Über das Buch

»Ein so grandioser wie rasanter Roman.« Publishers Weekly.

Manhattan, 1946: Die junge Witwe Grace Healey gerät an einen Koffer mit einem Dutzend Fotografien junger Frauen, jede von ihnen auffallend attraktiv. Schon bald findet Grace heraus, dass alle zwölf Frauen während des Krieges von England ins besetzte Frankreich geschickt wurden, um die Landung der Alliierten vorzubereiten – und keine von ihnen ist zurückgekehrt. Beim Versuch, das Rätsel ihres Verbleibs zu lösen, stößt Grace auf eine tragische Geschichte von Mut, Liebe und Verrat.

London, 1943: Die alleinerziehende Marie ist verzweifelt, weil sie nicht weiß, wie sie ihre kleine Tochter vor den Bombenangriffen der Deutschen schützen soll – zu kostspielig ist die Unterbringung des Kindes auf dem Land. Dann macht ihr der britische Militärgeheimdienst ein Angebot: Weil die männlichen Agenten im besetzten Frankreich zu schnell enttarnt werden, sollen zum ersten Mal in der Geschichte Frauen als Spione eingesetzt werden. Und zunächst scheint der Plan aufzugehen: Es gelingt Marie, ein Funkgerät zum Résistance-Netzwerk des charismatischen Vesper zu bringen. Doch schon bald wird ihr klar, dass es einen Verräter in ihren Reihen geben muss …

Ein bislang unbekanntes, wahres Kapitel des Zweiten Weltkriegs und eine bemerkenswerte Geschichte über den Mut der Frauen.

»Nervenaufreibend spannend, voller Rätsel und hervorragend recherchiert – ›Die Frauen von Paris‹ ist eine faszinierende Geschichte all jener Frauen, die im Verborgenen halfen, den Krieg zu gewinnen.« Lisa Wingate, Autorin von »Die Libellenschwestern«.

»Jenoff erzählt diese Geschichte über mutige Frauen im Krieg mit echter Girl Power.« Cosmopolitan

Über Pam Jenoff

Pam Jenoff hat jahrelang in Krakau als Vizekonsul der amerikanischen Botschaft gelebt. Als Expertin für den Holocaust in Polen war sie im Pentagon tätig und wurde für ihre Arbeit von verschiedenen Menschenrechtsorganisationen ausgezeichnet. Ihre Romane sind internationale Bestseller. Heute arbeitet sie als Anwältin und lebt mit ihrem Mann und ihren drei Kindern in Philadelphia.
Im Aufbau Taschenbuch liegt ihr Roman »Töchter der Lüfte« vor.

Gabriele Weber-Jarić lebt als Autorin und Übersetzerin in Berlin. Sie übertrug u. a. Mary Morris, Mary Basson, Kristin Hannah und Imogen Kealey ins Deutsche.

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Pam Jenoff

Die Frauen von Paris

Roman

Aus dem Amerikanischen
von Gabriele Weber-Jarić

Inhaltsübersicht

Informationen zum Buch

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1. Kapitel: Grace

2. Kapitel: Eleanor

3. Kapitel: Marie

4. Kapitel: Grace

5. Kapitel: Marie

6. Kapitel: Eleanor

7. Kapitel: Marie

8. Kapitel: Grace

9. Kapitel: Marie

10. Kapitel: Grace

11. Kapitel: Marie

12. Kapitel: Grace

13. Kapitel: Eleanor

14. Kapitel: Marie

15. Kapitel: Grace

16. Kapitel: Eleanor

17. Kapitel: Marie

18. Kapitel: Eleanor

19. Kapitel: Marie

20. Kapitel: Grace

21. Kapitel: Marie

22. Kapitel: Eleanor

23. Kapitel: Grace

24. Kapitel: Eleanor

25. Kapitel: Eleanor

26. Kapitel: Marie

27. Kapitel: Eleanor

28. Kapitel: Eleanor

29. Kapitel: Grace

30. Kapitel: Eleanor

31. Kapitel: Grace

32. Kapitel: Grace

Anmerkung der Autorin

Dank

Impressum

Für meine Familie

Im Krieg ist die Wahrheit so wertvoll,
dass sie eine Leibwache aus Lügen braucht.

WINSTON CHURCHILL

1. Kapitel
Grace

New York, 1946

Wäre Grace in der vergangenen Nacht nicht einer der schlimmsten Fehler ihres Lebens unterlaufen, hätte sie den Koffer nicht entdeckt.

Es war Dienstagmorgen, zwanzig Minuten nach neun. Normalerweise hätte Grace um diese Uhrzeit in einem Bus Richtung Süden gesessen und wäre von ihrem Wohnheim in Hell’s Kitchen zu ihrem Arbeitsplatz auf der Lower East Side gefahren.

Auf dem Weg zur Arbeit war sie zwar, nur kam sie nicht aus der Gegend, in der sie wohnte. Stattdessen hetzte sie zu Fuß die Madison Avenue hinunter und raffte ihr Haar im Laufen mit einer Spange zusammen.

Sie war kurz davor, auch ihren Mantel abzustreifen und die grüne Strickjacke darunter auszuziehen. Es war dieselbe, die sie am Vortag getragen hatte, und sie wollte nicht, dass ihr Chef sich nachher fragte, ob sie sich nicht hatte umziehen können, weil sie die Nacht nicht zu Hause, sondern woanders verbracht hatte.

Als Grace am Schaufenster eines Kramladens vorbeikam, hielt sie kurz inne und warf einen Blick auf ihr Spiegelbild. Sie wünschte, das Geschäft hätte bereits geöffnet – dann hätte sie sich Puder kaufen können, um den Fleck auf ihrem Hals zu überdecken, auch eine Rolle Pfefferminz wäre nicht schlecht. Sie hätte sich an einem Probefläschchen Parfum bedienen können, um den Geruch von Marks Rasierwasser, der leider noch an ihr haftete, zu übertünchen. Jedes Mal, wenn er ihr in die Nase stieg, schwanden ihr beinah die Sinne, und dann schämte sie sich.

Ein Obdachloser saß zusammengesackt im Eingang des Hauses. Er war grau im Gesicht und stöhnte unruhig im Schlaf. Grace konnte es ihm nachfühlen.

Sie lief weiter. In einer Seitengasse wurden laut scheppernd Mülleimer bewegt, passend zu ihrem Brummschädel. Es war, als wäre die ganze Stadt verkatert und würde sich elend fühlen.

Kalte Böen fegten über die Madison Avenue hinweg und wehten die Fahnen an den Masten auf. Über den Rinnstein wurde eine alte Zeitung gewirbelt.

Als die Glocken der Kirche St. Agnes halb zehn schlugen, beschleunigte Grace ihren Schritt und spürte, wie sie anfing zu schwitzen.

Nun konnte sie bereits den Bahnhof Grand Central erkennen. Nur noch ein kleines Stück, und sie würde in die 42nd Street einbiegen und einen Expressbus die Lexington Avenue hinunter nehmen.

