Land aus Staub und Schatten
LAND AUS STAUB UND SCHATTEN
Impressum
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Ein Dankeschön

LAND AUS STAUB UND SCHATTEN

 

Romy Wolf

Impressum

 

 

„Land aus Staub und Schatten“

1. Auflage

Veröffentlichung Februar 2020

© 2020 Romy Wolf

 

 

 

Romy Wolf

c/o AutorenServices.de

Birkenallee 24

36037 Fulda

 

 

Covergestaltung Grit Richter

E-Booksatz: Grit Richter

 

 

„Land aus Staub und Schatten“ erschien 2015 im Verlag in Farbe und Bunt unter dem Titel „Zechengeister“.

 

 

 

 

Alle Rechte vorbehalten. Jede Art von Vervielfältigung, Kopie und Abdruck ist ausschließlich mit schriftlicher Genehmigung der Verfasserin gestattet. Kein Teil des Werkes darf ohne schriftliche Genehmigung verändert, reproduziert, bearbeitet oder aufgeführt werden.

 

Kapitel 1

 

Die Zeche schlief nie, nicht einmal sonntags. Nicht feiertags, nicht in der Nacht, erst recht nicht am Tag. Nur manchmal, wenn ein Grubenunglück Alba erschüttert hatte und der Zugang zu den Stollen nicht möglich oder zu gefährlich war, wurde es ruhig. Das Förderrad hörte auf, sich zu drehen und in den Häusern und Straßen ringsherum hielten die Leute die Luft an. Wenn die Stille die Zeche Alba und die angrenzende Siedlung aus rotbraunem Backstein überfiel, wusste jeder Bergarbeiter, jede Mutter und jedes Kind, dass der Tod umging. Auf den Straßen weinten die Frauen oder sie belagerten die eisernen geschlossenen Eingangstore der Zechenanlage und sprachen stumm Gebete.

Der Lärm, der die Gebäude der Zeche und die angrenzende Kokerei zu jeder Tageszeit umgab, bedeutete Leben. Er bedeutete, dass Männer in den Stollen herabfuhren, hundert, tausend Meter und mehr, und am Ende der Schicht schwarz vor Kohlenstaub wohlbehalten wiederkehrten. Dass die Männer Lohn mitbrachten. Geld, von dem Brot gekauft und die Miete bezahlt werden konnte. Er bedeutete, dem Tod wieder einmal ein Schnippchen geschlagen zu haben. Es mochte nicht viel von dem Lärm nach außen dringen, aber im Innern tobte die Zeche.

Micha hörte den Lärm fast nicht mehr, wenn er unter Tage fuhr. Nur wenn er zur Arbeit ging oder beim Frühstück saß oder nachts erschöpft ins Bett fiel, dann schien sein Schädel zerspringen zu wollen. Micha hatte zwanzig Jahre in der Nachbarschaft zu Alba gelebt und jeder, einschließlich ihm selbst, wusste, dass er noch weitere zwanzig dort verbringen würde. Vielleicht dreißig oder vierzig, falls ihn nicht vorher eine Lawine unter Tage begrub, oder die Staublunge ihn das Leben kostete. Auf jeden Fall, und das war so sicher wie das Amen in der Kirche, würde das Grollen der Eisenhämmer und das Dröhnen der Hochöfen und das Rattern der Fördergerüste ihn bis zu seinem Tod begleiten.

»Auf Caledonia gab es ein Unglück«, hörte Micha die Stimme seiner kleinen Schwester. Bei den Worten krampfte sich Michas Magen so stark zusammen, dass Micha kurz stehenblieb und sich am Türrahmen festhalten musste. Augenblicklich dröhnte es wieder in seinen Ohren, spürte er, wie sich die Luft veränderte. Er hörte die Todesschreie, das Rufen seines Vaters. Micha blinzelte, spürte sein Herz klopfen. Schweiß war ihm auf die Stirn getreten. Seine Finger waren schwach und fanden kaum Halt an dem kalten Türrahmen. Nur eine Erinnerung. Es war bloß eine Erinnerung gewesen. Er befand sich in Sicherheit. Durchatmen, befahl er sich. Einfach durchatmen.

»Woher willst du denn das jetzt wieder wissen?«, fragte ihre Mutter. Das fragte Micha sich auch. Draußen war es noch dunkel. Wenn Neni nicht zufällig mit den Vögeln sprechen konnte, dann war die Wahrscheinlichkeit, dass irgendwer es ihr erzählt hatte, ziemlich gering.

»Ich habe es gehört.«

Endlich hatte Micha sich wieder soweit unter Kontrolle gebracht, dass er sich unter die Augen seiner Familie wagte. Er schlurfte in die Küche. Neni, ihr blondes Haar zu zwei Zöpfen geflochten, wuselte geschäftig umher. Sie stellte Teller und Tassen auf den Tisch und versuchte, nicht über den Haufen von Hemden und Röcken, die geflickt werden mussten und sich auf dem Boden türmten, zu stolpern. Sie sang ein Lied, dessen Text Micha nicht verstand, aber polnisch klang. Vermutlich hatte Neni wieder Zeit mit den verfluchten Polackenkindern verbracht.

»Hast du heute Nacht ein Telegramm bekommen oder woher weißt du das?«, fragte Micha betont beiläufig, während er sich an den Tisch setzte. Neni zupfte an einem ihrer Zöpfe, blickte ihren Bruder misstrauisch an, und zuckte dann mit den Schultern. »Du wirst schon sehen«, murmelte sie.

Also doch die Polen. Schlich sie sich etwa nachts raus, um mit ihnen umherzustreifen? Wenn die Nachbarn das mitbekamen …

Neni kannte die Geschichten, die herumerzählt wurden. Geschichten von Polen, die kleine Mädchen entführt und sich an ihnen vergangen hatten und von Italienern, die zum Spaß Deutsche durch ihre Straßen jagten, bis sie tot umfielen. Aber diese Geschichten störten Neni nicht. Die Italiener, die sie kenne, sagte sie, seien alle furchtbar nett.

»Du sollst dich abends nicht rausschleichen«, ermahnte er sie. »Eines Tages passiert dir noch etwas.«

»Ich war nicht draußen«, beharrte Neni.

Micha spürte, wie die Wut in ihm zu kochen begann. Konnte Neni nicht ein einziges Mal einfach etwas akzeptieren? Micha hatte keine Zeit, um sich mit so etwas herumzuschlagen. Noch jetzt schmerzte ihm jeder Knochen im Leib von der anstrengenden Arbeit.

»Lüg mich nicht an«, zischte er. Zu barsch, das wusste er in dem Moment, als ihm die Worte herausrutschten.

Neni verengte die Augen und presste die Lippen aufeinander. »Ich lüge nicht«, sagte sie kühl.

