Stephen Schoen, Psychiater und Gestalttherapeut in freier Praxis in San Rafael / Kalifornien. Zu seinen Lehrern gehörten Fritz Perls, Harry Stuck Sullivan, Milton Erickson und Gregory Bateson, mit dem ihn eine Freundschaft verband. Er lehrt seit vielen Jahren Gestalttherapie in den USA und in (Ost-)Europa. Zahlreiche Fachartikel zu Theorie und Praxis der Gestalttherapie.

»Wenn Sonne und Mond Zweifel hätten« ist aus Vorträgen hervorgegangen, die Stephen Schoen in den Gestalt-Instituten Köln und Kassel (GIK) gehalten hat.

Neben dem vorliegenden Buch sind in der Edition GIK im Peter Hammer Verlag in deutscher Sprache erschienen: »Die Nähe zum Tod macht großzügig: Ein Therapeut als Helfer im Hospiz« (2006) sowie sein Therapie-Roman »Greenacres« (2002).

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» Wenn Sonne und Mond Zweifel hätten,
würden sie sofort verlöschen.«

William Blake

Zur Künstlerin des Covers

Georgia von Schlieffen

Georgia von Schlieffen, geb. 1968. »Seit meiner Studienzeit intensive Beschäftigung mit der Malerei. Jedoch ging ich erst einmal ganz andere Wege über ein Studium der Vergleichenden Religionswissenschaft und der Internationalen Beziehungen und einer mehrjährigen Tätigkeit im Bereich Projektmanagement und Flüchtlingsarbeit für mehrere Nichtregierungsorganisationen. 2010 nahm ich an Studienwochen bei Markus Lüpertz und Gotthard Graubner an der Reichenhaller Akademie teil. Ab 2011 studierte ich Malerei bei Professor Jerry Zeniuk, Akademie für Farbmalerei, Kunstakademie Bad Reichenhall, und derzeit bei Heribert C. Ottersbach.«

Georgia von Schlieffen illustrierte zwei Lyrik-Bände von Stefan Blankertz, »Ambrosius: Callinische Hymnen« und »Ruan Ji: Zustandsbeschreibungen« sowie den Gedichtband »kleine gebete« von Paul Goodman, der in der gikPRESS erschienen ist.

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Inhalt

Geleitwort

von Erhard Douhrawa

Als wir mit Stephen in einem Interview über seinen Lebensweg sprachen, war ich zutiefst davon berührt, wie sich in ihm der einst erfahrene Mangel an liebevollen Beziehungen zu einem Reichtum wandelte, der ihn befähigt, seinen KlientInnen die Erfahrung eines heilsamen Kontakts zu ermöglichen. Es mag überraschen, zu sehen, wie im Verlaufe dieser Entwicklung aus einem schüchternen und ängstlichen Kind ein kontaktfreudiger und liebevoller Mann wurde. Doch es zeigt auch in ermutigender Weise, welche Veränderungen angesichts solcher Begegnungen möglich sind, die erfüllt sind vom Licht des Buberschen Ich-Du und in denen wir uns in unserem Wesen angesprochen und gemeint wissen.

Einen existentiellen Augenblick hat Len Bergantino diesen lebensstiftenden Moment genannt. Leben – nicht einfach nur überleben. Bergantino beschreibt ihn als eine Begegnung von Wesen zu Wesen, als temporäre Überwindung der Rollen, als heilende Berührung, die tiefe Rührung auslöst – und zwar sowohl beim Klienten, als auch beim Therapeuten – häufig auch Tränen, und nicht selten eine existentielle Scham, die zeigt, wie nah wir unserem Wesen sind, unserer Mitte, unserer Seele. Bergantino weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass diesen existentiellen Augenblicken eine spirituelle Dimension eigen ist.

Abraham A. Maslow machte ähnliche Entdeckungen, als er sich mit seelisch besonders gesunden Menschen beschäftigte. Diese Menschen, die sich oftmals nicht eigentlich als religiös verstanden, wussten um die Erfahrung spiritueller Momente der Aufhebung des Getrenntseins. Gipfelerlebnisse – Momente der Verbundenheit, des Dazugehörens. Momente des Heilseins, des Ganzseins.

