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Konrad Ott

Umweltethik zur Einführung

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Wissenschaftlicher Beirat
Michael Hagner, Zürich
Dieter Thomä, St. Gallen
Cornelia Vismann, Weimar †

Junius Verlag GmbH

Stresemannstraße 375

22761 Hamburg

www.junius-verlag.de

© 2010 by Junius Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Covergestaltung: Florian Zietz

Titelbild: Junius Verlag GmbH

E-Book-Ausgabe September 2019

ISBN 978-3-96060-122-7

Basierend auf Printausgabe

ISBN 978-3-88506-677-4

2., ergänzte Auflage 2014

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Zur Einführung …

… hat diese Taschenbuchreihe seit ihrer Gründung 1978 gedient. Zunächst als sozialistische Initiative gestartet, die philosophisches Wissen allgemein zugänglich machen und so den Marsch durch die Institutionen theoretisch ausrüsten sollte, wurden die Bände in den achtziger Jahren zu einem verlässlichen Leitfaden durch das Labyrinth der neuen Unübersichtlichkeit. Mit der Kombination von Wissensvermittlung und kritischer Analyse haben die Junius-Bände stilbildend gewirkt.

Von Zeit zu Zeit müssen im ausufernden Gebiet der Wissenschaften neue Wegweiser aufgestellt werden. Teile der Geisteswissenschaften haben sich als Kulturwissenschaften reformiert und neue Fächer und Schwerpunkte wie Medienwissenschaften, Wissenschaftsgeschichte oder Bildwissenschaften hervorgebracht; auch im Verhältnis zu den Naturwissenschaften sind die traditionellen Kernfächer der Geistes- und Sozialwissenschaften neuen Herausforderungen ausgesetzt. Diese Veränderungen sind nicht bloß Rochaden auf dem Schachbrett der akademischen Disziplinen. Sie tragen vielmehr grundlegenden Transformationen in der Genealogie, Anordnung und Geltung des Wissens Rechnung. Angesichts dieser Prozesse besteht die Aufgabe der Einführungsreihe darin, regelmäßig, kompetent und anschaulich Inventur zu halten.

Zur Einführung ist für Leute geschrieben, denen daran gelegen ist, sich über bekannte und manchmal weniger bekannte Autor(inn)en und Themen zu orientieren. Sie wollen klassische Fragen in neuem Licht und neue Forschungsfelder in gültiger Form dargestellt sehen.

Zur Einführung ist von Leuten geschrieben, die nicht nur einen souveränen Überblick geben, sondern ihren eigenen Standpunkt markieren. Vermittlung heißt nicht Verwässerung, Repräsentativität nicht Vollständigkeit. Die Autorinnen und Autoren der Reihe haben eine eigene Perspektive auf ihren Gegenstand, und ihre Handschrift ist in den einzelnen Bänden deutlich erkennbar.

Zur Einführung ist in verstärktem Maß ein Ort für Themen, die unter dem weiten Mantel der Kulturwissenschaften Platz haben und exemplarisch zeigen, was das Denken heute jenseits der Naturwissenschaften zu leisten vermag.

Zur Einführung bleibt seinem ursprünglichen Konzept treu, indem es die Zirkulation von Ideen, Erkenntnissen und Wissen befördert.

Michael Hagner

Dieter Thomä

Cornelia Vismann

Inhalt

Einleitung: Sinn und Zweck der Umweltethik

1. Die Ursachen der Naturkrise

2. Anthropologische Grundlagen

3. Die Sprachphilosophie der Umweltethik

4. Die Axiologie der Umweltethik

5. Die Deontologie der Umweltethik

6. Biblische Schöpfungslehre

7. Die Konzeption starker Nachhaltigkeit

8. Die politische Philosophie der Umweltethik

9. Schlussbetrachtungen

Danksagung

Anhang

Anmerkungen

Literatur

Über den Autor

Einleitung: Sinn und Zweck der Umweltethik

1. Die Umweltethik (synonym: environmental ethics, Naturethik) fragt zum einen nach den Gründen und den aus ihnen gewonnenen Maßstäben (Werte und Normen), die unser individuelles und kollektives Handeln im Umgang mit der außermenschlichen Natur bestimmen sollten. Zum anderen fragt sie danach, wie diese Maßstäbe umgesetzt werden könnten. Die Umweltethik hat also eine theoretische und eine praktische Dimension.

Die Frage nach Gründen setzt einiges voraus. Erstens setzt sie ein Konzept der Gründe (Argumente) einschließlich eines Verständnisses davon voraus, warum und wofür wir einander Gründe schuldig sind und wie wir uns bei praktischen Fragen mit Gründen an Gründen orientieren sollen. Zweitens setzt sie die Möglichkeit gemeinsamer Einsichten in Maßstäbe unseres Naturumgangs voraus. Für überzeugte Naturschützerinnen1 sind die Gründe, die zugunsten des Umwelt- und Naturschutzes sprechen, bereits mehr oder minder feste Überzeugungen und daher auch Motivationsquellen; es steht aber außer Frage, dass nicht alle Personen diese Überzeugungen und Motive teilen, so dass ein »Wir« hier nichts Gegebenes, sondern etwas Aufgegebenes ist. Naturschützer mögen ihre Schutzbestrebungen für etwas halten, was sich von selbst versteht; die Umweltethik fragt, ob Naturschutz eines bestimmten Ausmaßes aufgrund guter Gründe selbstverständlich werden sollte.

Übergänge von schützerischen Intuitionen zu ethischen Argumenten erfolgen auf Wegen der Versprachlichung. Dieser mühselige Weg ist auch der einzige ethische Weg, vom Ich zu einem Wir oberhalb einzelner Kulturen und Generationen zu gelangen. Dass in Bezug auf Maßstäbe des Naturumgangs diese kulturübergreifende Orientierung ethisch sinnvoll ist, kann angesichts der Vielzahl der realen Naturzustände und der kulturellen Naturverständnisse nicht vorausgesetzt werden. Viel näher liegt ja die Auffassung, dass es kulturübergreifende Prinzipien allenfalls im zwischenmenschlichen Bereich (»Menschenrechte«), nicht aber in Bezug auf den Naturumgang geben kann, der kulturabhängig bleiben müsse und solle, da andernfalls sogar die Gefahr bestünde, dass westliche Naturschützer ihre Vorstellungen (bspw. Biodiversität oder wilderness) anderen Kulturen aufnötigten. Andererseits zwingen die Entwicklungen in einer globalisierten Welt dazu (Kap. 1), die moralisch-ethische Urteilsbasis auf Fragen des Naturumgangs auszuweiten. Die Umweltethik steht daher konzeptionell in der Spannung, eine transkulturelle Ausrichtung ohne Hegemonieanspruch westlicher Wertvorstellungen zu erreichen.

