Über das Buch

Das Böse hat Hochkonjunktur: Bürgerkriege, Chaos, Gewalt und ängstigende Leere sind Phänomene unserer Zeit. Woher kommt diese Resistenz? Safranski beschreibt das Böse als eine Möglichkeit der menschlichen Freiheit. Er geht dabei zu den Ursprüngen unserer Zivilisation zurück, zu den Mythen, und begleitet von dort aus die unheimliche Karriere des Bösen bis in unsere Zeit. Das Buch lädt ein zu einer aufschlußreichen Reise in die Finsternis.

signet chv.png

Rüdiger Safranski

Das Böse

Carl Hanser Verlag

Ulrich Wanner, dem Freund,
solang ich denken kann

Inhalt

VORWORT

ERSTES KAPITEL

ZWEITES KAPITEL

DRITTES KAPITEL

VIERTES KAPITEL

FÜNFTES KAPITEL

SECHSTES KAPITEL

SIEBTES KAPITEL

ACHTES KAPITEL

NEUNTES KAPITEL

ZEHNTES KAPITEL

ELFTES KAPITEL

ZWÖLFTES KAPITEL

DREIZEHNTES KAPITEL

VIERZEHNTES KAPITEL

FÜNFZEHNTES KAPITEL

SECHZEHNTES KAPITEL

SIEBZEHNTES KAPITEL

Bücher, die in diesem Buch eine Rolle spielen

Danksagung

VORWORT

Man muß nicht den Teufel bemühen, um das Böse zu verstehen. Das Böse gehört zum Drama der menschlichen Freiheit. Es ist der Preis der Freiheit. Der Mensch geht nicht in der Natur auf, er ist das »nicht festgestellte Tier«, wie Nietzsche einmal sagte. Das Bewußtsein läßt den Menschen in die Zeit stürzen: in eine Vergangenheit, die ihn bedrängt; in eine Gegenwart, die sich entzieht; in eine Zukunft, die zur Drohkulisse werden kann und die Sorge wachruft. Es wäre alles einfacher, wenn das Bewußtsein nur bewußtes Sein wäre. Aber es reißt sich los, wird frei für einen Horizont von Möglichkeiten. Das Bewußtsein kann die gegebene Wirklichkeit transzendieren und dabei ein schwindelerregendes Nichts entdecken oder einen Gott, in dem alles zur Ruhe kommt. Und es wird den Verdacht nicht los, daß dieses Nichts und Gott vielleicht doch ein und dasselbe sind. Jedenfalls kann ein Wesen, das ›nein‹ sagt und die Erfahrung des Nichts kennt, auch die Vernichtung wählen. Die philosophische Tradition spricht in bezug auf diese prekäre Situation des Menschen von einem ›Mangel an Sein‹. Aus der Erfahrung dieses Mangels entspringen wohl auch die Religionen. Wenn in ihnen Weisheit ist, dann vergegenwärtigen sie einen Gott, der die Menschen davon entlastet, füreinander alles sein zu müssen. Sie können aufhören, ihren Mangel an Sein aufeinander abzuwälzen und sich wechselseitig dafür haftbar zu machen, wenn sie sich fremd in der Welt fühlen. Sie brauchen nicht ganz von dieser Welt zu sein und können deshalb jene Unruhe dämpfen, von der Georg Büchner sagte: »Es fehlt uns etwas, ich habe keinen Namen dafür — aber wir werden es einander nicht aus den Eingeweiden herauswühlen, was sollen wir uns drum die Leiber aufbrechen?«

Das Böse ist kein Begriff, sondern ein Name für das Bedrohliche, das dem freien Bewußtsein begegnen und von ihm getan werden kann. Es begegnet ihm in derNatur dort, wo sie sich dem Sinnverlangen verschließt, im Chaos, in der Kontingenz, in der Entropie, im Fressen und Gefressenwerden. In der Leere draußen im Weltraum ebenso wie im eigenen Selbst, im schwarzen Loch der Existenz. Und das Bewußtsein kann die Grausamkeit, die Zerstörung wählen um ihrer selbst willen. Die Gründe dafür sind der Abgrund, der sich im Menschen auftut.

Dieses Buch bahnt sich einen Weg durch das Dickicht der Erfahrung mit dem Bösen und des Nachdenkens darüber. Das Böse gehört nicht zu den Themen, denen man mit einer These oder einer Problemlösung beikommen könnte. Auf den notwendig verschlungenen Wegen mögen sich da und dort Perspektiven eröffnen, die etwas weiter sehen lassen.