Stephen Schoens vorliegendes Buch versammelt seine anrührenden Vorträge zu dem Thema »Gestalttherapie und Spiritualität«. In seiner Einleitung beschreibt er die Entstehung seiner Ideen im Kontext seines biographischen Hintergrundes und gibt uns Einblick in seinen eigenen Entwicklungsprozess.

In Therapiegruppen sitzt Stephen häufig neben seinen KlientInnen, ihnen ganz zugewandt, interessiert. Er weiß, was er tut. Er bietet dem Klienten den Nektar, den er in seiner Kindheit, seiner Jugend und als junger Mann so entbehrte und der ihm einst (als Klient, in der Begegnung mit Krishnamurti, in seiner Begegnung mit Buber, in der Literatur) zur Heilung gereichte und gereicht wurde.

Oft berührt er sein Gegenüber – auch physisch, nie aber ist er aufdringlich. Durch seinen Respekt vor den eigenen Grenzen und denen der anderen haben diese Berührungen eine sakramentale Qualität, wenn man darunter die äußere, sichtbare Manifestation des inneren, unsichtbaren Heilungsprozesses versteht.

Stephen erlaubt seinem Gegenüber, durch Dank aus seiner Schuld zu treten. Er ermöglicht dem anderen Freiheit. Er fragt: Wie geht es dir? Und er will die Antwort hören. Er fragt nach, bemerkt Veränderungen und Entwicklungen, äußert Betroffenheit und Freude. Er ist großzügig in seiner Bereitschaft, sich um den anderen zu sorgen.

Stephen gibt ebenso gerne wie er genussvoll nimmt. Er verschweigt nicht, dass er sich gerne verwöhnen lässt. Und er kann danken und wertschätzen. In seiner liebevollen Art und Weise, Verbindung zu knüpfen, ist er vor allem seinem Herzen verpflichtet.

Stephen zu kennen, verdanke ich meinem Lehrer und Mentor Milan Sreckovic. Milan hat – auf Lore Perls’ Initiative hin – Stephens erstes Buch in deutscher Sprache veröffentlicht (Geistes Gegenwart: Philosophische und literarische Wurzeln einer weisen Psychotherapie, Köln 1990). Und Milan war es auch, der mir empfohlen hat, Stephen in unser Institut einzuladen. Inzwischen ist Stephen Schoen ein gern gesehener Gast, ein geschätzter Lehrtrainer in unseren Gestalttherapie-Ausbildungen und mehr noch: ein vertrauter, wertvoller, herzlicher Freund.

Ich freue mich, dass dieser schöne Band nun in der zweiten Auflage erscheinen kann, erweitert um ein Kapitel aus Stephens Therapie-Roman »Greenacres«.

Köln, im Februar 2004

Erhard Doubrawa, Gestalttherapeut
Gestalt-Institute Köln und Kassel (GIK)

www.gestalt.de · gik@gestalt.de

Einleitung

Die sechs Aufsätze in diesem Buch sind Früchte der Erfahrungen meines bisherigen Lebens. Sie alle handeln von einem bestimmten Verständnis menschlicher Erfahrung. Vielleicht ist der Leser daher interessiert, mehr über mich und die Menschen zu erfahren, die mein eigenes Leben geprägt haben.

Meine Eltern waren Juden der gehobenen Mittelschicht. Sie lebten in der New Yorker Geschäftswelt und versorgten mich mit allen materiellen Annehmlichkeiten, taten sich jedoch schwer, was meine emotionale Entwicklung betraf. Mein Vater war seinem Wesen nach ein gutmütiger Junggeselle und der Rolle des Ehemanns oder Vaters nicht sonderlich verpflichtet. Meine Mutter hingegen verhielt sich mir gegenüber, als ihrem einzigen Sohn, um so besitzergreifender. Ich konnte meinen eigenen Interessen nachgehen und widmete mich der Musik und der Literatur, aber ich hatte kaum ein Gespür für guten Kontakt mit anderen und nur wenig Vertrauen zu meinem eigenen Gefühlsleben. Rückblickend fällt es mir leicht, zu sehen, wie damals, als ich in Harvard studierte, mein Interesse an William Blake (»Energie ist ewige Freude«) und wenig später an Krishnamurtis tiefgreifend ökologischer Botschaft (»Sein bedeutet: In-Beziehung-Sein«) mich erwachen ließ. Doch die tiefere Bedeutung dieser Männer, mit denen mich von Anfang an eine natürliche Verwandtschaft verband, lag in ihrer Lebensfreude, die nichts Besitzergreifendes hatte. Diese Lebensfreude bejahte das Selbst und transzendierte gleichzeitig ein fixiertes Ich. Mir wurde klar, was mir in meiner Entwicklung immer gefehlt hatte: ein nährender Kontakt mit meinen Eltern. Aber es ging mir nicht darum, nun das wiederherzurichten, was ich als Kind vermisst hatte. Statt dessen begann ich, nach einer inwendigen Fülle zu suchen, die sich unablässig erneuern würde.