Drittens setzt die Ausgangsfrage ein Konzept der Natur voraus, das nicht nur die von Menschen unberührte Natur (»Wildnis«) betrifft, sondern auch die graduell von Menschen überformte Natur einschließen kann. Ein solches graduelles Naturkonzept ist, erkenntnistheoretisch betrachtet, elementar realistisch. Es setzt voraus, dass es »gibt«, worüber gesprochen wird. Dieses Naturkonzept darf den naturwissenschaftlichen Erkenntnissen nicht widersprechen, muss aber offen sein für kulturelle Natur deutungen. Die Umweltethik geht davon aus, dass die »objektiven« Wahrheiten der Naturwissenschaften nicht alles enthalten, was sich vernünftigerweise über Natur sagen lässt. Grob gesagt, beschäftigen sich die Naturwissenschaften mit der Natur »an sich«, d. h. mit einer verobjektivierten Natur, die sich für jeden neutralen Beobachter in ihren Eigenschaften und Kausalstrukturen gleich zeigt, wohingegen sich die Umweltethik mit der Natur »für uns« befasst, d. h. mit all den Hinsichten, in denen Natur uns als bedeutsam, wertvoll und verpflichtend erscheint. Während die moderne Naturwissenschaft eine Tendenz hat, sich für sehr kleine und große zeitliche und räumliche Skalen zu interessieren (Mikro- und Makrokosmos), bewegt sich die Umweltethik hauptsächlich im Mesokosmos der Erfahrungswelt. Die umweltethisch wesentlichen Erfahrungen finden nicht am Mikro- oder Teleskop, sondern in der Lebenswelt statt, so dass eine Nähe der Umweltethik zuden Naturwissenschaften besteht, die auf mesokosmischen Skalen forschen. Dies sind vornehmlich die organismische Biologie und die Landschaftsökologie. Im Unterschied zu den Naturwissenschaften interessiert sich die Umweltethik nur für Natur, sofern diese im Bereich menschlicher Handlungsvollzüge liegt, also derzeit allenfalls bis zum Mond.

2. Die Umweltethik fragt nach vernünftigen Begründungen für Umwelt-, Tier- und Naturschutz. Terminologisch wird »Naturschutz« als Oberbegriff verwendet, der den Umweltschutz (Wasser, Böden, Luft, Abfall, Lärm u. ä.), den Tierschutz und den Naturschutz im engeren Sinne (Artenschutz, Habitatschutz, Wildnisschutz u. ä.) umfasst. In erster und grober Annäherung lässt sich die Grundfrage nach dem Sinn von Naturschutz im weiten Sinn so beantworten, dass Menschen die Natur schützen sollen, erstens sofern sie (und ihre Nachkommen) auf deren Nutzung (als Ressource, Speicher und Medium) angewiesen sind und (wahrscheinlich) sein werden, und zweitens, sofern bestimmte Naturzustände ihnen (allen, den meisten, vielen, einigen mit hoher Intensität usw.) Freude, Behagen, Beruhigung, Vergnügen, d.h. Naturgenuss (Alexander von Humboldt 1836) bereitet. Ressourcennutzung und Naturgenuss können unter einem weiten Begriff des Nutzens zusammengefasst werden.

Eine dritte Antwort auf die Frage nach Begründungen geht von der Intuition aus, dass Naturschutz nicht nur aufgrund des Nutzens für Menschen, sondern um der Natur bzw. um bestimmter Naturwesen willen moralisch geboten, d. h. allen Personen unabhängig von ihren kulturellen Werten und individuellen Vorlieben als eine einsehbare Pflicht auferlegt sein könnte. Diese Intuition bezieht sich auf die Kategorie des moralischen Selbstwertes, sofern diese auf Naturwesen bezogen wird. Entsprechende Argumente werden als physiozentrisch bezeichnet; Argumente, die die beiden ersten Antworten auf die Ausgangsfrage thematisieren, werden hingegen als anthropozentrisch bezeichnet. Konzeptionen von Umweltethik befassen sich daher mit Natur als Ressource, mit Natur als Quelle des Genusses und mit Natur als einem Ensemble von Wesen, denen Selbstwert zukommen könnte. Je nach umweltethischer Konzeption variieren Bedeutung und Status der einzelnen Begründungselemente zueinander. So werden in physiozentrischen Konzeptionen anthropozentrische Begründungen beiläufig und tendenziell entbehrlich, da der Naturschutz direkt mit Hilfe der Kategorie des moralischen Selbstwertes begründet werden kann.

3. Die Umweltethik kann entweder in der Natur selbst, in normativ gehaltvollen Konzepten wie etwa dem des Interesses oder im menschlichen Sprachgebrauch fundiert werden. Aus einer als wertfrei vorgestellten physikalischen Natur können Werte und Normen nicht logisch abgeleitet werden, denn aus einer beliebigen Menge empirisch-deskriptiver Aussagen lässt sich nicht ableiten, was getan werden soll. Dies wäre ein sogenannter naturalistischer Fehlschluss. Allerdings kann man den Fehler des naturalistischen Fehlschlusses vermeiden, indem man Natur anders konzipiert. Schreibt man der Natur vom Menschen unabhängige, d.h. absolute Werthaftigkeit zu oder fasst man sie als Gottes gute Schöpfung, als Große Mutter oder Weltseele auf, so begeht man keinen logischen Fehler, wenn man aus solchen Prämissen Präskriptionen für Handlungen oder für angemessene Grundeinstellungen der Natur gegenüber ableitet. Die Fundierung der Umweltethik in der Natur kann also nur gelingen, wenn ein ethisch gehaltvoller Naturbegriff vorausgesetzt wird. Entsprechende Naturphilosophien sind per se keineswegs antiwissenschaftlich, aber immer voraussetzungsvoll. Die Umgehung des naturalistischen Fehlschlusses führt in die Naturphilosophie, der wir uns in zwei Kapiteln nähern werden (Kap. 3 u. 6).