Der Weg beginnt bei einigen Ursprungsgeschichten, Mythen, die von den Katastrophen des Anfangs und der Geburt der Freiheit erzählen (Kapitel 1). Aber kann der Mensch, in dem das Bewußtsein der Freiheit erwacht, sich überhaupt nach sich selbst richten? Das antike Denken traut es ihm zu (Kapitel 2), das christliche nicht. Das Beispiel Augustin zeigt (Kapitel 3), daß es dabei nicht nur um die moralische Bindung geht, sondern um die Frage, wie der Mensch seinem Verlangen nach Transzendenz die Treue halten kann. Der Transzendenzverrat, die Verwandlung des Menschen in ein eindimensionales Wesen, ist für Augustin das eigentlich Böse, die Sünde wider den Heiligen Geist. Das Böse hat also etwas zu tun mit der Verstockung des Geistes und der Trägheit des Herzens. An dieser Einsicht halten auch noch Schelling und Schopenhauer fest (Kapitel 4, 5). Beide erklären: wer das metaphysische Bedürfnis verrät, unterbietet dramatisch die menschlichen Möglichkeiten und liefert sich den sinnverlassenen Selbstbehauptungskämpfen aus. Wie aber kann man den Menschen davor bewahren, daß er sich selbst verrät? Wie kann man ihn vor sich selbst schützen? Augustin vertraut auf die Kirche, die heilige Institution. Doch auch wenn der Gottesbezug sich aufgelöst hat, kann der Glaube an die Institutionen erhalten bleiben, wie das Beispiel Gehlen zeigt (Kapitel 6). Die Institutionen geben den menschlichen Angelegenheiten Dauer, Festigkeit und Grenzen. Auf die Grenzen kommt es an, da zum Drama der Freiheit auch der Wille gehört, sich zu unterscheiden. Unterscheiden heißt Grenzen ziehen. Mit dem Kampf um den Unterschied und die Grenze beginnen die elementaren Verfeindungsverhältnisse (Kapitel 7). Wir und die Anderen, das Reich und die Barbaren — diese Aufteilung bedingt die Dynamik der Geschichte, die darum auch eine Geschichte der Verfeindungen ist. Zu Pflugscharen werden die Schwerter erst, wenn sie ihre Arbeit verrichtet haben. Doch auch der Traum von der friedlichen Einheit des Menschengeschlechtes ist alt (Kapitel 8). Die Geschichte vom mißlungenen Turmbau zu Babel erzählt davon. Kant hat der Vernunft diesen Traum zur Prüfung vorgelegt. Man sollte, sagt er, an der Idee der Einheit festhalten und doch die Fallhöhe zur Wirklichkeit nicht vergessen. Rousseau aber hat mit größerer Hingabe geträumt (Kapitel 9). Er stellt sich die Gesellschaft im Bilde der großen Kommunion vor. Doch da der Andere immer der Andere bleibt, kann das Einheitsverlangen jäh umschlagen in das Gefühl, von Feinden umringt zu sein. So ist es Rousseau ergangen. Er hat die Pluralität nicht als Herausforderung angenommen. Anders die Tradition des liberalen Denkens, dessen Programm gegen das Böse lautet: man wird die Menschen nicht verbessern können, man muß vielmehr in die Vernunft der Strukturen investieren (Kapitel 10). Nicht die Beschaffenheit der Menschen, sondern die Art ihrer Verbindung untereinander entscheidet darüber, ob sich die Geschichte zum Guten oder Schlechten entwickelt. Die einen setzen auf den Markt und die Gewaltenteilung, die anderen auf die Produktionsverhältnisse. Beidemal aber werden die Risiken der Freiheit wohl doch unterschätzt. Es gibt da Abgründe, in welche die imaginären Exzesse des Marquis de Sade blicken lassen (Kapitel 11). An seinem Beispiel läßt sich jenes Böse entdecken, das sich selbst will und schließlich nur noch das Nichts will. Es war die Ästhetik des Schreckens, die jenes verlockende und bedrohliche Nichts erkundete (Kapitel 12, 13), bis dann mit Nietzsche der Nihilismus zum vollkommenen Bewußtsein seiner selbst durchgedrungen ist und der Wille zur Macht und die Arbeit am ›Menschenmaterial‹ zum Sinn von ›großer Politik‹ ausgerufen wird (Kapitel 14). Mit Hitler wurde der finstere Wahn des Jahrhunderts zum blutigen Ernst (Kapitel 15). Hitler ist die letzte Enthemmung der Moderne. Seitdem kann jeder wissen, wie bodenlos die menschliche Wirklichkeit ist. Als man aufhörte, an Gott zu glauben, versuchte man es mit dem Glauben an den Menschen. Nun macht man die überraschende Entdeckung, daß der Glaube an den Menschen womöglich leichter war, als man noch den Umweg über Gott nahm. Das vorletzte Kapitel wendet sich Hiob zu (Kapitel 16), um an seinem Beispiel einer Art der Frömmigkeit nachzugehen, die zu denken gibt. Sie ist grundlos und eben darum eine genaue Entsprechung zur Abgründigkeit der Welt. Sie zeigt auch, welche eigenartige Bewandtnis es mit dem Weltvertrauen hat (Kapitel17). Braucht es gute Gründe oder gleicht es eher einem Versprechen, von dem man nicht genau weiß, ob man es erhalten oder ob man es gegeben hat?

ERSTES KAPITEL

Der Ursprung und die Katastrophe. Hesiods Götterinferno. Der biblische Sündenfall und die Geburt der Freiheit. Die Genealogie der Verneinungen. Kain und Abel. Die Karriere des Teufels. Die Vertreibung aus dem Paradies und die Flucht in die Zivilisation. Noah. Auch Gott lernt, mit dem Bösen zu leben.

Wenn man in einer unübersichtlichen und gefährlichen Lage nach einem Ariadnefaden sucht, der einen aus dem Labyrinth herausführt, dann wendet man sich den Ursprüngen zu.

Dem Ursprung kann man im doppelten Sinne entspringen. Man entkommt ihm oder man kommt nur von ihm her und entkommt ihm darum gerade nicht. Man kommt nicht von ihm los und wendet sich an ihn, um herauszubekommen, was mit einem selbst los ist. So ist der Ursprung entweder ein Anfang, den man hinter sich gelassen hat, oder einer, der nicht aufhört anzufangen.

Ursprungsgeschichten sind Mythen und in neuerer Zeit theoretische Erklärungen mit suggestivem Orientierungswert.

Im alten Ägypten war die Mythe vom Luftgott Schu lebendig. Er galt als die Personifikation des Staates, da er die Aufgabe hatte, den Himmel hoch über die Erde emporzustemmen, damit er nicht einstürze. Er hält das Himmelsgewölbe den Menschen vom Leibe und hält so zugleich die Verbindung zwischen Himmel und Erde. So befindet sich die Weltordnung in einer heiklen Balance. Sie ist die aufgehaltene Katastrophe. Folglich muß man mit Schu pfleglich umgehen, sonst kann es geschehen, daß er das Ganze einstürzen läßt.

Schu, wie er dasteht und den Himmel stemmt, repräsentiert aus ägyptischer Sicht nicht den ersten Akt des Weltendramas. Er ist lediglich der Ursprung der stabilen Welt. Zuvor, bei dem Ursprung vor dem Ursprung, gab es Chaos, denn die Menschen hatten sich gegen die Götter empört, die mit ihnen lebten. Es gab Aufruhr unter einem Himmel, den es noch nicht gab. So wurde der Himmel emporgewölbt und die Götter hatten sich hinter das Gewölbe zurückgezogen, um Ruhe zu haben vor den Menschen. Würde das Gewölbe einstürzen, müßten die Götter wieder in die Menschenwelt einbrechen — das wäre die Katastrophe. Denn die Götter sind gewaltig und gewalttätig. Davon berichten, einige Jahrhunderte später, die Theogonien des Hesiod.

Dort ist der Anfang vor dem Anfang ein Inferno aus Gewalt, Mord und Blutschande. Der Kosmos, wie ihn das Griechentum kennt, erscheint vor diesem Hintergrund als ein endlich triumphierender Friedensschluß nach einem schlimmen, verwüstenden Bürgerkrieg zwischen den Göttern. Mit der Hesiodschen Theogonie blickten die Griechen in den Abgrund, eine stete Erinnerung daran, welchem Grauen die Zivilisation und der Kosmos wohl abgerungen sind.

