Karin Buchholz

Strandgut

Geschichten mit Meerblick

1. Auflage 2010

Copyright © Karin Buchholz 2005-2010

www.karin-buchholz.com

Es handelt sich um ein Werk der Fiktion. Ähnlichkeiten mit tatsächlichen Begebenheiten oder Personen, tot oder lebendig, sind nicht beabsichtigt und wären rein zufällig.

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie. Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Umschlagbild und -gestaltung: arobdesign.com

Illustrationen: Karin Buchholz

Sämtliche Rechte vorbehalten

Herstellung und Verlag: Books on Demand, Norderstedt

ISBN 978-3-8482-8590-7

Ebenfalls erhältlich als Hörbuch-Ausgabe

(Doppel-CD, ISBN 978-3-00-030591-7)

Strandgut

Komm, lass uns Schätze finden

unten am Strand!

Kostbarkeiten aus dem Meer -

aufgewühlt, angespült

im Sand.

Komm, lass uns einst Versunk’nem lauschen

unten am Strand!

Steine, Muscheln, Wellenrauschen,

Meeresgeschichten

im Sand.

Komm, lass Dir vom Wind erzählen

von seinen Reisen so weit.

Jedes Fundstück dort unten

trägt in sich ein Stück

Ewigkeit.

Komm, lass Dich berühren,

Deine Seele, Gedanken

in die Ferne entführen

und lausche den Geistern

vergangener Zeit.

Willkommen…

Ich bin ein echter Meer-Mensch – ich liebe das unentwegte Rauschen der Wellen, das zarte Knistern der feinen Steinchen, wenn sich das Wasser wieder zurückzieht, das zänkische Geschrei der Möwen und den Duft nach Seetang und Salz. Und natürlich liebe ich das Strandgut, das vom Meer mit jeder Flut angespült wird…

Und genau wie beim Sammeln von echtem Strandgut finden sich auch in diesem Buch viele kleine, ganz unterschiedliche, scheinbar nicht zusammengehörige Kostbarkeiten, die in ihrer Verschiedenartigkeit eine wunderbare Sammlung und am Ende ein großes Ganzes ergeben – so facettenreich wie das Meer selbst. Die Geschichten führen an Strände und Küsten, in kleine, lebendige Fischerdörfer oder an stille Orte, in denen die Grenzen zwischen Meer und Himmel, zwischen Bewusstsein, Wunsch, Erinnerung und Traum verschwimmen.

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Ihre

Karin Buchholz

Das blaue Kleid

Sie lief lachend vor ihm her, sich immer wieder nach ihm umdrehend, und ihre Worte erreichten ihn nur bruchstückhaft, Fetzen, die der Wind nicht mit sich fort trug. Jetzt hatte sie sich ihm zugewandt und ging rückwärts, während der Wind ihr das lange blonde Haar ins Gesicht wehte. Von hinten musste sie lustig aussehen, dachte er, jetzt, da der Wind alle Haare in wirrem Spiel nach vorne trieb, musste sie auf dem Hinterkopf einen straffen Scheitel haben, der ihren Kopf sonderbar zweiteilte. Sie strich mit den Händen die Haarsträhnen aus dem Gesicht, aus den Augen und aus dem Mund, den sie beim lauten Sprechen immer wieder weit aufsperrte im verzweifelten Versuch, gegen die Brandung und den Wind anzuschreien.

Sie lachte ausgelassen, wirbelte herum und ihr Haar vollführte einen wilden Tanz um ihren Kopf. Er lächelte – gern sah er sie so fröhlich vor sich. Ihre Heiterkeit steckte ihn an, er begann sich leicht zu fühlen, fast als würden all seine Sorgen und Nöte vom Wind davongetragen…

Und dieser Wind war es, der ihr den Strohhut, den sie in der Hand gehalten hatte, davon riss. Er landete nach einer eleganten Kurve auf der schäumenden Brandung und spülte Richtung offene See. Unbeirrt davon, dass das Wasser ihren Kleidsaum durchtränkte, stapfte sie immer noch lachend in die anspülenden Wellen und versuchte, ihren Hut zu greifen, während er sich vor den Wellen auf den höher gelegenen Strand in Sicherheit brachte. Er betrachtete eine Weile schmunzelnd ihre Jagd nach dem Hut, der hin- und hergeschwemmt wurde. Das blaue Band, das um den Hut geschlungen war, hing ins Wasser hinab und nahm dieselbe dunkelblaue Farbe an, wie ihr Kleid, das nun fast überall klatschnass geworden war.

Barfuss lief sie in die Wellen hinein, in der Hand hielt sie ihre Turnschuhe, die sie ausgezogen hatte, sofort als sie den Strand erreichten. Mit der freien Hand versuchte sie verzweifelt, des Hutes habhaft zu werden, der wie in einem wilden Spiel um sie herum schwamm, stets gerademal ein paar Zentimeter außerhalb ihrer Reichweite.

