten Jahre, also seit dem Prozess und seitdem Papa ins Gefängnis kam, immer zusammengezuckt bin, wenn ich den Namen Ekdal gehört habe. Aber dieses Mal nicht. Hedvig Ekdal. Sie hat mich wieder darauf stolz gemacht, ein Ekdal zu sein, das erste Mal seit achtzehn Jahren. Versteh mich nicht falsch. Ich bin meinem Vater nicht mehr böse. Er hat einen Fehler gemacht und hat dafür gebüßt. Es ist einfach gut, wieder auf irgendwas stolz sein zu können. Ab und zu bin ich enttäuscht, dass ich es zu nichts gebracht habe. Als ich siebzehn war, war ich ganz sicher, dass ich erfolgreich werden würde. Und es erschüttert mich immer noch, wenn ich feststelle, dass ich nicht erfolgreich bin. Aber wenn ich mich so fühle, dann denke ich an Hedvig, und was sie alles in ihrem Leben vollbringen wird, und es geht mir sofort viel besser.

GREGERS

Hjalmar.

HJALMAR

Noch ein Bier?

GREGERS

Nein, danke. Hjalmar.

HJALMAR

Ich hol mir noch eins. Ich trinke zu viel. Gina möchte, dass ich weniger trinke, damit dieser Bauch weggeht, aber ich schaffe es irgendwie nicht.

GREGERS

Hjalmar.

HJALMAR

Ja?

GREGERS

Ich muss dir was sagen.

HJALMAR

Ach ja?

21:41 Uhr

GINA

Wo warst du so lange?

HJALMAR

Ich bin spazieren gegangen.

GINA

Machst du die Druckfahnen noch fertig?

HJALMAR

Eher nicht.

GINA

Mensch, Hjalmar.

HEDVIG

Papa, kannst du noch Korrektur lesen?

HJALMAR

Gerne. Leg die Arbeit auf den Küchentisch.

HEDVIG

Kannst du es nicht sofort machen?

GINA

Wir hatten ihnen gesagt, wir würden sie heute schicken.

HJALMAR

Sie müssen halt abwarten.

GINA

Was ist denn?

HJALMAR

Nichts.

GINA

Hjalmar, was ist los?

HJALMAR

Hedvig, könntest du uns bitte kurz allein lassen?

HEDVIG

Warum?

HJALMAR

Ich muss mit deiner Mutter sprechen.

HEDVIG

Worüber?

HJALMAR

Hedvig.

HEDVIG

Wieso kann ich nicht dableiben. Geht es um mich?

HJALMAR

Nein.

HEDVIG

Werdet ihr euch streiten?

HJALMAR

Hedvig, kannst du uns bitte einfach kurz alleine lassen.

GINA

Geh schon, Hedvig.

HEDVIG

Fuck.

GINA

Hedvig.

HEDVIG

Was? Ich gehe ja schon.

GINA

Nimm die Ente mit.

HJALMAR

Ich wünschte, das verdammte Ding wäre tot.

HEDVIG

Was?

HJALMAR

Tu mir einen Gefallen, dreh der Ente den Hals um.

HEDVIG

Wieso bist du so gemein?

GINA

Hedvig, geh einfach mal.

21:53 Uhr

GREGERS

Was ist los?

HEDVIG

Wir wurden rausgeschickt. Mama und Papa streiten sich.

GREGERS

Was esst ihr?

EKDAL

Kaninchen.

GREGERS

Ach so.

EKDAL

Habe es heute Nachmittag erlegt.

GREGERS

Ist das eine der –

EKDAL

Erinnerst du dich noch an das männliche Kaninchen, das sich immer wieder an die weiblichen Kaninchen rangemacht hat?

GREGERS

Ja.

EKDAL

Das ist es.

GREGERS

Mein Gott.

EKDAL

Es gab zu viele männliche Kaninchen. Es bringt nichts mehr, als einen Jungen zu haben. Das ist mehr als ausreichend für die Zucht.

GREGERS

Also esst ihr gerade ein Kaninchen, das heute Nachmittag noch gelebt hat.

EKDAL

Ja. Ich hoffe, ich hab es geschafft, alle Schrotkugeln zu entfernen.

GREGERS

Du hast es erschossen? Auf dem Dachboden?

EKDAL

Genau. Es hat sich zur Wehr gesetzt. Wusste, dass ich komme. Hat ein bisschen rumgetanzt.

GREGERS

Wie kommt deine Hausarbeit voran?

HEDVIG

Ich weiß nicht. Ich kann mich nicht konzentrieren.

GREGERS

Wieso nicht?

HEDVIG

Ich weiß, worüber sie sich streiten.

GREGERS

Echt?

HEDVIG

Es geht um mich.

GREGERS

Was meinst du damit?

HEDVIG

Ich werde blind.

GREGERS

Was?