Wenn man Naturphilosophie (als spekulativ, metaphysisch usw.) zurückweist, bleibt die Möglichkeit, die Umweltethik so zu konzipieren, dass es gut und richtig wäre, wenn durch menschlichen Naturumgang möglichst viele Interessen befriedigt und möglichst wenig Interessen verletzt würden. Dies ist eine im weitesten Sinne utilitaristische Auffassung. Als Träger von Interessen gelten hierbei nicht nur Menschen. Auch Tiere und Pflanzen kommen als Träger von Interessen in Betracht. Für menschliche Interessen gilt jedoch: Interessen sind nicht einfach vorhanden, und nicht alle Interessen verdienen moralische Anerkennung. Viele Interessen mögen auf aufgeklärtem Egoismus beruhen, aber auch in Situationen, in denen man Mitleid verspürt oder sich solidarisch erklärt, nimmt oder hat man ein Interesse. Dieser weite Interessenbegriff ist für die Umweltethik sachgerecht, da viele Menschen daran interessiert sind, dass es in dieser Welt weiterhin Wale, Tiger, Korallenriffe usw. gibt. Ökonomen sprechen hinsichtlich solcher Interessen von Existenzwerten. Eigene oder fremde Interessen müssen als solche geltend gemacht werden. Nur in sprachlich verfasster Form werden die Intensität, Anerkennungswürdigkeit und ethische Bedeutung von Interessen deutlich. Zudem unterscheidet man mit Blick auf Naturwesen zwischen einem starken und einem schwachen Interessenbegriff. Ein starkes Interesse meint, dass ein Wesen selbst Interesse an etwas hat. Ein schwaches Interesse meint, dass etwas im Interesse eines Wesens ist. Ein Hirsch hat Interesse an frischem Wasser, Wasser ist im Interesse einer Pflanze. Ob das Vorliegen schwacher Interessen hinreicht, ihre Träger moralisch direkt zu berücksichtigen, ist eine diffizile umweltethische Frage, der gesondert nachzugehen ist (Kap. 5.5). Unabhängig davon, welche Antwort man gibt, ist der Fall schwacher Interessen ein Beleg dafür, dass Interessen auch in Bezug auf Naturwesen nicht nur registriert, sondern in ihrer moralischen Signifikanz diskursiv anerkannt werden müssen. Der Ansatz beim Interessenbegriff führt daher auf das Feld der sprachlichen Thematisierung von Mensch-Natur-Beziehungen (Kap. 3) und zum Inklusions- bzw. Selbstwertproblem (Kap. 5).

Aufgrund des Gesagten ist es vorteilhaft, die Umweltethik weder in der Natur noch im Konzept des Interesses, sondern in der Argumentationspraxis zu verankern. Dies erscheint vielen Naturschützern eigenartig, denn dadurch wird der Naturschutz abhängig von dem, was üblicherweise als Gegensatz zur Natur gedacht wird: dem argumentativen Gebrauch der menschlichen Sprache. Gleichwohl sollten Naturschützer den Umweltethikern, die aufgrund metaethischer Erwägungen diesen Weg einschlagen, versuchsweise folgen.

4. Die Umweltethik wird üblicherweise als eine von mehreren Bereichsethiken verstanden, die mit Blick auf Gegenwartsprobleme praktische Orientierung vermitteln wollen (Medizinethik, Wirtschaftsethik, Medienethik, Technikethik usw.). Bereichsethiken werden oft unter dem Titel einer angewandten Ethik (applied ethics) zusammengefasst. Bereichsethiken sind an konkurrierende Ethiktheorien gebunden und referieren auf bestimmte Bereiche menschlicher Praxis, die sich in kollektiver geschichtlicher Erfahrung als wertbestimmt und regulierungsbedürftig erwiesen haben (Medizin, Erziehung, Wirtschaft, Politik, Wissenschaft). Im Innern der jeweiligen Bereichsethiken bildet sich im Verlauf der Zeit eine komplexe »Textur« (ein Gewebe) von Argumentationsmustern heraus, die sich u. a. auf Werte, Normen, Regelwerke (Institutionen) und auf kasuistische Problemlösungen beziehen. Nur im Medium einer kritischen Beurteilung all dessen, was in bestimmten Bereichen argumentativ geltend gemacht wird, kann man sich das universe of discourse der Bereichsethiken aneignen. In diesem Sinne gibt es »Experten« für Medizin-, Wirtschaftsund Umweltethik. Diese verfügen über kein höheres moralisches Wissen als ihre Mitbürger, sondern genießen das eigentümliche Privileg, sich beruflich mit der Welt der Gründe befassen zu dürfen. Sie versorgen die Gesellschaft auch nicht mit »festen Werten« oder mit einer »neuen Moral«, sondern ermutigen andere interessierte Personen, sich mit solchen Texturen auseinanderzusetzen.

Die Einheit der Bereichsethiken liegt in der Metapraxis der Argumentation (Ott 1997). Als übergreifendes Vernunftkonzept bietet sich daher eine Theorie des kommunikativen Handelns an, die zu einer Diskurstheorie praktischer Vernunft (Diskursethik) spezifiziert werden kann (Habermas 1981). Die Metapraxis der Argumentation erlaubt es, die ethischen Probleme, die sich innerhalb von Praxisfeldern stellen, in ihrem Eigensinn unverkürzt zu erörtern. Dabei muss man technische, ökonomische, rechtliche, axiologische, existenzielle und moralische Aspekte unterscheiden können. Falsch ist es im Rahmen eines diskursethischen Vernunftkonzepts, alle praktischen Probleme in die framings technologischer und ökonomischer Denkformen zu stellen. Dies gilt auch für die Umweltethik. Das diskursethische Vernunftkonzept ist seit den klassischen Arbeiten von Karl-Otto Apel und Jürgen Habermas mehrmals erläutert worden (zur Übersicht siehe Gottschalk-Mazouz 2000), so dass es hier vorausgesetzt und nur noch spezifisch umweltethisch betrachtet wird (Kap. 3).

