Franziska Gräfin zu Reventlow: Das Logierhaus zur Schwankenden Weltkugel

 

 

Franziska Gräfin zu Reventlow

Das Logierhaus zur

Schwankenden Weltkugel

und andere Novellen

 

 

 

Franziska Gräfin zu Reventlow: Das Logierhaus zur Schwankenden Weltkugel und andere Novellen

 

Neuausgabe mit einer Biographie der Autorin.

Herausgegeben von Karl-Maria Guth, Berlin 2016.

 

Umschlaggestaltung unter Verwendung des Bildes:

Franziska Gräfin zu Reventlow (Fotografie, um 1910)

 

ISBN 978-3-8430-6850-5

 

Dieses Buch ist auch in gedruckter Form erhältlich:

ISBN 978-3-8430-9734-5 (Broschiert)

ISBN 978-3-8430-9735-2 (Gebunden)

 

Die Sammlung Hofenberg erscheint im Verlag der Contumax GmbH & Co. KG, Berlin.

 

Warum

Erstdruck in: Husumer Nachrichten, 4. November 1893.

Eine Uniform

Erstdruck in: Husumer Nachrichten, 7. Januar 1893.

Moment-Aufnahmen

Erstdruck in: Husumer Nachrichten, 10. Dezember 1894.

Wahnsinn

Erstdruck in: Simplicissimus, München (Albert Langen) 1. Jg., Nr. 7, 16. Mai 1896.

Ein Bekenntnis

Erstdruck in: Die Gesellschaft, herausgegeben von Michael Georg Conrad, 10. Jg., 1894, 1. Quartal.

Vater

Erstdruck in: Simplicissimus, München (Albert Langen) 1. Jg., Nr. 5, 1896.

Christus

Erstdruck in: Klosterjungen. Humoresken, Leipzig 1897

Das gräfliche Milchgeschäft

Erstdruck in: Neue Rundschau, 8. Jg., 3./4. Quartal, 1897.

Das Jüngste Gericht

Erstdruck in: Simplicissimus, München (Albert Langen) 1. Jg., Nr. 41, 9. Januar 1897.

Das allerjüngste Gericht

Erstdruck in: Simplicissimus, München (Albert Langen) 1. Jg., Nr. 49, 6. März 1897.

Krank

Entstanden um 1900. Erstdruck in: Gesammelte Werke in einem Bande, herausgegeben von Else Reventlow, München (Albert Langen) 1925.

Tot

Erstdruck in: Simplicissimus, München (Albert Langen) 16. Jg., Nr. 19, 7. August 1911, Beiblatt.

Wir Spione

Erstdruck in: Simplicissimus, München (Albert Langen) 20. Jg., Nr. 32, 9. November 1915.

Der feine Dieb

Erstdruck in: Simplicissimus, München (Albert Langen) 21. Jg., Nr. 28, 10. Oktober 1916.

Das Logierhaus »Zur schwankenden Weltkugel«

Erstdruck in: Das Logierhaus »Zur schwankenden Weltkugel«. Novellen und Skizzen, München (Albert Langen) 1917.

Das polierte Männchen

Erstdruck in: Das Logierhaus »Zur schwankenden Weltkugel«. Novellen und Skizzen, München (Albert Langen) 1917.

Der Herr Fischötter

Erstdruck in: Das Logierhaus »Zur schwankenden Weltkugel«. Novellen und Skizzen, München (Albert Langen) 1917.

Spiritismus

Erstdruck in: Das Logierhaus »Zur schwankenden Weltkugel«. Novellen und Skizzen, München (Albert Langen) 1917.

Die Silberwanze

Erstdruck in: Das Logierhaus »Zur schwankenden Weltkugel«. Novellen und Skizzen, München (Albert Langen) 1917.

Das feindselige Gepäck

Erstdruck in: Das Logierhaus »Zur schwankenden Weltkugel«. Novellen und Skizzen, München (Albert Langen) 1917.

 

Der Text dieser Ausgabe folgt:

Franziska Gräfin zu Reventlow: Autobiographisches. Ellen Olestjerne. Novellen, Schriften, Selbstzeugnisse. Herausgegeben von Else Reventlow. Mit einem Nachwort von Wolfdietrich Rasch, München: Langen Müller, 1980.