Nun spülte eine große Welle heran, die sie völlig unvorbereitet traf. Sie taumelte ein wenig, als ihre Füße in dem unterspülenden Sand den Halt verloren, dann fing sie sich wieder, genau in dem Moment, als die Welle mit einem lauten Aufbrausen weißen Schaum aufwerfend auf den Strand krachte. Der Hut, der noch immer dahin trieb, wurde von der Welle erfasst und mit einem großen Schwapp auf den Sand gespült.

Kurzerhand ergriff er den nassen Hut und blickte zu ihr auf. Da stand sie, nass wie eine Katze, denn die Welle hatte auch sie mit voller Wucht erwischt. Das einstmals federleichte Sommerkleid hing patschnass an ihr herab und zeichnete ihre Körperformen nach. Von ihren Haarspitzen rannen Wassertropfen auf ihr Dekolleté, und ihr strahlendes Lachen ließ sie einfach hinreißend aussehen.

Das Geräusch der Brandung schwoll in seinen Ohren an, und er sah den menschenleeren Strand vor sich. Ja, es war richtig, dass er heute hierher zurückgekehrt war. Er bereute es nicht. Das einzige, was er bereute war, dass er sie nie gefragt hatte, ob sie seine Frau werden wolle – trotz des Kindes, das sie erwartete. Sie war so glücklich gewesen, damals, als sie es erfuhr, und sie hatten zuvor nie über Heirat gesprochen. Er fürchtete, es würde für sie nach purer Pflichterfüllung aussehen, wenn er ihr nun einen Antrag machte. Für sie war ein Heiratsantrag der einzige Weg eine Liebe in Worte zu fassen, für die Worte nicht ausreichten, um sie zu beschreiben – so hatte sie es formuliert, und nur so wollte sie geheiratet werden: aus der größt-vorstellbaren, unbeschreiblichen Liebe heraus. Und dabei liebte er sie, sehr sogar. Sie war die Frau seines Lebens, dessen war er sich gewiss. Aber sicherlich würde sie denken, er wollte ihr nur der Vater ihres Kindes sein, zu seiner Verantwortung stehen, sie nicht im Stich lassen…

All das stimmte ja auch, aber über all dem war es eine tiefe Liebe, die ihn mit ihr verband.

Doch er hatte sich entschieden, ihr keinen Antrag zu machen, und dabei war es bis heute geblieben. Sie war jetzt im siebten Monat schwanger und schöner als je zuvor.

Sein Herz krampfte sich zusammen beim Gedanken an sie. Er sah ihr Gesicht ganz nah vor sich und bereute, dass sie nicht auch nach irdischem Recht ganz und gar miteinander verbunden waren.

Doch nun war es zu spät.

Als die Diagnose vor dreieinhalb Monaten kam – eine kurz angebundene Sprechstundenhilfe hatte ihn zuvor in die Praxis seines Internisten bestellt, der ihm ohne große Umschweife das Ausmaß seiner Erkrankung schilderte – war er fast schon froh, sie nie gefragt zu haben. Fünf Monate, vielleicht sechs blieben ihm noch, hatte der Arzt gesagt, und es war ihm anzumerken, dass er in diesem Moment seinen Beruf hasste. Doch es war endgültig – rien ne va plus, wie der Franzose sagt, nichts geht mehr. Der Krebs hatte sich mittlerweile so weit in seinem Körper ausgebreitet, dass jede Therapie, jede Medikation aussichtslos war.

Das bedeutete also, wenn sein Sohn geboren würde, läge er bereits im Sterben. Gnadenlos verfolgte ihn dieser Gedanke, trieb ihn in maßloser Unruhe umher, lag beklemmend wie ein schweres Bleigewicht auf seiner Brust und ließ ihn keine Nacht mehr schlafen.

Nein, er würde auch diesmal schweigen. Wie konnte er ihr zumuten, im Beisein eines todkranken Mannes auf das größte Glück in ihrem Leben hinzuwarten? Die Schwangerschaft würde für sie beide zur Unerträglichkeit werden…

Er hatte Angst. Niemals zuvor hatte er sich über das Sterben Gedanken gemacht. Niemals zuvor hatte er sich so einsam, so leer und so verzweifelt gefühlt.

Doch die Verzweiflung war in den letzten Tagen einer nie vorher gekannten Klarheit gewichen. Er wusste nun, was zu tun war.

Deshalb war er hierher zurückgekehrt.

Er wollte sie noch einmal so fröhlich lachen sehen, so unbeschwert vor seinen Augen den Strand hinab laufen und gegen den Wind und die Brandung anschreien hören. Wieder und wieder sah er ihr flatterndes blaues Kleid vor seinen Augen – dieses Bild würde er mitnehmen, mitnehmen auf seine Reise, die er nun anzutreten bereit war.

Sicher war es leichter für sie zu ertragen, dass er bei einem Badeunfall ums Leben gekommen war. Ein Badegast, der unvorsichtig in die tückische Brandung eines in dieser Jahreszeit noch unbewachten Strandes hinausgeschwommen und nicht mehr zurückgekommen war. Ein Unfall – nicht eine grausame, alle Kräfte verzehrende Zeit der Krankheit mit einem sicheren tödlichen Ausgang. Leichter zu ertragen, als ihm beim langsamen Sterben zuzusehen.