Doch an der nächsten Kreuzung versperrten drei Streifenwagen den Weg und blockierten den Verkehr in Richtung Süden. Dahinter stand quer auf der Fahrbahn ein schwarzer Studebaker, aus der geöffneten Haube stieg Dampf.

Grace nahm an, dass der Wagen in einen Unfall verwickelt gewesen war. Hinter ihm stauten sich noch mehr Autos als sonst an dieser Stelle. Einige versuchten, in die Seitenstraßen auszuweichen und sich an Taxis, Bussen und Lieferwagen vorbeizuschlängeln. Nirgendwo war ein zweiter Unfallwagen zu sehen. An der Ecke stand ein Krankenwagen, die Sanitäter lehnten untätig am Chassis und rauchten.

Grace trat zu einem Polizisten, dessen fleischiges Gesicht direkt aus dem hohen Kragen seiner blauen Uniformjacke zu quellen schien. »Verzeihung, wissen Sie, wie lange die Straße hier gesperrt bleibt? Ich muss zur Arbeit und bin spät dran.«

Der Polizist musterte sie abfällig, als wäre die Idee einer berufstätigen Frau noch immer skandalös oder belustigend. Dabei hatten in den vergangenen Jahren viele Frauen in den Fabriken gearbeitet, um die Männer zu ersetzen, die im Krieg kämpften. »Von hier aus werden Sie eine ganze Weile nicht weiterkommen«, antwortete er und wirkte zufrieden mit sich.

»Was ist denn passiert?«, fragte Grace, doch der Polizist hatte sich bereits abgewandt. Grace trat einen Schritt vor und reckte den Hals, um die Straße hinunterzuspähen.

»Eine Frau wurde totgefahren«, sagte ein Mann mit Schiebermütze an ihrer Seite.

In dem Moment registrierte Grace die blutverschmierten Kotflügel des Studebaker, und ihr wurde übel. »Wie schrecklich«, murmelte sie.

»Ich habe es nicht gesehen«, sprach der Mann weiter, »aber es heißt, dass sie sofort tot war. Ein Glück, da hat sie wenigstens nicht gelitten.«

Ein Glück. Wie oft Grace diese Worte nach Toms Tod gehört hatte. Ein Glück, dass sie noch so jung sei. Ein Glück, dass sie und Tom keine Kinder gehabt hatten. Als wäre sein Tod ohne Kinder leichter für sie geworden. Dabei wären Kinder für sie keineswegs eine Bürde gewesen, sondern vielmehr etwas von ihm, das ihr geblieben wäre.

»Man weiß nie, wann das Ende kommt«, sagte der Mann mit der Mütze.

Grace antwortete nicht. Auch Tom war durch einen Unfall ums Leben gekommen. Er war zur Grundausbildung in Georgia gewesen und hatte sich vor seinem Einsatz in Übersee von ihr verabschieden wollen. Auf dem Weg zum Bahnhof kam der Jeep, in dem er saß, von der Straße ab und überschlug sich. Tom war sofort tot. Er galt als Kriegsopfer, doch wenn man Grace fragte, hätte der Unfall jederzeit und überall geschehen können.

Grace fuhr zusammen, als ein Zeitungsreporter mit Blitzlicht zu fotografieren begann. Sie beschirmte ihre Augen mit der Hand und machte einige Schritte rückwärts, fort von der Zuschauergruppe, die sich gebildet hatte, und dem Geruchsgemisch aus Parfum, Schweiß und Zigaretten.

Sie schaute sich um. In Richtung Westen war auch alles gesperrt, dort kam sie ebenfalls nicht weiter. Und wenn sie über die Madison zurücklief und den Grand Central von hinten umrundete, würde sie noch eine halbe Stunde verlieren.

Erneut verfluchte sie die Nacht, die sie mit Mark verbracht hatte. Wenn es ihn nicht gäbe, stünde sie jetzt nicht hier und wäre auch nicht gezwungen, den Bahnhof zu durchqueren – den Ort, den sie sich geschworen hatte nie wieder zu betreten.

Sie drehte sich um zu diesem gewaltigen Bauwerk, das in der blassen Morgensonne einen grauen Schatten auf den Vorplatz warf. Eine endlose Reihe Pendler strömte ein und aus.

Grace sah die riesige Halle vor sich, in die das Tageslicht durch vergitterte Fenster fiel, die große Uhr, bei der sich Freunde und Liebende trafen.

Doch es war nicht so sehr der Bahnhof, den sie nicht ertragen konnte, sondern vielmehr die Kriegsheimkehrer und ihre Familien, die man dort noch immer antraf: die jungen Ehefrauen mit den rot geschminkten Lippen, die mit der Zunge über ihre Zähne fuhren, nur für den Fall, dass der Lippenstift abgefärbt hatte; ihre Hände, die sich vor Aufregung an ihre Handtaschen krallten; die sauber geschrubbten Kinder, die mit unsicheren Mienen auf den Vater warteten, an den sie sich nicht erinnerten, denn als er fortging, konnten sie gerade erst krabbeln; die Väter, die mit einem nicht mehr ganz frischen Blumenstrauß in der Hand aus den Zügen sprangen, die Uniformen von der langen Reise verknittert. Die Wiedersehensfreude, die ihr verwehrt geblieben war.

Grace überlegte, ob sie, statt zur Arbeit zu fahren, lieber nach Hause gehen sollte. Sie könnte das heiße Bad nehmen, nach dem sie sich sehnte, und im Anschluss daran eine Runde schlafen.

Sie verwarf den Gedanken. Sie musste ins Büro. Um zehn Uhr wollte Frankie mit einer französischen Flüchtlingsfamilie sprechen und ihr das Ergebnis nachher für die Akte diktieren. Danach würden die Rosenbergs wegen der Formulare kommen, die sie für ihre Wohnungssuche ausfüllen mussten. Das war das Gute an ihrer Arbeit, sie konnte sich um die Probleme anderer Leute kümmern und die eigenen darüber vergessen. Doch an diesem Tag machte der Gedanke an ihre Arbeit sie einfach nur müde.

Also gut, sie hatte keine Wahl, sie musste durch den Bahnhof. Mit aufmunternd gestrafften Schultern setzte sie sich in Gang.

Grace trat durch den Eingang. Es war das erste Mal seit jenem schrecklichen Nachmittag, als sie aus Connecticut gekommen war. Damals trug sie ein schickes Kleid aus Seidenkrepp unter ihrem Mantel, das Haar hatte sie zu einer voluminösen Tolle frisiert und mit einem Pillbox-Hut gekrönt. Tom hatte mit dem Drei-Uhr-Zug aus Philadelphia kommen sollen, dort hatte er umsteigen müssen.

