image

Ralf Konersmann

Kulturphilosophie zur Einführung

image

Junius Verlag GmbH

Stresemannstraße 375

22761 Hamburg

www.junius-verlag.de

© 2003 by Junius Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Titelbild: Piranesi, Vedute di Roma/Tempel der Sybille in Tivoli

Graphische Sammlung der Staatsgalerie Stuttgart

E-Book-Ausgabe September 2019

ISBN 978-3-96060-107-4

Basierend auf Printausgabe

ISBN 978-3-88506-674-3

3., ergänzte Auflage 2018

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Inhalt

1. Humanisierung der Welt

Kulturbegrifflichkeiten

Die kulturphilosophische Herausforderung

Zwei Pioniere

2. Kulturphilosophie: Zur Vorgeschichte

Vico und die Entdeckung des mondo civile

Rousseau und die Selbsterschaffung des Menschen

Schiller und die Rettung aus der Barbarei

3. Kulturphilosophie: Zur Geschichte

Triumph der wissenschaftlichen Weltanschauung

Weltkriegskatastrophe und cultural turn

Das Drama der Kultur

4. Das Bedürfnis nach Kulturphilosophie

Ambivalenzen der Kulturkritik

Zur Theorie des fait culturel

Kultur als Umwegphänomen

Anhang

Anmerkungen

Literatur

Über den Autor

Vince stößt Rauch aus, denkt nach.
»Wir können Umwege machen.«
Graham Swift, Last Orders

1. Humanisierung der Welt

Was Kultur ist, ist oft gesagt und geschrieben worden. Die Definitionen sind ohne Zahl. Hinzu kommen die Erwiderungen – sei es in Form prompter Einsprüche, sei es in Form einer allmählichen Ablösung durch Varianten und terminologische Ersatzlösungen. Seit er in der Welt ist, also spätestens seit den Tagen des Marcus Tullius Cicero, ist der Kulturbegriff umstritten. Vor einem halben Jahrhundert war schließlich der Punkt erreicht, an dem die Übersicht über die bis dahin aufgelaufenen Definitionen in Philosophie und Wissenschaft ein ganzes Buch ergab.1 In der Zwischenzeit sind weitere Bestimmungen hinzugekommen – so viele, daß sich damit ein zweiter, ähnlich angelegter Band mühelos zusammenstellen ließe.

Kulturbegrifflichkeiten

Nun muß man vor der Überfülle der Konzepte und Konzeptionen nicht kapitulieren. Das gilt im allgemeinen – denn welchem Begriff wäre es jemals vergönnt gewesen, die Umstände der Kontingenz abzustreifen und endgültige Gestalt zu erlangen? Das gilt aber ebenfalls, und zwar in besonderer Weise, für den Begriff der Kultur. Gerade die Dauerhaftigkeit des Bemühens um eine gültige Begriffsbestimmung ist ein Indiz dafür, daß die Schwierigkeiten weniger auf die Methoden des Zugriffs und deren Ungenügen zurückzuführen sind als auf den Sachverhalt selbst, auf seine Komplexität, auf seine Vielgestaltigkeit und spezielle Gegebenheitsweise. Was immer Kultur sein und im einzelnen ausmachen mag – sie entzieht sich der Bestimmtheit einer erschöpfenden Definition. Kein Phänomen, keine Institution gibt von sich aus zu erkennen, was Kultur im emphatischen Sinn des Wortes eigentlich ist.

Die Ausgangssituation ist somit weniger beklagenswert als aufschlußreich. Der Reichtum der bedeutungsgeschichtlichen Bestände verweist auf den Sachverhalt, daß ein zeitloses, dem Wandel der Bedeutung entzogenes System der Begriffe allenfalls als regulative Idee existiert und daß auch Begriffe ihre zeiträumlichen Kontexte haben, in denen sie zur Entfaltung kommen. Eine solche Ausgangssituation verlangt nach wohlerwogenem Sprachgebrauch. Dabei zeigt sich, daß der Kulturbegriff sowenig als ein allgemeiner Begriff zu gelten hat wie, Kant zufolge, die Zeit.2 Gerade weil das Kulturkonzept die verfügbaren Anschaulichkeiten nicht erschöpft und diese ihrer Idee nach immer schon mehr fordern, als er zu geben vermag, sprengt die Totalität dessen, was wir Kultur nennen, die Grenzen der begrifflichen Form.