Hilflos sah Micha zu ihrer Mutter, die am Herd stand und der ganzen Auseinandersetzung stumm und blass zusah. Vor drei Jahren, in dem Jahr nach Vaters Tod, hatte eine schwere Lungenentzündung sie erwischt. Dieselbe Lungenentzündung, an der auch Elisabeth, Michas jüngste Schwester, gestorben war. Zerfressen über den Verlust ihrer Tochter war ihre Mutter in das Loch gefallen, das Elisabeth hinterlassen hatte. Nun bildeten Neni und Micha das Herzstück der Familie.

»Du solltest einfach aufhören, zu den Polacken rüber zu laufen«, brummte Micha und streckte seine Beine aus. Die Gelenke knackten, das Geräusch wurde von allen vier Wänden des kleinen Rechtecks auf ihn zurückgeworfen.

»Sei nicht so grob mit deiner Schwester«, ging seine Mutter schließlich doch dazwischen. Um ein Haar hätte Micha die Augen verdreht. Dass ihre Mutter sich auf Nenis Seite schlug, hätte er vorher wissen müssen. Manchmal fragte er sich, warum er überhaupt noch versuchte, die Familie zusammenzuhalten.

Neni, die eigentlich nach ihrer Großmutter Helene hieß, nahm die Kanne vom Herd und stellte sie mit einem lauten Rums auf den Tisch. In Nenis Blick lagen Trotz und Triumph nah beieinander. Seine Schwester forderte ihn heraus, das wusste Micha, aber er ging nicht darauf ein. Nicht an einem Sonntagmorgen, nicht, wenn ihm noch seine Schultern schmerzten und seine Lunge sich anfühlte, als habe er einen Sack Kohle verschluckt.

Er zuckte die Schulter und Neni richtete sich mit einem zufriedenen Gesichtsausdruck auf.

Seine Schwester verfügte über die Gabe, Streite durch Worte zu gewinnen. Sie konnte ihren Bruder mit guten Gründen und Gegenargumenten so lange in den Wahnsinn treiben, bis ihm der Schädel brummte. Micha hätte, müde und erschöpft, wie er war, doch nur den Kürzeren gezogen. In den vergangenen Jahren hatte er ein paar Mal versucht, die ›ich bin der Mann im Haus‹-Karte auszuspielen, aber Neni hatte bloß ihre Augenbrauen hochgezogen und Micha zweifelnd angeschaut. Es war nie einfach mit ihr.

Micha ließ den Blick über den kleinen Raum schweifen, in dem Nenis Zeug verstreut über dem Boden lag. Es passierte nicht selten, dass, wenn Micha nach Hause kam, Neni dabei war, im schlechten Licht der Öllampe Strümpfe zu stopfen oder Hosen zu flicken. Neni war nicht besonders geschickt in der Handarbeit, war es nie gewesen, und ihre Mutter war kaum eine Hilfe dabei. An manchen Tagen weinte sie stundenlang und schaffte es nicht einmal aus dem Bett. Also mühte sich seine Schwester mit Nadel und Faden ab, stach sich die Finger dabei wund und schaffte es nur mehr schlecht als recht, zwei Fetzen Stoff aneinanderzunähen.

Micha versuchte, das flaue Gefühl in seinem Magen zu unterdrücken. Ganz gleich, woher Neni die Neuigkeiten hatte, über ein Grubenunglück hätte sie keine Lügen erzählt. Nicht nachdem, wie ihr Vater ums Leben gekommen war. Augenblicklich dröhnte es wieder in seinen Ohren, spürte er, wie sich die Luft veränderte. Er hörte die Todesschreie, das Rufen seines Vaters. Micha blinzelte, spürte sein Herz klopfen. Schweiß war ihm auf die Stirn getreten. Nur eine Erinnerung. Es war bloß eine Erinnerung gewesen. Er befand sich in Sicherheit.

»Gibt es viele Tote?« Die Frage war nicht mehr als ein Murmeln, weil ihm plötzlich die Luft fehlte. Er zog seine Hände vom Tisch und schob sie in seine Hosentaschen, die schwitzigen Innenflächen juckten, als er sie gegen das raue Material der Hose schob.

Neni drehte sich um.

»Hundertdreizehn«, sagte sie tonlos.

Micha öffnete den Mund, um etwas zu sagen. Er wollte fragen, woher Neni die genaue Zahl der Opfer wusste, als die Tür aufging und Schritte auf den Holzdielen ertönte. Micha erkannte schon am Schlurfen, dass es Peter sein musste. Peter war ihr Kostgänger. Er schlief auf einem Klappbett in der Küche und bezahlte den Kellers dafür ein wenig Miete. Dass er in der Küche sein Lager hatte, wo es mitunter laut werden konnte, wenn Neni nach Hause kam, schien ihn nicht zu stören. Er schlief wie ein Toter.

Peter musste sich bücken, wenn er durch die Tür trat und wirkte, als seien seine Arme und Beine zu lang geraten. Sein Haar war hellbraun und sorgsam gescheitelt, wenn er zur Arbeit ging und wüst und zerzaust, wenn er morgens heimkehrte. Peter schob Nachtschichten, auch sonntags. Wenn er nach Hause kam, müde und nach Kohle riechend, wusch er sich schnell und setzte sich dann für gewöhnlich erst noch mit an den Frühstückstisch, bevor er sich schlafen legte. Micha wusste nicht wie, aber Peter schaffte es, nie mürrisch oder missmutig zu sein.

Peter stammte ursprünglich aus der Nähe von Hannover, doch die Aussicht auf Arbeit hatte ihn ins Ruhrgebiet gelockt. Über eine genaue Jahreszahl wollte er sich nicht auslassen und es interessierte Micha nicht genug, um zu fragen. Peter hatte wohl mal hier und mal dort gearbeitet, war von einer Stadt zur nächsten gepilgert und von Zeche zu Zeche gezogen, und lebte nun seit zwei Monaten bei Kellers zur Untermiete. Immerhin schien er stets pünktlich zu zahlen. Weder ihre Mutter noch Neni hatten sich je über ihn beschwert.

»Ein Stollen ist auf Caledonia eingebrochen«, begrüßte er die Geschwister, bevor er sich mit dem Ärmel über das Gesicht fuhr und seine nassen Haare nach hinten schob. Draußen prasselte leiser Regen gegen die Fenster. Wie immer sah Peter jedoch aus, als könnten ihm Wind und Wetter nichts anhaben. Es war zwei Wochen vor Allerheiligen und der Herbst hatte den Oktober mit Stürmen und viel Regen gefüllt.

»Haben wir gehört.« Micha rückte mit dem Stuhl zur Seite, um Platz für Peter zu machen.

