Lori Gottlieb erforscht als Therapeutin in Los Angeles die innersten Geheimnisse im Leben ihrer Patienten – ein narzisstischer Hollywood-Produzent, eine sterbende junge Frau, eine ältere Dame, die mit Suizid droht, eine Mittzwanzigerin, die sich immer in die falschen Männer verliebt. Als Lori Gottlieb selbst in eine existenzielle Krise gerät, sucht sie sich bei einem erfahrenen Therapeuten Hilfe.

 

Mit Humor, Mitgefühl und Tiefe erzählt sie von dem, was den Menschen ausmacht.

 

Lori Gottlieb

 

Vielleicht solltest du mal mit jemandem darüber reden

 

Aus dem amerikanischen Englisch von Elisabeth Liebl

 

 

hanserblau

 

 

Es wird vorgeschlagen, Glück als psychische Erkrankung einzuordnen und in den künftigen Ausgaben der großen diagnostischen Leitfäden unter einem neuen Namen zu führen: schwere affektive Störung, angenehmer Prägung. Eine Zusammenschau der relevanten Literatur zeigt, dass Glück statistisch betrachtet ein abnormer Zustand ist, eine unaufdringliche Ansammlung von Symptomen aufweist, mit klaren kognitiven Anomalien einhergeht und vermutlich eine abweichende Funktion des Zentralen Nervensystems widerspiegelt. Ein möglicher Einwand gegen dieses Vorgehen aber bleibt – Glück wird nicht als negativ betrachtet. Doch dieser Einwand lässt sich als wissenschaftlich irrelevant entkräften.

 

RICHARD BENTALL

(Professor für klinische Psychologie an der Universität Sheffield),

Journal of Medical Ethics, 1992

 

 

Der bedeutende Schweizer Psychiater Carl Jung sagte dies hier:

»Man tut ja alles, auch das Absurdeste, um der eigenen Seele zu entgehen.«1

 

 

Er sagte jedoch auch:

»Wer nach innen schaut, erwacht.«2

 

 

Vorbemerkung der Autorin

 

Dieses Buch fragt: »Was verändert uns?« Und gibt als Antwort: »Unsere Beziehung zu anderen Menschen.« Die Art von Beziehung, über die ich hier schreibe, nämlich die Beziehung zwischen Therapeut und Patient, setzt eine unerschütterliche Vertrauensbasis voraus, damit es zu Veränderungen kommen kann. Daher habe ich für dieses Buch nicht nur das schriftliche Einverständnis aller Betroffenen eingeholt, sondern auch sehr viel Mühe darauf verwendet, ihre Anonymität zu wahren und keine Einzelheiten preiszugeben, anhand derer sie identifiziert werden könnten. In einigen Fällen wurden Geschichten und Erlebnisse, die aus der Arbeit mit mehreren Patienten stammen, einer einzigen Person zugeschrieben. All diese Änderungen habe ich sorgsam erwogen und gewissenhaft ausgewählt, um einerseits den Geist der Geschichten zu wahren, andererseits dem übergeordneten Zweck dieses Buches zu dienen: das aufzuzeigen, was uns als Menschen verbindet, damit wir uns selbst erkennen können. Was heißt: Wenn Sie sich in den folgenden Seiten zu finden glauben, ist das ebenso Zufall wie Absicht.

Ein Wort noch zur hier verwendeten Begrifflichkeit: Menschen, die eine Therapie machen, werden auf unterschiedliche Weise bezeichnet, die gebräuchlichsten Namen sind Patient beziehungsweise Klient. Ich glaube allerdings, dass keiner dieser Begriffe in Gänze das Wesen der Beziehung erfasst, die ich zu den Menschen habe, mit denen ich arbeite. Nun ist aber die Menschen, mit denen ich arbeite recht sperrig und Klient verwirrend wegen der vielen anderen Bedeutungen des Begriffs. Der Einfachheit und Klarheit halber verwende ich in diesem Buch deshalb durchgehend den Begriff Patient.

 

 

Inhalt

 

 

Teil I

Alles Idioten

Wenn die Königin Eier hätte

Schrittweise

Die Kluge oder die Heiße

Namaste im Bett

Wie ich Wendell fand

Der Beginn des Wissens

Rosie

Ein Schnappschuss unseres Selbst

Die Zukunft ist auch die Gegenwart

Goodbye, Hollywood

Willkommen in Holland

Wie Kinder mit Trauer umgehen

Harold und Maude

Keine Mayo

Da stimmt einfach alles

Ohne Erinnerung oder Wunsch

 

 

Teil II

Freitags um vier

Wovon wir träumen

Das erste Eingeständnis

Therapie mit Kondom

Im Gefängnis

Trader Joe’s

Hallo, Familie

Der UPS-Typ

Peinliche Begegnungen in der Öffentlichkeit

Wendells Mutter

Süchtig

Der Vergewaltiger

Die Uhr

 

 

Teil III

Mein wandernder Uterus

Notfallsitzung

Karma

Einfach nur sein

Was wäre dir lieber …

Die Bedürfnisgeschwindigkeit

Existenzielle Grundtatsachen

Legoland

Wie Menschen sich verändern

Väter

Integrität versus Verzweiflung

Mein Neshama

Dinge, die man Sterbenden besser nicht sagt

E-Mail vom Freund

Wendells Bart

 

 

Teil IV

Die Bienen

Kenia

Psychologisches Immunsystem

Beratung versus Therapie

Todzill

Lieber Myron

Mütter

Die Umarmung

Verschnaub’s nicht

Es ist meine Party, und Sie dürfen weinen, wenn Sie möchten

Das Glück liegt im Manchmal

Wendell

Eine kurze Pause im Gespräch

 

 

Danksagung

 

 

Teil I

 

 

Nichts ist erfreulicher, als von einer Qual befreit zu werden, und doch ist nichts erschreckender, als seine Krücke zu verlieren.