Am Anfang gebar, von Eros geschwängert, die »breitbrüstige« Gaia (die Erde) den Uranos, den Himmel. Der bedeckte und begattete sie. Der erste Inzest. Daraus geht die zweite Göttergeneration hervor, die Uraniden. Das sind die Titanen, unter ihnen Okeanos und Kronos, sowie einäugige Zyklopen und einige Hundertarmige. Uranos aber haßte die Titanen, also die Kinder, die er mit seiner Mutter gezeugt hatte. Er stopfte sie zurück in ihren Leib. Gaia will sie nicht bei sich behalten und spricht zu ihnen: »Ihr Söhne, die ihr aus mir und einem Zornigen hervorgegangen seid …, wir werden den verbrecherischen Frevel eines Vaters rächen, auch wenn er euer eigener Vater ist, denn als erster hat er schändliche Werke geplant.« Kronos übernimmt die Aufgabe des Rächers. Als sein Vater Uranos wieder in Gaia eindringen will, kastriert er ihn mit einer Sichel. Er wirft die Geschlechtsteile — Uranos hat mehrere — ins Meer. Aus dem Schaum, der sich bildet, geht Aphrodite hervor.

Kronos tritt nun an die Stelle seines Vaters. Mit seiner Schwester zeugt er die dritte Göttergeneration, unter ihnen Demeter, Hades, Poseidon und schließlich Zeus. Kronos hatte von seinem Vater erfahren, daß er eines Tages unter den Schlägen seines eigenen Sohnes umkommen werde. Darum verschlingt Kronos seine Kinder, sobald sie zur Welt kommen. Nur Zeus bleibt verschont, denn die Mutter hält ihn auf Kreta in einer unzugänglichen Grotte versteckt. Der zurückgekehrte Zeus zwingt seinen Vater, die aufgefressenen Geschwister wieder auszuspeien. Es entbrennt ein furchtbarer Kampf zwischen Zeus, dem Vater Kronos und den Titanen. Aus dieser Titanomachie geht Zeus schließlich als Sieger hervor. Aber statt seine Widersacher zu vernichten, entschädigt er sie und etabliert ein System der Gewaltenteilung: Das Meer gehört Poseidon, die Unterwelt Hades und er selbst regiert im Himmel, als der Erste unter Gleichen. Der Vater Kronos darf sich auf der Insel der Seligen zur Ruhe setzen, wo er, inzwischen besänftigt, eine milde Herrschaft ausübt. Nun hat Zeus niemanden mehr zu fürchten — außer die Göttin der Nacht, eine Titanide aus der Generation der Uranos-Geschwister. Er weiß, diese Göttin darf man nicht reizen, man muß sie achten, deshalb holt er von ihr bisweilen Rat ein. Die Olympier wissen, daß sie zur hellen Seite der Welt gehören und nicht mehr die Tiefe der Nacht erfüllen.

Irgendwann in diesen theogonischen und kosmogonischen Turbulenzen tauchten die Menschen auf. Sie sind nicht von den Göttern geschaffen, sondern aus der Erde geboren, zunächst ohne Zeugung. Sie mischten sich unter die Gesellschaft der Götter, lebten dahin ohne Betrübnis und »fern von Mühe und Leid« (Hesiod). Das gilt allerdings nur für das erste Geschlecht zur Zeit des Kronos. Als Zeus sich zum Herrscher aufschwang und Kronos stürzte, ging die erste, die »goldene« Generation des Menschengeschlechts unter. Die zweite Generation, die »silberne«, weigerte sich, dem Zeus zu opfern und ward deshalb vernichtet. Die dritte Generation war wild und kriegerisch. Diese Generation des »ehernen Zeitalters« tötete sich gegenseitig bis auf den letzten Mann. Das Projekt Menschheit war zunächst einmal gescheitert.

Darüber, wie schließlich wieder ein neuer Anfang mit den Menschen gemacht wurde, geben die Mythen verschiedene Auskunft. Nach der einen Version soll Prometheus sie aus der Asche der Titanen geformt haben. Zeus war den Menschen zunächst nicht wohlgesonnen, eben weil Prometheus sich ihrer so angenommen hatte. Zeus ließ den Schmied Hepaistos eine schöne Frau aus Ton formen, Pandora, und schickte sie unter die Menschen. Sie öffnete jene Büchse, in die Prometheus vorsorglich alle Übel eingesperrt hatte. In einer großen Wolke entwich, was seitdem die Menschen plagt: Alter, Krankheiten, Geburtsschmerzen, Irrsinn, Laster und Leidenschaften. Der kluge Prometheus hatte auch die trügerische Hoffnung in die Büchse verbannt. So ließen sich die geplagten Menschen davon abhalten, ihrem Leid durch freiwilligen Tod ein Ende zu setzen. Nach einer anderen Version hockten die Menschen dämmernd und tatenlos in ihren Höhlen, denn sie kannten die Stunde ihres Todes. Da kam Prometheus und schenkte ihnen das Vergessen. Zwar wußten sie nun auch weiterhin, daß sie sterben würden, nicht aber, wann. So entstand Arbeitseifer unter ihnen, den Prometheus mit dem Geschenk des Feuers noch zusätzlich anfachte.

Prometheus half den Menschen, aber er verwickelte sie auch in seinen Streit mit Zeus, indem er sie zum Opferbetrug anstiftete. Der Trick war: dem Stier die Haut abziehen und alles Fleisch im Magensack verwahren, die Knochen aber mit Fett umwickeln. Zeus, vom Wohlgeruch des Fettes getäuscht, würde die Knochen wählen und wäre der Betrogene. So geschieht es, und dem Menschengeschlecht wird es fortan übel angerechnet.

Das ist der pessimistische und tragische Untergrund der griechischen Religion, auf den Nietzsche hingewiesen hat. Homer vergleicht den Menschen mit den »Blättern, die der Wind herunterschüttelt«, und der Dichter Mimneros aus Kolophon schließt seine Lebensklage mit der Bemerkung: »Nicht einen Menschen gibt es, dem Zeus nicht tausend Übel gesendet.« Herodot erzählt die Geschichte, wie eine Mutter zu Apollo fleht, er möge ihren Kindern als Dank für ihre Frömmigkeit das größte Gut schenken. Apollo gewährt es. Und die Mutter bittet nun darum, daß die Kinder vom Leben befreit werden und ohne Schmerzen sterben dürfen.