Ich meine damit nicht, dass ich persönliche Beziehungen zu vermeiden suchte, indem ich mich in transzendente Erfahrungen flüchtete (obwohl so etwas tatsächlich vorkommt). Nein, gerade weil mein Zugang zu persönlichen Beziehungen so erschreckend eingeschränkt war, machte ich mich auf die Suche nach einem Psychotherapeuten. Ich war damals Anfang zwanzig und unterrichtete Englische Literatur an einer Universität in Washington, D. C. Zur selben Zeit hatte ich das Glück, in New York ein persönliches Gespräch mit Krishnamurti führen zu können (er war damals noch nicht so berühmt und empfing Einzelne auf Anfrage auch persönlich). In guter Blakescher Manier ermutigte Krishnamurti mich, meinen Impulsen zu trauen. »Wie aufregend! Sie haben noch alles mögliche zu entdecken.« Und warum – so meinte er – sollte ich mir nicht eine Freundin suchen und eine mögliche Ablehnung riskieren? »Wer weiß? Sie könnten eine Menge über Ihre eigene Stärke lernen.« Was mich an ihm am meisten beeindruckte, war seine feurige Intensität, die – durchdringend und doch nicht greifbar – ein Feuer in mir entfachte. Diese Intensität, das spürte ich, entsprang einem spirituellen oder mystischen Zentrum. (»Spirituell« ist ein grundlegender Begriff für den Bereich des Transzendenten; »mystisch« bedeutet Einheit mit dem Zustand der Transzendenz. Ich gebrauche beide Begriffe gleichwertig und beziehe mich hier nicht auf theologische Dogmen).

Während der folgenden Jahre eröffnete mir die Psychotherapie die Freiheit befriedigender Beziehungen und ich begann, mich für diesen Beruf zu interessieren.

Doch meine neue Freiheit bekräftigte in mir auch die Bedeutung einer zentralen, ungebundenen Realität »jenseits des Ich«, die in Krishnamurti selbst deutlich wurde und die der orientalische Mystizismus in besonderer Weise zu ergründen schien. Insofern war ich auf einer in unserer Zeit ganz üblichen Pilgerschaft. Wenige Generationen zuvor hatten in Deutschland Karlfried Graf von Dürckheim und Eugen Herrigel das Japanische Zen entdeckt, und Hermann Hesse hatte seine »Reise in den Osten« unternommen. Kurz darauf schrieben in den Vereinigten Staaten Alan Watts und Huston Smith brillante Beiträge über buddhistisches Denken. Und heute kommen viele Schüler der Lehren Buddhas und Lao Tses aus Europa oder Amerika (und unter den Amerikanern häufig aus einer jüdischen Tradition). Es ist, als ob die buddhistische Meditation und das Gewahrsein des Tao vielen westlichen Menschen heute die Erkenntnis der alten jüdisch-christlichen Botschaft erleichtert: »Das Reich Gottes ist inwendig in Euch.«