JAMES BALDWIN3

 

 

1

 

Alles Idioten

 

PATIENTENNOTIZ JOHN:

Patient gibt an, er fühle sich »total gestresst«, außerdem schlafe er schlecht und habe Schwierigkeiten mit seiner Frau. Der Patient berichtet, andere Menschen würden ihm auf die Nerven gehen. Er sucht Hilfe, »um mit all den Idioten zurechtzukommen«.

 

 

Zeige Mitgefühl.

Tief durchatmen.

Zeige Mitgefühl, zeige Mitgefühl, zeige Mitgefühl …

Wie ein Mantra wiederhole ich diesen Satz im Geist, während mir dieser vierzigjährige Mann gegenübersitzt und von all den Leuten in seinem Leben erzählt, die »Idioten« sind. Warum, will er wissen, gibt es auf der Welt nur so viele Idioten? Werden sie schon so geboren? Oder werden sie erst später dazu? Vielleicht, so grübelt er, hat es ja was mit den vielen künstlichen Zusatzstoffen zu tun, die wir heutzutage mit unserem Essen abbekommen.

»Darum versuche ich, mich biologisch zu ernähren«, erklärt er mir. »Damit ich nicht so ein Idiot werde wie all die anderen.«

Langsam verliere ich den Überblick, von welchem der vielen Idioten er gerade spricht: dem Dentalhygieniker, der zu viele Fragen stellt (»und keine rhetorischen«); dem Kollegen, der immer nur Fragen stellt (»Der sagt nie: ›So oder so ist es. Punkt.‹ Das würde ja heißen, dass er was zu sagen hat«); dem Fahrer des Autos vor ihm, der bei Gelb an der Ampel hielt (»Kommt gar nicht erst auf die Idee, dass andere es vielleicht eilig haben könnten«); dem Techniker von der Genius Bar bei Apple, der Johns Laptop nicht reparieren konnte (»Echt ein Genie, der Mann!«).

»John«, versuche ich gerade einzuwerfen, aber da legt er los und erzählt mir lang und breit eine Geschichte über seine Frau. Ich komme nicht einmal zu Wort, dabei ist er eigentlich zu mir gekommen, damit ich ihm helfe.

Ich übrigens bin seine neue Therapeutin. (Sein voriger Therapeut – »nett, aber ein Idiot« – konnte sich gerade mal drei Sitzungen halten.)

»Und dann wird Margo wütend – können Sie sich das vorstellen?«, erzählt er mir. »Aber sie sagt nicht, dass sie wütend ist. Sie verhält sich nur wütend und erwartet, dass ich sie frage, was sie hat. Aber ich weiß genau, wenn ich sie frage, dann sagt sie die ersten drei Mal nur ›Nichts‹. Und beim vierten oder fünften Mal sagt sie dann vielleicht: ›Du weißt ganz genau, was los ist.‹ Worauf ich dann sage: ›Nein, weiß ich nicht, sonst würde ich ja wohl nicht fragen!‹«

Er lächelt. Breit. Ich will versuchen, mit diesem Lächeln zu arbeiten – mir ist alles recht, was diesen Monolog in einen Dialog verwandelt und mir ermöglicht, eine Verbindung zu ihm herzustellen.

»Ich würde gerne verstehen, warum Sie gerade lächeln«, sage ich. »Gerade eben haben Sie mir erzählt, über wie viele Leute, Margo eingeschlossen, Sie sich ärgern. Und trotzdem lächeln Sie.«

Sein Lächeln wird noch breiter. Weißere Zähne als seine habe ich noch nie gesehen. Sie schimmern wie Perlen. »Ich lächle, weil ich genau weiß, was meine Frau aufregt, Sherlock.«

»Ah!«, entgegne ich. »Also …«

»Stopp, stopp!«, unterbricht er mich. »Das Beste kommt noch. Also, wie gesagt, ich weiß ganz genau, was los ist, aber ich habe einfach keine Lust, mir wieder einen ihrer Vorwürfe anzuhören. Also frage ich nicht nach, sondern gehe stattdessen zur Tagesordnung über …«

Er verstummt und guckt auf die Uhr im Bücherregal hinter mir.

Ich würde diese Gelegenheit gern nützen, um John zu bremsen. Ich könnte ihn darauf ansprechen, dass er gerade auf die Uhr gesehen hat. (Fühlt er sich hier vielleicht gehetzt?) Oder dass er mich eben Sherlock genannt hat. (Hat er sich über mich geärgert?) Ich könnte auch mehr an der Oberfläche bleiben, bei dem, was wir in der Psychologie die »Patientenschilderung« nennen, bei der Geschichte, die er erzählt. Ich könnte zum Beispiel versuchen zu verstehen, warum er Margos Gefühle mit Vorwürfen gleichsetzt. Bliebe ich aber bei dieser Schilderung, so würden wir in dieser Sitzung überhaupt keinen Draht zueinander bekommen, denn John ist, wie mir allmählich klar wird, ein Mensch, der Probleme damit hat, eine Verbindung zu den Menschen in seinem Leben herzustellen.

»John«, versuche ich einen neuen Anlauf. »Vielleicht könnten wir uns mal anschauen, was gerade passiert ist …«

»Ja, gut.« Er schneidet mir das Wort ab. »Ich habe ja noch zwanzig Minuten.«

Ich spüre den Anflug eines Gähnens, eines ordentlichen Gähnens. Nach meinem Empfinden braucht es schier übermenschliche Kräfte, um meine Kiefer zusammenzuhalten wie in einem Schraubstock. Ich spüre, wie meine Muskeln sich sträuben und mein Gesicht zu den seltsamsten Grimassen verlocken, aber zum Glück kann ich dem Impuls zu gähnen standhalten. Was mir aber dummerweise entfährt, ist ein Rülpser, und ein lauter noch dazu. Als wäre ich betrunken. (Bin ich nicht. Im Moment habe ich zwar selbst einige Probleme, aber Alkoholismus gehört nicht dazu.)

Der Rülpser reißt meine Lippen auseinander. Ich presse sie so fest zusammen, dass meine Augen zu tränen beginnen.