 

Die Paginierung obiger Ausgabe wird in dieser Neuausgabe wortgenau mitgeführt und macht dieses E-Book auch in wissenschaftlichem Zusammenhang zitierfähig. Das Textende der Vorlagenseite wird hier durch die Seitennummer in eckigen Klammern mit grauer Schrift markiert.

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind über http://www.dnb.de abrufbar.

Warum?

In einer Mainacht erschoß sich der Sekundaner Hans Sörensen.

Er war noch ein Kind, wenigstens hielten ihn alle dafür, die sein lachendes, offenes Knabengesicht kannten. Und er lachte oft und viel, aber dann konnten seine Augen plötzlich mit einem so seltsam leeren, toten Blick vor sich hinstarren, als ob sie etwas suchten, das sie doch nicht finden konnten, oder als ob das Lachen ihnen weh täte. Niemand hatte ihm eine solche Handlung oder einen so jähen Entschluß zugetraut, niemand erraten, daß er einen schweren Kummer, eine innere Zerstörung in sich trug. Am letzten Nachmittag hatte er eine Verabredung mit einem Freunde, aber er kam nicht hin. Er saß in seinem Zimmer und ordnete seinen kleinen Besitz und seine Briefschaften. Dann machte er seine Schularbeiten für den nächsten Tag und ging aus. Seinem Stubengenossen, der ihn begleiten wollte, sagte er, daß er einen Bekannten besuchen wolle. Als er sich von ihm befreit hatte, ging er zu einem Waffenhändler und suchte sich zwei Pistolen aus. Er wolle sie zur Auswahl, sagte er, und er würde Bescheid schicken, ob er sie behielte.

Am Abend scherzte und sprach er wie gewöhnlich, und als sie nach Tisch um die Lampe herumsaßen, las er einen Roman zu Ende, den er am vorigen Abend angefangen hatte. Als die Uhr zehn schlug, gingen die Knaben zu[275] Bett. Als sie die Treppe hinaufstiegen, tönte sein helles Lachen noch einmal durch das abendstille Haus, und niemand wußte, daß er zum letztenmal hinaufgestiegen sei und daß man nur sein zerstörtes Leben wieder herabtragen würde.

Als sie sich niedergelegt hatten, las Hans wie jeden Abend in dem Andachtsbuch von seiner Mutter, dann löschte er das Licht aus und lauschte den Atemzügen seines Kameraden und stand ganz leise wieder auf, als er sich überzeugt hatte, daß jener schlief. Leise stand er auf und setzte sich an den Schreibtisch vor dem offenen Fenster, durch das die stille Nacht hereindrang. Fröstelnd saß er da und sah dem Tod ins Angesicht. Da – vor ihm stand das Bild seiner Mutter, und er schrieb an seine Eltern. Er dankte ihnen für alle ihre große Liebe, verzeihen sollten sie ihm, daß er so von ihnen gehe – er könne nicht mehr leben – und vergessen sollten sie ihn und wieder froh sein, wenn er fort war, fort und begraben. Daß sie nie wieder froh sein konnten, daß das dunkle Geheimnis seines zerrissenen Lebens auch ihres vernichtete, das hatte er nicht begriffen.

Die Pistolen nahm er mit ins Bett. Die erste versagte den Schuß – man hat es nachher sehen können – aber die Kugel der zweiten tötete ihn, über dem rechten Auge war sie in den Kopf gedrungen. Niemand im Hause wachte von dem Schuß auf, sie schliefen alle. Der andere Knabe atmete ruhig weiter, und die Kerze brannte flackernd herunter, bis sie gegen Morgen erlosch und die helle warme Sonne ins Zimmer drang.

Am nächsten Morgen fanden sie ihn so, der eine Arm hing am Bett herunter, die andere Hand hielt noch die Pistole. Der blonde Kopf war zurückgefallen, und das blasse tote Gesicht hatte seinen alten lachenden Kinderausdruck. Über dem rechten Auge klaffte die Wunde,[276] aus der das Blut und das Leben wie ein roter wilder Strom über die weißen Tücher hinabgeflossen war. Vor dem Bett lag das aufgeschlagene Gebetbuch und stand die herabgebrannte Kerze. Auf dem Schreibtisch lag der Brief an seine Eltern vor dem Bild der Mutter – sein Abschied aus dem Leben.