Mein eigener Eintritt in die Welt der Psychiatrie jedoch ließ für den transzendenten Bereich nur wenig Raum. Ich begann meine Ausbildung bei Harry Stack Sullivan in Washington; seine Schule betonte die strukturierende Kraft interpersoneller Beziehungen in unserem Leben. Natürlich stimmte ich mit seinem Fokus überein, ebenso wie mit seiner Sichtweise der unendlichen Vielseitigkeit der Persönlichkeit, die in jedem neuen zwischenmenschlichen Feld neue Qualitäten annimmt. Doch Sullivans eher trockene und schwierige Analyse der »Felder« zielte auf die unpersönliche Präzision der Physik ab. Was ich bei ihm vermisste, war die lyrische Freiheit Blakes und die Mischung aus psychologischer und spiritueller Feinsinnigkeit etwa der Literatur Rilkes und Kafkas. Meine berufliche Situation spitzte sich zu, als ich fünf Jahre später nach San Franzisko ging, um meine Ausbildung am Langley Porter Neuropsychiatric Institute fortzusetzen. Meine Lehrer dort waren traditionelle Psychoanalytiker, die das Individuum als einen komplexen Mechanismus libidinöser Energie betrachteten. Was war aus dem Kontakt geworden, wie ich ihn von Krishnamurti her kannte? Was war aus der reichen und uneingeschränkten Erfahrung geworden?

Und dann, während der sechziger Jahre machte ich zwei Entdeckungen, Zwillingsentdeckungen. Ich las Martin Buber. In seinem Buch »Ich und Du«1 ging es um das Zwischenmenschliche, genau wie bei Sullivan. Aber im Unterschied zu Sullivan zielte Buber auf spirituelle und poetische Präzision ab. Sein Verständnis des »Zwischenmenschlichen« machte etwas sehr deutlich: Die unendliche innere Freiheit des Buddhismus und des Tao beginnt mit jener Freiheit in der Beziehung, die alle Kategorien transzendiert; und gerade so, wie unbegrenzte innere Freiheit traditionell als mystisch bezeichnet wird, beschreibt Bubers Ich-Du einen interpersonellen Mystizismus. Es ist transzendent, aber auch diesseitig und konkret. Es erscheint in tiefgründig offenen persönlichen Beziehungen; und es bildet untrüglich den geheiligten Grund, in dem Psychotherapie wurzelt.

Zur selben Zeit entdeckte ich wie schon gesagt – eine psychotherapeutische Schule, die von eben dieser Lebensqualität sprach, die Gestalttherapie. Diese Schule berücksichtigte auch die »kreative Leere« (Fritz Perls) im Klienten, die der »erfüllten Leere« des Buddha vergleichbar ist. Gestalttherapie betrachtete Erfahrung als etwas, das größer ist als die Summe ihrer analysierbaren Teile, sei es hinsichtlich ihres Ursprungs oder ihres Fortgangs. Erfahrung ist einmalig, jedes Mal und immer wieder. »Erfahrung« und »Erfahrender« sind identisch, deshalb gibt es kein davon trennbares, beständiges »Ich«. Die Gestalttechniken versuchen darüber hinaus, eine Art der Verbindung zum anderen zu stärken, die im mystischen Sinne unbeschreiblich ist.

Natürlich kann man mich fragen: »Wenn du all diese Weisheit in der Gestalttherapie gefunden hast, also innerhalb des psychiatrischen Bereichs, warum willst du sie dann noch mit alten spirituellen Traditionen vergleichen? Und warum überhaupt den Begriff ›spirituell‹ dafür verwenden«?

Meine Betonung dieses Vergleichs bringt in der Tat eine persönliche Neigung zum Ausdruck. Mit glücklichem Schrecken habe ich erkannt, dass die Einsichten der jüdischen, der christlichen und der orientalischen Mystiker (Buber, Meister Eckhart, Lao Tse) auf dieselbe, nicht kategorisierbare Wahrheit hinweisen. Was mich zu diesem weitläufigen Vergleich führte, war eine spezielle Ironie meiner eigenen Erfahrung. Die hervorragendsten Gestalt-Lehrer, die ich in der modernen Psychiatrie kennen gelernt habe, waren überhaupt keine so genannten Gestalt-Lehrer. Einer von ihnen war der Psychologieforscher Gregory Bateson, dessen systemische Sicht der Interaktion den Begriff des Gestaltgewahrseins präzisierte und der erkannte, dass »das Muster, das [alles Lebende] verbindet«, gleichzeitig mysteriös und gesetzmäßig ist. Seine Aussage: »Nichts geschieht niemals« war sein Beitrag zum Gestaltbegriff der »kreativen Leere«. Bateson stellte mich einem anderen ausgezeichneten Lehrer vor, dem Hypnotherapeuten Milton Erickson, der seine enormen intuitiven Fähigkeiten nutzte, um die unbewusste Intelligenz seiner Patienten zu erreichen – mit dem selben Ziel, das Gestalttherapeuten veranlasst, sich dem auftauchenden Gewahrsein ihrer Klienten zuzuwenden, nämlich einen größeren Reichtum der Erfahrung zu ermöglichen. Sowohl Bateson als auch Erickson hatten einen Sinn für die Unbegrenztheit unserer Tiefe, der ihnen den Horizont spiritueller Weisheit eröffnete.

