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Band 219

 

Callibsos Weg

 

Rüdiger Schäfer

 

 

 

Pabel-Moewig Verlag KG, Rastatt

 

Cover

Vorspann

1. Perry Rhodan

2. Callibso

3. Callibso

4. Callibso

5. Callibso

6. Callibso

7. Callibso

8. Callibso

9. Perry Rhodan

10. Callibso

11. Callibso

12. Callibso

13. Callibso

14. Callibso

15. Callibso

16. Callibso

17. Callibso

18. Callibso

19. Perry Rhodan

20. Perry Rhodan

Impressum

PERRY RHODAN – die Serie

 

Gut fünfzig Jahre nachdem die Menschheit zu den Sternen aufgebrochen ist, haben Kolonisten erste Siedlungen auf fremden Welten errichtet. Der Weg ins Weltall verläuft mühsam und abenteuerlich. Aber geleitet von Perry Rhodan, haben die Menschen bislang jede Gefahr überstanden.

Doch im Jahr 2089 werden sie mit einem Gegner konfrontiert, der nicht fassbar erscheint. Das mysteriöse Dunkelleben bedroht die Solare Union. Um dieses Phänomen zu enträtseln, reist Rhodan in ein fernes Sternenreich – zum Compariat.

Dort erleidet sein Raumschiff FANTASY einen katastrophalen Unfall. Die weitere Reise ist infrage gestellt, und Rhodan, der mit Dunkelleben infiziert ist, geht es zunehmend schlechter. Auch auf der Zielwelt Lashat scheint keine Rettung für ihn möglich.

Weil man ihm auf Lashat nicht helfen kann, durchschreitet er, dem Tode nahe, ein geheimnisvolles Raum-Zeit-Tor. Perry Rhodan erfährt die unglaubliche Lebensgeschichte eines kosmischen Wesens – sie handelt von CALLIBSOS WEG ...

1.

Perry Rhodan

 

»Auf die Dauer der Zeit nimmt die Seele die Farben der Gedanken an.«

Marcus Aurelius (römischer Kaiser und Stoiker, 121–180)

 

 

Ich freue mich, dass Sie doch noch gekommen sind!

Perry Rhodan betrachtete die dichte Vegetation um sich herum, während ihm der Satz immer wieder durch den Kopf ging. Die Person, die diese Worte vor ein paar Minuten geäußert hatte, ging nur wenige Schritte vor ihm. Rhodan hatte sie vor einem halben Jahrhundert zum ersten und bislang einzigen Mal getroffen, und ebenso wie er selbst schien sich auch der Zwerg nur wenig verändert zu haben – zumindest äußerlich.

Callibso.

Der Puppenspieler.

Der Zeitenschmied.

Der ehemalige Herr von Derogwanien.

Rhodan hätte nicht erwartet, den mysteriösen Mann jemals wiederzusehen. Das Schicksal hatte ihnen damals nur wenig Zeit zugestanden. Der Angriff der Allianz auf Callibsos Puppenwelt – angeführt durch den Goldenen Pranav Ketar – hatte sie zur Flucht gezwungen. Kurz darauf hatte sich Callibso verabschiedet, als sei er von ihrem Treffen ... enttäuscht gewesen. Und nun tauchte der Zwerg urplötzlich am anderen Ende des Zeitbrunnens von Lashat wieder auf und begrüßte Rhodan, als wäre dieser zu spät zu einer lange vereinbarten Verabredung gekommen.

Rhodan hatte so viele Fragen, dass er im ersten Moment gar nicht wusste, welche er zuerst stellen sollte. Doch Callibso hatte nur sanft den überdimensionierten Kopf geschüttelt. Dann hatte er sich umgedreht und Rhodan bedeutet, ihm zu folgen. Seitdem gingen sie durch diesen seltsamen Wald, auf einem Teppich aus Laub und trockenen Ästen, die unter den Sohlen knackten. Vorbei an mächtigen Bäumen mit moosbewachsenen Stämmen und schartiger Rinde. Eine unsichtbare Sonne schickte gelbes Licht durch ein leise rauschendes Blätterdach. Es erreichte den Boden nicht, verblasste zuvor im Durcheinander aus Grün und Braun und schuf ein verwirrendes Muster aus hellen und dunklen Flächen, die sich unablässig ineinanderschoben und wieder voneinander trennten.