Die Zurückgebliebenen konnten das qualvolle Rätsel nicht lösen, und sie mußten es durch ihr ganzes Leben tragen.

Und er war gestorben und hatte es mit hinabgenommen.

– Warum?[277]

 

Eine Uniform

Lawntennis – auf dem grünen, schattenlosen Platz, abwärts von den hohen alten Bäumen, die in tiefem Schatten daliegen, mit dem weiten Blick auf Kornfelder und dahinter die blaue Ostsee. Heiß flimmert, flirrt und leuchtet die Sonne vom Sommerhimmel herunter, es ist nachmittags um drei, um die müde, heiße Stunde. Aber davon wissen die jungen Leute nichts, die hier Lawntennis spielen, und die Alten sitzen drüben unter der Buche und sehen nur zu, dem Einnicken nahe.

Auf dem Tennisplatz wird eine heiße Schlacht geschlagen, die Bälle fliegen durcheinander, kreuz und quer, und die jugendlichen Gestalten biegen, bücken und recken sich fast wie im Zirkus, um sie in Bewegung zu halten. Alle Gesichter glühen, hier und da fliegt wohl ein kurzes Lachen, eine flüchtige Scherzrede hin und her, sonst ist alles ganz in den Eifer des Spielens vertieft.[277]

Ein Gang ist zu Ende, der Schauplatz wird ein anderer, neue Mitspieler treten ein, während die vorigen, zur Seite stehend, mit gespannter Aufmerksamkeit den Fortgang beobachten oder sich den kühlen Räumen des Schlosses zuwenden, um auszuruhen.

Ein junges Mädchen mit schwerem Blondhaar ging langsam und müde die breite, teppichbelegte Treppe hinauf. Das ganze Haus lag so still, sie waren alle draußen im Sonnenschein. Hier drinnen waren alle Läden geschlossen, daß kaum ein Strahl durchdringen konnte, alles schien zu schlafen. Die Tür zum Billardsaal war angelehnt, sie öffnete dieselbe leise und trat hinein, als sie den Raum leer fand. Auch hier waren die Rouleaux niedergelassen, die Staffeleien und Bücher standen umher, als ob sie sich wunderten, daß heute niemand sie anrührte, der Billardtisch sah so gelangweilt aus, und die weißen Kugeln lagen wie verirrt auf dem dunkelgrünen Tuch.

Da auf dem Sofa lag eine Uniform, und das blonde Mädchen wußte, wem sie gehörte, es war seine Uniform, die er für das Spiel am heißen Nachmittag mit der Tropenjacke vertauscht hatte.

Unten wurde das Tamtam geschlagen, um alle zum Diner zusammenzurufen. Die dumpfen Schläge dröhnten bis in den Saal hinauf und in die Ohren des jungen Weibes, das vor dem Sofa auf den Knien lag, den schmerzenden Kopf in das dunkle, kühle Zeug der Uniform hineingewühlt, liebesschwere traurige Küsse auf dasselbe drückend, während ihr schwere, angstgepreßte Tränen aus den Augen rannen.

Und er wußte nichts davon.[278]

 

Moment-Aufnahmen

Leben

Die Mutter meines Freundes war Morphinistin. Sie ließ mich einmal zu sich rufen, als es sehr schlecht mit ihr stand.

Es war mitten im Sommer.

Im ganzen Hause eine stille, eingeschlossene Kühle. Alle Fensterläden und Türen ängstlich gegen die Hitze von draußen abgesperrt.

Der alte Haushund lag von Fliegen umsummt auf einer sonnenbeschienenen Treppenstufe und knurrte verschlafen.

Drinnen ging alles auf Zehenspitzen. Jedem leisen Schritt hörte man die Angst vor dem Geräusch an, das die Kranke stören könnte.