Vielleicht aber sind diese »nicht gestaltischen Gestalt-Lehrer« gar keine solche Ironie. Es liegt in der Natur tiefgreifender Einsichten, dass sie von Menschen gewonnen werden, die ihre eigenen Kategorien überschreiten: Bateson, ein genuiner Denker der Verhaltensforschung; Erickson, ein Erneuerer der Hypnotherapie. Und der zentrale Punkt der Gestalttherapie ist ein präsentes, ganzheitliches Gewahrsein des Lebens.

Ich sehe noch eine weitere bedeutsame Verbindung zwischen spiritueller und therapeutischer Erfahrung: beide haben einen fundamentalen Bezug zum Paradox. Spirituelle Wirklichkeit hat immer mit dem Paradox zu tun: Unsterbliche Wahrheit inkarniert sich in sterblichen Wesen. Verschiedene Denksysteme sind bemüht, diesem Widerspruch einen harmonischen Sinn beizulegen, z. B. in der wundersamen Natur des Menschen Jesus, der auch Wort Gottes ist; oder im Bereich der Unendlichkeit und Ewigkeit, der wir letztlich alle entgegengehen, sei es nach unserem Tod oder nach vielen Inkarnationen. Doch alles, dessen wir in diesem Leben gewiss sein können, ist die Existenz dieses Paradoxes. In der Psychotherapie geht es um ähnliche Paradoxe. Der Therapeut akzeptiert den Klienten »von Anfang an als sinnvoll«, nichts an ihm ist eigentlich verkehrt. Und dennoch: es gibt etwas zu »heilen«! Oder sagen wir – die eigentlich zugrunde liegende Schwierigkeit liegt »jenseits der Worte« und wird nonverbal empfunden. Trotzdem suchen Therapeut und Klient nach wohlformulierten Worten, um sie zu heilen. Wir sagen: »Jede Therapie muss Selbsttherapie sein. Du musst deine eigene Heilung finden«, gleichzeitig aber auch: »Wahrscheinlich schaffst du es nicht alleine und brauchst die Hilfe des Therapeuten.« Und schließlich steht die Therapie in einem eleganten Kontext von Verabredungen, Honoraren und einem »Behandlungsplan«.

Doch das Ziel der Therapie ist die Selbstakzeptanz des Klienten und seine Verbindung mit anderen in der ewigen Gegenwart des Buberschen Ich-Du. Und die Behandlungszeit dient von Anfang bis Ende dazu, diesen zeitlosen Bereich zugänglich zu machen.