Wohin gehen wir?, fragte sich Rhodan. In gewisser Weise erinnerte ihn die Umgebung an Derogwanien, eine Welt, die Callibso einst nach seinen Vorstellungen gestaltet hatte. Dort hatten die von ihm geschaffenen Puppen gelebt. Dorthin hatte er sich immer wieder zurückgezogen.

Rhodan war nach wie vor nicht klar, welche Rolle Callibso in jenem komplexen Netzwerk aus Lügen, Intrigen, Plänen und Ereignissen gespielt hatte, das als kosmisches Schachspiel in die Geschichte eingegangen war. Woher kam Callibso? Wie war er zu dem geworden, was er war? Auf Derogwanien hatte der Zwerg Rhodan vom Ringen erzählt, doch inzwischen wusste man, dass dieser angebliche Konflikt zwischen Humanoiden und Nichthumanoiden nur ein groß angelegter Schwindel gewesen war, eine von ANDROS gestreute Legende, um die wahren Absichten der Wesenheit zu verschleiern.

Im Nachhinein kam sich Perry Rhodan furchtbar einfältig vor. Er hatte Callibso geglaubt, hatte geradezu an dessen Lippen gehangen, als der von der Allianz, von seiner Rolle im Ringen und von der Bedeutung dieser seit Jahrtausenden tobenden epischen Schlacht für den Fortbestand der Menschheit gefaselt hatte. Dabei wies die ganze Geschichte so viele Lücken und Ungereimtheiten auf, dass Rhodan sofort misstrauisch hätte werden müssen. Stattdessen hatte er sich im Glanz des scheinbar Bedeutsamen gesonnt, hatte geglaubt, zu den Privilegierten zu gehören, zu jenen, die in die großen Geheimnisse des Universums eingeweiht waren.

Demut lehrt einen nur die Erfahrung, dachte Rhodan. Und das kann verdammt wehtun.

Der Wald wurde lichter. Die Bäume wichen mehr und mehr zurück und machten einer hügeligen Graslandschaft Platz. Vereinzelt wuchsen darin Blumen mit langen, dünnen Stängeln und großen Blüten. Sie leuchteten in Rot, Blau und Gelb. Schwärme von Insekten umschwirrten die farbige Pracht. Hin und wieder waren faustgroße Falter mit bunten Flügeln zu erkennen – irdischen Schmetterlingen nicht unähnlich.

Der Himmel zeigte sich strahlend blau und wolkenlos. Eine kleine, gelbe Sonne stand fast im Zenit. Sie spendete Licht und angenehme Wärme. Ein Paradies.

Ich darf nicht vergessen, dass das alles wahrscheinlich nicht real ist, ermahnte sich Rhodan. Ich bin durch einen Zeitbrunnen gegangen. Ich könnte überall und nirgends sein. Vielleicht hat sich Callibso auch diese Welt nach seinen Wünschen eingerichtet.

Der Zwerg hatte ihn also belogen – und das passte in das Bild, das sich Rhodan von ihm gemacht hatte. Callibsos Puppen hatten damals auf der Erde alles getan, um Rhodans Flug zum Mond und seine Begegnung mit den Arkoniden zu verhindern. Angeblich, um eine »Eskalation des Ringens« abzuwenden. Was für ein Unsinn! Aber Rhodan hatte es geglaubt.

Je länger sie sich durch diese vorgebliche Idylle bewegten, desto mehr kehrte Rhodans Zorn zurück. Callibso hatte Rhodans Mutter auf dem Gewissen. Unter anderem. Auf seinen Befehl hin hatte eine Puppe ihren Verstand übernommen und ihn langsam und qualvoll zum Erlöschen gebracht. Wie eine heruntergebrannte Kerze. Und zum Dank dafür hatte Rhodan dem Zwerg damals auf Derogwanien das Leben gerettet. Mittlerweile war er sich nicht mal mehr sicher, ob Callibso diesen Vorfall nicht ebenso inszeniert hatte wie so vieles andere. Vielleicht hatte er Rhodan testen wollen. Warum auch immer ...

Rhodan beschleunigte seine Schritte, um zu dem kleinen Mann aufzuschließen, doch sosehr er sich bemühte – der Abstand zwischen ihnen blieb stets der gleiche, obwohl Callibso das eigene Tempo nicht veränderte.

Alles Lug und Trug, durchzuckte es Rhodan. Wahrscheinlich kann er gar nicht anders ...