Kultur ist weder Grundbegriff noch Prinzip; der Kulturbegriff gehört vielmehr in die offene Klasse der philosophischen – und philosophisch besonders interessanten – Problemdenkmäler. Von diesen aber ist zu sagen, daß bei ihnen nur das wenigste, im buchstäblichen wie im übertragenen Sinn des Wortes, feststeht. Stets muß die Kultur von neuem und aus sich selbst heraus aktualisiert werden, denn sie hat, wie Walter Benjamin die charakteristische Gegebenheitsweise des Kulturellen pointiert, keine Geschichte.3 So etwas wie »die Kultur« gibt es gar nicht. Es gibt nur diese Fülle von Ereignissen und Manifestationen, diese Masse von Hinterlassenschaften und Verweisen, diese vielfältigen, in Worten, Gesten, Werken, Regeln, Techniken niedergelegten Formen menschlicher Intelligenz und Weltbearbeitung – das also, was als kulturelie Tatsache manifest wird. Aus dieser Vielfalt menschlicher Praxis und Produktion geht die Kultur als der provisorische und in unablässiger Bewegung begriffene Mentalitäts- und Handlungszusammenhang, als der offene Kommunikationsraum hervor, der sie ist.

Kultur also ist Praxis und wird, gleichsam von Augenblick zu Augenblick, gemacht. Dies ist der Grund, weshalb zahlreiche Wissenschaften und Institutionen – Religion, Kunst, Philosophie, dazu die neu formierten Kulturwissenschaften4 und die Medien, überdies Bildungseinrichtungen, Bibliotheken, Museen, Archive – professionell damit befaßt sind, das prekäre Gefüge der Kultur zu analysieren und deren Zeugnisse nach erprobtem Muster zusammenzutragen, aufzubereiten und verfügbar zu halten. Gemeinsam bilden diese Institutionen eine eigene Ebene der Kultur, die Ebene der Reflexion, von der aus die Kultur auf sich selbst blickt und sich reproduziert.

Entscheidend und spezifisch kulturell ist die dabei eingenommene Perspektive, ist die Betrachtung von Tatsachen (faits) als Kulturtatsachen (faits culturels), wobei als Faustformel gilt: Kulturtatsachen haben Bedeutung, Tatsachen, für sich genommen, haben keine. Wiederum mit Kant gilt es zu unterscheiden zwischen dem offenkundigen Bestand des Faktischen, das heißt »der theoretischen Bestimmung des Gegenstandes« im Hinblick darauf, was er »an sich« ist, und der relationalen, der praktischen Bestimmung des Gegenstandes, »was die Idee von ihm für uns und den zweckmäßigen Gebrauch derselben werden soll«5. Die Heuristik dieser Unterscheidung gibt der Perspektive, die auf diesen Seiten zu entfalten ist, Prägnanz: Kulturphilosophie ist, im Sinne der Unterscheidung Kants, eine praktische Disziplin. Sie nimmt die Gegenstände wahr, als ob sie eine Aussage zu machen hätten, als ob sie ein Dokument wären oder eine Feststellung träfen. Das ist nur folgerichtig, funktioniert doch das gesamte Feld der Kultur nach diesem Modell: nach dem Modell der Übertragung, und das heißt: der Metapher. Metaphern stellen Verbindungen her zwischen hüben und drüben, zwischen unterschiedlichen und in ihrer Unterschiedlichkeit belassenen Kontexten. Das Nebeneinander und Zugleich von Trennung und Verbindung, von Kontextbestätigung und Kontextstörung sichert die Funktionalität der Metapher. Diese ergibt sich aus ihrem Appellcharakter. Metaphern – damit sind sie exemplarisch für alle Kulturtatsachen – sind sinnvoll und praktikabel nur da, wo sich jemand etwas dabei denkt.6

So auch die Kultur. Die Welt der Gegenstände, die wir meinen, wenn wir von Kultur sprechen: die Fragen der Ethnologie, die Gegenstände des Feuilletons oder die bevorzugten Themen der Kulturpolitik, bilden die Schauseite jenes Übergreifenden, in dem wir das Ganze, als solches jedoch niemals Faßbare der Kultur erkennen müssen. Alle Kreativität, alle Anstrengungen und Mühen der Kultur sind vergebens, wenn sie nicht als Elemente des menschlichen Handelns und Weltbegreifens verstanden, und das heißt: wenn sie nicht rezeptiv bestätigt, wenn sie nicht aufgenommen und fortgeführt werden. Kultur ist wie eine bestimmte Klangwelt, die virtuell bereitliegt; doch um sie selbst zu werden, um also Kultur nicht nur vorzuhalten, sondern auch zu sein, muß eine Melodie erklingen, welche die Möglichkeiten jener Klangwelt verwirklicht, und es müssen Hörer zugegen sein, denen diese Klänge etwas sagen – Hörer, die in den Variationen, die sie als solche wahrgenommen haben, das Thema erkennen, und die in der Lage sind, die Reihe der akustischen Augenblicke als melodische, zum Beispiel liedhafte Einheit aufzufassen und zu aktualisieren.