In der griechischen Mythologie sind die Menschen ihren Ursprüngen entsprungen, wie man einer Katastrophe entkommt. Aber sie sind ihr auch noch in jenem anderen Sinne ›entsprungen‹: sie tragen sie mit sich und bewirken sie. Der heimkehrende Odysseus, der vieles hat erdulden müssen, richtet unter den Freiern ein Blutbad an. Es gibt keinen Grund, warum die Angehörigen der Ermordeten nicht Blutrache üben und warum das Morden nicht weitergehen sollte. Nur ein Machtspruch des Zeus vermag die Furie der Gewalt einzudämmen. »Da der edle Odysseus die Freier jetzo bestraft hat,/Werde das Bündnis erneut: er bleib in Ithaka König;/Und wir wollen dem Volke der Söhn’ und Brüder Ermordung/Aus dem Gedächtnis vertilgen; und beide lieben einander/Künftig wie vor, und Fried’ und Reichtum blühen im Lande!«

Der Macht des Ursprungs entkommt man durch gnädiges Vergessen.

Von einem anderen Ursprungsmythos erzählt die biblische Schöpfungsgeschichte. Auch hier gibt es, wie bei Hesiod, das große anfängliche Chaos. Es wird in der Schöpfungsgeschichte nur angedeutet. Aber doch ist jener Abgrund unheimlich gegenwärtig, aus dem Gott hervorkommt, indem er sich zur Schöpfung durchringt. Es ist, als wäre über diesen Abgrund ein Erzählverbot verhängt. Von den Werken Gottes läßt sich gut erzählen, ordentlich und der Reihe nach, bildkräftig und anschaulich. Doch dasjenige, worüber die Schöpfung triumphiert, bleibt im Dunkeln. Auf die Frage, was Gott tat, ehe er die Welt schuf, antwortete Augustin: Er machte die Hölle für diejenigen, die so vorwitzig fragen. Schelling wird das nicht abschrecken. Er erklärt, auch für Gott gelte, daß man nur durch Handeln dem horror vacui entkommen kann. »Im Produzieren aber ist der Mensch nicht mit sich selbst, sondern mit etwas außer sich beschäftigt, und gerade darum ist Gott der große Selige …, weil alle seine Gedanken immerwährend in dem sind, was außer ihm ist, in seiner Schöpfung.« Gott ist nicht nur, wie die Aristoteliker glauben, ein sich selbst denkendes Wesen. Das wäre auch für Gott nicht zum Aushalten, es wäre ein »peinlicher Zustand«, von dem auch Gott Ursache hat, sich zu befreien — deshalb also die Schöpfung.

Am sechsten Tage hatte Gott den Menschen geschaffen, nach seinem Ebenbild. Er sah ihn zusammen mit der übrigen Schöpfung an und befand, daß alles »sehr gut« war. Aber es erweist sich nun, daß der Mensch doch in die ganze Ordnung eine Störung bringt. Mit dem Sündenfall bekommt die Schöpfung einen Riß, der immerhin so tief reicht, daß Gott in der Noah-Geschichte diese Schöpfung fast wieder zurückgenommen hätte.

In der Sündenfall-Geschichte gibt es einige Merkwürdigkeiten. Im Paradiesgarten steht ein Baum des Lebens sowie ein Baum der Erkenntnis »des Guten und Bösen«. Von diesem zu essen wird dem Menschen, wie bekannt, verboten. Zuwiderhandlung hat zur Folge, daß der Mensch »des Todes sterben« wird. Demnach hat man sich den Menschen als ein ursprünglich unsterbliches Wesen zu denken.

Das Merkwürdige an diesem Verbot ist nun, daß es, wie man heute sagen würde, einen pragmatischen Selbstwiderspruch enthält. Das Verbot schafft die Erkenntnis, die es verbietet. Mit dem verbotenen Baum der Erkenntnis verhält es sich wie mit jenem Hinweisschild, darauf steht: ›Diesen Hinweis bitte nicht beachten!‹ Diesem Hinweis gegenüber kann man nur ›schuldig‹ werden, denn hat man ihn beachtet, kann man ihn nicht mehr nicht beachten. Vom verbotenen Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen gilt dasselbe: Indem dieser verbotene Baum unter allen anderen Bäumen steht, ist dem Menschen die Erkenntnis des Guten und Bösen bereits zuteil geworden. Er weiß jedenfalls, daß es etwas Böses ist, von diesem Baum der Erkenntnis zu essen. Noch ehe er also vom Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen gegessen hat, ist er durch das Verbot bereits in die Unterscheidung von Gut und Böse eingewiesen worden. Wenn ein Leben jenseits von Gut und Böse — in einer Unschuld also, die von dieser Unterscheidung noch nichts weiß —, wenn ein solches Leben paradiesisch gewesen sein sollte, dann hat der Mensch seine paradiesische Unschuld nicht erst verloren, als er vom Baum der Erkenntnis aß, sondern seit es ihm verboten wurde. Indem Gott dem Menschen freistellte, das Verbot zu akzeptieren oder zu übertreten, hat er ihm das Geschenk der Freiheit gemacht.

Wenn das Bewußtsein der Freiheit ins Spiel kommt, ist es mit der paradiesischen Unschuld vorbei. Von nun an existiert der Urschmerz des Bewußtseins: Bewußtsein geht nicht mehr im Sein auf, sondern geht darüber hinaus und enthält Möglichkeiten, einen ganzen verführerischen Horizont von Möglichkeiten. Denn hinter dem Baum der Erkenntnis steht ja noch, wie wir zu Anfang hörten, der Baum des Lebens. Das Bewußtsein wird zum Begehren, zur Sehnsucht. Es wird verführbar auch durch das, was ihm nicht zukommt. Diese Freiheit schließt noch nicht ein, daß der Mensch auch das ihm Zukömmliche erkennt. Das Problem ist: die Erkenntnis ist der Freiheit noch nicht gewachsen. Aber der Mensch wird lernen, auch durch das Mißlingen. Deshalb deutete Hegel die Sündenfallgeschichte nicht als Absturz, sondern als den Anfang einer Erfolgsgeschichte. Hegels prägnanter Satz, der bereits das ganze Programm seiner Philosophie enthält, lautet: »Erkennen heilt die Wunde, die es selber ist.«

Tatsächlich hatte Gott den Menschen unermeßlich erhöht, indem er ihn wählen ließ. Es ist wohl genau diese Freiheit, die den Menschen gottebenbildlich machte. Deshalb kann Gott nach dem Sündenfall sagen: »Siehe, Adam ist geworden wie unsereiner.«

Gott hatte den Menschen nicht einfach programmiert, sondern hatte seinem Sein eine Offenheit hinzugefügt. Er hatte es um die Dimension des Sollens erweitert und bereichert. Mit einem Schlag war die Wirklichkeit geräumiger, aber eben auch gefährlicher geworden: von nun an gab es das Sein und das Sollen. Diese Ontologie aus Sein und Sollen bricht in die geschlossene Welt des Paradieses ein, wo es auf glückliche Weise eindimensional zuging, weshalb Hegel dieses sogenannte Paradies auch abschätzig als einen »Garten für Tiere« bezeichnet. Im Paradies beginnt die Karriere des Bewußtseins und damit zugleich das Abenteuer der Freiheit: Dabei gewinnt man einiges, aber man verliert auch die fraglose Einheit mit sich und allem Lebendigen.