Callibso war mit einer weit geschnittenen Hose von schwer definierbarer Farbe bekleidet, die aussah, als hätte man sie bereits ein paarmal zu oft gewaschen. Sie wurde von einem roten Gürtel gehalten. Der schmächtige Oberkörper war mit einem dünnen, weißen Hemd bedeckt. Darüber trug der Zwerg eine bunte Weste, deren Muster bei längerem Hinsehen in den Augen schmerzte. Die Füße steckten in abgewetzten, braunen Stulpenstiefeln.

Er könnte glatt als der Hofnarr eines irdischen Fürsten oder Königs durchgehen, dachte Rhodan. Es fehlen nur noch die schellenbesetzte Kappe und der Narrenstab.

Wie lange waren sie schon unterwegs? Er warf einen Blick zurück. Der Wald, durch den sie gegangen waren, schimmerte in seinem Rücken als dunkelgrüne Fläche inmitten der sanft gewellten Ebene. Das schwarze Rund des Zeitbrunnens war längst nicht mehr zu sehen. Warum war Callibso an diesem Ort? Warum hatte er Rhodan erwartet? Was wollte der Zwerg?

Immerhin fühlte sich Rhodan so wohl wie seit Ewigkeiten nicht mehr. Als er in den Zeitbrunnen von Lashat eingetaucht war, hatte er im Sterben gelegen. Nun hätte er sämtliche Bäume des nahen Walds ausreißen können. Von einer Sekunde auf die andere waren sämtliche Beschwerden verschwunden, hatten sich alle Zeichen und Symptome des bevorstehenden Endes verflüchtigt. Hatte er das Callibso zu verdanken? Und war seine wiedergewonnene Gesundheit von Dauer?

Als sich Rhodan wieder umwandte, entdeckte er die Rauchfahne. Sie prangte als dünne, graue Linie am Himmel, fast als wäre einem unachtsamen Maler der Pinsel ausgerutscht und hätte das Bild einer makellosen Natur mit einem schmutzigen Farbtupfer ruiniert.

Wenig später sah er die Hütte. Sie stand auf einem der Hügel und war von ein paar hohen Bäumen eingerahmt. Die roten Dachziegel und das nahezu schwarze Mauerwerk bildeten einen scharfen Kontrast zum Rest der Umgebung. Man hätte meinen können, das Bauwerk – ebenso wie die schmale Rauchsäule, die einem kleinen Kamin entstieg – gehöre gar nicht zum Rest der Welt.

Da Callibso einen schmalen Pfad betrat, der den Hügel in mehreren Kehren hinaufführte und vor einem baufällig wirkenden Holzzaun endete, gab es keinen Zweifel mehr, dass sie ihr Ziel beinahe erreicht hatten. Warum hatte ihn der Zwerg hierhergeführt? Wollte Callibso Rhodan mit dem Marsch Gelegenheit geben, seine Gedanken zu ordnen? Falls dem so war, würde Rhodan ihn enttäuschen müssen, denn mit jedem Schritt, den sie zurücklegten, tauchten zwei neue Fragen in seinem Kopf auf.

Schweigend erklommen die beiden Männer den Hügel. Callibso blieb vor einem hölzernen Tor stehen, öffnete einen primitiven Riegel und stieß das morsch wirkende Gatter auf. Es quietschte laut in den verrosteten Angeln.

Der Zwerg drehte sich kurz um und lächelte schwach. Erneut fiel Rhodan auf, dass sein Gegenüber den Eindruck eines alten Manns machte. Das äußerte sich nicht so sehr in körperlichen Merkmalen, sondern vielmehr in der Art und Weise, wie sich Callibso bewegte. In seine einst glatten Züge mochten sich ein paar Falten gegraben haben; seine Haut wirkte grau, die schwarzen Haare glänzten da und dort silbrig. Doch all das hätte nicht ausgereicht, um diese seltsame Aura zu erklären, die Rhodan geradezu körperlich spüren konnte.

Er ist müde, dachte er. Nein ... er ist zu Tode erschöpft.

Callibso führte ihn durch einen kleinen Garten. Links und rechts des von einer Hecke gesäumten Wegs wuchs je eine Reihe von Pflanzen, sorgfältig in einzelne Beete getrennt. Teilweise rankten sie sich an in die Erde gesteckten Stäben in die Höhe; vereinzelt waren die dünneren Triebe mit Fäden festgebunden, um ihnen mehr Stabilität zu verleihen. Rhodan sah Früchte, die ihn an Kürbisse erinnerten. Zwei mannshohe Bäume im Hintergrund trugen herzförmige, rote Beeren, die Kirschen ähnlich sahen.