Entsprechendes gilt für alle Formen und Fälle der Kultur. Wie die Metapher findet sich das Kulturelle dort, wo etwas über sich hinausweist, um vorzustellen, was es selbst nicht ist. In dieser Differenz wurzeln die Potentiale der relativen Bedeutsamkeit – die Potentiale dessen also, was uns etwas angeht. Bedeutsamkeit ist nichts anderes als die materiale Bedingung lebendiger Erfahrung. Ihre Bedeutsamkeit macht aus einer Tatsache eine Kulturtatsache, ein fait culturel, und erregt das Bedürfnis nach Interpretation. Ohne Interpretation, und das heißt: ohne Wahrnehmung, Aktualisierung, Deutung und Kritik, ohne die Institutionen der Bildung, keine Kultur.

Was Vladimir Jankélévitch von der Ironie sagt, gilt für die Kultur insgesamt: Sie will nicht geglaubt, sie will verstanden sein.7So liegt schon in der Art ihrer Präsentation ein Umweg, den jede Hervorbringung, aber auch jede Wahrnehmung von Kultur nachvollziehen und in ihrer ganzen Länge abschreiten muß, um das Kulturelle in des Wortes mehrfacher Bedeutung zu realisieren. Nichts anderes als dieser Parcours bestimmt die Wege der Interpretation. Allerdings gilt es hier, die Begriffe besonders sorgfältig zu wägen. Die außerhalb der Hermeneutik verbreitete Vorstellung, beim Interpretieren handele es sich um ein Aufspüren von etwas an verborgener Stelle Hinterlegtem, das fix und fertig sei und nur noch seiner Freilegung harre, muß aufgegeben werden. Interpretationen sind keine Enthüllungen im Wortsinne. Ihre Befunde lüften keine Weltgeheimnisse, und sie führen auch nicht zu verschütteten Ursprüngen. Dürfte mit derlei Offenbarungen gerechnet werden, die uns mit einem Mal das wahre Gesicht der Welt enthüllen, wäre die Praxis der Interpretation begrenzt und wir wären – wie übrigens die Denker der Frühen Neuzeit auch wirklich erwartet haben8 – bald damit zu Ende.

Aber diese Erwartung ist, wie wir inzwischen haben einsehen müssen, illusorisch. Interpretationen dienen denn auch nicht dazu, sie weiterhin zu schüren, sie dienen im Gegenteil der Kompensation ihres Verlustes. Deutungen, Mutmaßungen, Hilfskonstruktionen springen ein, wo Evidenzen – und zumal die Evidenzen des Wozu und des Warum – entbehrt werden müssen. Das mag im Alltag, wo die Normalstimmigkeit des Erwarteten in der Regel bestätigt wird, unscheinbar bleiben. Aber schon an den Rändern der Lebenswelt, wo Ungewohntes auf uns eindringt, müssen wir Deutungsprozesse aktivieren, die uns in die Situation helfen und die uns von dieser zur nächsten und übernächsten Situation geleiten – und so immer weiter fort. Interpretationen sind mehr oder weniger selektive, mehr oder weniger durchgreifende, mehr oder weniger bewußte Auslegungen von Situationen, von Sachverhalten, von Gegenständen – kurz: von Welt. Ihre Praxis zielt nicht auf Bedeutungsfeststellung, sondern verwirklicht sich als ein Geschehen, das in der Permanenz seiner Neueinsätze Stetigkeit gewinnt.

Es liegt in jener Logik des Metaphorischen beschlossen, die für das Kulturelle grundlegend ist, daß es niemals aufgeht in dem, worin es sich zeigt. Kultur ist Umweg und Differenzphänomen zugleich; sie entspringt aus der Trennung von Faktizität und Bedeutung. Daß die Auseinandersetzung mit den Gegenständen der Kulturwelt spezielle Rücksichten verlangt, hat als einer der ersten der Philosoph Johann Gottfried Herder erkannt. Bereits im 18. Jahrhundert und damit zu einer Zeit, als man das damals im Deutschen noch neue Wort Kultur mit C schrieb, hielt Herder die Beobachtung für angezeigt, daß nichts »unbestimmter« sei »als dieses Wort« und nichts »trüglicher als die Anwendung desselben auf ganze Völker und Zeiten«9. Herder rät nicht zum Verzicht, wohl aber zur Besonnenheit – eine Empfehlung, die bis heute Bestand hat. Denn inzwischen ist nicht nur das philosophische Verständnis des Begriffs problematisch, sondern auch – und vielleicht mehr noch – sein öffentlicher Gebrauch.

