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Jacques Lusseyran

Ein neues Sehen der Welt

Gegen die Verschmutzung des Ich

Mit dem autobiographischen Bericht
Der Tod wird Leben und einem Nachwort
von Conrad Schachenmann

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inhalt

blindheit – ein neues sehen der welt

der blinde in der gesellschaft

gegen die verschmutzung des ich

der tod wird leben

nachwort

anmerkungen

nachweise

hütet euch vor
den illusionen der augen

blindheit –
ein neues sehen der welt

Hier meine Geschichte: ich habe gesehen, gesehen mit meinen Augen, bis ich acht Jahre alt war. Seit mehr als fünfunddreißig Jahren bin ich blind, völlig blind. Ich weiß, dass diese Geschichte, diese Erfahrung mein größtes Glück ist.

Ich weiß auch, was man darauf sagen mag: Das sind nur Worte; das ist nur poetische Ausschmückung; das ist ein tröstliches Märchen; das ist Mystifikation; das ist stolze Auflehnung gegen das Schicksal. Das aber gilt nicht für mich. Ich weiß zu gut, dass ich dieses Glück nicht erkämpft habe, sondern dass es mir geschenkt wurde, und zwar auf sehr natürlichem Weg. Ich weiß auch, dass es nicht mein Privileg, mein Eigentum ist, sondern ein Geschenk, das ich jeden Tag neu annehmen muss und das alle Blinden auf ihre Weise erhalten können.

Man möge mir verzeihen, dass ich mit einem solchen Glaubensbekenntnis beginne. Aber ich weiß über die Blindheit nichts zu sagen, das wichtiger wäre als dieses Bekenntnis. Ich denke dabei an die geistige und auch praktische Hilfe, die dieses Bekenntnis all denen geben kann, die es teilen.

Und nun stehe ich einer grundlegenden Frage gegenüber: welchen Wert hat das Sehen für uns? Wozu dient uns das Sehen? Und ich bemerke, dass niemand darauf ernsthaft antwortet, weder die Sehenden noch die Blinden.

Nun, diese Stille ist ganz natürlich. Warum etwas in Frage stellen, das man besitzt: das Leben, das Sehen?

Die Sehenden machen sich keine Gedanken darüber. Für sie ist das Sehen ein einfacher Akt, ein unbestreitbares Gut. Wohl akzeptieren sie die Warnung der Philosophen, die ihnen sagen: hütet euch vor den Illusionen der Sinne! Und im besonderen: hütet euch vor den Illusionen der Augen! Aber es wird hier ja nicht das Sehen beschuldigt, sondern der Gebrauch, der davon gemacht wird. Wer will schon für sich diese andere Ermahnung gelten lassen: schließe die Augen, wenn du sehen willst!

Die Blinden wiederum könnten sich diese Frage stellen, aber sie wagen es nicht. Sie glauben, nicht das Recht dazu zu haben. Wohl haben sie einige Antworten darauf, aber sie verbergen sie, sogar vor sich selbst. Sie begraben das, was ihnen nur als Träumerei vorkommt, tief unten in ihrem Bewusstsein. Sie haben, was das Vermögen der Augen angeht, die Meinungen der Sehenden, die diese sie täglich neu glauben machen. Wir sehen, hier lastet der Druck der Gesellschaft schwer auf ihnen.

Was ist der Wert des Sehens? Versuchen wir zu antworten.

Das Sehen ist ein wertvoller Sinn. Die seiner beraubt sind, wissen das sehr wohl. Aber vor allem ist das Sehen ein praktischer Sinn. Das Sehen erlaubt uns, Formen und Entfernungen zu handhaben. Es macht aus jedem Gegenstand etwas Nützliches oder mindestens etwas Nutzbares.

Es stellt sich uns als Verlängerung unserer Hände dar, als ein zusätzliches Vermögen der Handhabung. Dank unserer Augen gehen wir weiter. Wir machen uns einen größeren Teil des Universums zu eigen. Wir können auch noch dort wirken, wohin unsere Arme und Beine nicht mehr reichen.