»Treten Sie ein.«

Callibso hatte die Tür der Hütte geöffnet, die aus schweren Brettern gezimmert und mit Metallverschlägen versehen war. Auch auf Derogwanien hatte der Zwerg ihn seinerzeit in einem mittelalterlich geprägten Ambiente empfangen. Damals war es eine Art Rathaus gewesen. Rhodan fragte sich, ob es einen Grund für Callibsos diesbezügliche Vorliebe gab.

Das Innere der Hütte bestand aus einem einzigen, großen Raum. Dem Eingang gegenüber lag ein offener Kamin, in dem ein Holzfeuer brannte. Darüber hing an einem Eisengestell ein bauchiger Kessel. Ein fremdartiger, jedoch angenehmer Duft nach exotischen Gewürzen lag in der Luft.

»Nehmen Sie bitte Platz.« Callibso deutete auf einen von zwei wuchtigen Lehnstühlen, die einen mächtigen Tisch flankierten.

Auf der rechten Seite machte Rhodan ein riesiges Bett aus. Es verschwand beinahe unter einem Berg aus Kissen und zerwühlten Decken.

Die linke Seite des Raums wurde von einer Art Werkstatt beherrscht. Im Zentrum eines Rings aus Ziegeln stand ein Amboss. Diverse Hämmer, Zangen und Spaltkeile hingen an Haken an der Wand. Neben dem Amboss, halb vom Rand des Rings verdeckt, gab es ein Wasserbecken und eine Schmelzwanne.

Mir scheint, der »Zeitenschmied« nimmt seinen Namen wörtlich, dachte Rhodan. Allerdings dürfte es wohl kaum Zeit sein, die er in dieser Hütte schmiedet, oder?

»Darf ich Ihnen einen Truglis anbieten?«, fragte Callibso. »Das ist ein äußerst bekömmlicher Kräutersud aus meiner Heimat. Ich baue die Zutaten alle selbst an.«

»Danke, gern«, gab Rhodan zurück und setzte sich.

Darüber, woher er stammte und welchem Volk er angehörte, hatte der Zwerg auf Derogwanien nie gesprochen. Ernst Ellert hatte ihn einmal als Einzelgänger bezeichnet, als Solist im kosmischen Orchester.

Callibso holte zwei Becher aus einer Kiste neben dem Bett. Dann rührte er mit einer langen Kelle kräftig in dem Topf über der Feuerstelle, füllte die Becher mit einer trüben, dampfenden Flüssigkeit und reichte seinem Gast einen davon.

Der Duft, der in Rhodans Nase stieg, war anregend. Er erinnerte ein wenig an Zimt und Muskat – mit einem Hauch von Vanille. Vorsichtig, um sich nicht die Lippen zu verbrennen, kostete er von dem teeähnlichen Gebräu. Sofort breitete sich eine angenehme Wärme in ihm aus; nicht nur in seinem Magen, sondern im ganzen Körper.

»Gut?«, wollte der Zwerg wissen.

Rhodan nickte und nahm einen weiteren Schluck. Callibso lächelte zufrieden und tat es Rhodan nach. Dann setzte Stille ein. Keiner der beiden Männer sagte etwas. Sie saßen nur schweigend da, schlürften ab und zu an ihrem Truglis und genossen die Ruhe. Fast wie zwei Freunde, die einander schon seit Ewigkeiten kannten und zwischen denen es keiner Worte mehr bedurfte, um sich zu verständigen.

Die Zeit schien auf einmal keine Bedeutung mehr zu haben. Es war, als sei sie in dem Moment stehen geblieben, in dem sie die Hütte betreten hatten. Und Rhodan konnte es spüren. Die drängenden Fragen, die ihn kurz zuvor noch umgetrieben hatten, waren plötzlich nicht mehr wichtig. Nichts war mehr wichtig. Er war von einem tiefen inneren Frieden erfüllt, einer nie zuvor gekannten Bedürfnislosigkeit.

Glück ist Selbstgenügsamkeit. Wer hatte das doch gleich gesagt? Irgendein berühmter griechischer Philosoph. Platon? Sokrates? Nein, Aristoteles. Die meisten Menschen lebten in einer Welt, in der Zufriedenheit wenig mit der eigenen Person zu tun hatte. Es ging vielmehr um das Erreichen von Zielen und das Anhäufen von Dingen. Glück und Befriedigung wurde jedoch weit weniger von äußerlichen Faktoren, als von der eigenen Gefühlslage beeinflusst. Und die wiederum hing maßgeblich davon ab, wie man sich selbst sah und unter welcher emotionalen Konfiguration man mit seiner Umwelt interagierte.