John scheint von alldem nichts mitbekommen zu haben. Logisch, er schimpft immer noch über Margo. Margo hat dies gemacht. Margo hat jenes getan. Ich habe dies gesagt. Sie jenes. Also habe ich gesagt …

Während meiner Ausbildung hat mir eine meiner Supervisorinnen einmal gesagt: »Jeder Mensch hat etwas Liebenswertes.« Und zu meiner großen Überraschung stellte ich später fest, dass sie damit recht hatte. Es ist unmöglich, einen Menschen immer besser kennenzulernen und ihn nicht irgendwann zu mögen. Wir sollten alle Feinde auf Erden nehmen und sie miteinander in einen Raum setzen, damit sie sich ihre Geschichten erzählen, die Erfahrungen, die sie geprägt haben, ihre Ängste und ihre Kämpfe. Dann würden die Kontrahenten weltweit endlich miteinander auskommen. Ich habe buchstäblich an jedem Menschen, mit dem ich als Therapeutin gearbeitet habe, etwas Liebenswertes gefunden, sogar an dem Mann, der einen Mordversuch beging. (Unter seiner Wut steckte ein echter Schatz von einem Menschen.)

Daher nahm ich es John nicht krumm, dass er mir in der Woche zuvor, bei unserer ersten Sitzung, erklärt hatte, er komme zu mir, weil ich hier in Los Angeles ein »Niemand« sei. Was heißen sollte, dass ihm keiner seiner Kollegen aus der Fernsehbranche über den Weg laufen würde, wenn er zur Behandlung käme. Seine Kollegen, mutmaßte er, würden zu »bekannten, erfahrenen Therapeuten« gehen. Ich notierte diese Bemerkung zum Zwecke einer späteren Verwendung, dann nämlich, wenn er bereit wäre, sich mir gegenüber zu öffnen. Ich zuckte auch nicht zusammen, als er mir am Ende unserer Stunde ein Bündel Geldscheine in die Hand drückte und meinte, er würde lieber bar bezahlen, weil seine Frau nicht wissen solle, dass er eine Therapie machte.

»Sie werden so was wie meine Geliebte sein«, konstatierte er. »Na ja, eigentlich eher meine Nutte. Nichts für ungut, aber Sie sind nicht der Typ Frau, den ich zur Geliebten nehmen würde … wenn Sie wissen, was ich meine.«

Ich wusste nicht, was er meinte. (Jemanden, der blonder war? Jünger? Mit weißeren, strahlenderen Zähnen?) Doch ich nahm an, dass dies einer von Johns Abwehrmechanismen war, mit denen er jede Form von Nähe abblockte und vor sich selbst leugnete, dass er andere Menschen brauchen könnte.

»Haha, meine Nutte«, lachte er und blieb in der Tür stehen. »Ich komme einfach einmal pro Woche hierher, lade sämtlichen Frust ab, der sich aufgestaut hat, und keiner weiß es! Ist das nicht lustig?«

Oh ja, wollte ich schon sagen, superlustig.

Trotzdem war ich zuversichtlich, wie ich ihn so lachend über den Gang entschwinden hörte, dass ich auch John langsam, aber sicher mögen würde. Hinter der abstoßenden Fassade würde bestimmt etwas Nettes, ja vielleicht sogar Schönes zum Vorschein kommen.

Aber das war letzte Woche gewesen.

Heute scheint es, dass er schlicht und einfach nur ein Arschloch ist. Ein Arschloch mit Wahnsinnszähnen.

Zeige Mitgefühl, zeige Mitgefühl, zeige Mitgefühl. Ich wiederhole still mein Mantra und konzentriere mich wieder auf John. Jetzt erzählt er von einem Typen aus dem Team seiner Sendung, der irgendetwas falsch gemacht hat. (In Johns Version der Geschichte firmiert dieser Mann nur unter: »der Idiot«.) Und in ebendiesem Moment fällt mir etwas auf: Johns Schimpftiraden klingen geradezu unheimlich vertraut. Nicht die einzelnen Vorfälle, aber die Emotionen, die sie in ihm auslösen – und in mir. Ich weiß, wie viel Selbstbestätigung ich daraus ziehen kann, der Welt da draußen die Schuld zu geben für etwas, das mich frustriert. Zu leugnen, dass ich in dem existenziellen Drama namens Mein unglaublich bedeutsames Lebens eine wie auch immer geartete aktive Rolle spiele. Ich weiß, wie es sich anfühlt, mit selbstgerechter Entrüstung in der Gewissheit zu schwelgen, dass ich im Recht bin und mir auf schreckliche Weise Unrecht widerfahren ist, denn genauso habe ich mich den ganzen Tag über gefühlt.

Was John nicht weiß, ist, dass ich total fertig bin, weil am Abend zuvor der Mann, von dem ich glaubte, dass er mich heiraten würde, aus heiterem Himmel mit mir Schluss gemacht hat. Heute versuche ich nun, mich ganz auf meine Patienten zu konzentrieren (und erlaube mir nur in den zehn Minuten Pause zwischen zwei Sitzungen zu heulen, worauf ich sorgfältig alle verräterischen Spuren von verlaufener Wimperntusche beseitige, bevor der nächste Patient meine Praxis betritt). Mit anderen Worten: Ich gehe mit meinem Schmerz so um, wie ich vermute, dass John mit dem seinen umgeht – ich überspiele ihn.

Als Therapeutin weiß ich so einiges über Schmerz und seine Verbindung mit Verlusterfahrungen. Aber ich weiß darüber hinaus noch etwas, das weniger häufig gesehen wird: dass Veränderung und Verlust stets Hand in Hand gehen. Veränderung ist ohne Verlust nicht zu haben. Darum sagen so viele Menschen, sie würden sich gerne ändern, nur um dann doch so zu bleiben, wie sie waren. Um John helfen zu können, muss ich herausfinden, welchen Verlust er erlitten haben könnte. Aber zuerst muss ich meinen eigenen Verlust verstehen. Denn im Moment kann ich nur an das denken, was mein Freund gestern Abend getan hat.

Dieser Idiot!