An diesen Verlust wird man stets erinnert, denn wir haben immer noch jene drei Arten des paradiesischen Gelingens vor Augen, die bis heute unseren Neid erregen: Man beneidet die Tiere, weil sie ganz Natur sind, ohne störendes Bewußtsein. Man beneidet Gott, weil er vielleicht reines Bewußtsein ist, ohne störende Natur. Und man beneidet das Kind, dieses göttliche Tier. Man beneidet damit sich selbst um seine verlorene Kindheit, seine Spontaneität und Unmittelbarkeit. Unsere Erinnerung läßt uns glauben, daß wir alle die Austreibung aus dem Paradies schon einmal erlebt haben — als unsere Kindheit zu Ende ging.

Der Mensch mußte also, als er die Freiheit der Wahl bekam, die Unschuld des Werdens und Seins verlieren. Die richtige Wahl konnte ihm keiner abnehmen, auch nicht Gott. Gott mußte dem Menschen das zumuten, da er seine Freiheit respektierte. Aber diese Freiheit konnte nicht vollkommen sein, denn Vollkommenheit ist nur bei Gott.

Was heißt vollkommene Freiheit? Das ist eine Freiheit, der das Leben gelingt. So aber verhält es sich beim Menschen nicht. Freiheit ist bei ihm nur eine Chance, keine Garantie des Gelingens. Das Leben kann ihm auch mißlingen — aus Freiheit. Der Preis der menschlichen Freiheit ist genau diese Möglichkeit des Mißlingens. Natürlich hätte der Mensch lieber eine Freiheit ohne dieses Risiko.

Die Sündenfallgeschichte zeigt den Menschen als ein Wesen, das von Natur aus eine Wahl hat, also frei ist. Dadurch aber ist der Mensch, wie er aus den Händen des Schöpfers kommt, im gewissen Sinne noch unfertig. Er ist noch nicht festgelegt.

Was Sartre über die Freiheit des Individuums gesagt hat, gilt in der Sündenfallgeschichte für die Gattung insgesamt: Man muß etwas aus dem machen, wozu man gemacht worden ist. Die Sündenfallgeschichte erzählt, wie der Mensch in einer immer wiederholten Urwahl sich selbst macht, sie erzählt, wie der Mensch wählen mußte und sich dann verwählte — verlockt vom Verlangen, die Grenze eines Verbotes zu übertreten.

Bisher gab es nur materielle Wirklichkeiten: Meer und Land, Pflanzen, einen Garten, Tiere und den Menschen. Durch das Verbot kommt eine geistige Wirklichkeit in die Welt. Es ist das verbietende Wort, das ›Nein‹, das nicht so unmittelbar wirkt und darum nicht ebenso mächtig ist wie das schaffende Wort Gottes am Anfang der Schöpfung. Dieses ›Nein‹ ruft die Freiheit des Menschen hervor und wendet sich zugleich an sie. Denn es wird in das Belieben des Menschen gestellt, ob er diesem verbietenden ›Nein‹ gehorcht.

In der Sündenfallgeschichte werden wir Zeugen der Geburt des Neins, des Geistes der Verneinung. Gottes Verbot war das erste Nein in der Geschichte der Welt. Die Geburt des Neins und die der Freiheit gehören zusammen. Mit dem ersten göttlichen Nein, als Kompliment an die Freiheit des Menschen, tritt etwas verhängnisvoll Neues in die Welt. Denn nun kann auch der Mensch ›nein‹ sagen. Er sagt ›nein‹ zum Verbot, er setzt sich darüber hinweg. Die Folge davon wird sein, daß er nun auch zu sich selbst ›nein‹ sagen kann. Nachdem Adam und Eva vom Baum gegessen haben, heißt es: »Da wurden ihrer beiden Augen aufgetan, und sie wurden gewahr, daß sie nackt waren; und flochten Feigenblätter und machten sich Schürzen …« Plötzlich sieht sich der Mensch von außen, er ist nicht mehr in seinem Leib geborgen, er ist sich selbst auffällig geworden. Er sieht sich, er reflektiert und entdeckt nun, daß auch er gesehen wird. Er steht im Freien. Es beginnt das Drama der Sichtbarkeit. Die erste Reaktion: Zurückkehren in die Unsichtbarkeit. »Und Adam versteckte sich mit seinem Weibe vor dem Angesicht Gottes des Herrn unter die Bäume im Garten.«

Wer vor Scham in den Boden versinken möchte, will nicht nur eine Tat, sondern sich selbst, als ihr Urheber, ungeschehen machen. Er sagt ›nein‹ zu sich selbst. Das ist die erste Spaltung des paradiesischen Selbstseins, das von nun an mit dem Nein infiziert bleibt. Aus Verneinungen werden schließlich Vernichtungen, was die Geschichte von Kain und Abel zeigt. Kains Opfer wurde von Gott zurückgewiesen, ihm gegenüber wurde also ›nein‹ gesagt. Das lastet schwer auf Kain, er sucht Enlastung, indem er das ›Nein‹ auf seinen Bruder abwälzt: er tötet ihn.

Bleiben wir beim Sündenfall. Was ist eigentlich so ›böse‹ an diesem Erkenntnisbaum, daß Gott ihn mit einem solchen Tabu belegt? An der Erkenntnis von Gut und Böse kann doch selbst nichts Böses sein, schon darum nicht, weil Gott dem Menschen diese Unterscheidung bereits zugemutet hat, als er ihn mit etwas Verbotenem konfrontierte. Wollte Gott einen Gehorsamstest durchführen und ist der verbotene Baum der Erkenntnis vielleicht eine Art ›Geßlerhut‹? Jedenfalls provoziert die Sündenfallgeschichte die Frage, ob es das Gesetz wegen der Sünde oder die Sünde wegen des Gesetzes gibt. Es war Paulus, der diese Frage in seiner Kritik des »Alten Bundes« aufgeworfen hat.