Kultur kann als Inbegriff positiver Gegebenheiten verstanden werden, als ein begrenztes Feld von Gegenständen, Geboten und Regeln, in denen sich Lebensformen verwirklichen und die über diese Lebensformen Auskunft geben. Obwohl als Ganzes der Außenwahrnehmung entzogen, scheint Kultur doch etwas zu sein, das sich objektiviert, etwas, das sich aus zeiträumlicher Distanz erfassen und, wie flüchtig auch immer, in seiner Gegenständlichkeit begreifen läßt.

Oder wir haben die Kultur immer schon im Rücken und müssen uns ihr stellen, weil wir sie längst schon aufgenommen und uns in sie hineinentwickelt haben, während wir noch glaubten, uns ihr in freiem Entschluß zuwenden und sie nach Gutdünken gestalten zu können. Kultur, so verstanden, gibt eine unhintergehbare, eine unbewußte Art der Wahrnehmung vor, eine spezifische Art, die Dinge zu sehen und sehen zu lassen – sagen wir: die Beziehung zwischen Individuum und sozialer Welt. Diese immer schon verinnerlichte, inkorporierte Kultur definiert sich durch Traditionen, durch Bezugswelten sei es kollektiven Einvernehmens, sei es kollektiven Unbehagens, aber auch, in der vielleicht ambitioniertesten Form, in der bewußten Annahme als gattungsübergreifende, als kosmopolitische Vision.10

Oder die Kultur markiert Grenzen, Grenzen der Entwicklung, der Zivilisierung, der Modernisierung, die zwischen Innen und Außen eine Trennlinie ziehen. Alles andere als natürlich, werden die Grenzen der Kultur von ihr selbst gesetzt und modellieren die Bilder, die sich eine Kultur von sich selbst, von anderen Kulturen und von ihrem Verhältnis zu anderen Kulturen macht. So hat Europa seine Identität von jeher durch die Erfahrung dessen gefestigt, was es als nichteuropäisch von sich abgrenzte – die Barbaren, die Heiden, die Wilden, die nicht-christlichen Fundamentalisten –, und die Expansion der eigenen Kultur als Expansion von Kultur schlechthin gerechtfertigt. Der Kulturbegriff wurde zum Instrument der Abgrenzung, der Ausschließung, der Hierarchisierung.

Vollzog sich die kulturelle Expansion Europas in dem von theologischen, juristisch-politischen, historischen, ethnographischen und biologisch-rassistischen Diskursen getragenen Bewußtsein der eigenen Superiorität11, so erfolgt die Replik der betroffenen Kulturen inzwischen im Namen einer gefährdeten und deshalb um so leidenschaftlicher beschworenen Authentizität. Ungeachtet der durchgreifenden historischen Asymmetrie von Aktion und Reaktion, der auf anderer Ebene die Asymmetrien von Täter und Opfer, von Globalität und Lokalität entsprechen, bedingen sich diese Denkmuster mittlerweile wechselseitig. Auf paradoxe Weise pflegen sich die Parteien einander anzugleichen und gründen ihre Positionen auf Pathosformeln der Nichtübereinstimmung. Anders gesagt: Statt Techniken des Umgangs mit dem Fremden und dem zu entwickeln, was dieses Fremde für sie unerreichbar macht12, stimmen die Kontrahenten in der strategischen Entscheidung überein, das Kulturkonzept kulturwidrig zu instrumentalisieren.

Der Mißbrauch des Kulturkonzepts als Kampfbegriff reißt unvermittelt Gräben auf, indem er Sonderwelten betont und die kulturspezifische Dialektik von Eigenem und Fremdem dem politischen Gegensatz von Freund und Feind unterwirft. Aus Fremden, mit denen hätte verhandelt werden können, werden Feinde, die außerhalb dessen stehen, worüber man sich verständigen kann. In der erfolgreichen Suggestion solcher Gegensätze, die über eine breitgefächerte Rhetorik der Diffamierung verfügt, gründet die Ausbeutbarkeit des Kulturellen durch das Politische, das die immer ein wenig umständlichen Prozeduren der Kultur, ihre charakteristische Umwegigkeit, für die eigenen Zwecke zu nutzen weiß. Als Schlagwort eingesetzt, kann der Kulturbegriff dazu mißbraucht werden, unversöhnliche Gegnerschaften zu stiften und denen, die die Fremden sind, die Grundlage der Legitimität zu entziehen.