HEDVIG

Es wurden Tests gemacht. Mama und Papa wissen es nicht, aber ich habe die Untersuchungsergebnisse in ihrem Nachttisch gefunden.

GREGERS

Welche Ergebnisse?

HEDVIG

Von den Tests. Da stand Makuladegeneration. Ich habe im Internet nachgeschaut, und das bedeutet, dass ich blind werde. Es gibt eine Behandlung, aber sie ist sehr teuer, und sie können sie sich nicht leisten, und deshalb streiten sie sich gerade.

GREGERS

Du wirst blind.

HEDVIG

Ja.

GREGERS

O nein.

21:50 Uhr

HJALMAR

Stimmt es?

GINA

Hjalmar.

HJALMAR

Sag’s mir.

GINA

Das ist jetzt schon achtzehn Jahre her.

HJALMAR

Hast du mit ihm geschlafen?

GINA

Lass das bitte.

HJALMAR

Beantworte meine Frage, Gina.

GINA

Ja.

HJALMAR

Bevor du mich kennengelernt hast?

GINA

Ja.

HJALMAR

Wieso hast du mir nichts davon gesagt?

GINA

Weil ich nicht dachte, dass es von Bedeutung war.

HJALMAR

Wie kommst du darauf?

GINA

Du hast mir auch nicht alles über deine Vergangenheit erzählt.

HJALMAR

Doch habe ich. Ich dachte, Gregers irrt sich, weil wir immer so ehrlich miteinander waren. Ich dachte, wir seien immer so ehrlich miteinander gewesen.

GINA

Waren wir auch.

HJALMAR

Es war peinlich. Etwas aus der Vergangenheit meiner eigenen Frau nicht zu wissen. Von jemand anderem davon zu erfahren.

GINA

Es tut mir leid.

HJALMAR

Du hattest eine Affäre mit einem verheirateten Mann.

GINA

Ihre Beziehung war eigentlich schon vorbei.

HJALMAR

Und, was, habt ihr es in ihrem Haus getrieben, während sie zu Hause war?

GINA

Meistens hat er ein Hotelzimmer gebucht.

HJALMAR

Jesus.

GINA

Können wir damit aufhören.

HJALMAR

Nein. Warum hast du mit ihm Schluss gemacht?

GINA

Seine Frau hat’s rausgefunden. Ihr ging es gerade nicht gut, und er hatte Angst davor, was sie vielleicht machen würde.

HJALMAR

Also hat er dich als Putzfrau angestellt.

GINA

Ja.

HJALMAR

Und dann sind wir zusammengekommen.

GINA

Ja.

HJALMAR

Gregers scheint zu denken, dass du seinen Vater danach noch mal gesehen hast.

Keine Antwort.

Hast du ihn noch mal gesehen?

Gina weint.

Wann?

GINA

Als du weg warst.

HJALMAR

Okay.

GINA

Ich war in ihn verliebt.

HJALMAR

Okay.

GINA

Es gab keine Auflösung. Er hat die Beziehung so abrupt abgebrochen. Hat sich geweigert, sich mit mir zu treffen, hat nicht abgenommen, wenn ich ihn angerufen habe. Ich musste ihn sehen.

HJALMAR

Aber warst du zu dem Zeitpunkt nicht schon in mich verliebt?

GINA

Nicht wirklich.

HJALMAR

Nicht wirklich?

GINA

Nein.

HJALMAR

Verdammte Scheiße.

GINA

Es tut mir leid. Jetzt bin ich aber in dich verliebt.

HJALMAR

Ich kann’s nicht fassen.

GINA

Es tut mir sehr leid.

HJALMAR

Gregers’ Mutter hat ihn angerufen, bevor sie sich umgebracht hat. Sie hat ihm von eurer Beziehung erzählt. Wieso dachtest du, ich würde das nie rausfinden?

GINA

Hjalmar –

HJALMAR

Du hast alles versaut, Gina.

GINA

Sag das bitte nicht.

HJALMAR

Und als sie sich dann umgebracht hatte, wollte er nichts mehr mit dir zu tun haben, und ich war die zweitbeste Möglichkeit?

GINA

Nein, Hjalmar.

HJALMAR

Ich habe sein Geld angenommen. Ich bin ein Idiot. Ein verdammter Idiot.

GINA

Nein, bist du nicht.

HJALMAR

Hjalmar.

Sag mir jetzt bitte nicht, es war, weil du schon schwanger warst.

Hör auf, Hjalmar.

Gina. War es, weil du schon schwanger warst?

Hör damit auf. Ich flehe dich an.

Beantworte die Frage.

Hjalmar.

Beantworte die Frage.

Bitte.

Beantworte die verdammte Frage.

Ja. Ich war schwanger.

Mit Hedvig?

Ja.

Also ist sie nicht …

Nein.

Lass mich los. Ich muss gehen.

Hjalmar.

Ich muss gehen.

Hjalmar.