»Sie wissen noch nicht genau, wie viele Opfer.« Peter behielt seine Jacke an und setzte sich.

»Hundertdreizehn«, wiederholte Neni wie aus der Pistole geschossen.

Peter runzelte die Stirn, doch er schien über Nenis Antwort weniger überrascht, als Micha es gewesen war, oder als Micha es erwartet hätte.

»Tatsächlich, Fohlen?«, fragte er. Das war sein Name für Neni, weil ihre Beine lang und staksig unter ihrem Rock hervorlugten. Manchmal fragte Micha sich, warum Peter für Neni einen Kosenamen hatte, er selbst aber nicht.

Neni nickte.

Peter sah sie für einen Moment fragend an und Neni erwiderte den Blick, als ob die beiden ein Geheimnis teilen würden. Micha wurde das Gefühl nicht los, etwas verpasst zu haben. Etwas, von dem er wissen sollte, das ihm aber vorenthalten wurde.

Manchmal mochte er Peter. An anderen Tagen konnte er ihn nicht ausstehen.

 

***

 

Im Traum hatte Sofia Geschöpfe gesehen, so entsetzlich, dass sie mit klopfendem Herzen aufgewacht war und die Lider minutenlang zusammenpresste aus Angst vor dem, was vielleicht noch im Raum war. Sie erinnerte sich an schwarze Pupillen in einem Kreis aus eitrigem Gelb. Fauliger, heißer Atem und Klauen, die ihr Innerstes vor Kälte zum Gefrieren brachten. Eines der Wesen hatte seine Hände nach ihr ausgestreckt und ihr die Kehle zugedrückt. Sofia hatte in das Auge des Dämons geblickt, und im Traum geschrien. Die Klauen hatten sich zurückgezogen, und Sofia war aufgewacht.

Nun lag sie hier im Dunkeln, und horchte auf das Trommeln ihres Herzschlags. Neben ihr im Bett lag ihre Schwester Maria und schlief. Sofia lauschte ihren Atemzügen. Draußen, auf der Straße, ertönten klappernd die Absätze von schweren Stiefeln. Es waren die Schritte von Leuten, die auf dem Weg zur Arbeit waren oder von der Zeche heimkehrten. Sofia horchte und wartete darauf, dass sich der Schlüssel in der Haustür drehte und die Tür mit einem Quietschen aufgestoßen wurde, weil Vater von der Nachtschicht zurückkehrte. Ihre Familie war das einzige, das Sofia von ihrer Heimat geblieben war.

Das vertraute Geräusch des Schlüssels in der Tür erklang und Sofia wusste, dass sie jetzt in Sicherheit war. Keine Dämonen oder Gespenster konnten ihr jetzt etwas anhaben.

Sie schlug die Augen auf. So warm es in ihrem Bett auch war, jetzt musste sie aufstehen und die Hühner und Kaninchen füttern.

»Maria, wir müssen los«, flüsterte Sofia. Als ihre Schwester nicht reagierte, versetzte Sofia ihr mit dem Ellenbogen einen leichten Stoß. Marias tiefer Schlaf war nichts Ungewöhnliches. Sie konnte noch im Gehen einschlafen, wenn sie wollte.

»Schlafmütze, du. Aufstehen.«

Papa schlurfte in der Wohnung umher, sprach ein paar Worte mit Mama. Er sagte etwas, dann fiel ein Name, Caledonia. Mama rief ein Stoßgebet zum Himmel und Sofia war sich sicher, dass sie gar nicht wissen wollte, um was es ging. Durch den Spalt in den Vorhängen fiel blassblaues Licht und tauchte das Zimmer in eine Schattenwelt, in der jede Ecke überdeutlich hervortrat. Sofia schlang die Arme um den Körper. Plötzlich war da wieder die Erinnerung an ihren fürchterlichen Traum von den Dämonenwesen. Nur ein Traum, sagte sie leise. Doch die Kälte steckte noch immer tief in ihren Knochen. Es fühlte sich an, als könne ihr nie wieder warm werden.

Einen Moment lang war es in der Wohnung völlig still, dann ertönte Mamas Stimme. »Sofia! Maria! Wo bleibt ihr?«

»Wir sind gleich da!«

Sofia wandte sich wieder ihrer Schwester zu. Sanft packte sie Maria am Handgelenk. »Maria. Jetzt komm. Stell dich nicht schlafend.«

Als ihre kleine Schwester immer noch nicht reagierte, drehte Sofia seufzend die Ölleuchte an. Manchmal war es nicht einfach, immer die Vernünftige sein zu müssen. Halb wünschte Sofia sich, sie hätte auch den Mut besessen, einfach im Bett liegen zu bleiben und die Welt draußen einen Tag lang auszusperren. Sofia drehte die Öllampe hoch und sanftes Licht erhellte allmählich den Raum. Gemütlicher machte ihn das nur bedingt, so spärlich eingerichtet, wie er war. Nur eine Aquarellzeichnung der Toskana und ein Portrait der Jungfrau Maria hingen an den sonst blanken Wänden. Ganz anders als in ihrem alten Haus in Italien. Sofias Blick blieb an dem Bild der Toskana hängen, betrachtete es eindringlich, dann schluckte sie ein paar Tränen hinunter. Heimweh brachte ja doch nichts. Und überhaupt, wenn sie erst alt genug war und ein wenig Geld verdient hatte, würde sie in das Land ihrer Geburt zurückkehren. Ein Glück, dass es Maria hier ebenso wenig gefiel wie ihr selbst.

Wieder rief Mama nach ihnen. Es nutzte nichts. Sie mussten aufstehen.

»Jetzt komm schon, Maria. Stell dich nicht so an.«

Sofia beugte sich über ihre Schwester, um sie an der Schulter zu rütteln, und machte einen Satz rückwärts.

Maria lag noch genauso da, wie sie sich am Abend zuvor ins Bett gelegt hatte, aber sie schlief nicht. Ihre Augen standen weit offen, als blickten sie zur Decke, aber sie waren leer, tot. Marias Mund formte ein stummes ›O‹. Ihre Züge waren hart, wie in Stein gehauen. Sie sah aus, als wäre ihr im Schlaf vor Schreck ihr Herz stehen geblieben. Aber sie atmete noch. Ihre Hände waren zu Fäusten geballt. Speichel lief aus ihrem Mundwinkel.

Sofia schrie.

 

***

 

Das Läuten der Kirchenglocken schallte die Straße hinab und rief die Arbeiter zu sich, die Armen und Gebeutelten, die sich Tag und Nacht den Rücken krumm schufteten. Die Kirche war katholisch, also ging Peter nicht hin. Zum Schlafen, sagte er, müsse er nicht in einer Kirchenbank sitzen. Neni hatte gelacht. Dass sie der heiligen Messe ebenfalls nicht viel abgewinnen konnte, war allgemein bekannt. Wahrscheinlich wussten es sogar die Nachbarn. Wahrscheinlich wusste es jeder von Duisburg bis Dortmund.

