Über das Buch

Wenn David und Anton, zwei Jungen aus ganz unterschiedlichen Stadtvierteln, in perfekter Harmonie über den Fluss gleiten, sind sie wenigstens zwei Sommer lang zu einer idealen Einheit verschmolzen. Ein Buch über das Glück, das selbst ein Glücksfall ist, so melancholisch, so zart in seiner Beschreibung des Wassers und der Freundschaft.

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H.M. van den Brink

Über das Wasser

Novelle

Aus dem Niederländischen von Helga van Beuningen

Carl Hanser Verlag

Für Pieter

I

Vor einer halben Stunde habe ich die Flugzeuge zuletzt gehört. Sie flogen in großer Höhe schräg über den Fluß, und dann erstarb ihr schweres Brummen im Osten. Jetzt ist es wieder still, bis auf die Geräusche, die zu einer Winternacht am Wasser gehören. Unruhiger Wind. Wellen, die an die Pfähle des Bootsstegs schlagen. Keine Vögel. Nirgends plötzliches Geschnatter. Nur irgendwo hinter mir an der Uferstraße dann und wann das Klappern eines schlechtgeschlossenen Fensters. Ich stehe allein auf dem letzten Steg, dessen Holz von der Feuchtigkeit schwarz ist und spiegelglatt, und blicke aufmerksam aufs Wasser. Auf der anderen Seite des Flusses liegt die Stadt mit verdunkelten Fenstern, ziellosen Straßenbahnschienen, baumlosen Straßen. Ich schaue hinüber, sehe aber fast nichts mehr.

Einen Augenblick lang habe ich mir vorgestellt, wie es wäre, nach Osten mitzufliegen. Ich habe mir ausgemalt, wie es in dem beengten Cockpit ist, wo Männer in Lederjacken schweigend ihre Arbeit tun. Eine einzige Geste genügt ihnen, sich zu verständigen. Es gibt nur den Schein einiger Kontrollämpchen, grün und blau. Eine beleuchtete Anzeige. Vielleicht das Glühen einer Zigarette. Dann dachte ich an den immensen Raum unter dem Bauch der Maschine, wie der Kiel sich seinen Weg durch die dünne Luft sucht, ohne Halt, von nichts getragen, und mir wurde schwindlig. Ich dachte an die Entfernung zwischen den Männern und ihrem Ziel und an das, was währenddessen klein und unsichtbar unter ihnen dahinglitt: die Polder, die Heide und die Wälder, die Bauernhöfe unter ihren tiefen Dächern, die sich fröstelnd zusammenscharenden Häuser in den Dörfern, die Städte mit ihren Fabriken, und um sie herum die fahlgrauen Straßen, wo jetzt überall Menschen hinter dem gleichen schwarzen Papier an den Scheiben beisammensitzen. Ich dachte an die Seen, die kleinen und großen Kanäle, die Wassergräben und Flüsse. Ich dachte vor allem an all das Wasser, weil Wasser, silbrig, als erstes wach ist, wenn es Tag wird und das Leben wieder beginnt.

Auf der anderen Seite des Flusses liegt die Stadt. Ich sehe sie nicht, aber es ist, als könnte ich spüren, wie schwer und ängstlich sie atmet. Wie ein großes Tier, das zu lange im Winterschlaf gelegen hat und sich — stinkend, viel zu mager — fragt, ob es je wieder erwachen wird. Nicht einmal die Brücke kann ich von hier aus richtig erkennen, die Brücke mit ihren anmutigen Laternen, die das Edelsteinviertel mit den stattlichen Häusern an der Uferstraße hinter mir verbindet. Ich fröstele in meinem Regenmantel. Ich setze mich. Ich schließe die Augen. Nasser Schnee schlägt mir ins Gesicht.