Als er nicht erschien, nahm sie an, dass er den Anschlusszug verpasst hatte. Sie wartete auf den nächsten Zug. Wieder vergeblich. Danach wurde sie unruhig und ging zu dem Schwarzen Brett am Informationsstand, wo Reisende Nachrichten hinterlassen konnten, falls sie zu früh gekommen waren oder denjenigen, den sie treffen wollten, aus anderen Gründen verpasst hatten. Dort war jedoch keine Notiz von Tom, und sie selbst hatte keine Möglichkeit, ihn zu erreichen. Ihr blieb also nichts anderes übrig, als weiter zu warten. Sie aß einen Hotdog, der in ihrem Mund einen schalen Geschmack hinterließ und mit dem sie ihren Lippenstift verschmierte. Sie schlenderte zum Zeitungskiosk und las die Schlagzeilen, lief umher. Jede Stunde kamen Züge aus Philadelphia an und leerten sich. Jedes Mal drängten sich auf dem Bahnsteig Soldaten, nur Tom war nicht unter ihnen.

Als um halb neun Uhr abends der letzte Zug aus Philadelphia ohne Tom eingetroffen war, war Grace vor Sorge außer sich gewesen. Ihr Mann war nicht der Typ, der einfach nicht erschien. Irgendetwas musste vorgefallen sein.

Dann hatte sie den Leutnant mit dem rötlichen Haar, den sie noch von Toms Vereidigung kannte, gesehen. Mit ernster Miene trat er auf sie zu, und da wusste sie Bescheid. Noch immer spürte sie die fremde Hand, die sie auffing, als ihre Knie nachgaben.

Im Bahnhof hatte sich seitdem nichts verändert. Nach wie vor hasteten Menschen in alle Richtungen, ohne zu wissen, welche Rolle dieses Gebäude in den vergangenen Jahren in Graces Gedanken gespielt hatte.

Du läufst einfach hindurch, befahl sie sich und richtete ihren Blick auf den Ausgang am anderen Ende, der wie das Licht am Ende des Tunnels schimmerte. Niemand verlangte von ihr, stehen zu bleiben und sich an all das zu erinnern.

Plötzlich spürte Grace etwas an ihrem Bein, als hätten die Finger eines kleinen Kinds daran gezupft. Sie sah an sich hinunter. Es war eine Laufmasche. Hatte sie auch die Mark zu verdanken? Im Weitergehen wurde die Laufmasche länger, und als Grace zum zweiten Mal nachschaute, zog sie sich schon über ihre Wade. Darum musste sie sich dringend kümmern.

Grace nahm die Treppe hinunter zu den Toiletten. Auf dem Weg dorthin kam sie an einer Bank vorbei, stolperte und knickte mit dem Fuß um. Der Schmerz schoss hoch bis in ihre Wade.

Sie ließ sich auf der Bank nieder und schaute nach, ob der Absatz ihres Schuhs sie schon wieder im Stich gelassen hatte, obwohl sie den gerade erst hatte neu besohlen lassen. Der Absatz saß fest.

Doch unter der Bank schaute etwas hervor – offenbar war sie deswegen aus dem Tritt geraten. Sie bückte sich und entdeckte einen braunen Koffer, der schief unter die Bank geschoben war.

Entrüstet blickte Grace sich um und hätte gern gewusst, wer so achtlos war, seinen Koffer auf so verantwortungslose Weise unter einer Bank zu lassen. Doch in ihrer Nähe stand niemand. Auch von den Menschen, die an ihr vorübereilten, schien keiner zu dem Koffer zu gehören. Vielleicht war der Besitzer zur Toilette gegangen oder zum Kiosk gelaufen, um sich eine Zeitung zu besorgen.

Grace schob den Koffer tiefer unter die Bank. Nun konnte wenigstens niemand mehr über eine vorstehende Ecke stolpern. Dann setzte sie ihren Weg fort.

Neben der Tür der Damentoilette saß ein Mann in einer abgewetzten Uniform auf dem Fußboden, und Grace fuhr durch den Sinn, dass es vielleicht auch etwas Tröstliches hatte, dass Tom der Krieg drüben erspart geblieben war und er nicht versehrt und seelisch zerrüttet heimgekehrt war. Für sie und alle anderen, die ihn kannten, würde er nun immer der strahlende junge Mann bleiben, der er gewesen war, gut aussehend und voller Lebenskraft.

Sie holte einige Münzen aus ihrer Jackentasche und drückte sie dem Kriegsversehrten in die Hand. Grace gehörte nicht zu den Menschen, die wegschauen konnten.

In der Damentoilette schmierte sie Seife auf das Ende der Laufmasche und reparierte sie damit mehr schlecht als recht. Anschließend fasste sie vor dem großen Spiegel ihre Haare neu zusammen und frischte ihren Lippenstift auf. Dabei fielen ihr Marks Küsse wieder ein und all das, was danach geschehen war.

An dem benachbarten Waschbecken strich eine junge Frau den Mantel über ihrer Bauchrundung glatt. Zurzeit sah man überall Schwangere, wahrscheinlich als Folge der vielen glücklichen Wiedersehen mit den Ehemännern, die aus dem Krieg zurückgekommen waren. Die Frau musterte Grace von der Seite und lächelte wissend.

Grace verließ die Damentoilette. Beim Durchqueren des Bahnhofs linste sie unter die Bank. Der Koffer lag noch da. Sie schaute sich um, ob jemand im Anmarsch war, um ihn zu holen.

Niemand steuerte den Koffer an. Seltsam. Grace bückte sich und zog ihn aus seinem Versteck hervor.

Es war ein gewöhnlicher, brauner Koffer mit abgerundeten Ecken, einer wie Tausende andere, die von Reisenden täglich durch Bahnhöfe getragen wurden. Nur der abgenutzte Griff aus Perlmutt war hübscher als sonst üblich. Ein verlassener Koffer. Ob jemand ihn verloren hatte? Oder vergessen?

Grace wich zurück. Ihr war eine Geschichte aus den Kriegsjahren eingefallen, in der eine Reisetasche einen Sprengsatz enthielt. Doch der Krieg war vorbei, und die Angst vor einer Invasion oder anderen feindlichen Angriffen, die man an jeder Ecke erwartet hatte, war verblasst.

Grace nahm ihren Mut zusammen und untersuchte den Koffer nach einem Hinweis auf den Besitzer. Auf einer Seite war mit weißer Kreide ein Name geschrieben. Voller Unbehagen dachte sie an diejenigen unter Frankies Klienten, die ein Konzentrationslager überlebt hatten. Sie erzählten, dass die Deutschen ihnen vor der Deportation aufgetragen hatten, ihren Namen auf ihren Koffer zu schreiben. Um sie in Sicherheit zu wiegen und ruhig zu halten, hatten sie den Leuten vorgemacht, dass sie in ihrer neuen Unterkunft ihr Gepäck zurückerhielten.

Auf diesem Koffer stand »Trigg«.

Grace überlegte, ob sie einen Bahnbediensteten auf den Koffer aufmerksam machen oder einfach weiterlaufen sollte. Eigentlich fehlte ihr die Zeit, sich noch länger mit der Sache aufzuhalten, doch ihre Neugier war stärker als ihre Vernunft. Vielleicht war im Koffer ein Zettel mit Namen und Adresse des Besitzers, so dass sie ihn erreichen konnte.