Irgendwann stellte Callibso seinen Becher auf den Tisch. Das dabei entstehende Geräusch beendete die Phase der Beschaulichkeit. In Rhodans Geist tauchte das Bild eines dicken Buchs auf, in dem jemand soeben die letzte Seite umgeblättert hatte. Für einen Wimpernschlag glaubte er das Ticken einer Uhr zu hören, und eine tiefe Schwermut erfasste ihn. Dann war der Moment vorüber.

»Ich möchte Ihnen meine Geschichte erzählen, Perry Rhodan«, sagte der Zwerg.

2.

Callibso

 

»Glück verkürzt die Zeit. Leid dehnt sie. Und Liebe löscht sie aus.«

Thora da Zoltral (arkonidische Botschafterin auf der Erde, geb. 2002, in einem Interview mit »Terra News«)

 

 

Die Anwesenheit des Akor ließ Callibso frösteln. Schon wenn er bei seinen Streifzügen durch Timasta die Vertreter der mächtigen Kaste in ihren schwarzen Gewändern erblickte, wurde ihm stets kalt. Und nun stand der hochgewachsene Mann mit der spitzen Kapuze über dem Kopf sogar in der Küche des Elternhauses. Mutter reichte ihm soeben eine Tasse mit dampfendem Truglis, verneigte sich und zog sich hastig zurück. Callibso sah ihr die Erleichterung darüber, den Raum verlassen zu können, deutlich an. Es fiel ihr schwer, nicht in Laufschritt zu verfallen.

»Was verschafft uns die Ehre Eurer Anwesenheit, hoher Wächter?« Vaters Stimme klang fest und sicher, doch auch ihm war anzumerken, dass ihn der späte Besuch aus der Bahn geworfen hatte. Er hatte bereits mit einer Schale Sogat vor dem großen Ofen gesessen und die Blätter der Tagespost studiert. Eine lange Schicht auf der Plantage lag hinter ihm, und wahrscheinlich hatte er sich schon auf sein Bett gefreut.

Callibso spürte ein Kitzeln in der Nase. Sofort schoss ihm das Blut in den Kopf. Wenn er nun niesen musste, würde man ihn entdecken. Dabei hatte er gar nicht lauschen wollen. Doch als es an der Tür geklopft und Vater den überraschenden Besucher in die Küche statt in den Wohnraum geführt hatte, hatte sich Callibso instinktiv in den schmalen Zwischenraum zwischen Spülwanne und Wand gequetscht. Er hätte längst schlafen müssen, doch er war noch nicht müde gewesen und hatte sich die Treppe heruntergeschlichen, um ein paar Nüsse und etwas Obst aus der Vorratskammer zu stibitzen.

»Du bist Lemotar«, sagte der Akor. »Du arbeitest als Disponent auf einer der Plantagen im Gürtel. Du bist im Seelenklang vereint mit Hinistra und hast einen Sohn namens Callibso.«

Der Wächter des Inneren hatte seine Sätze nicht als Fragen formuliert, als wolle er eine Bestätigung dafür. Dennoch konnte Callibso durch den schmalen Spalt zwischen Spülwanne und Waschzuber sehen, wie Vater eifrig nickte. Der Akor hatte seine Tasse auf dem großen Esstisch abgestellt, der die Mitte der Küche bildete, und die Hände in den ausgestellten Ärmeln seiner Kutte verborgen; von dem Truglis hatte er nicht mal gekostet. Sein Gesicht war unter der Kapuze nur als Schemen zu erkennen.

Callibso presste sich die Zunge gegen den Gaumen, so fest er konnte. Tegar hatte ihm einmal erzählt, dass man damit ein bevorstehendes Niesen verhindern könne. Es funktionierte jedoch nicht. Der Niesreiz wurde mit jeder Sekunde stärker.