Doch als ich mich hinlege und ausstrecke, spüre ich mit einemmal wieder das warme Holz am Rücken und an der Rückseite der Beine, als habe diese Wärme all die Jahre auf mich gewartet. Und dann ist es auch wieder Sommer, und über mir sehe ich einen fast wolkenlosen strahlendblauen Himmel, eine Luftkuppel, die sich straff über den Fluß, die Stadt und das Land spannt. Den ganzen Tag schon hat die Sonne die Planken des Stegs erwärmt, bis sie ganz durchglüht sind, hellgrau, fast weiß, und sehr heiß. Im Nu trocknet die Sonne auch mein verschwitztes Gesicht, so daß nur Salz zurückbleibt, das sich körnig auf meiner Haut anfühlt.

Der Steg ist eigentlich ein Floß, das mit Metallringen an mehreren Pfählen vor dem Bootshaus festgemacht ist, so daß es sich mit dem Wasserstand des Flusses heben und senken kann. Gemächlich dümpelt es auf den Mittagswellen, fast unmerklich, es sei denn, man liegt, wie ich, matt auf dem Rücken und schwebt auf seiner Müdigkeit davon, weiß nicht mehr, wo der Körper endet und wo Holz, Wasser, Himmel beginnen. Von fern höre ich David rufen.

Ich antworte nicht.

Ich schließe die Augen.

Als ich sie wieder öffne, steht er hinter mir. Ich schaue an seinen Beinen hoch, die kräftig und dunkelbehaart sind, ich sehe, daß er das Hemd ausgezogen und sich um die Schultern gelegt hat.

»Groggy?«

Ich kann sein Gesicht nicht richtig erkennen, weiß aber, wie er dabei schaut. Spöttisch. Freundlich und spöttisch. So schaut er eigentlich immer. Er hat das Gesicht und den Körper eines Menschen, dem bei seiner Geburt nicht nur ein Leben, sondern dazu auch gleich die ganze Welt in den Schoß gelegt wurde. Darum begegnet er uns, den anderen, so ruhig, mit Freundlichkeit und Spott.

»Kaputt? War’s zuviel?«

Ich sage nichts und reagiere auch nicht auf die Hand, die mir entgegengestreckt wird, um mir auf die Füße zu helfen. Schließlich bin ich kein Invalide. Ich rolle auf die Seite und stelle mich in einer schnellen, geschmeidigen Bewegung neben ihn. Wenn ich stehe, bin ich so groß wie er. Nicht so kräftig. Nicht so ruhig. Aber genauso lang.

Jetzt sehe ich, daß auch er müde ist. Schweiß läuft ihm noch immer in Bächen unter den schwarzen Locken hervor, an der Nase entlang, bis in den Mund. Er grinst und wischt ihn mit seinem zusammengerollten Hemd weg. Zum erstenmal wage ich den Gedanken, daß er nicht nur mein Partner ist, sondern mehr, vielleicht sogar ein Freund. Wir haben hart trainiert. Unter der grellen Sonne, unter dem straffgespannten Himmel sind wir, so schnell wir konnten, über den Fluß gefahren. Ein kleines Stück weiter unten am Floß liegt das leere Boot, die Messingdollen sprühen Funken, die Riemen sind kreuzweise übereinandergelegt. Wir heben das Boot aus dem Wasser. Wir ziehen ein Tuch über die Zedernholzhaut, um es abzutrocknen, bringen es hinein und gehen die Riemen holen. Und dann, während wir gemeinsam wieder zur Bootshalle gehen, jeder mit einem Riemen in der Hand, legt mir David für einen Moment den Arm um die Schultern. Nicht freundlich, sondern freundschaftlich. Nicht spöttisch, sondern echt. Ich bin so müde. Ich kneife in das harte Holz des Riemens und spüre, wie sich meine Muskeln noch einmal anspannen. Ein tiefes Glücksgefühl wogt durch meine Hände, Arme, Schultern, Brust und Beine. Ich bin müde und glücklich.

Glück? Darüber spricht man nicht. Ein Wort zuviel, und es ist lächerlich. Zwei Worte, und es ist verschwunden, fort. Und dennoch fühlt es sich nicht zerbrechlich an, das Glück dieses Sommers. Es ist aus Fleisch und Muskeln, aus Sonne und Holz, aus Wasser und Stein. Man kann es festhalten und den Kopf darauf legen. Ich halte es stundenlang in der Hand, und es vergeht nicht.