Im Salon standen die Möbel still und schlafend umher. Der Flügel war geschlossen und bestaubt, es hatte wohl lange niemand darauf gespielt. Auf dem Tisch verwelkte Blumen in mattgetönten Majolikaschalen. Die Flügeltür nach dem anstoßenden Schlafzimmer stand offen. Es schlug mir daraus etwas entgegen, das an die kalte Atmosphäre einer Leichenhalle erinnerte, oder lag das in meiner Phantasie? Vor den Fenstern da drinnen waren schwere grüne Vorhänge dicht zusammengezogen. Wie durch weite Ferne abgeschwächt drang das Straßengeräusch von unten herauf.[279]

Neben der kranken Mutter, die mit stierem, leidendem Ausdruck in den mattweißen Kissen lag, stand die Tochter mit der Morphiumspritze. Ihr Gesicht war in dem Augenblick fast ebenso fahl wie das der Mutter, aber die eine junge Hand hielt den abgezehrten Arm ruhig und fest, während die andere das Instrument mit dem verwüstenden Lebenselixier handhabte. Dann legte sie den Arm leise wieder unter die Decke zurück, und nun lag die Mutter kaum atmend da, die Augen tief eingesunken wie bei einer Leiche, die schmalen Lippen starr geöffnet.

Als ich wieder auf die Straße kam, konnte ich nicht begreifen, daß der gewohnte Lärm des Lebens wieder um meine Ohren wogte. Ich konnte nicht glauben, daß es lebende Menschen und nicht Leichen waren, die sich an mir vorbeidrängten.

Wozu das alles, wozu ein ganzes Leben? Da oben hatte ich gesehen, was das Ende sein konnte.

Und wenn ich es ihnen erzählte, ob sie dann wohl noch ebenso weiter drängen und hasten würden allen ihren Begierden und Interessen nach.

Vielleicht würden sie mich nur auslachen und sagen: das wissen wir alles schon, oder sie würden sich gar nicht die Zeit nehmen, zuzuhören.

Und ich ging zwischen ihnen umher und konnte das Gefühl nicht wieder loswerden, daß mich der Tod selbst eisig angefaßt hatte da oben in dem dunklen Krankenzimmer, wo er neben dem Bett der Kranken wartete.

Es war so sonderbar, daß um mich her heißer Sommer war. Warum lebte ich noch, warum die anderen, warum lebte denn überhaupt noch etwas!

Mir fiel ein alter Vers ein:

 

– Dunkle Cypressen –

Die Welt ist gar zu lustig, es wird doch alles vergessen.[280]

 

Nachtarbeit

Unten an der Isar ging ich entlang, wo Tag und Nacht an den Kanalisationswerken gearbeitet wird.

Tag und Nacht.

In der Mitte der Straße eine tiefe, lang sich hinziehende Grube, unten tief die Arbeiter, die unermüdlich die Erde emporschaufeln. Man hört nur das Klirren der Spaten und das Hinabrollen der aufgeworfenen Steine.

Gegen Abend haben die Männer da unten noch bei der Arbeit gesungen, jetzt sind sie längst zu müde, aber die Arbeit geht immer weiter. Durch die scharfe Nachtluft rieselt empfindlicher Frostschnee auf alles herab, der beißt auf der Haut und dringt schneidend in die Kleidung ein.

Hier und da hängt eine Laterne mit unruhig flackerndem Licht an einem der hervorstehenden Balken.

Durch die Nacht klingt das Rauschen der Isar und das Ächzen der Dampfmaschine.

Schwarz, blank, kolossal steht sie da. Der mächtige Schlot atmet Rauchwolken aus, durch welche einzelne Funken blitzen und wie Sternschnuppen verschwinden. Hinter der Maschine steht der Heizer. Seine Gestalt ist in schwarzer Silhouette gegen die helle Wand der die Maschine umgebenden Bretterbude abgeschnitten.

Dann und wann fährt er sich mit der Hand über die müden, von Rauch und Hitze brennenden Augen. Nun reißt er die Ofentür auf, flackernder roter Feuerschein fährt über sein Gesicht. Dann rasselt die Schaufel durch die Kohlen und füllt den aufgerissenen Schlund mit neuer Nahrung.[281]

Auf einer Bank im Bretterverschlag sitzt ein zweiter Mann, den Kopf herabgesunken. Er scheint zu schlafen. Der andere steht nach vollbrachter Heizarbeit wieder unbeweglich auf seinem Platz. Nur zuweilen fährt er sich über die Augen, während die Nacht mit unerbittlicher Langsamkeit vorrückt.