Ihrem Vater hatte sie nie Widerworte gegeben. Aber vermutlich lag genau darin das Problem. Micha war nicht ihr Vater, sondern ihr Bruder, den das Schicksal gegen Nenis Willen befördert hatte.

Micha jedenfalls ging regelmäßig zur Kirche, jeden Sonntag, und bemühte sich, Neni mitzunehmen. Das bedeutete in der Regel, ab morgens ein Auge auf sie zu haben, damit sie nicht in einem unbeobachteten Moment ausbüxte und den Vormittag damit verbrachte, durch die Gegend zu streunen. Neni war manchmal nicht ganz richtig im Kopf. Es gab Momente, so wie beim Frühstück, wenn sie Dinge wusste, die sie nicht wissen konnte. Sie sprach nicht darüber, woher diese Eingebungen kamen und stellte sich dumm, wenn man sie danach fragte. Micha schob es auf Nenis Ausflüge, auf den schlechten Umgang mit den Polacken oder Italienern, aber selbst er musste sich eingestehen, dass diese Erklärungen nur bedingt Sinn ergaben. Selbst wenn Nenis sich in der Nacht aus dem Haus geschlichen hatte, woher hätten ihre Freunde von Caledonia wissen sollen?

***

 

Neni schlurfte mit hängenden Schultern neben ihm her, als würde er sie zur Schlachtbank führen. Hier und da kickte seine Schwester Steine und balancierte auf der Bordsteinkante des Bürgersteigs. Dem Tempo nach, in dem das geschah, setzte Neni noch jetzt alles daran, die Messe zu verpassen.

»Peter geht auch nicht«, schimpfte sie.

»Ja. Eben.«

Neni schnaubte verächtlich.

Der Bürgersteig war nicht viel höher als die ungepflasterte Straße und nicht viel ebener. In der Ferne zog gerade die Rauchsäule einer Dampflokomotive in den Himmel, als Micha und Neni die Sternstraße entlang liefen, höflich die Nachbarn grüßten und doch wussten, dass die Tratschweiber die Köpfe zusammenstecken und die neusten Gerüchte über die Familie Keller verbreiten würden, sobald Micha und Neni um die Ecke gebogen waren.

Bergleute hielten zusammen, ließen vor Fremden nichts aufeinander kommen. Die Siedlung, oder zumindest die jeweiligen Landsleute, bildeten eine verschworene Gemeinschaft, die nach außen furchterregend und völlig verhärtet wirken konnte. Wie die Kruste eines Brotes, das man zu lange liegen gelassen hatte. Aber im Innern brodelte es gewaltig, zumindest, sobald man ein gutes Opfer gefunden hatte.

Anfangs hatte die Gemeinschaft sie noch mitleidig angesehen – der arme Vater, die arme Mutter, die arme Elisabeth, die armen Kinder, hatten die Nachbarn gesagt, Lebensmitteln vorbeigebracht, was sie eben entbehren konnten und sich für ein paar Wochen in ihrer Wohltätigkeit gesonnt. Dann hatten sie angefangen, zu tuscheln: Unmöglich, dass die Mutter sich nicht mehr blicken ließ, man höre ja, sie liege den ganzen Tag im Bett, eine Schande sowas. Und die kleine Helene? Die sah man auch ständig herumstreunen wie einen Landstreicher, oder mit den italienischen und polnischen Kindern spielen. So viel schlechter Umgang, dass die Mutter das erlaubte! Dem Mädchen hätte es besser getan, wenn man es in einem Haushalt oder in einem Heim untergebracht hätte. Jetzt konnte man ja praktisch dabei zusehen, wie das arme Ding immer mehr verrohte und nichts dazu lernte. Dieses Rotzgör stellte nur Unfug an! Dann Micha, mittlerweile zwanzig und immer noch keine Frau in Aussicht, herrje, und immer diesen grimmigen Ausdruck im Gesicht. Hielt sich wohl für was Besseres, nie sah man ihn mit anderen Männern mal auf dem Bolzplatz oder beim Schwimmen im Fluss.

Die ganze Familie tickte nicht richtig.

Das Schlimmste war, dass sie damit wahrscheinlich nicht einmal ganz falsch lagen.

Er ertappte Neni dabei, wie sie einer der alten Schabracken, die dem Geschwisterpaar ungeniert nachgafften, die Zunge rausstreckte. Entsetzt schnappte die Frau nach Luft, um zu einer Standpauke auszuholen. Rasch griff Micha nach Nenis Hand und zog seine Schwester weiter.

Der Turm der Kirche St. Anna überragte die niedrigen, zweigeschossigen Zechenhäuser und war schon von weitem gut zu sehen. Neni schwieg, den Kopf trotzig nach unten gesenkt. Micha hatte sie gezwungen, ihr veilchenblaues Kleid zu tragen, das Neni im Laufe eines Jahres zu kurz geworden war und das sie noch nie gemocht hatte. Ihr Haar war zu zwei krummen Affenschaukeln gebunden, weil Micha sich im Flechten von Haaren genauso geschickt anstellte wie Neni beim Nähen. Irgendwo hatte Neni zwei schwarze Haarbänder aufgetrieben, die nun in unordentlichen Schlaufen ihre Zöpfe verzierten. Die Strümpfe waren schon drei oder viermal geflickt und verdeckten Nenis aufgeschürfte Knie nicht. Ein Mädchen, das lieber im Dreck spielte, als Nähen zu lernen.

Nicht alle gingen sonntags nach St. Anna. Da waren die Protestanten, die von dem katholischen Pastor schief angesehen wurden, sobald sie einen Fuß in seine Kirche setzten, Arbeiter, die erst morgens aus der Nachtschicht heimkamen und jene Männer, für die es keine Sonntagsruhe gab. Das Gesetz zur Sonntagsruhe war neu – als Micha angefangen hatte unter Tage zu arbeiten, hatte es das Gesetz noch nicht gegeben – und erlaubte so viele Ausnahmen, dass Micha manchmal glaubte, sonntags würden mehr Männer in die endlosen unterirdischen Schluchten gefahren als wochentags. Arbeit, deren Aussetzen der Zeche langfristig Schaden zufügen würde, durfte auch sonntags verrichtet werden. Also mussten die armen Schlucker, die die Pumpen und Luftzufuhr zu den Stollen bedienten, auch sonntags ran. Die Kirchenglocken waren für alle zu hören, aber sie riefen nur einen Teil der Gemeinde.