Ich sehe John an und denke: »Ich fühle mit dir, Bruder.«

 

Jetzt denken Sie vielleicht: Moment mal, wieso erzählen Sie mir das alles? Sollten Therapeuten ihr Privatleben nicht für sich behalten? Sollten sie nicht wie ein unbeschriebenes Blatt Papier sein, das nichts über sich verrät, schlichte objektive Beobachter, die sich nicht einmal in Gedanken dazu hinreißen lassen, ihre Patienten zu verspotten? Und überhaupt. Ich dachte, Therapeuten hätten ihr Leben im Griff?

Einerseits ja, stimmt schon. Was im Behandlungsraum passiert, sollte zum Nutzen und Wohle des Patienten geschehen, und wenn ein Therapeut nicht in der Lage ist, seine Probleme und die Probleme der Leute, die zu ihm kommen, sauber zu trennen, dann sollte er oder sie sich einen anderen Job suchen, gar keine Frage.

Andererseits aber sei jetzt und an dieser Stelle zwischen Ihnen und mir eines unmissverständlich gesagt: Was Sie hier lesen, ist keine Therapie, sondern eine Geschichte über Therapie: darüber, wie wir heilen können und wohin uns das führt. Ähnlich wie die National Geographic-Sendungen, welche die Embryonalentwicklung und das Schlüpfen seltener Krokodilbabys dokumentieren, möchte ich den Entwicklungsprozess nachzeichnen, bei dem Menschen um ihre Entfaltung ringen und gegen ihre Schale klopfen, bis diese langsam (manchmal aber auch urplötzlich), still und leise (manchmal auch mit Getöse) aufbricht.

Vielleicht mag das Bild, wie mir zwischen zwei Sitzungen die Wimperntusche über mein tränenüberströmtes Gesicht läuft, nicht schön sein, aber das ist eben genau der Punkt, an dem diese Geschichte über eine Handvoll sich abmühender Menschen, die Sie auf den folgenden Seiten kennenlernen werden, einsetzt – bei meiner eigenen menschlichen Natur.

Selbstverständlich schlagen Therapeuten sich genauso mit den täglichen Herausforderungen des Lebens herum wie alle anderen Menschen auch. Und es ist eben die Vertrautheit mit diesen Schwierigkeiten, aus der die Bande erwachsen, die wir zu Fremden knüpfen, die uns ihre schwierigsten Geschichten und Geheimnisse anvertrauen. Während unserer Ausbildung hat man uns alle nötigen Theorien, Techniken und Instrumentarien vermittelt, doch unter der Oberfläche dieses mit viel Fleiß und Mühe erworbenen Fachwissens schwingt stets und unüberhörbar unser Wissen darum mit, wie schwer es ist, der Mensch zu sein, der man ist. Mit anderen Worten, wenn wir zur Arbeit gehen, bringen wir jeden Tag uns selbst mit: unsere Verletzbarkeit, unsere Sehnsüchte und Unsicherheiten, unseren ganzen Hintergrund. Von all meinen Qualifikationen als Therapeutin ist die wichtigste die, dass ich ein eingetragenes Mitglied der menschlichen Gemeinschaft bin.

Dieses Menschsein auch zu zeigen, ist jedoch eine andere Sache. Eine Kollegin erzählte mir einmal, wie sie in einem Starbucks in Tränen ausgebrochen ist, als ihre Ärztin sie anrief und ihr sagte, das Baby in ihrem Bauch sei nicht lebensfähig. Eine ihrer Patientinnen bekam diese Szene zufällig mit. Sie sagte den nächsten Termin ab und kam nie wieder.

Ich erinnere mich noch an eine Geschichte, die der Psychiater und Autor Andrew Solomon einmal über ein Ehepaar erzählte, das er auf einer Konferenz kennengelernt hatte. Im Laufe des Tages hätten beide Partner ihm unabhängig voneinander anvertraut, sie würden Antidepressiva nehmen, möchten aber nicht, dass der andere dies erfahre. Es stellte sich heraus, dass sie sogar dasselbe Medikament im selben Haus voreinander versteckten. Wie freimütig unsere Gesellschaft einstmals private Angelegenheiten auch diskutieren mag, das Stigma, das seelischen Problemen anhaftet, ist nach wie vor enorm. Wir reden mit fast jedem über unsere körperliche Gesundheit (oder können Sie sich vorstellen, dass Ehepartner ihre Säureblocker voreinander verstecken?), ja sogar über unser Sexualleben. Aber sprechen Sie mal Angstzustände, Depressionen oder unbewältigte Trauer an. Dann erscheint vermutlich auf dem Gesicht Ihres Gegenübers ein Ausdruck, der deutlich sagt: »Lass mich bloß mit diesem Zeug in Ruhe!«

Wovor aber haben wir solche Angst? Es ist ja nicht so, als würden wir in diese dunkleren Ecken gucken, das Licht anknipsen, und dort eine Kolonie Kakerlaken entdecken. Auch Glühwürmchen lieben das Dunkel, was bedeutet, dass sich auch an solchen Orten Schönheit verbirgt. Doch wir müssen uns erlauben hinzuschauen, um sie zu sehen.

In meinem Therapeutenberuf geht es eben darum: ums Hinschauen.

Und zwar nicht nur bei meinen Patienten.

 

Darüber hört man fast nie etwas: Auch Therapeuten gehen zum Therapeuten. Es gehört sogar zum Pflichtprogramm unserer Ausbildung. Wir müssen selbst eine bestimmte Anzahl Therapiestunden absolvieren, um unsere Zulassung zu bekommen und am eigenen Leib zu erfahren, wie sich die Patientenrolle anfühlt. Wir lernen, wie man Feedback annimmt, negative Gefühle aushält und sich seiner eigenen blinden Flecken bewusst wird. Wir legen dabei auch frei, welchen Einfluss unser persönlicher Hintergrund und unsere Verhaltensmuster auf uns selbst und andere haben.

Aber dann erhalten wir unsere Zulassung, die Leute kommen und suchen bei uns Rat, und wir … machen immer noch Therapie. Nicht unbedingt permanent, aber während unseres Berufslebens sitzt der Großteil unserer Zunft immer mal wieder bei einem Kollegen auf der Couch. Teils, um über die emotionalen Auswirkungen unseres Jobs zu reden, teils aber auch, weil auch uns das Leben kalt erwischt und die Therapie uns hilft, uns unseren Dämonen zu stellen, wenn sie uns heimsuchen.