Die Aufsätze in diesem Buch, die alle diesem Verständnis des Paradoxen gewidmet sind, umspannen einen Zeitraum von 16 Jahren. Was 1978 als mein Interesse an den Übereinstimmungen und Unterschieden zwischen Psychotherapie und Buddhismus begann, wurde etwa 1989 zu einer festen Überzeugung ihrer zutiefst identischen Natur. Die Unterschiede, die ich anfänglich aufzeigte, sind – für den Klienten – noch immer wahr genug. Klienten wollen ihre Sorgen loswerden, ihre Ängste, Depressionen und ihre Verwirrung. Sie machen von Psychotherapie Gebrauch, um sich besser zu fühlen. Sie haben kein Interesse an dem buddhistischen Ziel, »sich nicht mit dem Ego zu identifizieren«. Die Identität, die ich zu sehen gelernt habe, ergibt sich aus der Sicht des Therapeuten. Der Therapeut gibt jeweils sein Bestes, um die zeitlose Tiefe der Freiheit zu erreichen, die im Klienten latent oder noch nicht entwickelt schlummert, gerade so, wie gute Eltern oder Lehrer das Kind oder den Schüler zu fördern suchen. Ich identifiziere diese Qualität der therapeutischen Beziehung mit Bubers Ich-Du und die besondere Natur hilfreicher Interventionen mit Lao Tses wu-wei, was bedeutet, die innere Kraft des Klienten dadurch zu stärken, dass wir mit ihr »mitgehen«, ungeachtet dessen, wo und wie der Klient gelernt haben mag, sie zu unterbrechen und zu blockieren. Lass Dich auf Buber und Lao Tse ein, wende sie an, und – so glaube ich – alles weitere Therapeutische wird dir dazugegeben werden. Die Aufsätze werden hier eher thematisch als chronologisch vorgestellt. Die ersten drei Artikel behandeln die Einheit des Spirituellen mit dem Therapeutischen. Der vierte Aufsatz, der früheste, beschäftigt sich mit den Parallelen, aber auch mit einigen Abweichungen zwischen beiden, obwohl ich bereits 1984 – im fünften Aufsatz – den Fokus auf die Identität der Prozesse gelegt habe. Der letzte Artikel aus dem Jahre 1994 bekräftigt diese Identität jenseits des psychotherapeutischen Kontextes in einer guten Verbindung, der »Ehe«.

Ich bin Erhard Doubrawa sowie den Mitarbeitern und Trainees seines Institutes sehr dankbar für die liebevolle Aufmerksamkeit, die sie diesen Aufsätzen geschenkt haben. Ihnen allen liegen Vorträge zugrunde, die ich am Gestalt-Institut Köln (GIK) halten durfte und die später von Erhards Kollegen Ludger Firneburg überarbeitet und z.T. neu übersetzt wurden. Ich sagte schon, dass die Wirklichkeit des Ich-Du über ein Wiederherstellen des Verlorenen in einer Beziehung hinausreicht. Sie ist jedes Mal neu und kraftvoll. Und doch habe ich auch das Gefühl persönlicher Erneuerung, für das ich dankbar bin, wenn ich an die Familie meiner Kindheit zurückdenke, in der ich mich entfremdet fühlte, und auf der anderen Seite an die tiefen, wohltuenden Freundschaften in einer spirituellen Familie, die ich hier in Deutschland finden konnte.

Stephen Schoen

San Rafael / Kalifornien, im April 1996

»Wenn Sonne und Mond Zweifel hätten«

Psychotherapie als spirituelle Suche

Wenn ich heute abend zu Ihnen über die spirituellen Werte der Psychotherapie spreche, spreche ich damit über ein weites, neues Kapitel der modernen Psychologie, eines, das noch vor nur 25 Jahren niemand außer Jung voraussah. Es ist ein erfreuliches Zeichen der Bescheidenheit, sich darüber klar zu werden, wie sich geistiger Fortschritt auf allen Gebieten auszeichnet durch kühne Ausfälle in das Unbekannte, gefolgt von vorsichtigem Rückzug, wenn man auf neue Schwierigkeiten trifft. Es gab eine Zeit während unseres Jahrhunderts, in der die Psychologie zur Naturwissenschaft zu gehören schien, mit sicheren Begriffen wie »die Libido des Organismus« oder »der interpersonale Bereich«. Geschätzt werden diese Ideen heute – von denen, die sie überhaupt schätzen – als nützliche Hypothesen eher denn als Wahrheit. Unsere Theorien fühlen sich nicht mehr wie fester Grund an, sie sind eine Art Flugsand. Und dennoch bleibt etwas, das die meisten Theorien unerklärt lassen, etwas, das wir tatsächlich als tief und sicher und voll erfahren. Es ist das Gefühl der Ehrfurcht vor dem Leben und dem Grenzenlosen in ihm, dem, was Krishnamurti das souveräne »Anderssein« der menschlichen Natur nannte. Und so kommt auch in der professionellen Psychologie das Interesse an spiritueller Zentriertheit wieder auf. Wenn Sie so wollen, ersteht darin sogar das Mittelalter in gewisser Weise wieder.