Micha war Hauer. Seine Aufgabe war es, die Kohle von den Stollenwänden zu hauen, Stunde um Stunde, Tag um Tag, Woche um Woche. Für seine Arbeit galt die Ausnahme nicht, also hatte er sonntags frei.

Micha ging gerne zur Kirche und er versuchte, keine Messe zu verpassen. Er fand Ruhe in der Backsteinkirche mit ihren gewölbten Decken und bunten Fenstern. St. Anna war mit der Siedlung entstanden, und fügte sich nahtlos in das Bild ein. Roter Backstein und leicht verschnörkelte Fassaden, soweit das Auge reichte. Innen war St. Anna weiß getüncht, mit einer kleinen Kanzel, einem Beichtstuhl und einer einfachen Orgel versehen. Beim Bau der Kirche hatte das volle Ausmaß, das die Siedlung eines Tages einnehmen würde, noch unvorstellbar geschienen. Doch mittlerweile musste man zu den Messen auf den Bänken so gut es ging zusammenrücken und im hinteren Teil standen die Kirchgänger in engen Reihen bis draußen auf die Treppe. Bei nasskaltem Wetter, besonders im Winter, heizte sich die Kirche wegen der vielen Leute auf und der Geruch von Moder und Armut legte sich wie eine Hand um die Kehle.

»Warum muss ich immer mitgehen?«, maulte Neni. »Es ist langweilig. Außerdem war ich sowieso nicht bei der Beichte.«

Micha blieb stehen.

»Hat Mama dich nicht geschickt?«

Neni starrte auf ihre Schuhe und kickte einen weiteren Stein vor sich her. »Doch, schon. Aber …« Sie presste die Lippen aufeinander, als habe sie zu viel gesagt.

»Was, aber?«, bohrte Micha.

Als sie aufblickte, lag in ihren Augen der pure Trotz. »Der Pastor sagt, ich lüge. Aber das stimmt nicht. Ich erzähle ihm die Wahrheit. Er glaubt mir nicht, und dann muss ich wieder und wieder den Rosenkranz beten, obwohl ich gar nichts gemacht habe!«

»Was hast du ihm denn erzählt?«

»Du würdest mir ohnehin nicht glauben.«

Du könntest es versuchen, wollte Micha sagen, aber stattdessen packte er nur bestimmt Nenis Hand und legte das letzte Wegstück zur Kirche zurück.

Micha mochte es, wenn der Pastor sprach. Von harten Zeiten, die es zu erdulden galt, und Schicksal, davon, dass man den Tod nicht fürchten musste. Micha trug immer ein Bild der heiligen Barbara, der Schutzpatronin der Bergarbeiter, bei sich und betete vor dem Schlafengehen zu ihr, dass sie ihn beschützen möge. Das Bild hatte sein Vater ihm geschenkt, wenige Tage bevor er unter einer Lawine aus Geröll und Erde begraben worden war und Micha hütete es wie einen Schatz.

Die Leute standen in kleinen Grüppchen vor dem Kirchenhaus, als Micha und Neni ankamen. Die Köpfe zusammengesteckt, zog sich das aufgeregte Getuschel und Gemurmel der wartenden Gemeinde über Micha und Neni wie eine Decke. Micha schlüpfte darunter, schob sich durch die kleinen Durchgänge zwischen den Grüppchen und zog Neni hinter sich her Richtung Eingangspforte. Neni, die jedes Mal ein Gesicht zog, als hätte sie saure Milch getrunken, wenn sie das Wort »Messe« hörte.

Wenn Micha so darüber nachdachte, wusste er eigentlich nicht mal, was Neni gegen den Kirchgang hatte. Lag es wirklich daran, dass der Pastor sie eine Lügnerin genannt hatte? Oder war Neni bloß wütend, weil er sie tatsächlich beim Lügen erwischt hatte? Micha hatte sie nie gefragt. Zwischen Arbeit und Schlafen blieb keine Zeit zum Fragen.

»Ich wünschte, ich wäre evangelisch«, murrte Neni, als Micha sie ins Kirchenschiff zog.

»Die haben auch sonntags Messen.«

»Ja, aber dann könnte ich mit Peter gehen.«

Micha konnte nicht sagen, ob Neni ihn absichtlich treffen wollte, aber der Schlag saß trotzdem.

»Peter geht aber nicht zur Messe.« Er konnte nicht verhindern, dass er abfällig klang. Wie immer war Neni sofort zur Stelle, um ihren Freund zu verteidigen. »Vielleicht würde er das, wenn ich ihn begleite.«

Eigentlich konnte Micha Peter gut leiden. Peter bemühte sich, nicht im Weg zu stehen, bezahlte seine Miete pünktlich und hatte nichts dagegen, anzupacken, wenn seine Hilfe benötigt wurde. Micha schätzte seine gutmütige Art. Aber manchmal, wenn er sah, wie Neni und Peter zusammensaßen und lachten, wünschte Micha sich, ihr Kostgänger würde einer Kutsche unter die Räder kommen.

Sie würden schon einen neuen Untermieter finden. Ledige Männer, die für ein paar Wochen oder Monate Unterschlupf suchten, bevor sie zur nächsten Zeche weiterzogen, gab es zu genüge. Fast täglich klopften Bergarbeiter bei ihnen an die Tür, gerade aus dem Zug gestiegen und manchmal noch nicht mal auf Alba angemeldet, und fragten nach einer Schlafmöglichkeit, einem trockenen Platz zum Bleiben. Wenn das Geld besonders knapp und der Winter besonders hart war, wurde noch eine mit Stroh gefüllte Matratze in die Wohnung geschoben und ein weiterer Schlafplatz vermietet.

Die Kirche war schon voll, als sich Micha auf die Suche nach einem Sitzplatz machte, voll und stickig und laut. Das Gewölbe warf das Flüstern und leise Murmeln auf die Gemeinde in vierfacher Lautstärke dröhnend zurück. In den hinteren Reihen gab es noch vereinzelt Lücken zwischen Familien und Witwen, den wenigen Italienern und Polen, die ein paar Brocken Deutsch verstanden und sich nach St. Anna gewagt hatten.

»Komm.« Micha zupfte Neni am Ärmel. In der vorletzten Reihe hatte er zwischen einer Gruppe junger Männer, vermutlich Kostgänger, und einer Familie, die Micha vom Sehen kannte, einen freien Platz erspäht. Aber Neni blieb wie erstarrt stehen.

Micha drehte sich um. »Was ist los?«

Neni schaute zu ihm hoch, ihre Augen vor Furcht so geweitet, dass sie ihr Gesicht aufzusaugen schienen. Die Farbe war schlagartig aus ihrem Gesicht gewichen, als habe seine Schwester ein Gespenst gesehen.