Und sie suchen uns heim, denn jeder Mensch hat Dämonen in allen Formen und Gestalten – große, kleine, alte, neue, leise, laute. Dass wir alle unsere Dämonen haben, ist aber andererseits ein Beleg dafür, dass wir keine Sonderfälle sind. Und diese Erkenntnis ermöglicht uns, ein anderes Verhältnis zu unseren eigenen Dämonen zu entwickeln. Wir versuchen nicht länger, lästige innere Stimmen wegzurationalisieren oder unsere Gefühle mit zu viel Alkohol, Essen oder stundenlangem Internetsurfen zu betäuben. (Letztere Ablenkungstechnik bezeichnet eine Kollegin von mir als das »beste frei erhältliche Schmerzmittel mit Kurzzeitwirkung«.)

Einer der wichtigsten Schritte in einer Therapie ist es, den Menschen dabei zu helfen, die Verantwortung für ihre momentanen Schwierigkeiten zu übernehmen, denn sobald sie erkennen, dass sie ihr Leben in die Hand nehmen können (und müssen), erobern sie sich auch die Freiheit, Dinge zu verändern. Im Normalfall jedoch schleppen die Menschen die Überzeugung mit sich herum, der Großteil ihrer Probleme sei umstands- beziehungsweise situationsbedingt, mit anderen Worten: fremdverursacht. Und wenn meine Probleme von wem oder was auch immer kommen, auf jeden Fall von da draußen, warum sollte ich mir dann die Mühe machen, mich zu ändern? Und selbst wenn ich beschließe, mich und mein Verhalten zu ändern, verhält sich nicht der Rest der Welt immer noch wie eh und je?

Das ist ein berechtigter Einwand. Doch so funktioniert das Leben im Allgemeinen nicht.

Erinnern Sie sich an Sartres berühmten Satz »Die Hölle, das sind die anderen«?4 Es stimmt schon, die Welt ist voller schwieriger Zeitgenossen (oder wie John sie nennen würde: »Idioten«). Ich wette, Sie könnten mir sofort aus dem Stegreif fünf Namen von wirklich schwierigen Menschen nennen – Leute, um die Sie geflissentlich einen großen Bogen machen. Oder machen würden, hätten sie nicht dummerweise denselben Nachnamen wie Sie. Doch manchmal, und zwar öfter, als wir uns bewusst zu machen geneigt sind, sind wir diese schwierigen Zeitgenossen.

Ja – manchmal sind wir die Hölle.

Manchmal sind wir die Ursache unserer Schwierigkeiten. Und wenn wir es schaffen, uns nicht mehr im Weg zu stehen, dann geschieht ganz Erstaunliches.

Ein Therapeut hält seinen Patienten den Spiegel vor, wie Patienten auch ihren Therapeuten den Spiegel vorhalten. Therapie ist keine Einbahnstraße, sondern vielmehr ein wechselseitiger Prozess. Täglich stellen unsere Patienten uns vor neue Fragen, über die wir selbst erst nachdenken müssen. Sehen sie sich klarer durch das, was wir ihnen spiegeln, so sehen auch wir uns klarer durch ihre Spiegelung. Das passiert unweigerlich mit uns Therapeuten, wenn wir jemanden therapieren, und es passiert genauso mit unseren eigenen Therapeuten. Wir sind Spiegel, die Spiegel spiegeln, welche wiederum Spiegel spiegeln. So zeigen wir einander, was wir noch nicht sehen können.

 

***

 

Was mich wieder zurück zu John bringt. Derartige Überlegungen beschäftigen mich heute allerdings nicht. Für mich ist es einfach nur ein schwieriger Tag mit einem schwierigen Patienten. Und was die ganze Sache noch schlimmer macht: Vor John war eine junge, frisch verheiratete Frau da, die an Krebs stirbt. Nach einem solchen Termin noch eine andere Therapiesitzung zu machen, ist ohnehin nicht ideal, besonders dann nicht, wenn man nicht viel Schlaf bekommen hat, Heiratspläne den Bach runtergegangen sind und man trotzdem weiß, dass der eigene Schmerz bedeutungslos ist verglichen mit dem dieser unheilbar kranken Frau. Und doch spürt (durchaus unbewusst), dass der eigene Schmerz so bedeutungslos auch wieder nicht ist, weil man vor einer bedeutenden Umwälzung steht.

Zur selben Zeit, vielleicht eine Meile entfernt, behandelt ein Therapeut namens Wendell ebenfalls Patienten in seiner Praxis, die in einem malerischen Backsteinbau in einer schmalen Einbahnstraße liegt. Einer nach dem anderen setzen sie sich auf seine Couch, mit Blick auf den lieblichen Garten im Innenhof, erzählen dieselben Dinge, die mir meine Patienten in einem der oberen Stockwerke eines gläsernen Büroturms erzählen. Wendells Patienten kommen seit Wochen, Monaten oder vielleicht schon seit Jahren zu ihm, ich aber muss ihm erst noch begegnen. Tatsächlich habe ich an diesem Punkt noch nicht einmal von ihm gehört. Aber das wird sich ändern.

Ich bin nämlich im Begriff, Wendells neue Patientin zu werden.

 

 

2

 

Wenn die Königin Eier hätte

 

PATIENTENNOTIZ LORI:

Patientin, Mitte vierzig, strebt eine Behandlung an, weil sie eine unerwartete Trennung nur schwer verkraftet hat. Sagt, sie »braucht einfach ein paar Sitzungen, um das hinter sich zu bringen«.

 

 

Es geht schon los mit der akuten Problematik.

Definitionsgemäß ist die »akute Problematik« diejenige, welche eine Person dazu bringt, einen Therapeuten aufzusuchen. Das kann eine Panikattacke sein, eine Kündigung, ein Todesfall, eine Geburt oder ein Beziehungsproblem. Vielleicht auch die Unfähigkeit, eine wichtige Lebensentscheidung zu treffen, oder eine depressive Verstimmung. Manchmal ist die akute Problematik auch gar nicht so klar – der Patient hat das Gefühl, »festzustecken«, oder den vagen, aber stetigen Eindruck, dass etwas nicht stimmt.