Sie strich über das Schnappschloss. Es sprang auf, beinah wie von selbst. Grace hob den Kofferdeckel an. Dann warf sie einen Blick über ihre Schulter, um zu sehen, ob jemand sie beobachtete. Kein Mensch nahm von ihr Notiz. Sie klappte den Deckel auf.

Der Koffer war sorgfältig gepackt, die Kleidungsstücke – es waren die einer Frau – akkurat gefaltet. In einer Ecke war eine Haarbürste mit versilbertem Griff und ein noch neues Stück Lavendelseife verstaut, und ganz hinten steckte ein Paar Babyschuhe. Grace hob die Kleidungsstücke an, doch andere Kinderkleidung war nicht zu entdecken.

Mit einem Mal kam Grace ihr Vorgehen unverzeihlich vor, wie ein Eingriff in jemandes Privatleben, was es ja auch war. Sie riss ihre Hand zurück – und ritzte sich den Zeigefinger. Fluchend betrachtete sie den hervorquellenden Tropfen Blut und saugte an dem Schnitt. Mit der unversehrten Hand griff sie in den Koffer, um festzustellen, woran sie sich verletzt hatte, an einer Schere oder einem Messer.

Unter der Kleidung ertastete sie einen festen Briefumschlag, vielleicht einen Zentimeter dick. Sie musste sich an einer Kante geschnitten haben. Lass es gut sein, riet ihr eine innere Stimme. Doch sie ging darüber hinweg und öffnete den Umschlag.

Er enthielt eine Reihe Fotos, sorgsam in ein weißes Spitzentuch eingeschlagen. Grace nahm die Fotos heraus und hinterließ einen Blutfleck auf der Spitze.

Insgesamt war es ein Dutzend, auf jedem eine junge Frau abgebildet.

Grace sah sich eines nach dem anderen an und fragte sich, wer diese Frauen waren. Sie gehörten nicht zu einer Familie, dazu sahen sie zu unterschiedlich aus. Einige trugen Militäruniformen, andere frisch gebügelte Blusen oder Blazer. Keine wirkte älter als fünfundzwanzig Jahre.

Plötzlich fühlte Grace, dass es falsch war, die Fotos dieser fremden Frauen zu studieren, zu intim. Sie wollte sie zurücklegen und das Ganze schleunigst vergessen. Doch die großen, dunklen Augen einer der Frauen hatten etwas Faszinierendes. Grace vertiefte sich in ihren Anblick.

Plötzlich heulten draußen vor dem Bahnhof Sirenen auf, und Grace fuhr zusammen, als würden sie ihr gelten, und die Polizei käme jeden Augenblick hereingestürmt, um sie wegen unbefugten Öffnens eines fremden Koffers festzunehmen.

Mit fliegenden Händen wickelte sie die Fotos wieder in das Spitzentuch, doch nun passten sie nicht mehr in den Umschlag. Die Sirenen wurden lauter. Um keine Zeit mehr zu verlieren und ohne nachzudenken, stopfte Grace den Umschlag und die eingewickelten Fotos in ihre Handtasche, schloss den Koffer und schob ihn wieder tief unter die Bank.

Auf dem Weg zum Ausgang spürte sie ihren pochenden Zeigefinger und dachte, dass sie es hätte besser wissen müssen. Der Aufenthalt im Grand Central Terminal war ihr noch nie gut bekommen.

2. Kapitel
Eleanor

London, 1943

Gregory Winslow, Direktor der Special Operations Executive, kurz SOE, war außer sich, sein Gesicht vor Wut rot angelaufen. Als er mit der Faust auf den Konferenztisch schlug, klapperten die Tassen, und das Stimmengemurmel im Raum brach ab.

»Schon wieder zwei Agenten gefasst?« Seine Stimme war so laut, dass eine Stenotypistin draußen auf dem Gang stehen blieb und erschrocken in den Konferenzraum spähte, bevor sie weiterlief.

Eleanor stand auf und schloss die Tür. Auf dem Weg zurück zu ihrem Platz versuchte sie, den Zigarettenrauch fortzuwedeln, der wie eine Dunstglocke über den Versammelten hing.

»Ja, Sir«, stammelte Captain Michaels, Attaché der Royal Air Force. »Sie wurden nur wenige Stunden nach der Landung in Marseille festgenommen. Seitdem haben wir nichts mehr von ihnen gehört. Wir befürchten das Schlimmste.«

»Wer waren die beiden?« Winslow, der in der Regel nur als »Direktor« bezeichnet wurde, war ein hochdekorierter Oberst a. D. des britischen Heeres, der seine Auszeichnungen aufgrund seiner Verdienste im Großen Krieg erhalten hatte. Er war eine imposante Gestalt, sein Alter von neunundfünfzig Jahren sah man ihm nicht an.

Michaels schien die Frage zu verwirren. Er gehörte zu den Männern, die im Hauptquartier arbeiteten. Die Agenten, die im Ausland eingesetzt wurden, waren für ihn und seine Kollegen nur namenlose Schachfiguren.

Eleanor hatte eine andere Einstellung. »Es waren James, Harry, gebürtiger Kanadier und Absolvent des Magdalen College, Oxford, und Peterson, Ewan, vormals Mitglied der Royal Air Force.« Sie kannte die Daten der Männer, die sie hinter die feindlichen Linien schickten, auswendig.

»Das wäre dann bereits die zweite Festnahme in diesem Monat, oder?« Der Direktor steckte seine Pfeife in den Mund und kaute verärgert auf dem Mundstück herum.

»Die dritte«, sagte Eleanor leise. Sie wollte Winslow nicht noch mehr aufbringen, aber sie mochte ihn auch nicht belügen.

Churchill hatte die SOE vor drei Jahren ins Leben gerufen und dieser Einheit den Auftrag erteilt, das von den Deutschen besetzte Europa durch Sabotageakte und Attentate »in Brand zu stecken«. Seitdem hatten knapp dreihundert Agenten auf feindlichem Gebiet Rüstungsbetriebe, Brücken und Eisenbahngleise gesprengt und die Partisanen mit Waffen versorgt. Die Einsätze fanden überwiegend im besetzten Frankreich statt und wurden von der sogenannten Sektion F durchgeführt. Das Ziel war, die Versorgungswege der deutschen Besatzer zu unterbrechen und die französischen Partisanen noch vor der Invasion der Alliierten, von der man bereits munkelte, in großem Umfang zu bewaffnen.