Durch unsere Augen können wir gleichzeitige Wahrnehmungen machen. Wenn wir uns ihrer bedienen, ist es nicht mehr nötig, jeden Gegenstand für sich zu kennen, die Dinge mit dem Maß unseres Körpers zu messen. Die Augen verhelfen uns zu manch schönem Sieg über Zeit und Raum. Und das ist der grundlegende Vorteil des Sehens: es stellt uns in den Mittelpunkt einer Welt, die viel größer ist als wir selbst.

Aber hat dieser Vorteil nicht die Eigenschaft eines Instrumentes oder gar eines Werkzeugs? Die Vorteile davon sind augenscheinlich. Aber hängen sie nicht völlig davon ab, welchen Gebrauch man von ihnen macht? Kurz, hat das Sehen eine eigene Kraft, oder ist es nur ein Werkzeug?

Es ist ein sehr kostbares Werkzeug, und die Blinden, die darüber nicht verfügen, erleiden einen schweren Verlust. Dennoch ist es nur ein Werkzeug und kann daher ersetzt werden. Hier haben wir sicher einen der größten Reichtümer der sinnlichen Erfahrungsmöglichkeiten: es gibt kein Werkzeug, das einzigartig und unersetzlich wäre. Jeder Sinn kann an die Stelle des anderen treten, wenn er in seiner Ganzheit ausgenützt wird.

Aber nun stehen wir, was das Sehen betrifft, vor einer großen Schwierigkeit: das Sehen ist ein oberflächlicher Sinn.

Man sagt gewöhnlich, das Sehen bringe uns den Gegenständen näher. Sicher: es erlaubt uns das Zurechtfinden, die Orientierung im Raum. Aber welchen Teil der Gegenstände bringt es uns näher? Es bringt uns in ein Verhältnis zu der Oberfläche der Dinge. Mit den Augen wandern wir an den Möbeln, an den Bäumen, an den Menschen entlang. Dieses Entlangwandern, dieses Entlanggleiten genügt uns. Wir nennen es Erkennen. Und hier, glaube ich, liegt eine große Gefahr. Die wirkliche Natur der Dinge liegt nicht in ihrer ersten Erscheinung. Ich weiß, dass das Denken die Informationen, die wir durch die Augen erhalten, berichtigen kann. Aber dazu müssen wir das Denken auch betätigen, und hier lässt uns der Wirbel der täglichen Notwendigkeiten nicht immer Zeit.

Das Sehen zieht den äußeren Schein vor; das liegt in seiner Natur. Es hat die Tendenz, die Folgen als Ursachen anzusehen. Die merkwürdige Haltung dem Licht gegenüber ist, dass die Augen glauben, die Sonne zu sehen, während sie nur beleuchtete Gegenstände wahrnehmen.

Die Gefahr liegt daher in der Natur des Sehens selbst: in seiner Raschheit, in seiner Nützlichkeit. Das trifft besonders zu, wenn wir uns seiner bedienen, um die anderen Menschen kennen zu wollen. Denken wir an die verheerenden Irrtümer, die in unseren Urteilen die Kleidung, die Haartracht und das Lächeln eines uns begegnenden Menschen anrichten. Von dieser Kleidung, von diesem Lächeln hängt der Großteil unseres Liebens und unseres Hassens ab, wie auch der Großteil unserer Meinungen.

Ein Mensch nähert sich uns. Was bedeutet er für unsere Augen? Er macht vor allem einen physischen Eindruck, d. h. es besteht kein Verhältnis – nicht einmal ein flüchtiges – zwischen ihm und uns, wohl aber zwischen der Gesellschaft und ihm. Denn es ist augenscheinlich, dass die Kleidung, das Lächeln, das Mienenspiel, ja sogar die Gesten, mit einem Wort das Benehmen, gesellschaftliches Gemeingut sind.