5. Naturnutzung sollte als eine Form der menschlichen Praxis aufgefasst werden. Diese Auffassung ist nicht selbstverständlich. Vielfach wurden Praxisformen von Naturbeziehungen so unterschieden, dass in jenen moralisch-ethische Aspekte zu berücksichtigen seien, wohingegen die Naturnutzung durchgängig von technisch-instrumentellen, d. h. an Manipulation, Beherrschung und Nutzung interessierten Aspekten geleitet sein dürfe.2 Naturnutzung wäre damit nur ein Bereich der technischen Verfügung, nicht der ethischen Praxis. Die Zuordnung des Naturumgangs zum Bereich der techné und das Projekt der Naturbeherrschung waren »Herzwurzeln« des mittlerweile weltumspannenden Projekts der Moderne, das mit einer kapitalistisch verfassten Warenwirtschaft und einer funktionalen Differenzierung sozialer Teilsysteme verflochten ist. Diese Grundformation der Moderne kann die Umweltethik nicht überspringen, sie muss sie vielmehr kritisch durchdringen (Kap. 1).

Lebensweltlich blieb immer ein Wissen präsent, dass Land- und Forstwirtschaft, Tierzüchtung und -haltung, die Bewirtschaftung von Gewässern, die Gestaltung von Gärten, der Abbau und die Nutzung von Rohstoffen, der Umgang mit Abfällen usw. praktische Aktivitätendarstellen, in denen Werte und Regeln unhintergehbar sind. Diese lebensweltliche Wertdimension des Naturumgangs lässt sich nicht ohne Bedeutungsverluste auf Fragen technologischer Effektivität und ökonomischer Effizienz reduzieren. Die Umweltethik knüpft an dieses im kollektiven Gedächtnis präsente Wissen und an entsprechende Traditionen an.

6. Die Umweltethik beginnt nicht erst mit den heutigen environmental ethics, die in den 1970er Jahren entstanden. Kritik an einem nur an effizienter Nutzung ausgerichteten Naturumgang lässt sich in Deutschland seit der Goethezeit, die Nachhaltigkeitsidee seit 1713 nachweisen (Kap. 7). Das realgeschichtlich dominante Paradigma des Industrialismus, das sich seit der Aufklärung auch in der Landnutzung durchsetzte (Trockenlegung von Mooren, Flusskanalisierung, Staudammbau, Flurbereinigung und vieles mehr; vgl. Blackbourn 2007), wurde von einem Diskurs begleitet, der die Verlustseite der Industrialisierung thematisierte und aus dem im 19. Jahrhundert der Naturschutz hervorging (Ott et al. 1999, Schmoll 2004). Protoökologische Strömungen und Konzepte (Heimatschutz, Landesverschönerung, Naturdenkmalpflege, Gartenstadt, Sozialhygiene usw.) waren an der Wende zum 20. Jahrhundert verbreitet (Ott 2008b). In diesen naturschützerischen Diskursen wurden auch Begründungen formuliert, die in zeitgenössische Rahmungen eingebunden waren. Natur- und umweltschützerische Intuitionen suchen insofern seit der Goethezeit nach Worten, Begriffen, Konzepten und Begründungen. Die Gedankenwelt des Naturschutzes war dabei von Beginn an pluralistisch. Immer wieder reflektierten Vertreter des Naturschutzes darauf, was ihre Bewegung geistig zusammenhält; die Antworten führten immer in den Bereich der Ethik.

Umweltethik lässt sich freilich nicht auf eine Geistesgeschichte des Naturschutzes reduzieren. Die Beziehung zwischen Naturschutzgeschichte und Umweltethik lässt sich vielmehr so bestimmen, dass die Historie Wahrheitsansprüche quellenkritisch einzulösen versucht, während die Umweltethik mit Blick auf die Vergangenheit fragt, welche der früheren Ideen, Konzepte und Argumente als Traditionen anerkannt werden sollten. Historiker enthalten sich der Werturteile über die Werte, die von geschichtlichen Akteuren vertreten wurden, Ethiker hingegen möchten »gute« Traditionen präsent halten und fortbilden. Viele der heutigen naturethischen Argumente wurden in früherer Zeit (vor)formuliert. Daher werden in dieser Studie so oft wie möglich umweltethische Traditionen erwähnt. Durch historischen Sinn wird Umweltethik konkret (lat.: concrescere); die Eigenzeit der Ethik aber ist die Gegenwart.

7. Umweltethik sollte in analytischer, nicht in missionarischer Einstellung betrieben werden, so dass Voraussetzungen reflektiert, Unterscheidungen getroffen, Schlussfolgerungen kontrolliert, Zweideutigkeiten aufgelöst und Argumente rekonstruiert werden. Entsprechend kann man das Kerngeschäft der Umweltethik als kritische Analytik des umweltethischen Argumentationsraums (AR) mitsamt den darin investierten Voraussetzungen und den sich hieraus ergebenden praktischen (politischen, rechtlichen, ökonomischen) Konsequenzen begreifen. Man kann sich die Konstitution des Argumentationsraumes so vorstellen, dass zunächst ein inhaltlich leeres Behauptungsfeld aufgespannt wird, in das Antworten auf die Grundfrage eingetragen werden können, warum Umweltmedien, Lebewesen und bestimmte Komponenten von Natur (Arten, Ökosysteme, Landschaften usw.) geschützt werden soll(t)en. Intuitiv vertretbare Antworten (»N schützen, weil G«) werden in das Behauptungsfeld eingetragen und können dadurch geprüft werden. Die Umweltethik greift insofern die Intuitionen, Ziele und entsprechenden Sprechakte der Naturschützer auf und prüft sie daraufhin, ob und, wenn ja, wie sie sich in die Form von Gründen transformieren lassen, die idealiter von allen moralisch einsichtigen und thematisch aufgeschlossenen Personen eingesehen und zwanglos anerkannt werden könnten. Im AR sind daher alle bekannten Argumentationsmuster versammelt, die Personen motivieren können sollen, sich in Worten und Taten für Umwelt-, Tier- und Naturschutz (UTN-Schutz) einzusetzen. Die Argumentationsmuster, ausdenen sich das Gewebe (die »Textur«) der Umweltethik zusammensetzt, können unterschiedlich angeordnet werden. In einer an die Anthropozentrismus/Physiozentrismus-Debatte angelehnten Klassifikation lässt sich der AR folgendermaßen darstellen:

ARGUMENTATIONSRAUM DER UMWELTETHIK

A.Anthropozentrische Argumente

1.Angewiesenheits-Argumente

2.Biophilie-Hypothese

3.Gesundheits- und Wohlbefindensargumente

4.Naturästhetische Argumente

5.Heimat-Argumente (»Ethics of Place«)

6.»transformative-value«-Argument

7.Differenz-Argument

8.»Menschenrecht-auf-Natur«-Argument

9.Pflichten gegenüber zukünftigen Generationen in Bezug auf 1. bis 8.