»Neni, hör auf, so einen Zirkus zu veranstalten. Alle schauen schon.« Was war denn nun schon wieder passiert? Konnte sich seine Schwester selbst in der Kirche nicht einmal normal benehmen?

Neni zögerte, biss sich kurz auf die Unterlippe und blickte flüchtig nach links und rechts, bevor sie antwortete: »Die Narrenkrankheit ist da.« Ihre Stimme klang verändert, alt und kratzig.

***

 

Als Micha nicht direkt antwortete, senkte Neni ihre Augen und inspizierte mit erstaunlicher Aufmerksamkeit das Muster auf dem Steinboden. Ihre Hand umklammerte fest Michas, als habe seine Schwester Angst, ihn zu verlieren. Michas Magen machte einen Purzelbaum. So kannte er seine Schwester nicht. Sie musste wirklich erschüttert sein.

»Rede keinen Unsinn«, sagte er schwach.

»Tu ich nicht«, verteidigte Neni sich. Ihre Finger waren immer noch um Michas geschlungen. »Sie ist da. Gestern Nacht hat sie Gottlieb Bernard geholt. Ich weiß es.«

Die Narrenkrankheit – hatte sie wirklich Alba erreicht? Nein. Bestimmt nicht. Das waren doch alles nur dumme Gerüchte, nichts als Gerede, mit dem sich die Weiber die Zeit vertrieben. Die Schauermärchen von Menschen, die normal ins Bett gegangen und am nächsten Morgen völlig schwachsinnig, völlig leer aufgewacht waren, mussten erfunden sein.

»Diese Krankheit gibt es nicht«, sagte er darum bestimmt. »Du hast dir bloß einen Floh ins Ohr setzen lassen. Erst die Sache mit Caledonia und jetzt das …«

Neni schüttelte vehement den Kopf. Ihre Unterlippe zitterte, als sie sprach.

»Sie haben es mir erzählt.«

Micha horchte auf. »Wer hat dir was erzählt?«

Und dann ließ Neni seine Hand los, als habe sie sich erschrocken. Sie trat einen Schritt zur Seite, als müsse sie zwischen sich und ihrem Bruder Distanz schaffen.

»Niemand.«

»Neni?«

Aber aus Neni war nichts mehr rauszubekommen. Den Kopf stur gesenkt weigerte sie sich, noch etwas zu der Sache zu sagen. Unterdessen füllte die Kirche sich weiter. Entweder sie kämpften sich jetzt zu dem noch freien Platz in der vorletzten Reihe oder sie mussten während der Messe stehen. Micha, dem immer noch die Schultern und Arme von der Arbeit am Vortag schmerzten, bevorzugte die erste Variante. Er packte Neni unsanft am Arm und schob sich weiter vor.

Aus den Augenwinkeln sah er, wie ein Mädchen und ein Junge in Nenis Alter, die bei den Polacken saßen, seiner Schwester kurz zuwinkte, als Micha und Neni an ihnen vorbeigingen. Neni blickte auf und winkte zurück. Micha verdrehte die Augen, entschied sich aber dafür, der Gemeinde das Schauspiel Micha gegen Neni zu ersparen.

Neni setzte sich stumm neben Micha und hörte der Predigt gelangweilt zu. Ihre Augen flogen zwar über die Liedtexte, aber aus ihrem Mund kamen keine Töne. Und dass, wo das Liedersingen doch sonst der einzige Lichtblick für Neni war. Sie wirkte abwesend und saß blass und unbeweglich in der Kirchenbank. In Micha verstärkte sich das Gefühl, dass irgendetwas nicht stimmte.

Als die Kirchenglocken das Ende der Messe verkündeten und die Leute aus der Kirche strömten, flatterten von überall her Gesprächsfetzen um seinen Kopf wie in Stücke gerissenes Papier. Frauen eilten von Gruppe zu Gruppe, bleiche Gesichter, wohin Micha sah und Neni hing wieder an seinem Arm, umklammerte ihn mit all ihrer Kraft. Ein paar Männer hatten die Hand vor den Mund geschlagen, einige Frauen stützten einander. Eine der Töchter der benachbarten Familie, die in der Wohnung rechts von Kellers lebten, stand mit rot geweinten Augen neben ihrer Mutter und schüttelte den Kopf.

Dann hörte Micha es plötzlich aus allen Ecken, aus allen Richtungen, aus jedem Mund: »Die Narrenkrankheit ist da. Die Krankheit hat Gottlieb Bernard geholt.«

Micha starrte Neni an, das Entsetzen verschlug ihm die Sprache, seine Kehle fühlte sich an, als sei sie mit Staub überzogen. Aber Neni sagte immer noch nichts. Sie schaute stumm zu den anderen Menschen und drückte Michas Hand.

 

***

 

»Sie sind hier.«

Falkor zog an Jaris Kette. Das kalte Eisen rutschte gegen seinen Fußknochen, aber nicht darüber.

»Hörst du mich?«

Dieses Mal klang die Stimme lauter und der Zug war grober. Jari öffnete die Augen, und über ihm erschien Falkor.

Es war stockfinster in dem verlassenen Schacht, aber im Vergleich zu dem Ort, an dem sie die letzten achthundert Jahrhunderte ausgeharrt hatten, war es wirklich nicht so schlimm. Im Laufe der Zeit hatten sich seine Augen an das fehlende Licht gewöhnt. Aber er erinnerte sich dumpf, dass die Welt damals, als er noch an der Oberfläche umhergewandert war, bunte Farben gehabt hatte. Hier unten gab es nur Schattierungen aus braun, blau und grau, selten gelb; matte Farben, von denen er wusste, dass die Welt oben nicht so aussah – aber erinnern konnte er sich nicht. Er fragte sich, ob ihn das Tageslicht, sollte er es je wiedersehen, erblinden lassen würde.

»Ja, ich höre dich.« Jari fuhr sich mit der Hand über die Augen und setzte sich auf.

»Und es interessiert dich vermutlich nicht.« Falkors Stimme überschlug sich fast vor Verachtung, wie jedes Mal, wenn er mit Jari sprach. Am Anfang hatte Falkors Tonfall Jari wütend gemacht, dann verletzt. Mittlerweile nahm er kaum noch Notiz davon. »Warum wir jetzt hier sind und nicht mehr … dort.«

Jari zuckte die Schultern und erntete dafür einen weiteren Ruck an der Kette. Nein, wenn er ehrlich war, dann interessierte es ihn wirklich nicht. Wenn er eins in den vergangenen Jahrhunderten gelernt hatte dann, dass, egal was er tat oder sagte, sich nie etwas änderte. Gut, jetzt waren sie hier statt in dem Gefängnis, das man damals für ihn gebaut hatte. Was machte das für einen Unterschied?