Im siebten Kapitel des Römerbriefs stellt er folgende Betrachtung an: Seit jenem ersten Verbot im Paradiesgarten lebt der Mensch unter dem ›Gesetz‹. Das Gesetz aber verlockt zur Übertretung. »Was wollen wir denn nun sagen? Ist das Gesetz Sünde? Das sei ferne! Aber die Sünde erkannte ich nicht, außer durchs Gesetz. Denn ich wußte nichts von der Lust, wo das Gesetz nicht hätte gesagt: ›Laß dich nicht gelüsten.‹ Da nahm aber die Sünde Ursache am Gebot und erregte in mir allerlei Lust; denn ohne das Gesetz war die Sünde tot.«

Das Gesetz verlockt zur Übertretung des Gesetzes. Es weckt bestimmte Vorstellungen, und sie sind es, die in der Sündenfallgeschichte als Frevel und Sünde gelten. Also nicht die Erkenntnis des Guten und des Bösen ist selbst etwas Böses, sondern böse ist, was sich Adam und Eva davon versprechen. Und was sie sich davon versprechen, ist ihnen von der Schlange zugesagt worden. »Da sprach die Schlange zum Weibe: Ihr werdet mitnichten des Todes sterben; sondern Gott weiß, daß, welches Tages ihr davon esset, so werden eure Augen aufgetan, und ihr werdet sein wie Gott, und wissen, was gut und böse ist.«

So bekommt die Erkenntnis des Guten und Bösen einen neuen Sinn. Sie bedeutet jetzt das Verlangen, sein zu wollen wie Gott — allmächtig: man kann ein göttliches Verbot übertreten ohne böse Folgen. Allwissend: man kennt das Gute und Böse in dem Sinne, daß man alles kennt, was zwischen Himmel und Erde ist. Das göttliche Verbot weist den Menschen in seine Grenzen. Er darf nicht alles tun und darf nicht alles wissen. Darf er nicht oder kann er nicht? Er kann nicht, weil es ihm am Ende nicht zum Guten gereicht. Und weil er sich damit schadet, darf er auch nicht.

Der Mensch darf nicht zuviel wissen wollen, er muß wissen, was sich für ihn gehört. Er darf auch nicht alles sehen wollen, er muß Verborgenes respektieren. Eine spätere Geschichte, die zwischen Noah und seinen Söhnen spielt, handelt ebenfalls von diesem Erkenntnisfrevel. Noah liegt, vom Wein berauscht, in seiner Hütte »aufgedeckt«. Der Sohn Ham sieht seines Vaters »Blöße« und holt seine beiden Brüder herbei. Die aber wissen, was sich gehört. Sie nähern sich dem Vater mit abgewandtem Gesicht und decken ihn zu. Als Noah aufwacht und erfährt, was geschehen ist, verflucht er seinen Sohn Ham, denn dieser hatte sehen wollen, was ihm besser verborgen geblieben wäre.

Die Geschichte Hams offenbart den lüsternen Aspekt im Willen zum Wissen. Der Mensch hat sich etwas versprochen von den Früchten der Erkenntnis. Die Schlange, die es ihm einflüsterte, ist noch keine selbständige Macht des Bösen, noch kein Teufel. Die Menschen werden durch ihr eigenes Verlangen in Versuchung geführt, sie sind zurechnungsfähig. Zur Freiheit gehört Verantwortlichkeit und deshalb auch die Neigung, die Verantwortung abzuschieben. Adam redet sich auf Eva heraus, die ihrerseits die Schlange beschuldigt, was Gott nicht gelten läßt.

Die Sündenfallgeschichte weiß nichts von einer außermenschlichen Macht des Bösen, auf die sich der Mensch hinausreden, als deren Opfer er sich hinstellen und womit er sich entlasten könnte. Der Sündenfall ist — trotz der Schlange — eine Geschichte, die allein zwischen Gott und der Freiheit des Menschen spielt.

Erst später wird aus der Schlange eine eigenständige Macht, eine göttlich-widergöttliche Gestalt. Die Baruch-Apokalypse, eine gnostische Variation über den Sündenfall, erzählt zum Beispiel die folgende Begebenheit:

»Und Gott sprach zu Michael: ›Stoße in die Posaune, auf daß sich die Engel versammeln, damit sie das Werk meiner Hände anbeten, das ich schuf.‹ Und es blies der Engel Michael, und es versammelten sich alle Engel und verehrten Adam nach ihrer Ordnung. Aber Satanael, er betete nicht an und sprach: ›Ich verehre nicht Lehm und Unrat.‹ Und er sprach: ›Ich werde meinen Thron auf den Wolken aufstellen und werde gleich sein dem Höchsten.‹ Darum verstieß ihn Gott von seinem Angesicht und mit seinen Engeln, wie der Prophet sprach: ›Es wurden entfernt von seinem Antlitz alle, die Gott hassen, und von der Herrlichkeit Gottes.‹ Und es befahl der Herr dem Engel, das Paradies zu bewachen. Und sie gingen ein, um Gott zu verehren. Da ging Satanael und fand die Schlange. Und er machte sich zum Wurm und sprach zur Schlange: ›Öffne das Maul und verschlucke mich in deinem Bauch.‹ Und er ging über die Mauer in das Paradies mit der Absicht, Eva zu verführen. ›Ihretwegen ward ich vertrieben von der Herrlichkeit Gottes.‹ Und es verschluckte ihn die Schlange und er ging ins Paradies ein und fand Eva. Und er sprach: ›Was befahl euch Gott zu essen von der Wonne des Paradieses?‹ Und es sprach Eva: ›Von jedem Baum des Paradieses essen wir, von diesem Baum befahl uns Gott, nicht zu essen.‹ Als dies Satanael hörte, sprach er zu ihr: ›Gott neidete eurem Leben, daß ihr unsterblich seid. Doch nimm und iß, und du wirst schauen, und gib auch Adam.‹ Und es aßen beide, es öffneten sich beider Augen und sie erkannten, daß sie nackt waren.«

Aus frühchristlicher Zeit, als gnostische und manichäische Weltbilder wirksam waren, sind zahlreiche ähnliche Zeugnisse überliefert. Das Böse wird zum Teufel, zum Gegengott, der um die Seele des Menschen kämpft. Der Kirchenvater Irenäus im zweiten nachchristlichen Jahrhundert war einer der ersten, der die Ansicht äußerte, Jesus habe die Menschen durch seinen Tod von der Macht des Teufels losgekauft. Der Zweikampf zwischen Teufel und Jesus wird für den populären Glauben zu einem Motiv der christlichen Erlösungslehre.