Die kulturphilosophische Herausforderung

Auf der Basis der bisherigen Ausführungen lassen sich vier Verwendungsweisen des Kulturbegriffs isolieren – und auf dieses Quartett wird sich die folgende Darstellung beschränken. Man muß diese Rasterung in der Semantik des kulturellen Feldes ebenso im Blick behalten wie deren gemeinsamen Bezugspunkt. Denn was immer sich an Hochgestimmtheit oder auch an Unbehagen mit den verschiedenen Facetten des Kulturbegriffs verbindet, sie alle verweisen auf diese eine Formel: Humanisierung der Welt.

Halten wir fest: Der erste Kulturbegriff (1) ist deskriptiv und bezeichnet die von Menschen gemachte Welt, die Formen ihrer Produktion und Reproduktion im Rahmen faßbarer Sitten und Gebräuche, Mentalitäten und symbolischer Ordnungen. In dieser Verwendungsweise konvergiert der Kulturbegriff mit dem – ebenfalls vieldeutigen13 – Begriff der Zivilisation. Der zweite Kulturbegriff (2) ist dynamisch und trägt der Selbstverdoppelung Rechnung, wie sie für die Kultur von altersher charakteristisch ist. Zur materialen kommt die reflexive Ebene hinzu und mit ihr jene Praxis fortgesetzter Selbstbeschreibung, in deren Rahmen die Konventionen, Leitvorstellungen und Grundsätze des Zusammenlebens erfaßt und reproduziert, aber auch geprüft werden. Als charakteristische Erscheinung der Moderne ist die Kulturphilosophie selbst ein Teil dieses Feldes, und ebenso die Kulturkritik. An dritter Stelle (3) steht das archäologische Konzept. Es benennt die Bedingungen, die Überlieferungs- und Traditionszusammenhänge, die wir immer schon voraussetzen, wenn wir unser Leben führen. Es handelt sich um einen unbewußten Bereich, den Bereich der tiefsitzenden Überzeugungen und Sentiments, die aus der Distanz beschreibbar sind. Es ist ein Beitrag zur Selbstaufklärung, wenn die Kulturphilosophie in diesem Bezirk der kollektiven Ängste und Befürchtungen, der stillschweigenden Erwartungen und Sehnsüchte ermittelt. Der vierte Kulturbegriff (4) schließlich ist normativ, denn er geht von der Rekonstruktion zur Festschreibung von Unterschieden über, die er in hierarchischen Ordnungen abbildet. Im Rahmen dieser Redeweise wird Kultur zum Schlüsselwort in jenem universellen Spiel von Mimesis und Abweichung, das spätestens mit den globalen Expansionsbewegungen der europäischen Neuzeit seinen Anfang genommen hat: im Widerstreit zwischen dem Bedürfnis nach Identifikation hier und dem nicht weniger leidenschaftlich ausgespielten Narzißmus der kleinsten Differenz zwischen »Beinahe-Gleichen«14 dort. Auch dieses Konfliktfeld gehört in das Spektrum des Kulturbegriffs, und so scheint es, als habe die Kultur die Positionen des Freundes oder des Feindes immer schon vergeben.

Aber das ist nicht alles. Bereits Blaise Pascal, der französische Mathematiker und Philosoph des Hochbarock, spottet über den Bourgeois als den zweifelhaften Biedermann, der nichts kennt und kennen will als die eigene enge Welt und der auf fremden Straßen beständig sein chez nous im Munde führt.15 Offenbar ist die Kultur, auf deren Variantenreichtum und Umwegigkeit Pascal seinen Leser einstimmen möchte, nicht nur ein Ort der Bindung, der Befangenheit und der Enge, sondern auch der Blickfelderweiterung. Sie ist auch der Ort, an dem die Starrheit eingeschliffener Gegensätze, das Diktat des Klischees und Ressentiments aufgebrochen und, umgesetzt in Aufgeschlossenheit, Lernbereitschaft und Neugierde, überwunden werden können.