B.Physiozentrische Argumente

10.Sentientistische Argumente (P. Singer, T. Regan)

11.Biozentrische Argumente (A. Schweitzer, P. Taylor)

12.Ökozentrische Argumente (A. Leopold, B. Callicott)

13.Holistische Argumente (T. Birch, M. Gorke)

14.Naturphilosophische Argumente (H. Rolston, K.M. Meyer-Abich, A. Naess u. a.)

C.Theozentrische Argumente

15.Paradigma der biblischen Schöpfungslehre

16.Naturkonzepte in anderen Religionen (R1, R2 … Rn)

Der AR ist eine konzeptionelle Alternative zu »ökologischen Weltbildern«, die vielerorts verkündet werden. Er versammelt den Diskurs der Umweltethik und verwandter Disziplinen in komprimierter begrifflicher Form. Wir werden auf die einzelnen Argumente in dieser Studie eingehen. Die Einseitigkeit des AR zugunsten des UTN-Schutzes korrigiert sich selbst, indem die Gründe auch skeptisch eingestellten Personen zur Prüfung vorgelegt werden und alle Argumente kritisch reflektiert werden können und sollen. Die Gliederung der theozentrischen Gründe in die biblische Tradition und in alle übrigen Religionen gründet nicht in der Auffassung, jene sei diesen überlegen, sondern rechtfertigt sich allein dadurch, dass im Interesse eines interreligiösen Dialogs über Fragen des Naturumgangs der Perspektive auf die jeweils eigene Tradition ein gewisses Primat zukommt. Jede Religion darf sich selbst an diese primäre Stelle setzen (Kap. 6).

Der AR an sich enthält weder Kriterien für die Lösung von Konflikten noch eine Kasuistik zur Beurteilung spezieller Fälle. Auch enthält er keine bestimmte Auffassung darüber, was es bedeuten könnte, naturschützerische mit anderen Belangen »abzuwägen«. Die Fragen nach »guter« Konfliktlösung, »sorgsamer« Abwägung und »angemessener« Beurteilung einzelner Fälle setzen eine gründliche Beschäftigung mit dem AR notwendig voraus, da andernfalls die herkömmlichen Denkschemata dominant bleiben und Naturschutzbelange »weggewogen« werden können, wie dies (allzu) häufig geschieht.

8. Die Gründe, die im AR versammelt und geprüft werden, sind erstens zahlreich, lassen sich zweitens nicht trennscharf gegeneinander abgrenzen, stehen drittens in unterschiedlichen Beziehungen zueinander und sind viertens voraussetzungsvoll. Die Anzahl der Gründe hängt von Auffassungen darüber ab, ob sich ein Argumentationsmuster als Teilaspekt eines anderen erweisen könnte. Um dies beurteilen zu können, muss man einzelne Argumente schon verstanden haben, weshalb hypothetisch und vorläufig von der Eigenständigkeit der versammelten Argumente auszugehen ist.

Anzahl, Qualität und Gewicht von Gründen sind zu unterscheiden. Die Anzahl der Gründe sagt nichts über ihre jeweilige Qualität und nichts über ihr jeweiliges Gewicht bezüglich praktischer Konsequenzen. Gute Gründe müssen keine weitreichenden Konsequenzen haben, und Gründe, die weitreichende Konsequenzen haben, müssen nicht gut sein. Die Sehnsucht der Naturschützer nach einem »Super-Grund«, der alle Schutzziele, darunter vor allem den Artenschutz und den Schutz von Wildnis, perfekt abdeckt, führt in die Physiozentrik. Dort allerdings sind die ethischen Begründungsprobleme gravierend, weshalb eine bloße Berufung auf solche Positionen oder entsprechendes name dropping (Schweitzer, Taylor, Rolston, Callicott, Naess u. a.) ethisch ausscheidet.

Umweltethische Argumente haben keine scharfen Ränder, sondern berühren einander und überlappen sich. Der AR ist daher kein Baukasten aus Klötzchen, sondern eher eine Landschaft, die zwar von Umweltethikern vermessen wird, deren Elemente aber ineinander übergehen. Dies gilt sowohl für Argumente, die Angewiesenheiten auf natürliche Ressourcen geltend machen, als auch für Argumente, die die Bedeutung von Naturgenuss für ein erfülltes menschliches Leben geltend machen (sogenannte eudämonistische Gründe, vgl. Kap. 4). Hinzu kommt, dass, wie gesagt, heutige Argumente oftmals in der Geschichte des Naturschutzes (vor)formuliert wurden, historische und gegenwärtige Gründe aber nicht identisch sind.

Kein Argument ist selbstevident, sondern jedes Argument beruht auf Voraussetzungen und ist daher immer »frag-würdig«. Diese Voraussetzungen reichen außer in die allgemeine Ethik in mehrere klassische Felder der Philosophie hinein: in Anthropologie, Sprach- und Naturphilosophie. Voraussetzungslosigkeit ist ein falsches philosophisches Ideal. Wichtiger ist, dass auf Voraussetzungen kritisch reflektiert werden kann und soll. Von einzelnen Argumenten aus eröffnen sich immer zwei Bahnen, in denen weitere Überlegungen verlaufen können: erstens die Bahn der Reflexion auf Voraussetzungen, zweitens die Erörterung von politischen Konsequenzen (Ott 2008a). Der philosophische Weg öffnet den Blick auf ein Ensemble von Voraussetzungen, das ähnlich komplex ist wie der menschliche Naturumgang selbst. Die Dringlichkeit vieler Umweltprobleme (Kap. 1) lenkt Umweltethiker in politische Bahnen; eine politisch abstinente Umweltethik wäre nur gelehrte und erbauliche Schöngeisterei (Kap. 7 u. 8).