Über die Brücke hört man Studenten singen mit rohen berauschten Stimmen. Liebespaare drücken sich am Quai entlang.

Und drüben auf der anderen Seite, wo die neuerbauten hohen Häuser stehen, kommen die Theaterbesucher nach Hause, in Pelzen und hellen Abendmänteln. Einige von ihnen gähnen und reiben sich die Augen. Es war doch recht anstrengend, so lange dazusitzen.

Ein junger Mann und eine Dame unterhalten sich über Sozialismus und über die letzten großen Strikes.

»Sehen Sie, Fräulein, ein interessantes Motiv.«

Der müde Mann an der Maschine fährt sich über die Augen und schüttelt sich zwischen Nachtfrost und Kohlenhitze.[282]

 

Frühschoppen

Ganz München war salvatortoll. Das berauschende junge Frühlingsbier wirbelte in allen Köpfen.

Im R.R.-Atelier war Salvator-Frühschoppen.

Aus Kisten und »Hockerln« war ein langer Tisch hergerichtet und mit Mal-Kitteln und Schürzen in allen Farben bedeckt. Darauf die steinernen Maßkrüge. Rund umher die mehr oder weniger viel versprechenden Genies der Malschule.

Gerötete Gesichter, heiserer Gesang aus bierbenommenen[282] Kehlen, umgestürzte Krüge, Bierlachen auf Tisch und Fußboden.

Das Gelage dauerte bis in den Nachmittag hinein, dann ging man ins Café.

Die Straße, über die der Zug paarweise ging, lag im hellen Frühlingsnachmittagsschein.

Es war ein junger Norddeutscher darunter, der sich kaum mehr auf den Füßen halten konnte. Seine Augen irrten verschwommen über die Straße und wichen blinzelnd dem Licht aus.

An einer Straßenecke stand sein bester Freund im Gespräch mit einem anderen Herrn. Der Berauschte wollte auf ihn zu und mit ihm reden.

»Kommst du mit ins Café?«

»Nein.«

»Sieht man dich denn später noch?«

Der Angeredete sah ihm fest in die geröteten, unklaren Augen: »Heute nicht«, drehte ihm den Rücken und ging ohne ein weiteres Wort.

Der junge Mann sah ihm nach, wollte ihm nach, aber einer seiner Trinkgenossen zog ihn mit fort.

Der Blick des Freundes hatte ihm die Scham in die Seele hineingebrannt und zugleich den Trotz.

Sein Freund hatte nicht gewußt, daß er seit Wochen gehungert hatte.[283]

 

Mein Fenster

Wenn ich morgens aufwache, sehe ich gerade auf mein Fenster. Es steht immer offen, ob mir der Himmel Schnee und Regen bis mitten ins Zimmer hereinwirft oder ob mir die Julisonne hereinsengt.

Gegenüber ist die Kaserne. Das Dach mit seinen vielen Giebeln liegt etwas höher wie meines. In den Giebelfenstern liegt die Morgensonne wie glühendes Kupfer. Ich liege im Bett zwischen Wachen und Schlafen und höre dem Leben da drüben mit halbgeschlossenen Augen zu. Der Tag liegt noch so frisch und unangerührt vor mir.

Vor dem Fenster steht meine Staffelei und wartet auf mich. Ja, dieser Tag soll mir wunderbar werden wie noch keiner. Es soll wirklich alles einmal Gesundheit und Leben sein.

Meine besten Tage sind, wenn es frühmorgens Militärmusik gibt. Da bin ich mit beiden Füßen zugleich aus dem Bett und am Fenster.

Wie die tapferen bunten Jungen da unten aus ihrer Kaserne herausmarschieren in ihren frischen heißen Tag hinein. Und auf der Straße treibt schon alles hin und her.

Ganz leise Morgennebel noch über den entfernteren Dächern. Und aus allen benachbarten Dachluken fahren schlafstruppige Köpfe heraus, die auch die Musik hören wollen.

Dann fange ich an zu arbeiten neben meinem Fenster, und die Luft von draußen fließt mir in Wellen um den Kopf und badet mich immer frischer, und es ist so still hier oben.[284]

Abends, wenn die Arbeit eingeschlafen ist, stehe ich lange am Fenster.