Es ist der Anspruch der Kulturphilosophie, die in die Semantik des Kulturellen eingesenkten Zwänge und Blickführungen freizulegen, ihre Einsätze zu bestimmen und das Regime des Ressentiments zu durchkreuzen. Dazu gehört auch die Wahrnehmung der hauseigenen Schwierigkeiten, die das philosophische Denken von jeher mit der Kultur gehabt hat. Das Problem ergab sich folgerichtig, als Platon die Philosophie auf die Betrachtung der einen und einzigen Überwelt einschwor, die, wie es im Timaios heißt, »alle durch die Vernunft erkennbaren Lebewesen« umfaßt, so »wie dieses Weltall uns und alle anderen Geschöpfe«16. Bevor die Neuzeit die Ausgangsbedingungen maßgeblich veränderte und mit dem Anspruch menschlicher Subjektivität auch die Hinwendung zur sinnlich erfahrbaren Welt erleichterte, erschien die Schöpfung als die Realisierung des überweltlichen Ideenpotentials, in der für weitere Ideen und Werke, einschließlich genuin menschlicher Leistungen von der Art der Kultur, kein Platz war. In dem Maße, wie der philosophische Idealismus das Denken auf den Nachweis der Idee und ihrer Wirksamkeit in der Welt der Erscheinungen verpflichtete, mußte das Feld des Kulturellen, eben aufgrund seiner Welthaltigkeit, kontingent erscheinen und durfte deshalb vernachlässigt werden.

Selbst für die Initiationsleistung des frühneuzeitlichen Philosophierens, das die Aufmerksamkeit auf den Menschen richtete und mit der Anthropologie erstmals eine eigene Teildisziplin für den Fragenkreis des Humanen bereitstellte, blieb diese Vorgabe verpflichtend. Allenfalls vorübergehend aufgeschreckt durch Einzelgänger wie Michel de Montaigne, Giambattista Vico oder Jean-Jacques Rousseau, ließ die vorkantische Philosophie die unmittelbar ihren eigenen Anspruch betreffende Frage dahingestellt sein, wie der Übergang zur Neuzeit und die durch den Vollzug des Übergangs veränderte Relation von Vernunft und Wirklichkeit zu denken sei: ob die Leistungen des Menschen weiterhin als ideelle Fortführung des göttlichen Schöpfungswillens, als Ausschöpfung des in den Ideen niedergelegten Wirklichkeitspotentials zu verstehen seien oder aber – und damit entschieden radikaler – als etwas qualitativ Neues, das mit dem unwiderruflichen Schritt der kopernikanischen Wende längst schon aus der Kontinuität mit der Vergangenheit und ihren Denkhaltungen herausgetreten war, um, was einmal Natur gewesen war, von nun an in freier Konstruktion zu entwerfen und nach Gutdünken zu gestalten.17

Es ist hier nicht der Ort, grundsätzliche Fragen des philosophischen Selbstverständnisses zu vertiefen. Für die Zwecke einer Einführung in die Kulturphilosophie genügt die Feststellung, daß die Rationalität des philosophischen Idealismus den Gedanken an eine originäre Wirkung des Menschen ausschloß und der Kultur die Emphase eines eigenen, von ihr her und für sie selbst zu begründenden Wahrheitsgehalts verweigern mußte. Die neuzeitliche Autonomisierung der Welt gegenüber der Umwelt, der Kultur gegenüber der Natur blieb zunächst marginal und lange Zeit ohne systematische Konsequenz. Selbst diejenigen, die dann im 19. Jahrhundert den Idealismus umkehren wollten, haben am Modell des Ideenhimmels grundsätzlich festgehalten. Auch sie wollten das wahre Wesen der Dinge gegen die Positivität der Erscheinungen in Stellung bringen, und das heißt: gegen die Phänomenwelt der Kultur. Bis heute gründet die Rationalität solcher Erklärungsstrategien in der Annahme, daß die Fülle der Wirklichkeiten, die wir Kultur nennen, sich in der rechten Beleuchtung als Ausdruck einer einzigen fundamentalen Realität erweisen und auf dieser »Basis« ihre erschöpfende Erklärung finden werde: auf der Basis der Evolution, der Libido, der Ökonomie. Derart als »Überbau« trivialisiert, scheint sich an der Kultur wiederholen zu wollen, was einst schon der Religion von seiten ihrer aufgeklärten Kritiker widerfahren war: die Reduktion auf ein ihr Äußerliches oder, wie Theodor W. Adorno mit grimmiger Lust an der Platitüde formulierte, auf das, »was darunter liegt«18.

Um das Wesen gewinnen zu können, muß es von der Weltexistenz ablösbar sein. Eben dieser metaphysischen Konvention des Hinausfragens über den Horizont des Humanen entgleitet die Kultur. Wer sich ihr zuwendet, muß den Maßstab des Absoluten aufgeben, um der Sinnfälligkeit daseinsweltlicher Erscheinungen nachzuspüren. Allerdings entfallen mit der Abwendung vom Idealismus der Wesensschau auch dessen Garantieleistungen. Das philosophische Interesse an der Kultur entspringt der Frage, was dem Menschen bleibt, nachdem er hat einsehen müssen, daß ihm »der Griff nach der reinen Evidenz«19 mißlingt. Die philosophische Bearbeitung der Kultur setzt die Bereitschaft voraus, jenes reduktionistische, an die Erwartung endgültiger Erkenntnisgewißheit gebundene Schema preiszugeben und sich der Kontingenz, aber auch dem Reichtum der Kulturwelt zu stellen.