Die Personifizierung des Bösen zur eigenständigen Macht jenseits von Mensch und Gott gelangt etwa im 13. Jahrhundert zum Abschluß. Zu diesem Zeitpunkt sind alle wichtigen Züge im Bild des Teufels vereinigt. Der Kanon ist ausformuliert und die einzelnen Elemente lassen sich nun phantasiereich kombinieren.

Der Teufel erscheint in der erregten Natur, in den Stürmen, den Erdbeben, in den Lawinen, die zu Tal donnern, in den brechenden Bäumen, in der springenden Flut. Er erscheint als Hund, als schwarze Katze, als Rabe und Geier, in Menschengestalt mit einem Bocksfuß, in einer Wolke aus Gestank. Manchmal ist er schwarz gekleidet und schlank, dann wieder wälzt er sich wie eine Kugel im Schlamm. Er kann fliegen und kommt durch den Kamin. Als Succubus liegt er unter den Männern und macht, daß sie nicht zeugen können und ihnen die Lust vergeht. Als Incubus liegt er auf den Frauen und macht, daß sie geil werden. Er personifiziert alles Verkehrte: von den Hexen läßt er sich den Hintern küssen, das Vaterunser betet er rückwärts. Der Teufel wird zum Gottesfeind, doch den Gottesglauben beansprucht auch er. Man kann nicht an den Teufel glauben, ohne auch an Gott zu glauben. Dem Teufel begegnet man gewissermaßen auf halber Strecke zu Gott. Er ist der Widersacher, der nach dem Tode Gottes auch von der Bühne verschwinden wird.

In der Sündenfallgeschichte spielt, wie gesagt, der Teufel noch keine Rolle. Hier geht es nur um das Risiko der Freiheit. In dieser Geschichte wird erzählt, woraus Geschichte überhaupt entspringt. Sie beginnt nämlich als Strafe. Geschichte ist offenbar etwas, wozu man verurteilt wird. Dem Weib wird gesagt: »Ich will dir viel Schmerzen schaffen, wenn du schwanger wirst; du sollst mit Schmerzen Kinder gebären; und dein Verlangen soll nach deinem Manne sein; und er soll dein Herr sein.«

Die Hervorbringung des Menschen durch den Menschen wird zum mühsamen und qualvollen Geschäft, bei dem übrigens das Verlangen nach dem Manne als eine Strafe für die Frau gilt. Und die Strafe für Mann und Frau ist die Arbeit. »Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen, bis daß du wieder zur Erde werdest, davon du genommen bist. Denn du bist Erde und sollst zur Erde werden.«

Die Geschichte beginnt also, wenn man das Beste verloren hat. Es bleibt der Menschheit dann nichts anderes übrig, als Arbeit und Fortpflanzung zu adeln. Sie muß die Flucht in die Zivilisation antreten.

In dieser alten Geschichte über das Anfängliche findet man eine Anthropologie des Bösen: Der Mensch hat sich das Üble, das ihm in einer langen verwirrenden Geschichte widerfährt, selbst zugezogen. Das Böse — was immer es im einzelnen sein mag — ist durch ihn in die Welt gekommen. Die Geschichte beginnt mit einem Betriebsunfall der Freiheit und setzt sich dementsprechend fort. Kain, der Sohn Adams und Mörder seines Bruders, wird zum zweiten Urvater des Menschengeschlechtes, und was seine Nachkommen dann anrichten, übertrifft die schlimmsten Erwartungen Gottes. »Da aber der Herr sah, daß der Menschen Bosheit groß war auf Erden, und alles Dichten und Trachten ihres Herzens nur böse war immerdar, da reute es ihn, daß er die Menschen gemacht hatte auf Erden, und es bekümmerte ihn in seinem Herzen. Und er sprach: Ich will die Menschen, die ich geschaffen habe, vertilgen von der Erde, vom Menschen bis auf das Vieh und bis auf das Gewürm und bis auf die Vögel unter dem Himmel; denn es reut mich, daß ich sie gemacht habe.«

Gott schickt die Sintflut und nur mit Noah und den Seinen macht er eine Ausnahme. Dieser eine Gerechte darf überleben und wird daher zum dritten Urvater des Menschengeschlechtes.

Noch einmal ein Anfang. Aber mit Gott hat sich nun eine Wandlung vollzogen. Er findet sich mit der Tatsache ab, daß es im Menschen »das Böse« gibt. Gott ist vom Fundamentalisten zum Realisten geworden. Er hat sein Geschöpf von Grund auf kennengelernt und ist zum Anthropologen geworden. Er wandelt sich, er ist nicht nur mächtig, er wird auch gnädig. Er hat ein Einsehen mit dem Menschengeschlecht und verspricht: »Ich will hinfort nicht mehr die Erde verfluchen um des Menschen willen. Denn das Dichten des menschlichen Herzens ist böse von Jugend auf.«

Nach der Sintflut gilt auch für Gott der Grundsatz: Man muß lernen, mit dem Bösen zu leben. Das Böse gehört, jedenfalls alttestamentarisch, von nun an nicht nur zur conditio humana, sondern auch zur conditio divina. Vielleicht hat der göttliche Welterhalter im Spiegel des Menschen sogar gelernt, den bösen Anteil in sich selbst zu entdecken. Das ist die umgekehrte Formulierung des Satzes: daß die Menschen Gott erfanden, indem sie das Böse als Möglichkeit ihrer Freiheit entdeckten und nach einem Weg suchten, damit leben zu können.