Außerhalb des Hauptquartiers wurde die SOE jedoch mit Skepsis betrachtet. Die klassischen Geheimdienste der britischen Regierung – unter ihnen der MI6 – nannten die Sabotageakte der SOE dilettantisch und klagten, dass die SOE-Agenten ihren eigenen Leuten in die Quere kämen. Tatsächlich war der Erfolg der SOE schwer einzuschätzen. Ihr Vorgehen war geheim, und inwieweit es das Kriegsgeschehen beeinflusste, vermochte kaum jemand zu bestimmen. Hinzu kam, dass die Einheit seit Kurzem Misserfolge zu verzeichnen hatte und eine zunehmende Anzahl ihrer Agenten gefasst wurde. Niemand wusste, ob es an schlechter Planung lag, der gesamte Apparat zu schwerfällig geworden war oder ein Fehler im Getriebe steckte, den sie nicht erkannten.

Winslow wandte sich Eleanor zu. »Was zum Teufel ist da los, Trigg? Sind die Leute nicht richtig ausgebildet oder machen sie etwas falsch?«

Eleanor wunderte sich, dass er ausgerechnet sie ansprach. Sie hatte in der SOE kurz nach deren Gründung als Sekretärin angefangen und, da sie Polin und überdies Jüdin war, um diesen Posten kämpfen müssen. Manchmal fragte sie sich sogar selbst, wie sie es aus einem Schtetl in der Nähe von Pinsk in das SOE-Hauptquartier in der Londoner Baker Street 64 geschafft hatte. Einiges davon verdankte sie dem Direktor, der gewillt gewesen war, ihr eine Chance zu geben, das meiste jedoch ihren Fähigkeiten – ihrem Fleiß, ihrem hervorragenden Gedächtnis und ihrer Zuverlässigkeit.

Inzwischen besaß sie das uneingeschränkte Vertrauen des Direktors und war zu seiner Ratgeberin avanciert, auch wenn sie offiziell noch immer als Sekretärin geführt und auch so bezahlt wurde. Auf sein Geheiß saß sie nun am Konferenztisch an seiner Seite. Aber vielleicht war das auch nur so, weil Winslow auf einem Ohr taub war, was in der SOE außer ihm nur noch sie wusste. Nach jeder Sitzung gingen sie das, was besprochen worden war, noch einmal durch, um sicherzugehen, dass er nichts überhört hatte.

Doch noch nie hatte er sie vor Anderen nach ihrer Meinung gefragt. »Es liegt weder an der Ausbildung, Sir, noch an der Durchführung.«

Alle Augen richteten sich auf Eleanor. Sie gehörte zu den Menschen, die sich lieber im Hintergrund hielten – doch nun war es zu spät, die Männer rund um den Tisch betrachteten sie mit hochgezogenen Brauen.

Auch der Direktor schaute sie an und wirkte noch ungeduldiger als sonst. »An was denn dann?«

»Daran, dass sie Männer sind.« Eleanor zwang sich, ihre Worte mit Sorgfalt zu wählen und sich nicht verwirren zu lassen. Sie musste sich klar und deutlich ausdrücken, ohne jemanden zu beleidigen. »In den französischen Städten und Dörfern gibt es kaum noch junge Männer. Einige wurden gezwungen, für die Vichy-Regierung zu arbeiten, andere sind in der Miliz oder sitzen im Gefängnis, weil sie den Dienst verweigert haben. Wieder andere wurden gefangengenommen und als Zwangsarbeiter nach Deutschland geschickt. Unsere Agenten fallen zu sehr auf.«

»Und was bedeutet das? Sollen sie alle untertauchen?«

Eleanor schüttelte den Kopf. Untertauchen war keine Lösung, die Agenten mussten mit den Einheimischen reden können. Sie brauchten die Kellnerin in Lautrec, die mitbekam, worüber französische Kollaborateure mit den Deutschen sprachen, wenn sie zu viel getrunken hatten, ebenso wie die Bäuerin, der auffiel, ob sich die Anzahl der Züge, die an ihren Feldern entlang Richtung Deutschland fuhren oder von dort kamen, erhöhte oder verringerte. Jede kleine Beobachtung konnte ihnen von Nutzen sein. Auch das Netzwerk der französischen Widerstandsgruppen musste ihnen zugänglich sein, wenn sie die Partisanen unterstützen wollten. Folglich war es undenkbar, dass sich die Agenten der Sektion F verbargen.

Der Direktor runzelte die Stirn. »Was denn nun, Trigg?«

»Es gibt eine Möglichkeit …« Eleanors Stimme verebbte.

Normalerweise war sie nicht um Worte verlegen, doch das, was sie vorschlagen wollte, war so kühn, dass sie es kaum über die Lippen brachte. Dann gab sie sich einen Ruck und sagte: »Wir sollten Frauen schicken.«

»Frauen? Welche Frauen?«

Die Idee war Eleanor gekommen, als sie in der Funkzentrale beobachtet hatte, wie rasch und gekonnt eine der jungen Frauen dort eine Nachricht aus Frankreich entschlüsselt hatte. Wir verschwenden ihre Fähigkeiten, dachte sie, diese Frau sollte draußen im Einsatz sein, dort, wo es darauf ankommt.

Im ersten Moment war der Gedanke selbst Eleanor so verrückt erschienen, dass sie eine Weile gebraucht hatte, bis sie erkannte, wie sinnvoll er war. Allerdings hatte sie nicht vorgehabt, ihn in dieser Runde auszusprechen, vielleicht sogar nie. Und nun konnte sie nicht mehr zurück.

»Ich spreche von Agentinnen.« Eleanor hatte von solchen Frauen gehört. Sie operierten allein, überwiegend im besetzten Osten Europas, schmuggelten Nachrichten und verhalfen Kriegsgefangenen zur Flucht. Auch im Großen Krieg hatte es Agentinnen gegeben, wahrscheinlich mehr, als man gemeinhin annahm. Doch ein Programm ins Leben zu rufen, um Frauen offiziell zu Agentinnen auszubilden, dürfte um einiges schwieriger sein.

»Und was genau sollen diese Frauen tun?«, fragte der Direktor.

»Das Gleiche wie die Männer«, antwortete Eleanor und wurde ungehalten, weil sie etwas so Naheliegendes erklären musste. »Kurierdienste, Funkverkehr, Bewaffnung der Partisanen, Brücken sprengen.«

Auch an der Heimatfront hatten Frauen Männerrollen übernommen. Sie waren nicht mehr nur Krankenschwestern oder strickten für die Männer an der Front Socken und Pullover, sondern bedienten Fliegerabwehrkanonen, einige flogen sogar Militärflugzeuge. Warum also sollten Frauen nicht auch Agentinnen werden können, was war daran so schwer zu verstehen?

»Einen Sektor nur für Frauen?«, fragte Michaels – seine Skepsis war nicht zu überhören.

Eleanor ignorierte ihn und sah den Direktor an. »Warum denn nicht?«, sagte sie. »In Frankreich findet man zwar kaum noch junge Männer, aber die Frauen sind überall – auf der Straße, in den Läden und in den Cafés –, unsere Agentinnen könnten sich problemlos unter sie mischen. Allerdings würden wir keine der Frauen nehmen, die schon bei uns tätig sind.« Eleanor stockte und dachte an die Funkerinnen, die Tag und Nacht für die SOE arbeiteten. Einerseits waren sie ideal: intelligent, erfahren und der Sache ergeben. Andererseits machte gerade ihre Erfahrung sie als Agentinnen untauglich. Sie wussten zu viel, als dass man ihre Gefangennahme und Verhöre riskieren konnte. »Die Frauen müssten neu angeworben werden.«

»Und wo würden wir sie finden?«, fragte der Direktor, der sich für die Idee zu erwärmen schien.