Und auch jetzt noch halte ich jenen Sommer fest, nicht nur in Gedanken, sondern mit dem ganzen Körper, von den erstarrten Fingern bis zu den Zehen. Jenen Sommer, in dem der Fluß uns gehörte und auch das Bootshaus, die Stadt, die Wiesen und das Schilf entlang dem Wasser. Glück existiert nur, wenn man es berühren kann, und ich hielt es fest, ich halte ihn immer noch fest, jenen Sommer 1939, jetzt, hier, heute nacht. Ich höre das leise Murmeln des Wassers, und tief in meinen Knochen spüre ich noch immer die Wärme des Holzstegs.

Meine früheste Erinnerung an den Fluß besteht in erster Linie aus Licht und Raum. Ich sehe mich und meinen Vater durch die Straßen unseres Viertels gehen, durch die Topaasstraat, am Platz mit dem Badehaus vorbei und dann in die breite Smaragdstraat, die nicht in eine andere Straße überging, sondern in die breite Straße entlang dem Fluß mündete und damit in ein Meer von Sonnenlicht, in dem Bäume rauschten und Fahnen flatterten und eine große Menschenmenge auf den Beinen war, deren Lärm, statt den Raum zu füllen, in alle Richtungen hin ausschwärmte, über das Wasser, dem Himmel entgegen.

Ich muß zwei oder drei Jahre alt gewesen sein, nicht viel älter, denn ich saß auf den Schultern meines Vaters, und mein Vater ist klein und schmächtig und nicht stark. Ich denke, daß eine Regatta oder ein anderes Wasserfest stattfand, zu dem er mich mitgenommen hatte, denn in meiner Erinnerung ist der Fluß ein Teppich aus silbrigen kleinen Wellen und darauf unzählige große und kleine Schiffe.

Seitdem habe ich noch viele solcher festlichen Tage miterlebt, und obwohl es manchmal heißt, der erste Eindruck sei stets der stärkste, kommt es mir nicht so vor, daß die Freude über ein solches Fest auf dem Fluß schwächer geworden wäre. Eher war es eine Liebe auf den ersten Blick, die danach nur noch tiefer und heftiger wurde. Auch später genoß ich es, wenn sich die Wasserfläche an einem freien Tag mit Vergnügungsjachten, Kreuzern, Ruderbötchen, Lastkähnen, Fährbooten und Tjalken füllte, mit flachgehenden Gemüsekähnen aus Eisen und Holz, eleganten geklinkerten Jollen, mit Schleppern und allem, was sonst noch schwimmen und sich im Wasser fortbewegen kann, alles geschmückt und randvoll mit fröhlichen Menschen beladen, die grundlos lachen und rufen, weil die Sonne scheint und sie ohne festen Boden unter den Füßen stehen und sitzen können, aus purer Freude über einen schönen, nutzlos verbrachten Tag auf dem Fluß. Ich habe den Fluß auch in leeren Augenblicken kennengelernt, unter dahinjagenden Wolken, mit Wellen, die sich gegenseitig auf den Leib rücken und dafür sorgen, daß sich sogar das stärkste Schiff allein und abhängig fühlt, im Winter, kurz bevor das Wasser zu Eis wird, im Herbst, im tückischen Frühjahr, während eines Sommerregens, wenn das Wasser plötzlich aus seiner Trägheit gepeitscht wird und Pockennarben bekommt durch einen unverhofften Schauer am Ende des Tages — und all diese Gesichter habe ich lieben gelernt. Der Fluß hat mich gelehrt, was es bedeutet, sich zu bewegen, und daß Bewegung Leben ist. Klingt das übertrieben? Vielleicht ist es das auch. Aber so empfinde ich es, so und nicht anders.

An jenem Tag, an dem ich das Wasser zum erstenmal bewußt sah, muß ich bereits etwas von seiner besonderen Macht gespürt haben. Vielleicht habe ich aber auch aus diesem Tag das erste Mal gemacht, weil ich mittlerweile den Fortgang der Geschichte kenne. Wie dem auch sei, neben den Farben und dem Glanz erinnere ich mich ganz besonders an ein Bild, das einen unauslöschlichen Eindruck auf mich gemacht hat.