Wie auch immer das Problem aussieht, es ist gewöhnlich »akut«, weil der betreffende Mensch an einem Wendepunkt in seinem Leben angelangt ist. »Soll ich jetzt nach rechts oder nach links gehen? Versuche ich, den Status quo aufrechtzuerhalten, oder wage ich mich auf unbekanntes Terrain?« (Seien Sie gewarnt: Eine Therapie wird Sie immer auf unbekanntes Terrain führen, selbst wenn Sie lieber den Status quo aufrechterhalten möchten.)

Aber um diesen Wendepunkt geht es den Menschen nicht, wenn sie zu ihrer ersten Therapiesitzung kommen. Meistens suchen sie einfach nur nach Linderung. Sie wollen Ihnen ihre Geschichte erzählen, beginnend mit der akuten Problematik.

Also lassen Sie mich Ihnen von der Sache mit meinem Freund erzählen.

 

***

 

Das Erste, was Sie zum Thema Freund wissen müssen, ist, dass es sich bei ihm um jemanden mit ganz außerordentlichen menschlichen Qualitäten handelt. Er ist liebevoll, großzügig, witzig und klug. Und wenn er Sie nicht gerade zum Lachen bringt, fährt er um zwei Uhr morgens in die Apotheke und besorgt Ihnen das Antibiotikum, auf das Sie keinesfalls bis zum Morgen warten können. Ist er gerade im Supermarkt, schickt er Ihnen eine Nachricht, ob Sie irgendwas brauchen. Und wenn Sie dann »Waschmittel« zurückschreiben, bringt er Ihnen noch Ihre Lieblings-Fleischbällchen mit und zwanzig Flaschen Ahornsirup für die Waffeln, die er für Sie zubereitet – und zwar weder tiefgekühlt noch als Backmischung. Und natürlich trägt er die zwanzig Flaschen in die Küche, um neunzehn davon im Hochschrank zu verstauen, an den Sie nicht rankommen. Die zwanzigste Flasche aber lässt er auf der Arbeitsfläche stehen, griffbereit für Sie am nächsten Morgen.

Er hinterlässt Ihnen kleine, süße Botschaften auf dem Tisch, hält Ihre Hand und öffnet Ihnen die Tür. Und natürlich beschwert er sich nie, wenn er zu Familienfeiern geschleppt wird, weil er Ihre Verwandten einfach liebt, selbst die Neugieriegen und Älteren unter ihnen. Ohne ersichtlichen Grund schickt er Ihnen per Amazon riesige Buchpakete (weil Bücher für Sie denselben Stellenwert haben wie bei anderen Leuten Blumen) und kuschelt sich mit Ihnen abends ins Bett, wo Sie einander laut bestimmte Passagen vorlesen – unterbrochen nur von der honigsüßen Leidenschaft Ihrer Küsse. Während Sie bis zum Exzess Netflix gucken, massiert er sachte jene Stelle an Ihrem Rücken, wo sich schleichend eine leichte Skoliose gebildet hat. Und wenn er aufhört und Sie ihn zärtlich stupsen, massiert er genau sechzig köstliche Sekunden weiter, bevor er sich rauswindet, ohne dass Sie es merken (oder auch nur so tun, als ob). Er lässt Sie seine Sandwiches fertigessen, seine Sätze vollenden und seine Sonnencreme aufbrauchen und hört Ihnen, wenn Sie von Ihrem Tag berichten, so aufmerksam zu, als schriebe er eine Biografie über Sie. Am Ende weiß er mehr über Ihr Leben als Sie selbst.

Sollten Sie jetzt den Eindruck haben, dieses Porträt sei irgendwie schief, dann muss ich Ihnen beipflichten: ja, stimmt. Es gibt viele Arten, eine Geschichte zu erzählen, und wenn ich als Psychologin eines gelernt habe, dann dieses, dass Menschen das sind, was Therapeuten »unzuverlässige Erzähler« nennen. Das soll nicht heißen, dass Patienten Sie absichtlich in die Irre führen. Es liegt eher daran, dass jede Geschichte mehrere rote Fäden hat und Ihre Patienten die Stränge weglassen, die sich nicht mit ihrer Sicht der Dinge vertragen. Der Großteil dessen, was meine Patienten mir berichten, ist absolut wahr – aus ihrer momentanen Sicht. Erkundigen Sie sich nach dem Partner, einmal während der Flitterwochen und später noch einmal, nach der Scheidung – Sie werden in beiden Fällen jeweils nur die Hälfte der Geschichte erfahren.

Was Sie gerade über den Freund gehört haben? Genau, die Sonnenseite.

 

***

 

Und nun zur Schattenseite: Ein Werktag, zehn Uhr abends. Wir liegen im Bett und plaudern. Wir haben eben ausgemacht, welchen Film wir uns am Wochenende ansehen wollen und Kinokarten bestellt. Da wird der Freund plötzlich merkwürdig still.

»Bist du müde?«, frage ich. Wir sind beide beruflich enorm geforderte, alleinerziehende Eltern Mitte vierzig, also ist eine erschöpfte Stille nicht ungewöhnlich. Selbst wenn wir nicht fix und fertig sind, fühlt sich das stille Beieinandersein angenehm friedlich und entspannend an. Wenn Sie je verliebt waren, wissen Sie, von welcher Art Stille ich spreche: Stille auf einer Frequenz, die nur ein Mensch wahrnimmt, der Ihnen viel bedeutet.

»Nein«, sagt er. Es ist nur eine Silbe, aber seine Stimme zittert ein wenig. Es folgt noch mehr beunruhigendes Schweigen. Ich schaue ihn an. Er schaut zurück. Er lächelt, ich lächle. Und immer noch der laute Widerhall dieses Schweigens, unterbrochen nur vom Scharren seines Fußes unter der Bettdecke. Jetzt bin ich alarmiert. In meiner Praxis bin ich die Marathonschweigerin, wenn nötig, aber in meinem Bett bringe ich es auf höchstens drei Sekunden.