9. Damit ist die Gliederung dieser Einführung vorgezeichnet: Voraussetzungen, Argumente, Konsequenzen. Daher werden zunächst Gegenwartsdiagnose (Kap. 1), Anthropologie (Kap. 2) und Sprachphilosophie der Umweltethik (Kap. 3) vorgestellt. Es folgen Wert-(Axiologie) und Pflichtenlehre (Deontologie). Die Wertlehre mündet in eine Tugendlehre und in naturschutzfachliche Konzepte der Schutzgüter des Naturschutzes (Kap. 4) Die Deontologie (Kap. 5) behandelt neben der schuldigen Rücksichtnahme auf Gesundheit, Werte und Rechte anderer Personen das Problem von Verpflichtungen gegenüber zukünftigen Generationen und in gebotener Ausführlichkeit das Inklusions- bzw. Selbstwertproblem.

Eine kategorial andere Art von Gründen bezieht sich auf Religionen und die ihnen zugehörigen Theologien. Es wäre abstraktes Denken, diese Gründe von vornherein aus dem AR auszugrenzen, weil sie eo ipso Voraussetzungen enthalten, zu deren Annahme ein säkulares (agnostisches, atheistisches) Denken nicht genötigt werden kann. Dass man ihnen aufgrund solcher Prämissen den Charakter von Gründen abspricht, ist keine selbstevidente Voraussetzung. Als Bezeichnung für diese Gründe sei der Ausdruck theozentrisch gewählt, obgleich etliche Religionen wie der Buddhismus keinen personalen Gott zugrunde legen. Die Darlegung dieser Gründe in unterschiedlichen Religionen würde den Rahmen dieses Buches sprengen und die Kompetenzen des Verfassers überschreiten. Daher soll hier nur ein Vorschlag unterbreitet werden, wie der sogenannte Herrschaftsauftrag der biblischen Überlieferung zu interpretieren sein dürfte (Kap. 6). Das vierte und fünfte Kapitel sind der säkulare Mittelpunkt dieses Buches. Das sechste Kapitel ist so »über-flüssig« wie, nach Ansicht der Mystik, Gott selbst.

Es wäre in vielen Fällen misplaced concreteness, würde man versuchen, von einzelnen Gründen des AR direkt auf die Wahl einer richtigen oder falschen Einzelhandlung zu folgern. Zwar ist es möglich, dass ein bestimmter Grund eine bestimmte Handlung direkt ge- oder verbietet (Quälen eines Tieres, Anzünden eines Waldes). Dieses direkte normative Verhältnis zwischen Gründen und Handlungen ist allerdings eher die Ausnahme. Die umweltethischen Gründe können und sollen daher herangezogen werden, um situationsübergreifende Konzepte, Programme und Institutionen zu begründen. Im siebten Kapitel wird das Konzept einer ›starken‹ Nachhaltigkeit diskutiert, das ein Regelwerk für die Nutzung der Bestände der Naturkapitalien und spezielle Konzepte für unterschiedliche Landnutzungsbereiche umfasst (ausführlich Ott, Döring 2008).

Einsicht motiviert nicht hinreichend zum Handeln. Gerade im Umwelthandeln ist die Zurücksetzung schützerischer Gründe hinter andere Motive häufig, wofür es etliche Erklärungsgründe gibt (Baumgartner 2005). Viele Umweltprobleme lasen sich als Klugheitsdilemmata rekonstruieren (Trapp 1998): Ohne Regeln der Naturnutzung ist es für jeden rationalen Akteur vorteilhaft, sich möglichst viele Ressourcen anzueignen und Umweltmedien als Senken für Abfälle und Schadstoffe zu nutzen, da dies ansonsten die andern tun werden.3 Deshalb erfordert erfolgreicher Umwelt- und Naturschutz demokratisch legitimierte, rechtlich verfasste und administrativ kontrollierte Regeln und Institutionen der Naturnutzung. Das achte Kapitel befasst sich daher mit der politischen Philosophie der Umweltethik, wobei für eine diskursethische Version von environmental democracy plädiert wird, die auf die nationale und die internationale Ebene von Umweltpolitik bezogen wird. Dies erlaubt zuletzt einen visionären Ausblick (Kap. 9).

1. Die Ursachen der Naturkrise

1.1 Umweltethik ist keine gleichmütige Betrachtung dessen, was geschieht. Sie ist eo ipso besorgt darüber, was aus dem Planeten Erde, dieser spektakulären Insel des Lebens im All, im Anthropozän werden möge, d. h. in einer erdgeschichtlichen Periode, in der die zahlenmäßig wachsende, zur Erschließung neuer Siedlungsräume befähigte, technisch hochgerüstete und mehrheitlich an materiellem Wohlstand orientierte Menschheit zu einer Einflussgröße von planetarischem Ausmaß geworden ist.

Erst seit kurzer Zeit beginnen Menschen, sich um Natur und Umwelt zu sorgen. Natur war in der Vergangenheit primär Grund zur Sorge, ob und wie sich in ihr einigermaßen sicher und in günstigen Fällen behaglich überleben ließe. Sorge um die Natur war bestenfalls randständig. Die Sorglosigkeit im Umgang mit Natur war der lebensweltlichen Erfahrung früherer Zeiten durchaus angemessen. Noch heute gilt, dass in einem Leben, das von vielen Sorgen und Nöten geplagt ist (Armut, Krankheit, Unterdrückung usw.), die Sorge um Natur nicht im Vordergrund stehen wird. Häufig wird diese Wahrheit so formuliert, dass Naturschutz ein Luxus sei, den sich nur die Reichen leisten können. Diese Ansicht verkennt, dass die Sorgen armer Menschen darüber, ob die Zerstörung von Natur nicht langfristig ihnen und ihren Nachkommen die Lebensgrundlagen entziehe oder sie bedrohlich schmälere, weltweit verbreitet sind (Martinez-Alier 2002). Die Umformulierung dieser Sorgen zur oberflächlichen Halbwahrheit, Naturschutz sei Luxus, wird den wirklichen Besorgnissen der Armen und der Komplexität des Verhältnisses von Armut und Umwelt daher nicht gerecht.