»Da, wo wir auch die Männer finden. In den Dienststuben der Armee, in Universitäten und Büros, in den Fabriken und auf der Straße. Und in den Sanitätseinheiten der FANY, in der bekanntlich nur Frauen sind.«

Es gab keine Schule, auf der Agenten ausgebildet wurden, auch kein Diplom, das man erwerben konnte.

»Die Frauen müssten der gleiche Typus wie die Männer sein, clever und anpassungsfähig, und sie müssten Französisch sprechen können.«

»Zunächst einmal müssten sie ausgebildet werden«, sagte Michaels, als wäre es ein unüberwindbares Hindernis.

»Genau wie die Männer«, entgegnete Eleanor. »Niemand wird als Agent oder Agentin geboren.«

»Und dann?«, fragte der Direktor.

»Dann werden sie eingesetzt.«

Michaels zog die Brauen zusammen. »Sir, in den Genfer Konventionen wird der militärische Einsatz von Frauen ausdrücklich untersagt.« Die Männer am Tisch nickten beifällig.

»Es gibt sehr viel, was in den Genfer Konventionen untersagt wird«, erwiderte Eleanor spitz. Sie kannte die dunklen Seiten der SOE, die Vorschriften, die aus militärischen Gründen umgangen, die Gesetze, die ignoriert wurden. »Zur Tarnung könnten wir die Agentinnen der Fraueneinheit FANY angliedern.«

»Wir sollen das Leben von Müttern, Ehefrauen und Töchtern gefährden?«, fragte Michaels und schaute entrüstet in die Runde.

»Mir gefällt der Vorschlag auch nicht«, ließ sich einer der Führungsoffiziere am anderen Ende des Tischs vernehmen. Eleanor wurde nervös. Der Direktor war nicht gerade als willensstark bekannt. Falls alle Männer am Tisch sich gegen ihren Vorschlag aussprächen, würde er sich ihnen anschließen.

»Ist es Ihnen lieber, wenn unsere Leute alle zwei Wochen von den Deutschen geschnappt werden?«, fragte Eleanor und wunderte sich über ihren Mut.

»Wir versuchen es«, sagte der Direktor so entschieden wie selten. »Trigg, Sie werden sich im Norgeby House unten an der Straße ein Büro einrichten und mich wissen lassen, was Sie für Ihre Einheit brauchen.«

»Ich?«, fragte Eleanor überrumpelt.

»Sie haben sich das Ganze ausgedacht, deshalb werden Sie auch dafür verantwortlich sein. Mitgefangen, mitgehangen.«

»Sir«, meldete sich Michaels zu Wort. »Ich möchte Miss Trigg nicht zu nahetreten.« Er warf Eleanor einen verärgerten Blick zu. »Aber ich glaube nicht, dass sie dafür die Richtige ist.« Auch die anderen am Tisch musterten Eleanor skeptisch, doch die schwieg. Sie war an die herablassende Art dieser Männer gewöhnt.

Der Offizier unten am Tisch meldete sich wieder zu Wort. »Sir, auch ich halte Miss Trigg für ungeeignet und erinnere in dem Zusammenhang an ihre Herkunft.«

Die anderen Männer nickten, einige raunten sich etwas zu.

Wahrscheinlich bezweifelten sie ihre Loyalität, dachten, dass sie nicht zu ihnen gehörte, und man ihr deshalb nicht trauen konnte. Oder sie waren einfach Antisemiten. Sie hatte in der SOE ihr Bestes gegeben, war dem Direktor unentbehrlich, doch für diese Männer war sie noch immer eine Fremde.

Es war unfair, dachte Eleanor, sie hatte alles versucht, um als eine von ihnen zu gelten. Sie hatte sich den englischen Sitten angepasst, sich bemüht, ihren polnischen Akzent loszuwerden, und die englische Staatsbürgerschaft beantragt. Beim ersten Versuch war sie gescheitert, und nicht einmal der Direktor mit seiner Macht und seinen Beziehungen hatte es geschafft, den Grund zu erfahren. Vor einigen Monaten hatte sie einen zweiten Anlauf genommen, diesmal mit einem beigefügten Empfehlungsschreiben des Direktors. Bisher hatte sie noch keinen Bescheid erhalten.

Eleanor seufzte und beschloss, die Position lieber abzulehnen.

Doch der Direktor kam ihr zuvor. »Trigg, Sie fangen sofort an, die Frauen zu rekrutieren und für ihre Ausbildung zu sorgen.« Um die Diskussion zu beenden, schlug er mit der Faust auf den Tisch, und niemand wagte es mehr, Einwände zu erheben.

»Jawohl, Sir.« Eleanor zwang sich, den missbilligenden Blicken der Männer standzuhalten.

Nach der Besprechung wartete sie, bis nur noch sie und der Direktor im Konferenzraum waren. »Sir, ich glaube nicht, dass ich – «

»Unsinn, Trigg. Wir alle wissen, dass Sie für den Job genau der richtige Mann sind – die richtige Frau, meine ich. Selbst die Burschen vom Militär sind dieser Ansicht, auch wenn sie nicht erklären können, warum, und es auch niemals zugeben würden.«

»Ich bin trotzdem eine Außenseiterin, die weder Macht noch Einfluss hat.«

»Gerade als Außenseiterin sind Sie für diese Position bestens geeignet.« Der Direktor senkte seine Stimme. »Ich bin die politischen Kungeleien der anderen leid. Bei Ihnen weiß ich wenigstens, dass Sie sich nicht durch irgendwelche fehlgeleiteten Loyalitäten beeinflussen lassen.«

Das traf zu. Eleanor hatte in England niemanden, dem sie verpflichtet war. Ihre Arbeit war das Einzige, was in ihrem Leben zählte, das war von Anfang an so gewesen.

Doch so schmeichelhaft die neue Position war, so reichte sie doch nicht an einen Außeneinsatz heran. »Und wenn ich mich selbst zum Einsatz melde?«, fragte sie, obwohl sie die Antwort kannte.

»Keine gute Idee.«

Der Direktor hatte recht. Er fuhr fort: »Abgesehen davon ist Ihre neue Aufgabe wichtiger. Sie leiten die Abteilung – und werden Ihre Sache gut machen. Für die Frauen, die Sie anwerben, werden Sie die Person ihres Vertrauens sein.«

»Sind Sie sicher?« Eleanor war bekannt, dass ihre Kolleginnen in der SOE sie als kalt und distanziert bezeichneten. Sie wurde weder zum Tee noch zum Lunch eingeladen, und gewiss war sie nicht die Person ihres Vertrauens.