Ich denke an dieses endlose Spiel, an dieses unfreiwillig gewordene Spiel, dem wir uns hingeben, um Aufsehen zu machen; diese Kunst, die Augen des anderen zu täuschen, die so viele Minuten unseres Lebens ausfüllt. Es sind die Augen, die wir täuschen. Für sie arbeiten wir. Wir wissen sehr wohl, dass sie nur schnell über uns hinweggleiten werden und dass sie uns nicht sehr lange prüfen.

Natürlich gibt es auch Augen, die sowohl prüfen als sehen. Es sind die Augen einer Mutter oder einer besorgten Gattin, die Augen eines guten Arztes, eines weisen Menschen, eines Künstlers und – warum nicht – die Augen eines Humoristen. Aber woher kommt es, dass in dem Augenblick, in dem die Augen sehen, sie sich wie halb schließen und nach innen wenden?

Dieser Vorgang trägt viele Namen: nachdenken, sich konzentrieren, sich besinnen. Es ist immer, wenn man genau darüber nachdenkt, ein Reflex der Verteidigung gegenüber dem Sehen. Nachdem wir durch die Augen Bilder erhalten haben, handelt es sich darum, diese Bilder auch festzuhalten, sie in uns ohne jegliche visuelle Unterstützung zu begründen, kurz, ihnen eine völlig neue Existenzform zu geben: die innere Existenz. Ohne diesen zumindest vorübergehenden Verzicht gegenüber dem, was uns die Augen mitteilen, kann es, so glaube ich, keine wahre Erkenntnis geben.

Diese einfache Tatsache sollte uns vor einer folgenschweren Illusion auf der Hut sein lassen: der Illusion von der Allmächtigkeit der Formen.

Die Menschen legen von allem Sammlungen an. Sie träumen davon, Tatsachen und Erfahrungen unendlich zu vermehren. Wenn sie die Welt der Pflanzen kennen wollen, dann betrachten sie alle Pflanzen, eine nach der anderen. Sie untersuchen alle Teile, legen die Unterschiede und Ähnlichkeiten fest, sie unterscheiden, sie klassifizieren. Formen aufzuzählen und einzuordnen ist zum wichtigsten Akt der Intelligenz geworden. Was für die geordnete Forschung zutrifft, das trifft auch für unser tägliches Leben zu. Für die meisten Menschen heißt reisen alles sehen, alle Landschaften, eine nach der anderen, jede Landschaft in ihrer Eigenheit, alle Räume eines Hauses. Derjenige, der nicht alle Räume gesehen hat, hat das Haus nicht gesehen. Derjenige, der nicht alle Rechtsanwälte, alle Arbeiter gesehen hat, hat nicht den Menschen gesehen, den man Rechtsanwalt oder Arbeiter nennt. Das ist der Grundsatz aller Enzyklopädien, aller Lexika, fast aller Lehrbücher. Auf diese Art wird Geschichtsforschung betrieben, die des Menschen und die der Natur. Und dann staunt man über ihre Armseligkeit und Unzulänglichkeit.

Ich glaube, dass das Sehen für die herrschende Überzeugung verantwortlich ist, dass wir die Welt entdecken und ganz erkennen werden, indem wir von einer Form zur anderen fortschreiten, von einer Erscheinung zur anderen. Wir vergessen dabei, dass die Bewegung selbst, die unsere Augen von Gegenstand zu Gegenstand führt, sich nicht in unseren Augen abspielen kann, sondern dass sie notwendigerweise vorausgeht und die Augen lenkt.

Heute erhalten diese Beobachtungen eine ganz neue Wichtigkeit, denn unsere heutige Welt der Plakate, der Leuchtreklamen, der Kinos und des Fernsehens gründet völlig auf der Zuverlässigkeit der Augen. Man hat sehr zu Recht gesagt, dass wir uns jetzt im Zeitalter des Bildes befinden. Spricht man nicht schon davon, die Vermittlung der Gedanken auf Bilder zu reduzieren? Sucht man nicht schon den Weg für einen völlig auf das Visuelle eingestellten Unterricht? Dass ein Blinder daherkommt und die Sehenden zur Vorsicht vor ihren eigenen Augen mahnt, wie ich es tue, das kann unpassend und sogar komisch erscheinen. Aber es ist nicht der Vorgang des Sehens, den ich hier angreife.