Der Nachmittag neigte sich dem Ende zu, auf dem Fluß und in den nahe gelegenen Straßen war es bereits ruhiger geworden. Wir waren die Uferstraße entlanggegangen und die Stufen zu der Brücke mit den gußeisernen Laternen hinaufgestiegen, der Brücke, die die herrschaftlichen Häuser auf der ruhigen Seite des Wassers stolz und imposant mit der Stadt verbindet. Auf der Mitte der Brücke blieben wir stehen. Mein Vater hob mich von seinen Schultern herunter und ließ mich über das Geländer nach unten schauen. Aus dieser großen Nähe war das Wasser nicht silbern, sondern graublau und grün. Genau in dem Moment, als ich mich weit vorbeugte und mein Vater mich unter den Achseln zurückzuziehen versuchte, schoß unter dem Brückenbogen zu unseren Füßen eine Messingspitze hervor, gefolgt von einem beinahe ebenso ranken Bug, der mit silberweißem Stoff bespannt war. Da war keine Zeit, sich von dem ersten Staunen zu erholen, denn der Bootsspitze folgten der erste, der zweite, der dritte von insgesamt acht Männern, die wie eine Perlenkette unter der Brücke hervorgezogen wurden oder, besser gesagt: fahrend und gleitend, scherenförmig ausgreifend und links und rechts vor sich langend sich selbst hervorzogen, während sie mit ihren langen Riemen das Wasser packten, von sich schoben und wieder losließen, acht Männer in weißen Hemden und in perfektem Rhythmus, gefolgt von einem kleinen Steuermann mit blauer Jacke und einer Messingflüstertüte vor dem Mund, wie der Punkt unter einem langen Ausrufezeichen. Es war in wenigen Sekunden vorbei, doch solange ich konnte, starrte ich den Ruderern nach, und nicht nur diesen, sondern auch der Spur, die sie unter der Brücke hinter sich herzogen, einer Spur aus Linien und Wirbeln, wo die Riemen das Wasser kraftvoll gepackt hatten, wie Fußabdrücke, die in dem Moment, in dem sie entstanden, sich bereits wieder zu verwischen begannen, indem sie langsam ineinanderflossen.

Ich weiß nicht, was in diesem Augenblick den größten Eindruck auf mich machte, die geschmeidige Art und Weise, in der sich die Männer zusammen bewegten, oder die Bewegung, die sie im Fluß verursachten.

Ich weiß nur, daß ich den Atem anhielt, denn wenn ich daran zurückdenke, tue ich es wieder.

Mein Vater war klein und schmächtig und nicht stark. Es dauerte nicht lange, bis ich das erkannte. Mit Muskelkraft hatte diese Erkenntnis im übrigen nichts zu tun. Jedes Kind hat Vertrauen in die Macht seines Vaters, solange dieser in der Lage ist, sich zwischen das Kind und die Welt zu stellen. Doch noch bevor ich über solche Dinge nachdenken, geschweige denn sprechen konnte, muß ich gespürt haben, daß mein Vater sich selbst nur mit Müh und Not in dieser Welt behauptete. Ich erkannte das an der scheuen Art, wie er jeden Morgen in der dunkelgrauen Uniform der Straßenbahngesellschaft das Haus verließ — mein Vater war wohl der einzige Mann auf der Welt, dem das Tragen einer Uniform weder Macht noch Autorität verlieh, der im Gegenteil noch mehr Angst und Ohnmacht ausstrahlte, als könne jeder jetzt erst so richtig erkennen, daß er seine Kleidung hochhielt wie einen Schild. Und es hing auch mit der Art und Weise zusammen, wie er jeden Abend wieder nach Hause kam, wie ein Tier, das froh ist, seine Höhle erreicht zu haben, es aber noch kaum glauben kann. So behandelte meine Mutter ihn auch. Leise vor sich hin murmelnd und wehklagend umhegte sie mit ihrem Sorgen den Stuhl, auf dem er niedergesunken war. Sie goß ihm eine Tasse Tee oder Zichorie ein, öffnete seinen Kragen, schleppte eine Schüssel Wasser für seine schwieligen Füße an.