»Ich habe eine freudige Botschaft für dich«, fuhr der Akor in diesem Moment fort. »Deinem Sohn wird das Privileg zuteil, die Prüfung absolvieren zu dürfen. Du wirst ihn am zweiten Tag des Elessiums zum Man Akora bringen. Bis dahin wird Freude und Stolz dieses Haus erfüllen. Wenn sich Callibso als würdig erweist, wird die einzige Atma fortan mit besonderem Wohlwollen auf dich und die Deinen herabschauen.«

Callibsos Mund war staubtrocken. Der Akor hatte seinen Monolog in seltener Gleichförmigkeit heruntergeleiert; als würde er Text von einem Blatt ablesen. Trotzdem hatte sich jedes Wort wie ein Feuerkiesel in das Gehirn des zehnjährigen Jungen gebrannt.

Die Prüfung! Der Aufnahmetest für die Kaste der Akori! Konnte das wirklich sein?

Jedes Jahr, wenn die Rayonen des Reichs die fünf Tage des Elessiums feierten und alle Städte und Siedlungen prächtig geschmückt waren, betraten die erwählten Kinder das Man Akora. Die meisten kamen unverrichteter Dinge wieder heraus. Kaum jemand wagte zu fragen, was sie dort erlebt hatten, und wenn es doch jemand tat, schüttelten sie nur die Köpfe.

Manchmal allerdings kehrten einzelne Prüflinge erst am Ende des Elessiums zu ihren Familien zurück, wenngleich nur, um ihre wenigen Habseligkeiten zu packen. Von da an lebten sie im großen Tempel und wurden zu Wächtern des Inneren ausgebildet.

Für die Angehörigen war das für gewöhnlich ein Segen – zumindest finanziell. Die Akori zahlten ihnen eine großzügige Vergütung dafür, dass sie sich dem Willen der einzigen Seele fügten und Atmas Auswahl akzeptierten.

Callibso drückte seine Nase mit Daumen und Zeigefinger so fest zusammen, dass der Schmerz ihm die Tränen in die Augen trieb. Das half nicht gegen den Niesreiz, aber gegen die stetig wachsende Angst. Wann immer er am großen Tempel vorbeiging, griffen die kalten Finger der vergessenen Schatten nach ihm. Manchmal konnte er ihr Flüstern hören. Und nun sollte er das Man Akora sogar betreten? Das durfte Vater nicht zulassen. Auf keinen Fall!

»Unsere Freude ist grenzenlos«, hörte er Lemotar sagen, und sein Herz setzte mehrere Schläge lang aus. Seine Mund- und Rachenmuskulatur tat das leider nicht. Das Niesen glich einer Explosion, und Callibso hätte sich nicht gewundert, wenn infolge der Erschütterung Mutters Kupferpfannen aus den Schränken gefallen wären.

Endlose Sekunden passierte gar nichts. Callibso hatte den Kopf zwischen die Schultern gezogen und erwartete jeden Moment die starke Hand des Vaters zu spüren, der ihn an den Ohren aus seinem Versteck zerrte, um ihm die verdiente Tracht Prügel zu verabreichen. Stattdessen erklang erneut die monotone Stimme des Akor, gerade so, als sei nichts geschehen. Als hätten weder der Wächter noch Vater etwas gehört.

»Ich wünsche dir und deinem Seelenring noch einen guten Abend«, sagte der Wächter. »Atma bei dir, Lemotar.«

»Und bei Euch, hoher Wächter«, antwortete Vater.

Dann verließen die beiden Männer die Küche. Wenig später hörte Callibso, wie die Haustür geöffnet und wieder geschlossen wurde.

Er wartete. Eine Minute. Zwei. Doch Vater kam nicht zurück, um ihn zu bestrafen. Auch Mutter nicht. Irgendwann vernahm er die gedämpften Stimmen der Eltern aus dem Wohnraum. Dazu hin und wieder das Knacken, wenn Vater einen der Sogatkeime zerbiss, um sich an dessen herbem Saft zu laben.

Callibsos Gedanken schlugen Purzelbäume. Er sah die große Prozession am zweiten Tag des Elessiums vor sich. Das erste Mal hatte er sie noch auf den Schultern von Lemotar verfolgt. Inzwischen war er zu schwer – und die Schultern seines Vaters nicht mehr so kräftig wie früher. Callibso hatte mit großen Augen auf die in schwarze Roben gehüllten Kinder geschaut und sich vorgestellt, wie es wohl wäre, wenn er selbst eines Tages die von Blütenblättern bedeckte Straße entlangschreiten würde – bejubelt von den Schaulustigen und Besuchern aus allen Rayonen. Nun sollte sein Traum in Erfüllung gehen, und er machte sich beinahe in die Hose. Warum?