Kultur wird damit als funktionaler Zusammenhang faßbar. Sie ist nicht als ein weiteres sich auf der Abstraktionshöhe des Seins oder der Geschichte bewegendes Metasubjekt zu denken, das in der geläufigen Weise über eine eigene begrifflich-systematische Hierarchie gebietet, an der sich alles Erkennen auszurichten hätte. Philosophisch muß der Kulturbegriff ganz anders gefaßt werden. Er umreißt das Apriori einer Welt, die uns die Dinge bedeutsam sein läßt. An die Stelle der Hierarchie tritt somit ein ebenso offener wie dynamischer Zusammenhang von Verweisungen. Deshalb muß sich, wer philosophisch mit Kultur befaßt ist, auf Phänomene und Oberflächen einlassen.

Was hier auf dem Spiel steht, hat mit wünschenswerter Deutlichkeit bereits in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts der italienische Philosoph Giambattista Vico vor Augen geführt. Wie im historischen Teil dieser Einführung gezeigt werden soll, forderte Vico eine für die Wahrnehmung des Kulturproblems entscheidende Erweiterung des philosophischen Weltbezuges. Während die Philosophen ihr Augenmerk herkömmlich auf die zeitüberhobene Welt der Natur (mondo naturale) beschränkt hätten, sollten sie sich nun, so Vico, der vernachlässigten Welt der Völker (mondo civile) zuwenden, zumal die Aussicht auf Erkenntnis hier um so größer sei, als die Menschen diese Welt – im Unterschied zu jener anderen – selbst geschaffen haben.20 Vico kannte den Begriff der Kulturphilosophie noch nicht und sprach statt von Kultur vom mondo civile. Und doch wies schon er auf die charakteristische Umwegstruktur des Kulturellen hin, die darin begründet ist, daß die Menschen sich selbst nur im Verhältnis zur Außenwelt und zu den Gegenständen begreifen, mit denen sie sich umgeben und ihre Welt einrichten. Vicos Vergleichsfall war, wie es an gleicher Stelle heißt, »das körperliche Auge«, das »den Spiegel braucht, um sich selbst zu erblicken«. Mit dieser Relationierung war die Positivität der facta bruta, der rohen Fakten, erschüttert. Seither gilt es, die äußeren Gegenstände nicht nur in ihrem Sosein und als Naturdinge wahrzunehmen, sondern auch in ihrer Bedeutsamkeit und als faits culturels, das heißt: im Blick auf das, was sie für die Menschen sind.

Die Rezeption Vicos war der Wahrnehmung seiner kulturphilosophischen Hinterlassenschaft wenig günstig. Wenn überhaupt, dann interessierte man sich für Vico als einen frühen, freilich allzu bilderseligen Theoretiker der Geschichte. Dieser Akt einer gewaltsamen Reduktion hat sein Gegenstück in dem bedeutungsgeschichtlichen Befund, daß der Begriff der Kulturphilosophie seine frühesten Anregungen nicht unmittelbar aus der philosophischen Tradition selbst, sondern von außerhalb erfuhr. Der erste, der überhaupt von Kulturphilosophie gesprochen hat, war offenkundig nicht vom Fach: Es war der Architekt und Theoretiker der Baukunst Gottfried Semper. Im Jahr 1851 überdachte Semper die Folgen jener zahllosen Neuerungen des Materials und der Materialverarbeitung, die eben auf der Londoner Weltausstellung zu sehen waren – der ersten ihrer Art überhaupt. Die Künste, die Industrie, die Wissenschaften seien herausgefordert, schrieb Semper aus London, sich jenen »kulturphilosophischen Fragen« zu stellen, die »das eigentliche Thema« seien, wofür allein es sich rechtfertige, »so gewaltige und kostspielige Mittel in Bewegung gesetzt zu haben«21.