Ja, wo ist mein heller, frischer Tag hingekommen? Er ist doch wieder müde und zerstückelt worden.

– – Schwarzrote Abenddämmerung über der Stadt. Zwei stumpfe Kirchtürme, einige starre Fabrikschornsteine und langgestreckte Dächer steigen in den letzten Schein hinauf.

Die Kaserne liegt dunkel, schwarz und ohne Leben. Nur oben sind einige Fenster erleuchtet, und zuweilen streift der Schatten einer einsamen Wache dahinter vorbei.

Darüber nachtschwarzer Himmel oder Sterne, oder der Mond wirft kalte grüne Schimmer über das dunkle Schieferdach.

Unten auf der Straße grade vor mir brennt eine einsame Laterne.

Manchmal sehe ich rückwärts in mein freundlich lampenhelles Zimmer.

Ich will an nichts denken, aber wenn ich die Gedanken zur einen Tür hinauswerfe, kommen sie zur andern wieder herein.

Grade hier muß ich an manches denken. Ich bin so tiefeinsam hier oben.

Wo sind meine Genossen geblieben? Früher kamen sie jeden Abend unter mein Fenster, und unser vertrauter Signalpfiff klang zu mir herauf.

Wie ich auf den Ton wartete, und wenn ich ihn hörte, dann war ich unten, meine vier Stiegen hinunter wie der Blitz.

Und dann waren wir bis in die tiefe Nacht zusammen.

Wie wir damals jung waren und begeistert. Die ganze Kunst und das ganze Leben, das hatten wir alles, gehörte alles uns. Und wir waren gute Brüder und teilten uns in alles.[285]

Wo ist die Zeit hingekommen – und alles ist mit ihr gegangen.

Zuweilen denke ich, sie müßten wiederkommen, und ich müßte noch einmal wieder unsern Pfiff hören.

Aber es ist vorbei – und ich bin alleine.[286]

 

Wahnsinn

Geerdt Sievers war Bildhauer in München. Seine Heimat war an der Ostsee unter den dänischen Buchen. Er hatte eben sein Modell weggeschickt, weil die Dämmerung kam, und nun stand er vor dem Werk seines Tages. Es war ein lebensgroßer Akt – ein altes Motiv: Eva, das Weib.

Er wollte etwas ganz Neues, noch nicht Dagewesenes[322] schaffen, und eine seltsame Idee hatte sich aus diesem Wollen herausgeboren: das Weib vor dem Sündenfall mit vollen, noch unschuldigen Formen, die verlangend der Erkenntnis entgegenschwellen – das Vorspiel der Sünde in dem jugendlich reifenden Körper. Eva kniet und spielt mit der Schlange, die sich vor ihr im Grase ringelt. Der Gesichtsausdruck zeigt noch ahnungslose Neugier; über dem in geschwungener Linie vornüber gebeugten Rücken hängt ein Zweig mit den Äpfeln vom Baume der Erkenntnis. Sie hat die Frucht noch nicht gesehen; die Schlange hält sie für ein Spielzeug – aber der Augenblick ist nah, er muß bald kommen, der Augenblick, wo die Schlange zu sprechen beginnen wird, und wo sie die Frucht gewahren wird.

Sie kennt die Sünde noch nicht, aber sie wird erkennen und sie wird sündigen.

Lange hatte er nach dem geeigneten Modell gesucht und er hatte endlich gefunden was er suchte, ein noch sehr junges und unverdorbenes Mädchen.

Und nun war er an dem Kind zum Sünder geworden.

Es wurde dunkel. Der Künstler saß auf einer Ecke des Diwans und starrte auf seine Arbeit hin.

Es war nicht das geworden, was er gewollt hatte. Gerade das Gegenteil: in der Haltung seiner Eva lag etwas Gedrücktes und Schuldbewußtes. Aber gerade so hatte sie da vor ihm auf dem Podium gekniet, durch seine Schuld. Und auf dem Diwan da war sie gelegen, damals, als sie die Sünde erkannt hatte. Es war nichts, er mußte wieder ein anderes Modell suchen. Aber wo war zum zweitenmal ein solcher Körper, solche Jugend? – Und wenn auch, würde es nicht wieder dasselbe Ende sein? –

Er fühlte wohl: er ging nicht auf in seiner Kunst – wenn er auch danach lechzte in völliger Raserei und sich verzweifelnd mühte, sich ihr hinzugeben mit seinem ganzen[323] Sein. Er war nicht fähig dazu. Es war eine traurige Impotenz in ihm, der er unterlag.