Punktuelle und sporadische Naturschäden hat es seit der Antike immer wieder gegeben; so klagte man bereits zur Zeit Platons über abgeholzte Berghänge und die Folgen für das lokale Klima. Bewässerungssysteme verursachten in den Alten Reichen des Orients die Versalzung von Böden. Holzknappheit drohte im 17. und 18. Jahrhundert in Mitteleuropa. Der frühe Naturschutz war besorgt über Veränderungen von Natur und Landschaft im Zeitalter des Industrialismus. Der Umweltalarmismus der 1960er Jahre beruhte auf Sorgen um die Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen. Sorge um die Natur ist seither das Thema der sogenannten Ökologiebewegung, d. h. der politischen und kulturellen Strömung, die sich für einen verstärkten UTN-Schutz engagiert.

1.2 Wie ernst aber ist die Lage der Natur im Anthropozän wirklich? Die mittlerweile verbreitete Sorge um Natur und Umwelt könnte ja, wie Ökooptimisten meinen, (weit) übertrieben sein. Freilich darf man fragen, wie viele Arten pro Tag aussterben mögen, da die genannten Aussterberaten auf Schätzungen beruhen. Ebenso darf man fragen, ob die Klimamodelle das Ausmaß des Klimawandels und seiner Auswirkungen über- oder unterschätzen. Die früheren Umweltprobleme in den Industrieländern waren augenfällig (z. B. verschmutzte Gewässer und Smog), die heutigen Naturveränderungen begegnen den meisten Bürgern westlicher Staaten häufig in komplexen Formen des wissenschaftlichen assessment, das sich auf aggregierte Datensätze und prädiktive Modelle stützt. Diagnosen zur ökologischen Situation liegen vor als Ensemble von kontroversen Studien zu komplexen Problemen auf unterschiedlichen räumlichen Skalen. Die Frage, wie ernst die Sorge um die Natur sein sollte, hängt außer von empirischen Befunden aber auch von Einstellungen zu langfristigen Risiken, von Annahmen über eine mögliche Kumulation der Krisen, von Einschätzungen hinsichtlich der verfügbaren Lösungspotenziale und nicht zuletzt von Wertvorstellungen ab.

Einige frühere Warnprognosen (»stummer Frühling«, »Zerstörung der Ozonschicht«, »Waldsterben«) haben sich (glücklicherweise) nicht erfüllt, weil (durch das Verbot von DDT, FCKW, SO2) die Ursachen rechtzeitig bekämpft wurden. Aus umweltpolitischen Erfolgsgeschichten, die mit dem Ernstnehmen von Warnprognosen begannen, kann aber nicht gefolgert werden, dass die jetzigen Warnprognosen, insbesondere was den Klimawandel, die Degradation fruchtbarer Böden und den Verlust an Biodiversität betrifft, auf die leichte Schulter genommen werden dürfen. Warnprognosen sind auf Selbstzerstörung hin angelegt; d.h. sie sind erfolgreich dann, wenn nicht mit Sicherheit gesagt werden kann, ob etwa ohne die SO2-Reduktion viele Wälder Mitteleuropas tatsächlich großflächig abgestorben wären. Wenn der Klimawandel durch Reduktion der Treibhausgasemissionen begrenzt wird, wird man in Zukunft nicht wissen, ob all die befürchteten Folgen eines ungebremsten Klimawandels wirklich eingetroffen wären. Aus diesem Umstand ergibt sich kein Grund, Warnprognosen auf die leichte Schulter zu nehmen.

1.3 Es wird folgende grobe Diagnose zugrunde gelegt: Im globalisierten Industrialismus der Gegenwart gerät die Biosphäre insgesamt in eine kritische Situation, worüber einzelne umweltpolitische Erfolge nicht hinwegtäuschen sollten. Die Naturkrise wird an syndromartig aufeinander bezogenen und miteinander in vielfältigen Wechselwirkungen befindlichen Problemlagen manifest. Gründe zur Sorge gibt es mehr als den meisten lieb sein dürfte: Klimawandel, Verlust biotischer Vielfalt, fortschreitende Zerstörung vor allem tropischer Wälder, Verlust und Schadstoffbelastung von Böden, Wüstenbildung, wachsender Wasserstress in (semi)ariden Regionen, Überfischung der Meere und Seen, Meeresverschmutzung, Umweltfolgen der Urbanisierung und der Intensivlandwirtschaft, insbesondere der industriellen Fleischmast usw. Die Verknappung von mineralischen Rohstoffen ist nur eine Komponente der Naturkrise; dramatischer sind die Verluste an biotischer Vielfalt, fruchtbaren Böden und die Verknappung der Süßwasserbestände. Ein Aussterben der Spezies Homo sapiens sapiens droht zwar nicht; möglich ist aber, dass das Anthropozän für viele Menschen eher leidvoll, unschön und gefährlich werden könnte, insbesondere dann, wenn sie arm und schutzlos sind. Der planetarische Naturzusammenhang, der lange als unerschöpfliche Quelle von Ressourcen und als Senke für Abfallprodukte der Zivilisation angesehen wurde, erweist sich als ein fragiles, überstrapaziertes und erschöpftes Netz lebender Strukturen, das sich aufgrund menschlicher Eingriffe an vielen Stellen aufzulösen beginnt. Auf dem geplünderten Planeten treten neue Knappheitsmuster an Naturkapitalien hervor. Damit sind die herkömmlichen Konzepte von Wohlfahrt und Entwicklung fundamental infrage gestellt.

W.W. Rostow (1960) hat das Ablaufschema wirtschaftlicher Prosperität, dessen Kern eine dauerhaft hohe Wachstumsrate des BIP ist, für den einzig gangbaren Weg zum Wohlstand für die sogenannten Entwicklungsländer erklärt. Nach dem Ende der Konfrontation zwischen westlichem Markt- und östlichem Staatskapitalismus setzte sich dieses Konzept von Entwicklung als nachholende Industrialisierung in den Schwellenländern weitgehend durch. Der ungebrochen hohe Ressourcenverbrauch im Norden und der rasant ansteigende Verbrauch in südlichen Ländern intensivieren den Druck auf die Natur und rufen immense Umweltkosten hervor.4 Viele Ökonomen argumentieren, eine solche Periode sei für Entwicklungsländer notwendig, die zunächst reich werden müssten, um sich Naturschutz später leisten zu können.5 Dies ist eine riskante Strategie, denn es könnte auch sein, dass Schwellenländer dauerhaft hohe Umweltbelastungen und Naturzerstörungen hervorrufen, ohne Massenarmut beseitigen zu können. Das herkömmliche Entwicklungsmodell ist angesichts der begrenzten natürlichen Ressourcen nicht haltbar; gleichzeitig leben nach wie vor etwa fünfzig Prozent der Weltbevölkerung in absoluter Armut. Die Anliegen des Umwelt-, Natur- und Klimaschutzes scheinen den Ländern des Südens die Option auf eine Entwicklung nach herkömmlichem Muster zu nehmen.6 Die Situation scheint fatal.