»Hey, ist irgendwas?«, frage ich und versuche, mich so beiläufig wie möglich anzuhören, aber im Grunde ist die Frage rein rhetorisch. Die Antwort darauf lautet offensichtlich Ja, denn in der ganzen Weltgeschichte ist darauf noch nie eine tröstliche Antwort gefolgt. Wenn Paare zu mir in die Therapie kommen, selbst wenn sie am Anfang manchmal Nein sagen, stellt sich irgendwann die wahre Antwort heraus, die eine Variation über folgende Themen ist: Ich habe dich betrogen. Ich habe die Kreditkarten überzogen. Meine alte Mutter wird bei uns leben. Oder schlicht: Ich liebe dich nicht mehr.

Der Freund bildet keine Ausnahme von dieser Regel.

Er sagt: »Ich habe entschieden, dass ich die nächsten zehn Jahre nicht mit einem Kind unter einem Dach leben möchte.«

Ich habe entschieden, dass ich die nächsten zehn Jahre nicht mit einem Kind unter einem Dach leben möchte?

Ich breche in Gelächter aus. Ich weiß, dass an diesem Satz nichts Witziges ist, aber angesichts der Tatsache, dass wir unsere Leben miteinander verbringen wollen und ich einen achtjährigen Sohn habe, hört sich der Satz so lächerlich an, dass ich den Schluss ziehe, es könne sich nur um einen Scherz handeln.

Der Freund sagt nichts, also höre ich auf zu lachen. Ich sehe ihn an. Er schaut weg.

»Wovon zum Teufel redest du? Was soll das heißen, du möchtest in den nächsten zehn Jahren nicht mit einem Kind zusammenleben?«

»Es tut mir leid«, sagt er.

»Leid? Weswegen?«, frage ich und kapiere immer noch nichts. »Du meinst es also ernst? Du willst nicht, dass wir zusammen sind?«

Er erklärt, dass er durchaus mit mir zusammen sein will, aber jetzt, wo seine Kinder im Teenageralter sind und ausziehen, um an die Uni zu gehen, sei ihm klar geworden, dass er nicht weitere zehn Jahre warten möchte, bis das Nest leer ist.

Mir klappt die Kinnlade runter. Buchstäblich. Ich spüre, wie mein Mund sich öffnet und mir eine Weile der Unterkiefer herabhängt. Es ist das erste Mal, dass er das mir gegenüber anspricht, daher braucht meine Kinnlade ein wenig, bis sie in Normalstellung zurückfindet und ich sprechen kann. Mein Kopf sagt: »Wiiieee bitte?«, aber aus meinem Mund kommt: »Wie lange empfindest du schon so? Wenn ich jetzt nicht nachgehakt hätte, ob etwas nicht stimmt, wann hattest du vor, mir das zu sagen?« Und ich denke, das kann jetzt ja wohl nicht wahr sein, denn vor wenigen Minuten haben wir noch gemeinsam den Film fürs Wochenende ausgesucht. Wir wollten dieses Wochenende zusammen verbringen. Und ins Kino gehen!

»Ich weiß nicht«, sagt er kleinlaut. Er zuckt mit den Schultern, obwohl seine Schultern sich dabei nicht bewegen. Sein ganzer Körper ist ein einziges Schulterzucken. »Es war eben nie der richtige Zeitpunkt, um das Thema anzusprechen.« (Wenn meine Therapeuten-Freunde diesen Teil der Geschichte hören, fällt unweigerlich die Diagnose »unsicher-vermeidender Bindungstyp«. Wenn meine Nicht-Therapeuten-Freunde sie hören, fällt unweigerlich die Diagnose »Arschloch«.)

Noch mehr Schweigen.

Ich fühle mich, als würde ich von oben auf diese Szene herabschauen: Eine verwirrte Version meiner selbst durchläuft in Blitzgeschwindigkeit die berühmten Phasen der Trauer: Leugnen, Wut, Verhandeln, Depression und Akzeptanz. Wenn mein Lachen das Leugnen war, mein »Wann zum Teufel wolltest du mir das sagen?« die Wut, dann ist jetzt Verhandeln an der Reihe. Wie sollen wir das dann regeln, will ich wissen. Soll ich mich noch mehr selbst um das Kind kümmern? Oder einfach einen weiteren Abend einplanen, an dem nur er und ich uns verabreden?

Der Freund schüttelt den Kopf. Seine Teenager stehen nicht um sieben Uhr morgens auf, um Lego zu spielen, sagt er. Er freue sich darauf, endlich seine Freiheit zu haben, und er wolle an den Wochenenden morgens einfach in Ruhe ausspannen. Völlig egal, dass mein Sohn alleine mit seinen Legosteinen spielt. Das Problem scheint zu sein, dass mein Sohn gelegentlich ruft: »Schau mal, mein Lego! Guck, was ich gemacht habe!«

»Es geht doch einfach darum«, sagt der Freund, »dass ich morgens keine Legobauten anschauen will. Ich will einfach nur Zeitung lesen.«

Ich überlege, ob vielleicht ein Alien vom Körper des Freundes Besitz ergriffen hat oder er möglicherweise einen Gehirntumor hat und diese abrupte Persönlichkeitsveränderung das erste klare Symptom ist. Ich frage mich, wie er wohl reagieren würde, wenn ich mit ihm Schluss machte, nur weil seine Teenie-Töchter mir ihre Leggins von Forever 21 vorführen, während ich versuche, ein Buch zu lesen. »Ich will mir die Leggins nicht anschauen. Ich will einfach nur mein Buch lesen.« Welcher Typ Mensch seilt sich ab, bloß, weil er keine Lust hat, sich was anzugucken?

»Ich dachte, du wolltest mich heiraten«, bringe ich kläglich hervor.

»Ich will dich ja auch heiraten«, antwortet er. »Ich will nur nicht mit einem Kind leben.«

Ich denke eine Sekunde lang über diese Äußerung nach, als müsste ich ein Rätsel lösen. Ganz wie die Art von Rätsel, welche die Sphinx den Leuten stellte, bevor sie sie auffraß.