Weil es aber sonst nichts zu sehen oder zu hören gab und Jari sich nach Neuigkeiten von da oben sehnte und jeden Brocken aufschnappte wie ein hungriger Hund, fragte er dennoch: »Wann sind sie angekommen?«

»Gestern Nacht.« Falkor rieb sich das Kinn und ließ die Kette etwas lockerer. »Sie haben sich direkt ein Opfer ausgesucht. Möglicherweise mehr als eins.«

Jari verzog den Mundwinkel. »Wer hat es dir gesagt?«

»Ich habe ein Gespräch von einigen Bergmännern belauscht. Sie nennen es die Narrenkrankheit – nun ja, es war damit zu rechnen, dass sich der Name schon bis hierhin verbreitet hatte. Ich hatte also Recht. Alba wird der nächste Ort sein.«

Jari überlegte kurz, ob er Falkor darauf hinweisen sollte, dass eigentlich er über das nächste mögliche Ziel spekuliert und Alba erwähnt hatte, entschied sich aber dagegen.

»Hast du hier jemanden gefunden? Von uns?«

Jari blickte hoch zu Falkor, der wie ein Riese über ihm stand. Er überragte Jari um ein ganzes Stück, selbst, wenn sie aufrecht nebeneinanderstanden. Mit seiner blassen Haut, den blauen Augen und den blonden Locken bildete er das genaue Gegenteil zu Jari, dessen Haar sich in dunkelbraunen Strähnen um seinen Kopf legte. Jaris Haut hatte einen bronzefarbenen Ton, seine Augen waren ebenso dunkel wie sein Haar.

Falkor schüttelte den Kopf. »Nein. Niemand von uns.«

Jari konnte das Seufzen, das seiner Brust entsprang, nicht unterdrücken. Wo waren sie alle?

»Aber«, fuhr Falkor dann fort, »der Zauber hat jemand anderen gefunden.«

Etwas in den Worten ließ Jari aufhorchen. »Wen denn?«

Es folgte eine gut kalkulierte Pause. »Irgendwo hier gibt es eine Geisterseherin. Zumindest den Wellen nach, die der Zauber zurückgeworfen hat. Bei ihren Gesprächen haben die Bergmänner ein kleines Mädchen erwähnt, das sich wohl merkwürdig verhält. Angeblich weiß sie manchmal Dinge, die sie gar nicht wissen sollte.«

»Eine Geisterseherin«, murmelte Jari. Plötzlich keimte etwas in ihm auf, das er seit langer Zeit nicht mehr gespürt hatte: Hoffnung.

»Glaub ja nicht«, sagte Falkor, die Stimme schneidend und dünn, »dass sich dadurch irgendetwas für dich ändert.«

»Das habe ich schon lange aufgegeben.«

Falkor war nicht bösartig, nicht verdorben, nicht schlecht. Der Mann war immer der beste von ihnen gewesen, bemüht, Gutes zu tun und Nachsicht walten zu lassen. Nur was Jari betraf – da kannte Falkor kein Mitleid, keine Gnade. Falkor hasste Jari. Jari hasste Falkor nicht - oder nicht mehr, aber das bedeutete nicht, dass er seinen Aufseher mochte.

»Hoffentlich finden wir sie. Bevor zu viele Menschen sterben.« Falkors Stimme wurde eine Nuance sanfter, und als er das Gesicht abwandte, blickte er nachdenklich in das Dunkel des Tunnels. Seine Worte waren nicht an Jari gerichtet, also erwiderte er nichts darauf. Als Falkor schließlich wieder sprach, hatte seine Stimme die gleiche Schärfe wie zuvor: »Aber dich kümmert es ja nicht.«

Ein Ruck an der Kette. Jari fuhr sich mit den Fingern durch die Haare und Staub und Schmutz kamen ihm entgegen. »Es wäre mir auch lieber, wenn wir rechtzeitig kämen.«

Das entsprach sogar der Wahrheit.

Falkor zog bloß die Augenbrauen hoch, und Jari hob trotzig das Kinn. »Aber da ich von uns beiden nicht derjenige bin, der die Entscheidungen fällt, ist es dieses eine Mal nicht meine Schuld.«

Falkors Augen verengten sich und er riss an der Kette, so heftig, dass es sich in das Fleisch um Jaris Knöchel grub und Jari vor Schmerz aufstöhnte. Falkor beugte sich zu ihm herunter, bis er ganz dicht an seinem Ohr war.

»Es ist immer deine Schuld, du Verräter«, zischte er. »Immer. Egal, wie sehr du dich verstellst und glaubst, mir etwas vormachen zu können. Du bist im Inneren verdorben, Jari. Du bist eine Schande. Du bist ein Mörder. Und egal was du tust, es ist immer deine Schuld. All das hier ist deine Schuld.«

 

Kapitel 2

 

Wenn Micha durch die gusseisernen Tore das Gelände der Zeche Alba betrat, kam er sich vor wie ein Lamm, das zur Schlachtbank geführt wurde. Als strecke die Zeche gierig ihre Arme nach ihm aus, um alles zu verschlingen, was ihr in die Fänge geriet. Die Stollen und Schächte waren ihr Maul, das die Bergarbeiter verschlang und nach zehn Stunden wieder ausspuckte - wenn die Kreatur es zuließ. Es war wie Würfeln oder Karten spielen. Selbst wenn man jahrelang ein gutes Blatt bekommen hatte, irgendwann stand man nur mit Zweien und Fünfen da … und dann schnappte die Zeche zu.

Jedes Mal, wenn Micha zur Arbeit ging, schoss ihm dieser Gedanke durch den Kopf.

An diesem Montagmorgen jedoch hatte er das Gefühl, von hunderten Mitleidenden umgeben zu sein. Schweigend liefen die Männer zur Kohlenwäsche, ins Kesselhaus, zur Hängebank oder zu den Förderkörben, als die Sirene die nächste Schicht ausrief. Bleiche Gesichter unter Ruß und Kohlestaub, die manchmal selbst Schrubben nicht reinwaschen konnte.

Umziehen mussten sie sich in ihren Häusern, versuchen, die Arbeitskleidung dort so gut wie möglich in Stand zu halten. Micha wünschte sich, es hätte in der Zeche eine Gelegenheit gegeben, sich vor Ort umzuziehen. Entsprechende Vorschläge wurden immer wieder gemacht, aber bisher hatte sich noch nichts getan.

Zusammen mit den anderen drängte sich Micha in den Förderkorb, der an einem Stahlseil über dem endlosen Schacht baumelte.

»Ich habe gehört, der Teufel hat damit zu tun«, sagte dann doch einer.

»Das ist doch Unsinn«, antwortete ein anderer, der sich vermutlich gut mit Peter verstanden hätte, weil der auch nicht an den Teufel glaubte.