Teilt man diese Diagnose, so liegt die Dringlichkeit umweltethischer Reflexionen auf der Hand. Teilt man sie nicht, wird Umweltethik keineswegs gegenstandslos, denn dass auf einem mit bald mehr als neun Milliarden Menschen bevölkerten Planeten und mit der Verbreitung westlicher Lebensstile in großen Schwellenländern eine Verschärfung der vorhandenen Umwelt- und Ressourcenprobleme drohen könnte, wird niemand in Abrede stellen wollen. Auf der Basis freundlicherer Diagnosen nimmt die Umweltethik eine eher präventive Perspektive ein. Letztendlich bleibt die Frage, in welchen ethischen Verhältnissen Menschen zur Natur stehen, selbst dann virulent, wenn man die Plausibilitäten von Krisendiagnosen dahingestellt sein ließe. Die Krisendiagnose macht den Ernst der Lage deutlich, in der wir Umweltethik betreiben; die Sinnhaftigkeit ihrer Grundfragen ist von falliblen Diagnosen unabhängig.

1.4 Die Naturkrise der Gegenwart hat Ursachen. Diese liegen in Denkformen und in Handlungs- sowie Produktionsweisen. Der Streit um »letzte« Ursachen ist in den Umweltwissenschaften von einer multifaktoriellen Analyse der Verflechtung von ökonomischen, technologischen, politischen und geistigen Faktoren abgelöst worden. Ursachenforschung muss mehrere Ebenen unterscheiden können: nähere, strukturelle und tiefe Ursachen (Henrich 2003). Die strukturellen Beschreibungen von ökologischen Problemen (kumulierende, zeitverzögerte Effekte, eine Vielzahl von Akteuren, fehlende property rights, perverse ökonomische Anreize usw.) haben durchaus eine gewisse Erklärungskraft, weshalb man sich häufig der Betrachtung tieferer Ursachen fälschlicherweise überhoben glaubt. Die tieferen Ursachen der Naturkrise liegen, so die These dieses Abschnitts, als Konstellation von Wirkkräften vor, die mit der Grundstruktur des Projekts der Moderne einhergehen. Die globale Ausweitung dieses Projekts globalisiert daher auch die Krisenphänomene. Die folgende Auflistung beginnt mit geistigen Faktoren und nähert sich strukturellen Faktoren. Jede Ursachenanalyse zieht Hinweise nach sich, wie Problemlösungen konzipiert werden könnten.

1.4.1 Der christlichen Tradition zufolge erhielten die Menschen bei ihrer Erschaffung den Auftrag, die Erde zu erfüllen, zu beherrschen und sie sich untertan zu machen (Gen 1, 26ff.). Dieser sogenannte Herrschaftsauftrag wurde im Christentum zur Grundhaltung gegenüber der Natur. Das westliche Projekt der Moderne ist in seinem geistigen Kern eine Säkularisierung dieses Auftrags. Er war für Jahrhunderte eine Hintergrundüberzeugung sozialer Praxis. Dieter Groh (2003) hat ausführlich nachgewiesen, dass das Dogma vom sogenannten »Fall Adams« in Verbindung mit dem priesterschriftlichen Schöpfungsbericht und einer Konzeption der natura lapsa bereits in der Patristik zu der Auffassung führte, Menschen seien zur Naturbeherrschung prädestiniert. Der Mensch gilt seither als höchstes Schöpfungswerk. Die Erde wird zu seinem dominium terrae, letztlich zum imperium. Das lateinische Christentum entsakralisiert die Natur. Natur an sich ist nicht heilig, und der Mensch muss sich nicht um sie, sondern um seine unsterbliche Seele sorgen, der die ewige Verdammnis droht.7 Der göttliche Auftrag, sich die Natur zu unterwerfen, wurde noch im 18. und 19. Jahrhundert zur Legitimation der realen Transformation der Natur hin zu einer Nutzlandschaft verwendet (Blackbourn 2007).

Die frühneuzeitliche Philosophie übernimmt von der christlichen Überlieferung die Vorstellung vom Menschen als Beherrscher und Besitzer der Natur. Dies gilt für Descartes, Bacon und später auch für Marx.8 Die Naturwissenschaften führen Descartes zufolge zu Erkenntnissen, die die Menschen zu »Herrn und Eigentümern der Natur« machen könnten (Descartes 1960, S. 101). Die Gründe, die zugunsten einer Beherrschung, Umformung und Nutzung von Natur sprechen, sind in der Frühen Neuzeit Gründe, die in der Nachfolge Francis Bacons davon ausgehen, dass Naturbeherrschung der menschlichen Wohlfahrt zugute kommen werde. Die Moderne ist insofern ein »Bacon-Projekt« (Schäfer 1993), das konzeptionell auf einer engen Beziehung zwischen wissenschaftlichen Experimenten und technologischen Erfindungen im Horizont einer Sozialutopie beruht, die eine Erhöhung menschlicher Wohlfahrt in den Mittelpunkt stellt. Die wissenschaftlich entzauberte Natur erscheint in dieser Denkform als wertfreie Objektivität, als stoffliches Korrelat von Arbeit und als praktisch unerschöpfliches Rohstofflager. Zentral ist die bis heute tradierte Annahme, dass ein Mehr an Naturbeherrschung ein Mehr an Wohlfahrt erbringt, ohne dass hierbei negative Nebenfolgen und Irrwege auftreten.9

Diese Annahme verdient jedoch Skepsis. So dürfte Wirtschaftswachstum allein von bestimmten Punkten an die durchschnittliche Lebensqualität nicht mehr signifikant steigern. Technologien