Es liegt an den Träumen, zuckte es durch seinen Kopf. An den Nachtbildern, über die ich mit niemandem sprechen kann. Und an den schlimmen Dingen, die sie auslösen.

Je länger er darüber nachdachte, desto überzeugter war er, dass die Wächter ihn nur deshalb in den großen Tempel holten, um ihn dort für immer einzusperren. Wenn seine Träume schon derzeit so gefährlich waren, wie würde es erst sein, wenn er erwachsen war?

Während er sich schließlich aus seinem Versteck zwängte und die Treppe hinauf ins obere Stockwerk schlich, begleitete ihn das leise Schnarchen des Vaters. Mutter würde noch aufräumen und Lemotar danach wecken und ins Schlafzimmer begleiten. So war es fast jeden Abend.

Callibso erreichte seine kleine Kammer unter dem Dach, deren einziges Giebelfenster in den Garten hinausging. Durch die offene Luke hörte er das Rauschen des Winds in den Bäumen. Der Sommer ging langsam zu Ende, aber noch waren die Nächte warm. In der Ferne schimmerten ein paar wenige Lichter in der Dunkelheit, doch die meisten Bewohner der Stadt schliefen längst.

Er schlüpfte unter die Decken, vergrub seinen Kopf in den weichen Kissen seines Lagers und weinte. In dieser Nacht bekam Callibso kein Auge mehr zu. Aber das war gut so. Wenn er nicht schlief, konnte er auch nicht träumen.

 

Als er am nächsten Morgen erwachte, schien alles wie immer zu sein. Offenbar war er am Ende doch noch eingeschlafen. Vater hatte ihn nicht geweckt. Normalerweise tat er das am Ruhetag immer. Dann musste Callibso in den Wassertank hinter dem Haus kriechen und die Leitungen säubern. Der Einstieg war so schmal, dass sich nur Kinder hindurchzwängen konnten. In ein paar Jahren würde aber auch Callibso zu groß für diese Arbeit sein.

Während er in seine Kleider schlüpfte, versuchte er sich zu erinnern, ob er geträumt hatte. Meistens wusste er nach dem Aufstehen noch sehr genau, welche Bilder der Schlaf in ihm heraufbeschworen hatte, doch diesmal waren da nur ein paar vage Ahnungen. Undeutliche Erinnerungen, die schnell verblassten und lediglich ein unangenehmes Gefühl von bleierner Schwere zurückließen. So als hätte er etwas angestellt, das er Vater und Mutter beichten musste und von dem er genau wusste, dass es sie traurig machen würde.

Beim Frühstück eröffnete ihm Lemotar, dass er von nun an eins der Quellenkinder zum Reinigen der Wasserleitungen bestellen würde. Das verwunderte Callibso, denn so etwas kostete Geld, und Geld war ein Thema, über das seine Eltern oft sprachen. Stets ging es dabei darum, dass man zu wenig davon hatte und was man tun konnte, um nicht noch mehr davon auszugeben.

Weder Vater noch Mutter hatten etwas dagegen, als er sie fragte, ob er zu Tegar hinübergehen dürfe. Er musste weder den Tisch abräumen oder beim Abwasch helfen noch forderte ihn Mutter wie sonst so häufig auf, sie zum Markt zu begleiten und ihr beim Tragen der Einkäufe zu helfen. Den Besuch des Akor erwähnte niemand, und Callibso hütete sich, danach zu fragen.

Tegar wohnte mit seinen Eltern nur ein paar Minuten Fußweg entfernt. Das kleine Haus lag näher am Fluss, was man schon allein daran merkte, dass der Gestank der Abwässer deutlich intensiver war als in Callibsos Viertel oder gar im Zentrum der Stadt.

Die Straßen waren weitgehend verlassen. Am Ruhetag waren kaum Fuhrwerke und Dampfwagen unterwegs. Gearbeitet wurde trotzdem, wenn auch öffentlich nur in den Schmiedehäusern und auf den außerhalb von Timasta gelegenen Feldern. Alle anderen Khermani kümmerten sich um ihre häuslichen Pflichten und Aufgaben. In ein paar Wochen würde das Elessium beginnen, und niemand wollte Atma erzürnen, indem er die notwendigen Vorbereitungen nicht rechtzeitig abschloss.