»Ja, Trigg, das bin ich«, antwortete der Direktor gereizt. »Vielleicht hatten Sie andere Aufgaben für sich ins Auge gefasst, aber nur wenige von uns sind da, wo wir uns vor dem Krieg gesehen haben.«

Ein wahres Wort, dachte Eleanor. Auf sie traf es mit Sicherheit zu. Trotzdem ließ sie sich sein Angebot noch einmal durch den Kopf gehen. Es wäre eine Möglichkeit, das Ruder zu übernehmen und vielleicht die Fehler zu beheben, die ihr in der SOE in den vergangenen Monaten aufgefallen waren. Sie hätte die Möglichkeit, etwas zu erreichen, selbst wenn sie nicht im aktiven Einsatz wäre.

»Wir müssen feststellen, wo und wofür die Frauen hauptsächlich gebraucht werden, und ihnen die entsprechende Ausbildung zukommen lassen«, sprach der Direktor weiter. Für ihn schien es klar zu sein, dass sie den Posten übernahm.

Eleanor schwankte noch. Es war ein verlockendes Angebot, doch wie sollte es ihr gelingen, allein ein derart schwieriges Projekt umzusetzen? So viele Männer waren im Einsatz gefasst worden, nun sollte sie Frauen auf die gleiche Aufgabe vorbereiten und auch deren Leben riskieren? Aber es war ihre Idee gewesen, und grundsätzlich fand sie sie auch richtig.

Eleanor schaute auf die Fotogalerie an der Wand. Es waren die Fotos junger SOE-Agenten, die im Kampf mit dem Feind ihr Leben gelassen hatten.

Sie stellte sich das französische Hauptquartier des deutschen Sicherheitsdiensts in der Avenue Foch in Paris vor. Der Befehlshaber des SD war SS-Standartenführer Helmut Knochen, der unter anderem für die Deportationen französischer Juden verantwortlich und sowohl für seine Schläue als auch seine Grausamkeit bekannt war. Es hieß, dass er Kinder als Geiseln nahm, um von ihren Eltern Geständnisse zu erpressen, und Menschen, die er des Widerstands verdächtigte, auf unvorstellbar sadistische Weise foltern ließ. Es würde sie nicht wundern, wenn er just in diesem Augenblick dabei wäre, Pläne ausarbeiten zu lassen, wie seine Abteilung das Fangnetz für ausländische Agenten noch feinmaschiger stricken konnte.

»Also gut«, sagte sie, »aber ich möchte die alleinige Kontrolle über meine Sektion haben.« Sie hatte gelernt, dass man die Bedingungen immer vor dem Anderen stellen musste.

»Einverstanden.«

»Und ich berichte nur an Sie, nicht an eine Ebene darunter.«

Aus dem Augenwinkel nahm Eleanor Captain Michaels wahr, der sich auf dem Flur herumdrückte und ihr argwöhnische Blicke zuwarf. Er und seine Kollegen würden an ihrem direkten Zugang zu Winslow Anstoß nehmen, sie waren ohnehin der Meinung, dass sie einen zu großen Einfluss auf ihn hatte. »Nur an Sie, sonst niemanden«, wiederholte sie fest.

»Geht in Ordnung, ganz ohne bürokratische Umwege.«

Seine Nachgiebigkeit zeigt, wie verzweifelt er einen Erfolg braucht, dachte Eleanor.

3. Kapitel
Marie

London, 1944

Falls Marie in ihrem Leben jemals erwartet hatte, als Geheimagentin angeworben zu werden, dann gewiss nicht, dass es in einem Badezimmer geschehen würde.

Eine Stunde zuvor saß sie noch im Town House, einem kleinen Café an der York Street, das von den Bombenangriffen der Deutschen verschont geblieben war, am Fenster. Dort konnte sie nach einem langen, hektischen Tag an der Schreibmaschine ein paar ruhige Minuten genießen, ein undefinierbares Gebräu trinken, das sich Ersatzkaffee nannte, und dabei den schmuddeligen Anbau des Kriegsministeriums, in dem sie arbeitete, vergessen.

Sehnsüchtig dachte Marie an ihre fünfjährige Tochter, die bei ihrer Tante in Ely lebte und die sie nur an den Wochenenden sah. Die Tage ohne sie kamen ihr immer wie Jahre vor.

Alles hätte sie darum gegeben, mit Tess draußen auf dem Land sein zu können. Sie hätten zusammen beobachtet, wie die Natur aus ihrem Winterschlaf erwachte, und am Bach hätten sie nach den schönen runden Steinen gesucht, die Tess so gerne sammelte. Abends hätte sie ihre Tochter ins Bett gebracht und ihr vorgelesen. Sie hätte gesehen, welche Fortschritte die Kleine täglich machte.

Doch Marie hatte ihre Arbeit in London und brauchte das Geld, damit ihr in die Jahre gekommenes Reihenhaus nicht noch baufälliger oder gar zwangsversteigert wurde. Vorausgesetzt, es würde vorher nicht in Schutt und Asche gelegt.

Aus der Ferne hörte man eine Detonation, und auf den Tischen des Cafés klapperten die Tassen.

Nach vier schrecklichen Kriegsjahren wurde Marie sofort panisch und befürchtete einen Bombenangriff. Doch alles blieb ruhig. Sie atmete auf und schaute aus dem Fenster.

Auf dem regennassen Bürgersteig suchte ein Junge von vielleicht sechs oder sieben Jahren winzige Bröckchen Kohle zusammen, die von einem Lieferwagen gefallen sein mussten. Marie fragte sich, wo seine Mutter war, und ihre Brust schnürte sich vor Mitleid zu.

Sie erinnerte sich an den Tag vor zwei Jahren, als sie sich entschieden hatte, Tess zu Tante Hazel aufs Land zu schicken. Im ersten Moment war ihr die Vorstellung, sich von ihrer Tochter zu trennen, unerträglich gewesen. Dann schlug in ihrer Straße eine Bombe ein, und unter den Toten waren sieben Kinder. Am nächsten Morgen schrieb Marie ihrer Tante in East Anglia einen Brief.

Hazel war die Schwester von Maries verstorbener Mutter und normalerweise eine etwas mürrische Frau. Doch sie und Tess hingen aneinander. Tess liebte auch das alte, verwinkelte Pfarrhaus, in dem Hazel wohnte, die Ecken und die Zwischenböden, wo man sich verstecken konnte. Ebenso glücklich war sie, wenn sie bei schönem Wetter draußen herumlaufen konnte oder ihre Großtante bei Regen zu ihrer Arbeit im Postamt begleiten durfte.

Marie hätte sich niemals bereit erklärt, ihre Tochter mit den Kindertransporten in die Obhut fremder Menschen zu geben. An jedem Freitag der vergangenen beiden Jahre, wenn sie vom Bahnhof King’s Cross zu Tess gefahren war, hatte sie dort herzzerreißende Abschiedsszenen miterlebt: Mütter, die mit Tränen in den Augen die Mäntel und Schals ihrer Kinder zurechtzupften; kleine Kinder, die sich an ihre Mütter klammerten, mit viel zu großen Koffern in den kleinen Händen. Sie hatte Kinder gesehen, die durch ein Zugfenster wieder hinaus zu ihren Müttern klettern wollten.