»Was denn sonst? Hast du mal einen gesehen, den die Narrenkrankheit geholt hat? Ich sag dir – die sind von einem Dämon besessen. Das muss das Werk des Teufels sein.«

Die Tür wurde ratternd ins Schloss gezogen, dann setzte sich die Kabine mit einem Ruck in Bewegung. Mit einem Höllenlärm raste der Förderkorb nach unten, aber immerhin übertönte das Geräusch das Gerede der Männer. Der Rest Tageslicht verschwand schnell und ließ die Bergmänner dicht gedrängt in dem Korb zurück. Von der Decke baumelte eine Lampe, die flackerndes Licht abgab. Auf den Gesichtern der Männer spiegelten sich die Strapazen jahrelanger Arbeit unter Tage wider – und zum ersten Mal wirkliche, echte Angst. Die Züge verhärtet, erstarrt, sagte keiner der Kumpel auch nur ein Wort. Was, wenn der Teufel wirklich umging?

Micha schloss die Augen, als Stollen um Stollen an ihm vorbeizog und die Zeche immer tiefer in die Erde vorstieß, als wolle sie sich zum Mittelpunkt der Erde graben. Er holte tief Luft, versuchte es zumindest, weil sein Herz ihm aus der Brust zu springen schien. Aber je weiter er in die Schächte vordrang, desto stickiger, desto wärmer und unerträglicher wurde die Luft. Das Atmen fiel ihm schwer. Alles in ihm sträubte sich dagegen, auszusteigen und bis zum Ende der Schicht hier unten zu bleiben. Er hatte die Arbeit als Bergmann nie gemocht, und in den letzten Jahren war es nur noch schlimmer geworden. Die Enge der Stollen ließ ihn frösteln und schnürte ihm die Kehle zu. Manchmal glaubte er, die Wände würden sich auf ihn zuschieben, und wenn laute Maschinen angeschmissen wurden, dann zuckte er manchmal so heftig zusammen, dass er für ein paar Minuten aussetzen und nach Luft schnappen musste. Das Geräusch eines einbrechenden Stollens hatte sich in sein Gedächtnis eingebrannt. Es verfolgte ihn selbst bis in die Nacht, bis in seine Träume.

Hin und wieder glaubte er, die Erde würde erzittern und sich unter seinen Füßen auftun, und dann überkam ihn wieder das Gefühl, langsam zu ersticken, als sei er lebendig begraben.

Wenn er gekonnt hätte, wäre er nie wieder eine Schicht gefahren. Aber der Bergbau zahlte gutes Geld. Ohne sein Einkommen würden Mutter, Neni und er im Winter hungernd auf der Straße sitzen.

Als die Kabine mit einem weiteren Ruck hielt, atmete Micha noch einmal tief durch und trat in den Stollen.

Wärme schlug ihm entgegen und der Gestank von heißen Maschinen, Kohle und Schweiß. Die Bergmänner, die mit ihm in die Tiefe gefahren waren, drängten sich an ihm vorbei und suchten ihren Arbeitsplatz. Micha blieb stehen und umklammerte seine Spitzhacke. Seine Hand zitterte, der Griff des Werkzeugs rutsche in den Handflächen.

In regelmäßigen Abständen hingen Lampen an der Decke, trotzdem blieb das Licht diffus und der Stollen ein Ort voller düsterer Flecken, in denen Männer unentwegt schufteten und hofften, am Ende heil wieder nach oben zu gelangen.

Micha schluckte.

»Keller!«

Micha drehte sich um, als die Stimme hinter ihm ertönte. Vor ihm stand Kemper, der Steiger der Grube. Die Hände auf die Hüften gestemmt, verhießen seine herabgezogenen Mundwinkel nichts Gutes. Wie von selbst richtete sich Micha ein wenig auf, und versuchte, irgendwo in seinem Kopf ein Eckchen Mut zu finden.

»Wird's bald, Keller? Was wird das hier? Wirst du dafür bezahlt, hier dumm rumzugaffen?«

Micha schüttelte den Kopf.

Kemper hatte seinen vierzigsten Geburtstag längst hinter sich und so viel Zeit unter Tage verbracht, dass die Kumpel von ihm untereinander nur von dem Maulwurf sprachen. Er hatte eine richtige Berufsausbildung, war lange zur Schule gegangen und früh Steiger geworden. Er wohnte in einem schönen und großen Haus etwas abseits der Siedlung. Und er hatte Micha auf dem Kieker.

Egal wie sehr Micha sich bemühte, von Kemper bekam er tagein tagaus zu hören, dass er nicht schnell genug arbeitete und die Hälfte der Zeit auf der faulen Haut lag. Vermutlich fand Kemper sonst wenig Gelegenheit, seinen Posten auszuleben.

»Was stehst du dann noch hier rum, du fauler Hund?« Kemper schob sich näher. Sein Bauch wölbte sich über seinen Gürtel wie eine Ladung Schnee, die über die Dachrinne ragte. Er hatte zwar Haare auf den Zähnen, dafür kein einziges auf dem Kopf. Sommer wie Winter trug er eine Mütze, die seine Segelohren verbarg.

»Entschuldigung«, murmelte Micha.

»Los, mach dich an die Arbeit.«

Mit einem Nicken drehte Micha sich um und begann, im Laufschritt tiefer in den Stollen vorzudringen. Es war eine rutschige Angelegenheit, denn in der Mitte des Tunnels, in dem Micha kaum aufrecht stehen konnte, verliefen die Schienen für die Loren, die von den Grubenponys gezogen wurden. Micha war in seinem Leben einige Male auf den Eisenstangen ausgerutscht, und jetzt, wo er Kempers wachsame Augen in seinem Nacken spürte, setzte Micha seine Schritte mit großer Achtsamkeit. Schlimm genug, dass Kemper in ihm einen Faulpelz sah – er musste ja nicht auch noch denken, dass »dieser Keller« zu dumm war, um seine Beine zu sortieren.

Auf seinem Weg tiefer in das Herz der Erde, kam Micha an den Stallungen der Grubenponys vorbei. Es war weniger ein Stall als bloß ein Raum, der seitlich in das Gestein gehauen war und den Pferden kaum genug Platz ließ, sich umzudrehen. Der Schacht besaß zwei Ponys, die abwechselnd Schichten fuhren. Als Micha den Stall passierte, stand Moritz darin.

Micha stoppte kurz – bis hierhin konnte Kemper kaum sehen – und streckte seine Hand aus. Moritz schnaubte, und stupste Michas Hand vorsichtig an.

»Na, du.« Micha legte seine Hand auf die Stirn des Ponys und streichelte sie kurz, bevor er weiterging.