Nun war es wieder so gekommen. Er hatte eine Idee gehabt, die ihn ganz erfüllte, und wie er sie fassen und wie er sie gestalten wollte, zerging sie vor dem brutalen Zugreifen seiner Hände. Seine Nerven zitterten, als er das Modell da vor sich knien sah in seiner jungen Schönheit und er arbeitete fanatisch. Aber dann sah er nur noch das Weib und wie er den Ton unter den Händen fühlte, war ihm, als sei es ihr Leib, der ihm verlangend entgegenbrannte, – und der Taumel kam – und es war wieder alles hin, seine Arbeit und ihre Unschuld.

So kam es immer. Die Gedanken, die so brennend seinen Kopf durchwühlten, konnte er nicht zu realer Gestaltung bringen, weil die Wirklichkeit allzu brutal zerstörend über ihn kam. Er hatte noch nie etwas Großes geschaffen und er würde es nie können, das wußte er. Hundertmal stellte er sich wieder vor die Feuerprobe und jedesmal unterlag er. Er trat vor seine Arbeit hin und riß den Ton herunter, bis nur noch das Gerüst wie ein einsam drohendes Gerippe seine Arme in die leere Luft streckte.

Dann ging er. –

Geerdt Sievers wurde irrsinnig.

Er hatte sich überarbeitet und dazu kam das tolle Leben; die Weiber und das alles. Eines Tages brach die Tobsucht bei ihm aus und er wurde in eine Heilanstalt geschafft.

Nach einem Jahr wurde er als geheilt entlassen und kam an einem Herbsttage wieder nach München zurück.

Nun wollte er wieder arbeiten, versuchen zu arbeiten – wenn in ihm noch etwas geblieben war.

Er suchte das Mädchen auf, das ihm zu seiner Eva Modell gestanden, es war herabgekommen und schlecht geworden wie die anderen. Das hatte ihn aufgeregt.

Um sich zu beruhigen, ging er ins Freie.[324]

Es war zehn Uhr abends und der Mond schien hell in dieser Septembernacht.

Der Englische Garten lag in zauberhaftem Nebel da.

Das Auf- und Niederwogen der weißen Dunstgebilde verwirrte den Kopf des krank Gewesenen. Er fühlte, daß er doch noch recht schwach war.

Bald verließ er den Park und ging zur Isar hinab, über die Luitpoldbrücke, über den Platz, am Springbrunnen vorbei und auf die Terrasse hinauf. Er wollte heute seine Nerven auf die Probe stellen, und versuchte das Bild ruhig in sich aufzufassen.

Geradeaus eine Perspektive von tanzenden Lichtern, beginnend mit den Kandelabern der Luitpoldbrücke und dann sich in die Königsstraße hinein verlierend. Links, rechts, dunkle Häusermassen, Türme, Lichter.

Auf der Steinumrandung des Brunnens vor der Terrasse lag kalter Mondschein.

Mitten aus dem dunklen Wasser stieg eine weiße Springsäule auf und bewegte sich hin und her, wie eine Frauengestalt in langen Gewändern.

Geerdt schloß einen Augenblick lang die Augen und sah dann wieder hin. Die weiße Gestalt kam aus dem schwarzen Brunnen, dehnte sich empor, schüttelte das weiß sprühende Wasser von sich ab und sank zusammen – stieg wieder in die Höhe – schüttelte sich – sank zusammen.

Er starrte hin, mußte hinsehen. Es war als ob das Weib da unten sich mühte, Gestalt zu gewinnen. Es kam empor, warf die Wasserfunken nach allen Seiten von sich, und wenn es dann in seiner Schönheit emporsteigen wollte, floß es wieder in sich zusammen – still und lautlos – still – und lautlos –?

Nein, da schrie sie – laut und gellend.

Er schlug sich vor die Stirn. Er merkte plötzlich, daß er[325] selbst laut aufschrie, jedesmal, wenn die weiße Gestalt wieder zusammenfiel.