Ich beschuldige nur einen gewissen Götzendienst, nämlich diese Sicherheit, die den Sehenden eigen ist, dass Sehen die hauptsächliche und genügende Betätigung des Geistes ist.

Natürlich kann man die Schuld nicht auf die Augen schieben. Im Gegenteil, sie sind so gut, dass man sie nur noch verbessern sollte.

Was man sich einfach klarmachen muss, ist die Tatsache, dass das Sehen nicht aus der Arbeit der Augen allein besteht. Das Sehen, das Vermögen zu sehen, besteht vor dem Instrument, das unsere Augen sind. Solange die Menschen dies vergessen, werden sie immer wieder Illusionen und Misserfolgen gegenüberstehen. Sie werden ungeduldig sein. Sie werden sehen wollen, immer mehr und mehr, und sie werden nicht mehr wissen, wer es ist, der vor einer solchen Flut von Eindrücken steht und sie sieht.

Das alles also weiß ein Blinder. Er weiß es nicht dank einer außerordentlichen Gabe der Intelligenz oder eines eigenen Verdienstes, sondern er weiß es von Natur aus: des Vorrechts der Augen beraubt, misst er zugleich seinen Verlust und seinen Gewinn.

Vor allem fährt er fort zu leben und mit einer unwiderstehlichen Kraft diesen wunderbaren gegenseitigen Austausch, der sich zwischen Innen- und Außenwelt vollzieht, zu erfahren.

Dieses Fortfahren im Leben gewährt uns Gott immer. Wenn wir irgendwo eine Wand, einen Verlust, ein Unglück wahrnehmen, ist es nicht Gott, der diese Wand errichtet hat, sondern unser Geist. Er ist aus der immerwährenden Schöpfung herausgetreten. Dem universellen Kraftstrom hat er gewissermaßen seinen eigenen Kraftstrom vorgezogen, und genau hier ist er stehengeblieben.

In Wirklichkeit gibt es weder eine Wand noch einen Verlust. Alles wird ersetzt und geht weiter. So ist es auch mit dem Licht für die Blinden.

Ich höre mit immer wiederkehrender Überraschung die ernsthaftesten Leute, Ärzte, Schriftsteller, Psychologen, von dieser schrecklichen «Nacht» sprechen, in die uns die Blindheit stößt. «Nacht» ist das Wort, das jeder benützt, und ich kann nur dagegen protestieren, weil dies Wort ein sonderbares Urteil zutage bringt.

Ein Vorurteil, oder einfach gesagt: eine oberflächliche Meinung; denn wie sollte man, besonders als Arzt oder Psychologe, nicht wenigstens den grundlegend relativen Charakter aller Wahrnehmungsarten ahnen?

Die Tatsachen sind ganz anders als das, was man sich allgemein vorstellt. Mit den Augen aufhören zu sehen, heißt nicht, in eine Welt eintreten, in der das Licht aufgehört hat zu bestehen.

In dem Augenblick, in dem ich mein Augenlicht verlor, habe ich in meinem Innern das Licht unversehrt wiedergefunden. Ich musste mich nicht daran erinnern, was dieses Licht für meine Augen gewesen war, nicht die Erinnerung daran wachhalten: Es war da, in meinem Geist und in meinem Körper. Es war dort in seiner Ganzheit eingeprägt. Das Licht war da, begleitet von allen sichtbaren Formen, Farben und Linien, ausgestattet mit derselben Kraft, die es in der Welt der Augen hat, nämlich sich zu vergrößern, sich zu verringern und sich zu verschieben.

Ich wiederhole: Die Erfahrung, die mir zuteil geworden ist, war nicht die der Erinnerung. Dieses Licht, das ich ohne meine Augen weiterhin sah, war dasselbe wie zuvor. Aber mein Standort dem Licht gegenüber hatte sich geändert: Ich war seinem Ursprung näher gekommen.