Nach solchen Eindrücken konnte Marie es kaum erwarten, Tess in die Arme zu schließen, und dann wollte sie ihre Tochter am liebsten gar nicht mehr loslassen. Jedes Wochenende blieb sie so lange, bis Hazel sie daran erinnerte, dass gleich der letzte Zug fuhr, der sie noch vor Beginn der Sperrstunde nach London bringen würde.

Tess ging es gut, tröstete sich Marie. Sie war sicher, bei jemandem aus der Familie. Trotzdem war es schmerzhaft, noch zwei lange Tage auf das Wochenende warten zu müssen.

Wieder sah Marie aus dem Fenster in den grauen Tag hinaus. Vielleicht sollte sie Tess zurückholen. Es gab bereits Familien, deren Kinder vom Land heimgekehrt waren. Der Blitzkrieg war vor vier Jahren beendet worden, und die Londoner übernachteten nicht mehr in U-Bahnhöfen, die Lage hatte sich ein wenig entspannt. Aber der Krieg war noch nicht vorbei, womöglich stand ihnen sogar das Schlimmste noch bevor.

Marie schob die düsteren Gedanken fort und holte ihr Buch hervor. Es war eine Sammlung der Gedichte Baudelaires. Sie liebte die ausgefeilte Form seiner Verse und die Sprache, die in ihr Erinnerungen an die glücklichen Zeiten wachrief, als sie als Kind die Sommer mit ihrer Mutter an der bretonischen Küste verbracht hatte.

»Entschuldigen Sie«, sagte da plötzlich eine Männerstimme.

Ungehalten schaute Marie auf. Es war der Mann am Nebentisch, der gesprochen hatte, ein dünner, bebrillter Kerl im Tweed-Jackett, unscheinbar und vielleicht vierzig Jahre alt.

»Darf ich fragen, was Sie lesen?«

Marie runzelte die Stirn. Was wollte er von ihr? Hatte er vor, zudringlich zu werden, so wie die amerikanischen Soldaten, die man nun überall sah? Mittags kamen sie angetrunken aus den Pubs, machten sich auf den Bürgersteigen breit, sprachen und lachten zu laut und versuchten, mit Frauen anzubändeln.

Doch der Mann hatte sich wie ein Engländer angehört, und sein Gesichtsausdruck zeigte nur höfliches Interesse. Marie hielt ihm das Deckblatt des Gedichtbands hin.

»Würden Sie mir etwas vorlesen?«, bat er. »Ich kann leider kein Französisch.«

»Und wozu soll mein Vorlesen dann gut sein?«

»Bitte«, sagte er. »Sie würden mir eine Freude machen.«

Wie seltsam, dachte Marie. Aber vielleicht fühlte er sich dem Land verbunden, hatte dort während des Kriegs einen Freund verloren oder selbst in Frankreich gekämpft.

»Na schön.« Einige Zeilen vorzulesen kostete ja nichts. Sie wählte das Prosagedicht »N’importe où, hors du monde«. Bei den ersten Zeilen war sie noch befangen, dann wurde sie sicherer.

Als sie geendet hatte, fragte sie den Mann, ob es ihm gefallen habe.

Er ignorierte die Frage. Stattdessen wollte er wissen, ob sie Französisch studiert habe?

Marie schüttelte den Kopf. »Meine Mutter war Halbfranzösin, und als Kind habe ich die Sommer in Frankreich verbracht.«

Man könnte auch sagen, dass sie damals vor ihrem Vater nach Frankreich geflohen waren. Er war Trinker gewesen, jähzornig und arbeitsscheu, der ihrer Mutter die bessere Herkunft und das Geld ihrer Familie neidete. Dass sie ein Mädchen und keinen Jungen geboren hatte, nahm er ihr ebenfalls übel. Er war auch der Grund, dass Marie nach dem Tod ihrer Mutter schon mit achtzehn Jahren nach London gezogen war und den Nachnamen ihrer Mutter angenommen hatte. In dem Haus, in dem sie aufgewachsen und seit sie denken konnte unglücklich gewesen war, hatte sie das Gefühl gehabt, zu ersticken.

»Ihre Aussprache ist erstaunlich gut«, sagte der Mann. »Nahezu perfekt.«

Marie fragte sich, woher er das wissen wollte, wenn er kein Französisch sprach.

»Sind Sie berufstätig?«

»Ja.« Marie stand auf. Diese Frage war ihr zu persönlich. Was ging es ihn an, ob sie arbeitete? Sie wühlte ein paar Münzen aus ihrer Jackentasche hervor und legte sie auf den Tisch. »Tut mir leid, aber ich muss weiter.«

Der Mann überreichte ihr eine Visitenkarte. »Ich wollte nicht unhöflich sein, ich dachte nur, dass Sie vielleicht Arbeit suchen.«

Marie betrachtete die Karte. »Baker Street 83« stand darauf, weiter nichts. Weder ein Name noch eine Firma.

»Fragen Sie dort nach Mrs Eleanor Trigg.«

»Warum das?«, fragte Marie. »Ich habe eine Arbeit.«

Der Mann lächelte. »Hier geht es um etwas anderes. Es wäre eine interessante und wichtige Aufgabe, die Ihnen vielleicht liegen würde. Sie würden auch gut bezahlt. Ich fürchte, mehr kann ich Ihnen im Moment nicht verraten.«

Fast hätte Marie gelacht. »Und wann soll ich bitte dort erscheinen?« Sie hatte nicht vor, das jemals zu tun.

»Am besten sofort.«

Marie verließ das Café, würdigte ihn nicht einmal mehr einer Antwort. Sie wollte nur fort von diesem wirren, aufdringlichen Menschen.

Auf der Straße blies ihr der kalte Wind entgegen. Sie lief schnell, um sich warm zu halten, und zog ihren dünnen Mantel enger um sich. Doch bevor sie um die nächste Ecke bog, blieb sie stehen und schaute zurück, um zu sehen, ob der Mann ihr folgte. Er war nirgends zu entdecken.

Sie warf noch einmal einen Blick auf die Visitenkarte. Ein schlichter Aufdruck in Schwarz auf festem, weißem Papier. Es hatte etwas Seriöses und Offizielles.

Sie hätte dem Mann sagen sollen, dass sie nicht interessiert sei. Oder sie könnte die Karte einfach wegwerfen. Doch jetzt war sie neugierig geworden und hätte gern gewusst, um welche Arbeit es sich handelte und wer der Arbeitgeber war. Vielleicht war es etwas Besseres als jeden Tag stundenlang an der Schreibmaschine zu sitzen. Es war auch von guter Bezahlung die Rede gewesen, und das, was sie zurzeit verdiente, war kaum erwähnenswert.