Ich habe meinen Vater nie verachtet für das, was er war, ich bin mir sogar sicher, ihn geliebt zu haben. Zuerst, weil es eine Zeit, eine kurze Zeit gegeben hat, in der er mich tatsächlich hochheben und auf seinen Schultern mit hinausnehmen konnte, und später, weil ich sah, daß er für sich selbst schon so viel Mut aufbringen mußte, um sich draußen behaupten zu können, daß wirklich nichts übrigblieb für Kind und Frau. Ich erkannte schon sehr früh, daß ich auf mich allein gestellt war. Das machte mich zu einem stillen, in sich gekehrten Jungen, der sich zwischen den Möbeln und Teppichen der Etagenwohnung seine eigenen Spiele ausdachte und nur gegen sich selbst gewinnen und verlieren konnte. Später zu einem ernsten, pflichtbewußten Schüler, der wegen seiner Unfähigkeit, den Mund aufzureißen, bei den anderen manchmal sogar als hinterhältig galt. Das einzige Kind zwischen zwei Eltern, die genug mit sich selbst zu tun hatten in einem schmalen, dunklen Haus.

Für meine Eltern muß dieses Haus mit seinen bizarren Erkern und den Fenstern, die kaum größer als Schießscharten waren, die Erfüllung eines Wunschtraums gewesen sein. Sie waren die ersten Bewohner, der Zement war noch nicht trocken in den Fugen, als sie hinter ihren einfachen Möbeln die Treppe hinaufgingen. Nicht die neue Straße war wichtig für sie, nicht die Wohngegend und schon gar nicht die Nachbarn, die allesamt neu und fremd waren, sich jedoch bereits vom ersten Tag an in Begrüßungen, Begegnungen, Besuchen, Geschichten, gegenseitigen Hilfeleistungen ergingen, sich daranmachten, ihr Leben einzurichten, auf daß es lebenswert, fröhlich und lohnend werde. Meine Eltern entzogen sich, soweit es ging, jedem gesellschaftlichen Verkehr. Nicht von den Leuten, sondern vom Haus versprachen sie sich Geborgenheit und Glück, vom Dach, den Zimmerdecken, den Wänden, von Kalk und Stein. Ich weiß genau, daß sie es bei jenem ersten Mal mit dem festen Vorsatz betraten, mit jedem Winkel und jeder Fußleiste zu verwachsen, damit es nicht nur aus sozialen, sondern auch aus biologischen Gründen unmöglich wäre, sie je wieder aus diesem Haus zu zerren. Für sie war es von Vorteil, daß es dunkel und eng war, denn es sollte möglichst wenig Ähnlichkeit mit dem Rest der Welt haben.

Unser Viertel war in den Jahren der Wirtschaftskrise von den mächtigen Männern der Stadt geplant worden, sozial engagierten Patriarchen, die es als ihre heilige Pflicht ansahen, der Bevölkerung ein Dach über dem Kopf und solide Mauern zu geben. Doch allenfalls theoretisch erkannten sie das Recht ebendieses Volkes auf eine Wohnung nach eigenem Wunsch und Geschmack an. Sonst hätten sie uns wohl Licht gegeben, Raum und große Fenster, anstatt die Bewohner einem rein geometrischen Straßenplan zu unterwerfen, einer Aufeinanderfolge von Plätzen, Geschäften, Badehäusern und Hauseingängen, die nur auf eine einzige Art und Weise begangen werden konnte, sowie einer derart zwingenden Grundrißgestaltung, daß kein Stuhl an eine Stelle gestellt werden konnte, die die Verantwortlichen für gesellschaftlich unvertretbar hielten, ganz zu schweigen von einem Tisch oder Sofa.