»Aber ich habe nun mal ein Kind«, sage ich und werde langsam lauter. Ich bin so unglaublich wütend, weil er das Thema jetzt erst anschneidet, ja weil er es überhaupt anspricht. »Du kannst mich nicht à la carte bestellen wie einen Burger ohne Fritten, wie ein …« Ich denke an all die Patienten, die mir ihr ideales Szenario ausmalen und darauf bestehen, dass sie nur so und nicht anders glücklich werden können: Wenn er das BWL-Studium nicht abgebrochen hätte, um Schriftsteller zu werden, wäre er mein Traummann. (Also mache ich mit ihm Schluss und gehe mit Hedgefonds-Managern aus, die mich zu Tode langweilen.) Läge die neue Arbeitsstelle nicht auf der anderen Seite des Flusses, wäre sie wirklich die perfekte Chance für mich. (Also bleibe ich lieber in meiner beruflichen Sackgasse und erzähle Ihnen, wie sehr ich meine Freunde um ihre Karriere beneide.) Hätte sie kein Kind, würde ich sie heiraten.

Natürlich haben wir alle solche absoluten Hinderungsgründe. Aber wenn meine Patienten immer wieder mit dieser Art von Argumenten ankommen, sage ich manchmal: »Und wenn die Königin Eier hätte, wäre sie König.« Wenn Sie als Rosinenpicker durchs Leben spazieren, wenn Sie nicht begreifen, dass »das Perfekte der Feind des Guten ist«, dann verbauen Sie sich den Weg zur Freude. Zuerst reagieren die Patienten immer ein bisschen geschockt, wenn ich so direkt bin, aber schließlich erspart es ihnen monatelange Therapiesitzungen.

»Die Wahrheit ist, ich wollte nie eine Beziehung mit jemandem, der ein Kind hat«, sagt der Freund. »Aber dann habe ich mich in dich verliebt und wusste einfach nicht, was ich tun sollte.«

»Du hast dich doch nicht vor unserem ersten Date in mich verliebt, und da habe ich dir gesagt, dass ich einen sechsjährigen Sohn habe«, gebe ich zurück. »Aber damals wusstest du doch auch, was du tun sollst, oder etwa nicht?«

Noch mehr erstickendes Schweigen.

Wie Sie vielleicht schon erraten haben, führt eine solche Unterhaltung zu nichts. Ich versuche herauszufinden, ob es um eine andere Frau geht – dahinter muss einfach eine andere Frau stecken. Sein Wunsch nach Freiheit hört sich für mich so an wie das altbekannte »Es liegt nicht an dir, es liegt einzig und allein an mir«. (Im Klartext: Es liegt nicht an mir, sondern an dir.) Ist der Freund etwa unglücklich mit einem Aspekt der Beziehung und konnte mir das aus Angst nicht sagen? Ich frage ihn das ganz ruhig und mit sehr sanfter Stimme, weil ich weiß, dass sehr wütende Menschen nicht gerade sehr zugängliche Menschen sind. Aber der Freund besteht darauf, dass es ihm nur darum gehe, nicht weiter mit Kindern leben zu wollen. Mit mir aber schon.

Ich bin zutiefst schockiert und verwirrt. Ich begreife einfach nicht, wieso dieses Thema noch nie zur Sprache kam. Wie kann man ruhig neben einem Menschen einschlafen und eine gemeinsame Zukunft mit ihm planen, wenn man sich insgeheim überlegt, wie man aus dieser Beziehung rauskommt? (Die Antwort ist einfach – es handelt sich um einen weitverbreiteten Abwehrmechanismus, den wir »selektive Aufmerksamkeit« nennen. Aber im Moment stecke ich selbst in einem anderen Abwehrmechanismus fest, der strikten Leugnung des Geschehens.)

Der Freund ist übrigens Anwalt, und er legt mir seinen Fall dar, als stünde er vor einem Schwurgericht. Er will mich wirklich heiraten. Er liebt mich wirklich. Er will nur einfach mehr Zeit mit mir alleine verbringen. Er will, dass wir spontan einen Wochenendtrip machen können oder abends miteinander essen gehen, ohne sich Gedanken um eine dritte Person machen zu müssen. Er will die Intimsphäre des Paares, nicht das Gemeinschaftsgefühl einer Familie. Als er von mir hörte, dass ich ein kleines Kind habe, habe er sich gesagt, das sei zwar nicht ideal, aber er habe es mir gegenüber nicht geäußert, weil er dachte, er würde sich schon daran gewöhnen. Zwei Jahre später, als wir anfingen, unser gemeinsames Leben zu planen, eben zu dem Zeitpunkt, an dem erstmals seine Freiheit in Sicht war, habe er gemerkt, wie wichtig sie ihm sei. Er habe gewusst, dass es zu Ende gehen müsse, aber er habe sich das nicht gewünscht – und als er überlegt habe, es mir zu sagen, habe er einfach nicht gewusst wie, weil wir einfach schon so eng verbunden waren und ich doch sicher wütend sein würde. Er habe gezögert, es mir zu sagen, meint er, weil er kein Arschloch sein wollte.

Die Verteidigung schließt die Beweisführung ab, und es tut ihr wirklich sehr leid.

»Es tut dir leid?!«, fauche ich. »Weißt du was?! Weil du versucht hast, kein Arschloch zu sein, hast du dich zum weltweit GRÖSSTEN Arschloch überhaupt gemacht.«

Er verstummt einmal mehr. Da wird mir klar: Sein beunruhigendes Schweigen vorhin war seine Art, das Thema zur Sprache zu bringen. Und obwohl wir weiter darüber reden, bis die Sonne durch die Jalousien blinzelt, wissen wir tief drin in uns, dass es eigentlich nichts mehr zu sagen gibt.

Ich habe ein Kind. Er will Freiheit. Kinder und Freiheit, das schließt sich gegenseitig aus.

Wenn die Königin Eier hätte, wäre sie der König.

Voilà – meine akute Problematik.