Callibso fand seinen besten Freund beim Jäten im Gemüsegarten. Tegar war für sein Alter zu klein gewachsen. Die wenigen Haare auf seinem Kopf hingen ihm dünn und strähnig ins Gesicht. Dazu kamen ein ballongroßer Bauch und lange, dünne Arme. Im Aprennal wurde er wegen seines Aussehens oft gehänselt, doch das kümmerte ihn wenig. Er nahm die ständigen Demütigungen mit einer Gelassenheit hin, um die ihn Callibso manchmal beneidete.

»Hey, Junge!«, rief ihm Callibso zu, als er auf Hörweite heran war. »Du hältst die Harke wie ein Löschhütchen bei der Tempelweihe. Die Bewegung muss mit Kraft aus der Hüfte kommen. Zieh durch, Junge! Mit Kraft! Zieh durch!« Dabei ahmte er mehr schlecht als recht die Bassstimme von Drimon nach, ihrem Lecor im Aprennal, der sie in Leibeskunde unterrichtete.

Tegar hielt inne, stieß ein Schnauben aus und wischte sich über die feuchte Stirn. Dann hob er die Faust mit dem Handrücken in Callibsos Richtung und ließ blitzartig alle fünf Finger in die Höhe schnellen.

»Hu, hu, hu!«, rief Callibso in gespieltem Entsetzen. »Wo lernt ein halber Dirsch wie du derart obszöne Gesten? Wenn Parimi das sieht, putzt du den gesamten Winter die Weiheschalen im Seelenheim.«

»Halt die Klappe und hilf mir lieber.« Tegar packte die Harke wieder fester und stieß ihr metallenes Blatt so fest er konnte in den Boden. »Vater lässt mich hier nicht weg, bevor ich nicht mindestens drei Eimer Steine aus der Erde geholt habe.«

»Drei Eimer!« Callibso schüttelte erschrocken den Kopf. »Da haben ja die Feldsklaven auf der Plantage ein besseres Leben.«

Tegar zuckte nur mit den schmalen Schultern.

Mit einem Seufzer ging Callibso zu dem windschiefen Geräteschuppen hinüber, den Tegars Vater vor einer halben Ewigkeit erbaut hatte und der seitdem tapfer allen Winterstürmen und den Hagelschauern in den Nassmonaten trotzte. Er fand eine weitere Harke und gesellte sich zu seinem hart arbeitenden Freund.

»Und das am Ruhetag!«, stieß er hervor. »Das wird Atma aber gar nicht gern sehen.«

»Sprichst du den Namen der einzigen Seele etwa im Scherz, Bursche?« Diesmal war es an Tegar, seine Stimme zu verstellen, was er erstaunlich gut hinbekam. Callibso sah den hageren Parimi geradezu vor sich. Als Weihepriester im Seelenheim unterwies er die Kinder einmal in der Woche in Glaubensfragen.

Die beiden Jungen kicherten. In den darauffolgenden zwei Stunden war nur noch ihr Keuchen und Ächzen zu hören, das die Gartenarbeit begleitete wie die Tonpeitschen einen Weihezug. Doch dann standen drei bis zum Rand mit Steinen gefüllte Eimer am Rand der Gemüsebeete. Tegar und Callibso legten einige Sekunden lang ihre Unterarme aneinander und bekundeten so ihre Dankbarkeit gegenüber der einzigen Seele. Danach rief Tegar seinen Vater.

Ismur war ein noch relativ junger Khermano. Callibso wusste, dass er im Steinbruch arbeitete. Seine Oberarme hatten den Durchmesser des Stamms eines Roccabaums. Nachdem Ismur eine Weile die vollen Eimer und die verschwitzten Jungen abwechselnd und mit strengen Blicken gemustert hatte, verzogen sich seine Lippen zu einem kaum merklichen Lächeln, und er nickte.

»Geht in die Küche, ihr Nichtsnutze«, sagte er brummig. »Kahelia hat für jeden von euch eine Süßwurzel. Und dann macht, was ihr wollt. Aber stellt keinen Unfug an; ist das klar?«

»Ja, Vater!«, rief Tegar.

»Würden wir nie tun, Mago Ismur!«, fügte Callibso hinzu.

Fünf Minuten später liefen sie – jeder mit einer Süßwurzel im Mundwinkel – die Hauptstraße entlang. Bevor sie den Seelenplatz erreichten, bogen sie nach links ab, überquerten die Ogubrücke und hielten auf den nahen Wald zu. Tegar keuchte bereits, doch als Callibso das Tempo verringerte, schlug Tegar ihn mit der Faust auf die Brust und rannte schneller.