Lediglich in den Häuserfassaden unterschieden sich die Straßen voneinander. Manche wogten und mündeten in strenge rechte Winkel, andere waren gerade, trafen sich jedoch zu runden Türmen, gekrönt von Zinnen und geziert mit robusten Figuren, als hätte das Mittelalter hier eine Stippvisite gemacht. Die Backsteine waren in die merkwürdigsten Muster gelegt, um ein faszinierendes Spiel von Linien und Formen zu schaffen, nicht zugunsten der einzelnen Häuser oder ihrer Bewohner, sondern als Teile und zum Vorteil des Ganzen, der Straße, des Viertels, der Ästhetik. Dachziegel, Fensterrahmen, Regenrinnen, Türen, Treppen, ja, sogar die Hausnummern schienen in erster Linie als Ornament gedacht. Sie gehörten uns nicht und würden uns auch nie gehören, wir durften lediglich hinter ihnen wohnen.

Meine Eltern waren die idealen Bewohner dieser neuen Wohngegend. Bürger, die aufrichtig glücklich waren über die Wohltat, die ihnen der Staat zukommen ließ. Menschen ohne Gesicht, Figuren in den Architekturzeichnungen, die im In- und Ausland bewundert wurden. Gehorsame Kinder der wohlmeinenden Patriarchen, Kinder, die, einmal auf ihren Platz gesetzt, keine Klage mehr von sich geben und sich vor lauter Dankbarkeit auch nicht mehr bewegen würden, als unbedingt notwendig und wünschenswert war.

Wie oft habe ich meine Eltern zueinander sagen hören, welch großes Glück es sei, daß mein Vater nicht nur eine Wohnung habe finden können, sondern überdies noch eine, die so nah bei seiner Arbeitsstätte lag. Er arbeitete bei den städtischen Verkehrsbetrieben, im großen Straßenbahndepot, das einen Ausgang mit einer breiten Türreihe zum Deich entlang dem Fluß hat. Kurze Zeit folgen die schimmernden Schienen dem Wasserlauf und biegen dann eine nach der anderen in verschiedene Richtungen ab, zum Zentrum mit den großen Geschäftsstraßen, den Kaufhäusern und dem königlichen Palast, zu den Häfen, zum Bahnhof, zu den anderen Außenbezirken, die nicht wie der unsrige am Wasser endeten, sondern an Wiesen, mit kleinen Gärten, Tieren, aufgespültem Land. Mein Vater hat all diese Orte nie gesehen, vermute ich, und war bestimmt auch nie neugierig darauf. Seine Arbeit fand im Depot statt, er war zuständig für die stillstehenden Straßenbahnen, für die Instandhaltung von Leitungen und Rädern, für die Säuberung von Fußböden und Bänken. Auch das Depot ist oft still und immer dunkel. Es war für ihn ein zweites Zuhause.

Es gibt noch eine Erinnerung aus meiner Kindheit, die mit dem Fluß verbunden ist. Es war ein heißer, ein sehr heißer Sommertag. Ich war fünf oder sechs Jahre alt. Man hatte für den Bau der neuen Brücke Sand abgekippt. Die neue Brücke gehörte zu unserem Viertel, sie war im Stil unserer Straßen erbaut und würde, frech ausgestattet mit Straßenbahnschienen, modernen Lampen und Drähten, eine Bresche in die stille Stattlichkeit der gegenüberliegenden Seite schlagen. Ich sehe die Kräne noch schwimmen, die Rammpfähle und Spundwände im Wasser stehen. Und ich sehe den Sand. So viel lag da, daß vorübergehend ein weißgoldener Strand mitten in der Stadt entstanden war, ein Strand, der ein kleines Stück vom Ufer entfernt begann und verführerisch zur Kühle des Flusses abfiel.