Man muß diese Bemerkung sehr genau lesen. Semper begeisterte sich für die »Errungenschaften« der Epoche, die im Bau des bald schon legendären Kristallpalastes weithin sichtbar unter Beweis gestellt worden waren. Dabei folgte er der Linie Bacons, der schon zu Beginn der Neuzeit und wohl als erster die Wissenschaften – einschließlich der wissenschaftlichen Potentiale der Weltveränderung wie den Kompaß, das Schießpulver und den Buchdruck – explizit als Kulturleistungen und als Garanten des gesamtgesellschaftlichen Fortschritts beschrieben hatte.22 Sempers Formulierung deutet jedoch ebenfalls an, daß ihm die eindrucksvoll zur Schau gestellte Vermehrung wissenschaftsindustrieller Machbarkeiten nicht genügte, und dieses Bedenken gibt den Blick frei auf die Neuartigkeit seiner Position. Als kulturphilosophische Aufgabe verstand er den Versuch, die neuen Produktionsmöglichkeiten der Industrie am Maßstab der Kunst zu messen und gleichzeitig die Kunst zu veranlassen, zu den neuen Technologien aufzuschließen und modern zu werden.

Eine solche Position war alles andere als selbstverständlich. Semper zögerte nicht, den auf beiden Seiten – auf seiten der Kunst ebenso wie auf seiten der Wissenschaft – verbreiteten Konsens über den Abstand, ja die Animosität von Kunst und industrieller Produktion ersatzlos aufzugeben. Statt wie noch Goethe ein halbes Jahrhundert zuvor in seinem legendären Aufsatz über Kunst und Handwerk aus dem »hochgetriebenen Mechanismus« und dem neuartigen »Fabrikwesen« den »unaufhaltsam« forteilenden »Untergang« der »wahren Kunst« herauszulesen23, erwartete nun Semper von dem Bündnis aus Kunst und Wissenschaft neue Möglichkeiten der Produktentwicklung und der Lebensgestaltung. Tatsächlich erkannte er die Botschaft der Londoner Ausstellung darin, daß Technik und Industrie soeben begonnen hatten, Kunst und Kultur an Innovationskraft ebenbürtig zu sein. Mit dieser Emanzipation schien der Kulturbegriff einen Moment lang all seine problematischen Züge abgestreift zu haben. Einmal aus dem starren Schematismus der Gegenbegrifflichkeiten herausgelöst, wurde Kultur zum Losungswort des gesamtgesellschaftlichen, Kunst und Lebensführung, Wissenschaft und Industrie integrierenden Projekts humaner Weltgestaltung.

Im Rahmen dieser Vision fungierte die Kulturphilosophie als eine Art institutionalisierter, von einem kritischen Publikum getragene Haltung der Besonnenheit. Die Ambitioniertheit des damit verbundenen Einstellungswechsels hat ein anderer Weltausstellungsbesucher ebenfalls gesehen und herausgestellt: Charles Baudelaire im Jahr 1855. Auch Baudelaire begreift die Weltausstellung, die er in Paris besucht und deren Erlebniswert in diesem Augenblick noch ganz unverbraucht war, als Zeichen der Zeit. Demnach forderten die sinnfällige Versammlung der Weltphänomene an einem einzigen Ort und die Herausforderung an das Besucherpublikum, sich dieser Fülle gewachsen zu zeigen, nach einer neuen Einstellung. Baudelaire nennt sie »kosmopolitisch«. Der Betrachter sei nun aufgefordert, erläutert er, »in sich selbst eine Umwandlung« zu bewirken, der etwas Geheimnisvolles anhafte: »unter der Einwirkung des Willens muß er aus sich selber dahingelangen, daß er an jener Welt teilnimmt, die diese ungewohnten Blüten hervorgetrieben hat.«24

Die Teilhabe am Neuen und Anderen, das sich durch seine offenkundige Unvereinbarkeit mit dem Gewohnten dem prompten Verständnis entzieht, deutet auf das Gebot der Interpretation, das der neuen, der kulturellen Einstellung zugrunde liegt. Dem bereits von Pascal angeführten Topos folgend, veranschaulicht auch Baudelaire das Kulturverstehen als eine imaginäre Reise in die Fremde. Die anfänglichen Irritationen und mühsamen Prozesse der »Eingewöhnung«, erläutert Baudelaire, würden am Ende durch den Gewinn einer »Sympathie« belohnt, die beim Besucher »eine ganze Welt von neuen Vorstellungen« hervorruft. Über seine mitgebrachten Überzeugungen hinaus erschließt die kulturelle Einstellung dem Betrachter eine Welt, »die hinfort ein zugehöriger Bestandteil seiner selbst sein und ihn, in Gestalt von Erinnerungen, bis an seinen Tod begleiten wird«. Was »seinem akademischen Auge« zunächst »ein Ärgernis« war, »wird langsam Einlaß finden, wird ihn geduldig durchdringen, wie der Dampf eines aromatischen Bades«25.

Einheit