Der Umgang mit dem Bösen macht erfinderisch. Gott schließt einen Bund mit den Menschen: Er verspricht die Bestanderhaltung der Welt, und der Mensch verspricht die Gebote einzuhalten, die ihm Gott nach der überstandenen Sintflut gibt (eine Vorform der ›Zehn Gebote‹). Er delegiert das Strafrecht an die Menschen, und selbst für die schlimmste Gebotsübertretung — den Mord — wird das Gericht der Menschen zuständig. »Wer Menschenblut vergießt, des Blut soll durch Menschen vergossen werden.« Zur Erinnerung: als Kain den Brudermord beging, hatte sich Gott ausdrücklich das Strafrecht vorbehalten: »Und der Herr machte ein Zeichen an Kain, daß ihn niemand erschlüge, wer ihn fände.«

Mit dem Strafrecht müssen sich die Menschen nun selbst voreinander schützen. Sie sollen auch weiterhin in der Gotteskindschaft stehen, aber untereinander sind sie erwachsen geworden und müssen ihre Selbsterhaltung in eigene Regie übernehmen. Gott garantiert verläßliche Rahmenbedingungen: es wird keine Sintflut mehr geben.

Nach der Sintflut kommt es also über den Abgrund des Bösen hinweg zu einem Gottesbund, der zugleich ein Gesellschaftsvertrag ist. Das ist die zweite Schöpfung. Die erste Schöpfung zähmt das Chaos, die zweite Schöpfung das Böse im Menschen. Es zeigt sich, wie grundlegend das anfängliche Chaos und das Böse zusammenhängen. Beide fordern eine Schöpfung im Sinne einer Überwindung. Zuerst die Schöpfung der Welt, dann die Schöpfung der Gesellschaft.

ZWEITES KAPITEL

Kann der Mensch sich nach sich selbst richten? Das antike Selbstvertrauen. Die Macht der Tradition. Sokrates sucht neue Wege. Platons Philosophie des gelingenden Lebens. Die Ordnung der Seele und die Ordnung der Stadt. Darf man aus der Welt fallen?

Die Sündenfallgeschichte erkundet die Natur des Menschen und entdeckt, daß der Mensch nicht auf eine zwangsläufig wirkende Natur festgelegt ist. Er ist frei, kann wählen und kann sich auch verwählen. Er schafft sich selbst sein Schicksal.

Auch die Sündenfallgeschichte findet mit der Frage nach der ursprünglichen Natur des Menschen keinen festen Grund. Die Natur, die man in sich findet, ist offen und wirft einen zurück in den Tumult der menschlichen Angelegenheiten, denen man mit der Frage nach der wahren Natur des Menschen gerade entkommen wollte. Die menschliche Natur, die man befragt, gibt einem die Frage zurück. Das ist bei der übrigen Natur nicht so. Alles, was ist, folgt seiner inneren Teleologie. Das gilt für die unbelebte Natur, die Pflanzen, die Tiere. Nur im Menschen wirkt dieser Naturtrieb nicht in gleicher Weise. Beim Menschen bricht er sich im Medium der Erkenntnis und des freien Willens. Und deshalb ist es ihm aufgegeben, sein Wesen und seine Bestimmung erst noch zu finden. Aus den Händen des Schöpfers ist er auf eine erhabene Weise unfertig hervorgegangen: er muß selbst noch schöpferisch Hand an sich legen. Wonach soll er sich dabei richten?

Für Augustin und die christliche Tradition, die er begründet, ist die Antwort klar. Auf jeden Fall darf er sich nicht nach sich selbst richten. Der Mensch ist die offene Frage, wie sollte er Antwort geben können? Deshalb erklärt Augustin: »Lebt also der Mensch nach der Wahrheit, lebt er nicht nach sich selber, sondern nach Gott.« Es ist des Menschen Natur, sagt Augustin, zwischen Gott und der übrigen Natur zu stehen. Die übrige Natur ist vollkommener Ausdruck des göttlichen Schöpfungswillens. Sie gründet in ihm. Der Mensch aber hat einen aus seiner Freiheit entspringenden Eigenwillen, der ihn zu dem Hochmut verführt, der Grund seiner selbst sein zu wollen. Nun ist aber der Grund der Schöpfung das Nichts. Das Werk Gottes war ja eine creatio ex nihilo. Wenn des Menschen Eigenwillen in sich selbst gründen will, kommt er in Berührung mit diesem Nichts. Gottes schöpferischer Wille hatte das Nichts besiegt. Aber dem menschlichen Willen kann das nicht gelingen. Er kann vom Nichts verschlungen werden, wenn er stirbt, aber auch, wenn er sein Wesen verfehlt und seine Möglichkeiten unterbietet. Das macht die prekäre Situation des Menschen aus. Die Natur ist auf ihre Weise vollkommen, sie ist, was sie ist. Der Mensch aber muß erst noch werden, was er ist. Er kann abstürzen, so wie er schon einmal abgestürzt ist — beim Sündenfall. Seitdem lebt er mit der Erbsünde wie mit einem Neigungswinkel, der ihn immer wieder fallen läßt. Seinen Grund findet er also nicht in sich, aber auch nicht unter sich — in der Natur, die ja schon fertig ist; der Mensch aber muß erst noch fertig werden. Er kann den Grund nur über sich finden — in Gott. Er muß von sich aus den Eigenwillen in Gottes Willen aufgehen lassen. Gefährlicher Hochmut ist es, wenn er sich dem eigenwillig verweigert. »Denn das ist falsche Hoheit, vom Urgrund sich zu lösen, dem der Geist eingewurzelt sein soll, um gewissermaßen sein eigener Grund zu werden und zu sein. Das geschieht, wenn der Geist sich selbst zu sehr gefällt.«

Das war Augustins Kritik am antiken Denken, dem er diese Selbstgefälligkeit vorwarf. Dabei hatte sich das antike Denken in seinen verschiedenen Ausprägungen durchaus an jenem Grundsatz orientiert, den auch Augustin als verbindlich ansieht. Dieser Grundsatz lautet: Man muß herausbekommen, was man kann, damit man fortan nur noch das will, was man kann. Es geht darum, das eigene Können kennenzulernen, damit man das Richtige will — also das, was man kann. Genau in diesem Sinne definiert Augustin den paradiesischen Zustand. Dort konnte der Mensch auch nicht alles, aber er wollte auch nicht alles, und so konnte er alles, was er wollte. Wenn das Wollen und das Können umfangsgleich sind, kann auch das Begrenzte vollkommen sein. So aber verhält es sich beim Menschen nicht. Wollen und Können sind nicht mehr synchronisiert. Der Mensch will mehr und anderes, als er kann, und kann mehr und anderes, als er will. Es fehlt ihm an Bekanntschaft mit sich selbst: Er kennt noch nicht einmal seinen eigenen Willen, und sein Können erkennt er oft erst dann, wenn ihm etwas mißlungen ist.