Es muß die Hitze gewesen sein, die meine Mutter aus dem Haus trieb. Sie war nicht der Mensch, der sich an einem ganz gewöhnlichen Wochentag einfach so, ohne Grund, zu einem Spaziergang aufgemacht hätte. Und es muß auch die Hitze gewesen sein, die sie dazu bewog, zu diesem kleinen Strand zu gehen. Vielleicht aber auch war ich es, der, so klein ich auch war, listig ihre Befangenheit ausnutzend, seinem Hang zum Wasser folgte und ihre Schritte lenkte. Sie trug ein Kleid aus unbehaglicher Kunstseide und einen weißen Topfhut mit einer Schleife. Die Sommergarderobe. Während ich neben ihr ging, konnte ich ihren traurigen Schweißgeruch riechen, und je näher wir dem Fluß und dem kleinen Strand kamen, desto stärker empfand ich, wie sie ihre Macht über mich verlor, daß sie mich nicht mehr aufhalten konnte und daß nun tatsächlich ich bestimmte, was geschehen würde. Am Ufer blieb sie stehen, während ich nach unten rannte. Ich hörte noch eine Warnung, auf die ich aber nicht achtete, und ihre Stimme ging auch fast im selben Augenblick im Geschnatter der Stimmen um mich herum unter. Scharen von Kindern, einige im Badeanzug, die meisten jedoch einfach in Hemd und Unterhose, planschten im Wasser und tummelten sich am Strand. Lachende Gesichter, staksige Beine, Bäuche, Schultern, weiße und rosafarbene und rote und braune Haut — und über alldem ein Regen von Wassertropfen und Sonnenstrahlen, ein heller Dunst von Fröhlichkeit. Ich atmete tief ein. Dann zog ich meine Schuhe aus. Und die Socken. Ich ließ sie auf dem Sand und ging, mit kurzer Hose und Baumwollbluse bekleidet, langsam zum Wasser. In meiner Erinnerung gibt es dann einen Augenblick lang keine Geräusche mehr. Keine schreienden und johlenden Kinder, keine rufenden Mütter. Ein feierlicher Moment. In einem Tunnel der Stille schritt ich ins Wasser. Ein kleiner Johannes der Täufer, auch wenn sich der Erlöser noch lange nicht blicken ließ.

Als mir die Wellen bis an die Knie gingen, blieb ich stehen. Wurde mir da bewußt, daß ich das einzige angezogene Kind unter all den anderen halbnackten Wassergeschöpfen war? Ich weiß es nicht, ich weiß nur noch, daß ich auf meine Beine starrte und sah, wie dünn und weiß sie waren, und fühlte, wie wohltuend das dunkle Wasser meine Schienbeine wie eine Vase umschloß.

Ich stand dort, bis die Geräusche wiederkehrten, und dann knöpfte ich meine Bluse auf, zog das Unterhemd aus und schlug mit einer Hand auf das Wasser. Ich blickte zu den anderen Kindern um mich herum und lachte ihnen fröhlich zu, obwohl mich keines von ihnen beachtete. Ein Schleppkahn fuhr vorbei, der unter allgemeinem Jubel eine Reihe von langen Wellen in die Richtung des Strandes schickte. Das Wasser spritzte an meine magere Brust, und ich erschauerte vor Genuß. Ich strich mit der Hand über meine Rippen, von denen ich jede einzelne fühlen konnte, ich betastete meinen kleinen, weichen Bauch und merkte, daß ich Gänsehaut bekommen hatte, freilich nicht von der Kälte. Meine gute Hose färbte sich dunkel von den Wellen. Ich drehte mich um.

Am Ufer stand meine Mutter und gestikulierte wild, allerdings auch wiederum nicht zu wild, denn sie wollte kein Aufsehen erregen. Es ging ihr nur um mich. Ich tat, als sähe ich sie nicht. Ich warf meine Kleider aufs Trockene und rannte am Wasser entlang. Ich tauchte die Arme ein, spritzte ziellos herum, spürte Sonne und Wasser zugleich. Es war nicht die Großartigkeit des Flusses, die mich diesmal verzauberte, sondern vielmehr die Greifbarkeit, die Nähe des Wassers. Man konnte es anfassen, es vermischte sich mit Sand und wurde zu Schlamm, mit Luft, und es war Regen, man fühlte es zwischen den Fingern, und wenn es auch gleich wieder weg war, man hatte es doch bewegt.