Er wollte nicht auf den Tod warten, bis er neben seinem Bett auftauchte. Er wollte nicht gezwungen sein, ihr alles zu erklären. Er wollte nicht vor ihren Augen zugrunde gehen und dabei zusehen müssen, wie sie an seinem Leid zerbrach.

Und er wollte nicht Abschied nehmen müssen.

Er nahm ihr Bild mit in die Brandung, die langsam seine Badehose durchdrang, und in die er sich nun fallen ließ.

Schwerelos.

Und ihr blaues Kleid vollführte im auffrischenden Wind einen wilden ausgelassenen Tanz.

Der Leuchtturmwärter

Für die Leute im Dorf war er der komische Kauz, Jean der Leuchtturmwärter, der sein Einsiedlerleben außerhalb der Dorfgrenzen, draußen in dem alten Leuchtturm lebte, dessen Mauern im Laufe der Jahre durchlässig und dessen Balken und Türen morsch geworden waren. Jean, der Leuchtturmwärter mit dem komischen französischen Namen, der für diese Gegend so untypisch war. Hier hießen die Männer Paddy oder Harry, Ian oder Scott, hatten feuerrotes Haar und hatten sich schon früher über ihn lustig gemacht. Damals, als sie hierher zogen. Seine Mutter war Französin, eine zarte, kleine Frau, die nicht für das harte Leben an dieser rauen Küste geschaffen war. Sie hatte ihm seinen Namen gegeben. Sein Vater, Patrick, war waschechter Ire und handfester Leuchtturmwärter, so wie schon sein Vater vor ihm. Ein vierschrötiger, grobschlächtiger Mann, der dem Wind und den Gezeiten zu trotzen wusste. Und dennoch liebte ihn Claire. So sehr, dass sie dieses schwere Leben Jahr um Jahr mit ihm teilte. Was hatte sie nur miteinander verbunden, den Leuchtturmwärter und seine zierliche französische Frau, die ihm hierher gefolgt und ihr Leben lang geblieben war?

Auch seine Eltern hatten schon ein zurückgezogenes Leben außerhalb der Dorfgemeinschaft geführt. Nur sonntags zum Kirchgang gingen sie alle drei – Patrick, Claire und der kleine Jean – in die kleine Kapelle des Dorfes. Und Jean sah immer wieder mit Bewunderung und Erstaunen zugleich, mit welcher Inbrunst seine Mutter dem Herrgott für das beschwerliche Leben dankte, das er ihnen geschenkt hatte. Sie war wohl eine glückliche Frau gewesen, sagte sich Jean und schüttelte wie immer bei diesem Gedanken den Kopf.

Während er seine Teetasse ausspülte und kopfüber auf den Spülbeckenrand stellte, blickte er durch das schmale Küchenfenster hinaus. Stürmisch war es heute, das Meer aufgepeitscht vom böigen Wind, Schaumkronen tanzten wild auf den aufgewühlten Wellen.

Er schloss den Kragen seines Troyer-Pullovers, zog seine Regenjacke an, schnürte die Kapuze fest um seinen Kopf und stapfte zur Tür hinaus. Sofort erfasste ihn der Sturmwind und trieb ihn vor sich her, so dass er schneller ging, als er eigentlich wollte. Er erreichte die Tür zum Turm, altes verwittertes, vielfach übertünchtes Holz, durch dessen Spalten inzwischen Wind und Regen ins Innere drangen, so dass sich hinter der Tür eine Pfütze bildete.

Jean betrat den dunklen Turm, dessen schmales Treppenhaus sich zu seiner Rechten nach oben wand. Er schüttelte den Regen von seiner Jacke und begann, die Treppe emporzusteigen. Hundertachtundvierzig Stufen – und wie oft schon war er sie hinaufgestiegen in all den Jahren. Als Kind schon hatte er seinen Vater begleitet, wenn er zum Leuchtfeuer im Turm hinaufgestiegen war, hatte ihm geholfen, die Starklichtlampe und den großen Glaskörper zu reinigen, hatte die Scheiben der Lichtkanzel geputzt und dabei dem Pfeifen und Sausen des Windes gelauscht, der unablässig um den Turm blies.

Wie oft hatte Jean hier oben gestanden und stundenlang aufs Meer hinausgeschaut. Und es war ihm nie langweilig geworden. Hier hatte er seinen Vater alles gefragt, was in seinem Kopf vorging, und Patrick hatte seinem Sohn die Welt erklärt, wie er sie sah. Jean hatte nie eine Schule gesehen, dazu waren sie zu arm gewesen. Und dennoch hatte er von Vater und Mutter alles gelernt, was nötig war.

Nur die Liebe hatte ihm nie jemand erklärt. Nur einmal hatte er sich verliebt, Jean der Einsiedler. So sehr verliebt, dass es wehtat in der Brust und im ganzen Körper. Elsa war die Tochter eines Fischers aus dem Dorf. Er traf sie, als er – wie so oft – zwischen den Klippen vor dem Leuchtturm umher stieg. Sie war so schön, so unendlich schön, dass Jeans Brust sich ganz fest zusammenpresste und sein Herz laut zu pochen begann.