Dann kam es, als ob in seinem Schädel sich etwas wie ein Rad mit rasender Geschwindigkeit drehte. Das Weib reckte sich wieder in die Höhe und zerrann wieder in die Tiefe hinein.

Und es schrie wieder, laut und gellend.

Er wandte sich um. Der Vollmond stand dicht über ihm und er griff nach der glänzenden Kugel, sie war ja ganz nahe an seinem Kopf. Er griff danach, da bekam sie Gesichtszüge und grinste ihn an und stand dann auf einmal hoch am Himmel und war wieder der Mond.

Der Schrecken faßte ihn furchtbar an. Er stürzte in die Anlagen hinein.

Er rannte gegen verschiedene Liebespaare an, die in den dunklen Wegen gingen!

Er kam wieder aus den Anlagen heraus und rannte über die Maximiliansbrücke.

Lief etwas hinter ihm her?

Er fuhr herum und sah nach rückwärts. –

Schwarz hob sich das Maximilianeum gegen den Himmel ab. Durch einen der Galeriebogen lachte ihn wieder die grinsende Mondfratze an.

Geerdt Sievers war wieder wahnsinnig geworden und diesmal unheilbar.[326]

 

Ein Bekenntnis

Die junge Frau hat es mir selbst erzählt an einem Abend, als wir zusammen vor dem Kamin saßen, und das Märchenlicht[296] der rotumschirmten Lampe in ihre träumerischen grauen Augen hineinsank.

Wir hatten vorher von der Nordsee gesprochen.

»Es war damals, als wir eben verheiratet waren. Der Arzt schickte mich ins Seebad, während Adolf eine sechswöchige Übung zu machen hatte. – Man fürchtete damals für meine Lunge. –

Es war so schwer, sich trennen zu müssen, wo das Glück eben angefangen hatte.

Wir waren bis zu einer kleinen Heidestation zusammen gereist, dann fuhr mein Mann landeinwärts, und ich der Marschgegend zu.

In dem kleinen Badeort kam ich um Mittag bei strömendem Regen an und hatte bald eine Wohnung gefunden. Von dem Balkon aus konnte ich auf das Meer sehen. So hatte ich es mir gewünscht.

Die ersten Wochen lebte ich ganz einsam, nur meinen Gedanken und meiner Gesundheit. Ich lag am Strande oder machte weite Spaziergänge am Deich entlang und zuweilen mehr landeinwärts in die blühende Heide hinein, und wenn ich heimkam, ließ ich mir das Ruhebett auf meinem Balkon herrichten und brachte lange Stunden damit zu, auf die Nordsee hinauszusehen. Da kam dann die Vergangenheit mit Heimatsklängen vom Meer herauf, traurige, mit tiefem Weh ins Herz einschneidende Töne. Und mir fehlte die warme greifbare Gegenwart meines Glückes, um die Schatten zu vertreiben.

Mit quälender Unruhe konnte es mich oft erfassen, und als ich etwas kräftiger geworden war, fuhr ich oft allein im Boot in das Meer hinaus, zuweilen, wenn der Abendhimmel feine goldrote Reflexe auf die lichtgraue, wunderbar ruhige Meerfläche warf und dann dunkler und dunkler wurde, bis ich die das Fahrwasser bezeichnenden »Baken« kaum mehr unterscheiden konnte. Oder an anderen[297] Tagen, wenn die See stürmische Wellen gegen die Steindämme warf und meine kleine weißgetünchte Nußschale wie eine Möwe mit den Wellen auf und nieder tanzte. Wenn ich dann heimkam, schüttelten die Schiffer den Kopf und bei den Badegästen galt ich bald für tollkühn oder lebensmüde.

Aber mir war es am liebsten, wenn das Meer so ungestüm war. Es kam mir dann auf einmal ein so wilder Lebensmut, ein so intensives Lebensgefühl in die Adern, daß mir das Herz laut klopfte, und ich es nicht lassen konnte, laut in das Wellentoben hinauszujauchzen und hinauszusingen.

Die mitgebrachte Arbeit blieb gänzlich liegen. In dieser Zeit war die Ruhe viel zu schön, um zu arbeiten. –