Aber dieses Wiedererstehen kann heute nur auf intelligente Weise und mit gutem Gewissen erfolgen, wenn wir dabei unsere wissenschaftliche Haltung nicht außer Acht lassen. Wir wissen ja tatsächlich etwas aus unserer harten empirischen Arbeit mit Menschen. Und wenn wir richtig über spirituelle Werte nachdenken wollen, so wollen wir das mit Hilfe von Begriffen tun, die diese Arbeit nicht ignorieren. Der Begriff Metapher ist hier exemplarisch; und ich werde ihn in dem Sinne verwenden wie ihn mein guter Freund, der große englische Sozialwissenschaftler Gregory Bateson, in seinen letzten Lebensmonaten vor etwa zehn Jahren verwendete.

Zunächst einmal hat er ihn definiert – mit seiner üblichen Begabung für Umkehrlogik. Denn ihm ging es nicht um die »Metapher«, die wir alle in der Schule auswendig gelernt haben: d.h. Ungleiches gleich zu machen. Ein Beispiel: »Du bist der Traum meiner schlaflosen Nächte«. Aus Batesons Sicht enthüllt eine Metapher eine reale Ähnlichkeit zwischen unterschiedlichen Dingen, eine »Korrespondenz der Form zwischen einem erwähnten Ding und einem anderen«. Sein Terminus Technicus hierfür war »Isomorphismus«. Dann ist »Du bist der Traum meiner schlaflosen Nächte« nicht nur ein galantes Kompliment. Es ist eine wirkliche Entdeckung. Oder hören Sie den englischen Dichter William Blake:

Wenn Sonne und Mond Zweifel hätten,
würden sie sofort erlöschen.

Wir spüren den Isomorphismus unmittelbar: das heißt, die Verbindung zu uns selbst. Wir würden erlöschen, wenn wir Selbstzweifel hätten. Oder Goethes Beschreibung der Natur der physikalischen Farbe: »Farben«, bemerkt er, »sind die Aktionen und Passionen des Lichtes.« Wieder spüren wir die Verbindung: Die Farben unserer eigenen Aktionen und Passionen im Vergleich zu dem Licht innerer Energie, wenn wir gesammelt und still sind. »Aber diese Verbindungen«, werden Sie vielleicht sagen, »sind doch keine wörtlichen Realitäten. Sie erzählen nur eine Geschichte.« Das ist richtig, aber die Macht der Geschichte liegt darin, dass wir sie als wahr akzeptieren. Wir haben das Gefühl, eine Entdeckung zu machen.

In dieser Weise möchte ich mit Ihnen heute abend über die Seele sprechen. Ich werde sie als Metapher oder als eine Reihe von Metaphern darstellen. Und ebenso wie wir durch eine gute Metapher zu einer neuen Wahrnehmung unserer selbst, zu einem neuen Geisteszustand kommen, so ist unsere erste Frage: »Was für ein Geisteszustand ist für uns hier und heute die Seele?«

Stellen Sie sich zwei Arten von Beziehungen vor: Die erste ist die des gegenständlichen Lebens. Normalerweise sind wir vertieft in zielgerichtete und in der Zeit festgelegte Handlungen, von den einfachen – zum Beispiel, ein Glas Wasser zu holen, wenn wir Durst haben – bis zu den hochkomplizierten – zum Beispiel, erfolgreich im Beruf zu sein, eine Beziehung gelingen zu lassen oder eine misslungene aufzugeben und so weiter. Dies ist das kategorisierbare Leben. Es ist die Wirklichkeit, in der wir einen Namen, unsere Geschichte, unsere Pläne haben, die Wirklichkeit Ihrer Anwesenheit hier und heute als Zuhörer und meiner Anwesenheit als Vortragender, in der jeder von uns sich fragt, was wir »davon haben« werden, wie wir es »gebrauchen können«. Es ist eine unvollständige Wirklichkeit: Wir können ihr immer noch etwas hinzufügen. Martin Buber nennt sie die Ich-Es-Beziehung.

Ich-Du