© 2006 Matthias Mala, München

Alle Rechte sind vorbehalten. www.theurgia.de

2. überarbeitete Auflage 2009

ISBN-13: 978-3-7322-6891-7

Herstellung und Verlag:

Books on Demand GmbH, Norderstedt (www.bod.de)

Lektorat:

Petra Holzmann, München

Umschlaggestaltung:

Gabriel Nemeth, Graphik Design, München – Wien

(www.nemethstudio.de)

Titelfoto:

Jonathan Silbermann, Berlin (www.icepixx.de)

Vignetten und Rangoli:

Matthias Mala

Layout und Satz:

Claudia Wagner, Berlin (www.cb-buchgestaltung.de)

Printed in Germany

Anmerkungen zum Titelbild und zu den Kapitelbildern

Das Titelbild zeigt den Soiji-ki-Nashiya, den Spiegelsaal im Jaintempel von Ajmer in Rajasthan. Er wurde in den zwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts von einem reichen Diamantenhändler gestiftet. Dieses Heiligtum erinnert an das Leben des ersten Tirthankara Rishabha und zeigt den heiligen Berg Semeru. Für diesen Schrein wurden etwa 1.000 kg Gold verarbeitet. Der Raum misst zirka 800 Quadratmeter Fläche und drei Stockwerke in der Höhe.

Die Religion der Jain entstand zeitgleich mit dem Buddhismus und ist diesem in Mythos und Heilsbotschaft ähnlich. Vierundzwanzig Tirthankara werden in den heiligen Büchern der Jains erwähnt. Sie gelten als „Furtbereiter“ der Lehre. Der Berg Semeru ist ein paradiesischer Ort auf dem Rishabha, der erste Tirthankara thront. Das Mysterium der Jain umschreibt ein unendliches Weltensein, das als All zugleich ist und nicht ist. Diese Welt ist sowohl Raum als auch Bewegung, Ruhe, Zeit und beseelte Materie. Erlösung findet der Mensch, sobald er sein Karma durch „rechten Glauben“, „rechte Erkenntnis“ und „rechten Wandel“ verbrauchte.

Die Kapitelbilder im Buch zeigen Rangoli. Dies sind Knotenmuster, die indische Frauen vor den Haustüren, am Essplatz oder zu Feierlichkeiten an Festplätzen auslegen. Die Kunst, Rangoli zu legen, wird von den Großmüttern und Müttern auf die Töchter und Enkelinnen weitergegeben. Sie gilt bei heiratsfähigen Frauen als eine hochgeschätzte Fertigkeit. Rangoli sind Willkommengrüße, ähnlich den Grußkränzen an unseren Haustüren. Sie sollen ebenso das Glück ins Haus locken. Zudem stellen sie Opfergaben an die Tiere, im speziellen an die Ameisen dar, denn meistens werden die Knotenmuster mit Reismehl oder Kurkuma ausgestreut. Das Opfer an die Ameise wird auch als indirekte Gabe für die Gottheit der Kobra verstanden, da diese ihr Nest gerne in verlassenen Termitenhügeln oder mürben Ameisenholz sucht.

Inhalt

  1. Zur Magie der Weile
  2. Zur Magie des Versagens
  3. Zur Quelle gehen, um Ideen zu schöpfen
  4. Den Zwang zur Zukunft brechen
  5. Die Kraft meiner Geschichte
  6. Mutig auf das Wirken der Magie zeigen
  7. Die Sorge, die Kraft zu verschwenden
  8. Die Magie des rechten Wortes
  9. Zum Umgang mit seinen Feinden
  10. Der Raum der Freundschaft
  11. Vom zerbrechlichen Zauber der Wahrheit
  12. Zum Zauber der Einsamkeit
  13. Vom Drängen der Zaudernden
  14. Vom Mut, die richtigen Fehler zu begehen
  15. Vom Nutzen eines geweihten Zepters
  16. Zum Zauber vorurteilslosen Betrachtens
  17. Vom Zauber zunehmenden Lichtes
  18. Von den Gefahren jenseits des Zaubers
  19. Im Zauber des Anfangs liegt die Kunst des Endens
  20. Die Zaubermacht der Selbsttäuschung
  21. Den Münchhausen in sich annehmen
  22. Zur Zauberkraft des Kreises
  23. Vom Mut, ein Geheimnis zu bewahren
  24. Von der Leichtigkeit magischer Fülle
  25. Vom stillen Zauber der Zeit zwischen der Zeit
  26. Zum Wechselspiel magischen Willens
  27. Vom Mut zu wissen, unwissend zu sein
  28. Die Nacht ist die Bühne des Lichtes
  29. Von der Wohnstatt der verdrängten Schatten
  30. Die heilende Kraft der Offenheit
  31. Die Kunst, magische Energie zu lenken
  32. Von der Fessel der falschen Hoffnung
  33. Von der Freude, sich selbst zu täuschen
  34. Zur Zaubermacht der Gedanken
  35. Vom falschen Zauber der Schönheit
  36. Das Haus der Magie hat viele Wohnungen
  37. Die wundersame Wandlung der Schatten
  38. Vom Nutzen rechter Disziplin
  39. Vom Glück der Vergesslichkeit
  40. Der wahre Meister ist der Meister des Zweifels
  41. Von bleischweren Träumereien
  42. Von den Engeln des Nordens
  43. Eos, die Göttin der Morgenröte
  44. Im Mittag irrlichtern Pans Geister
  45. Die Sonne zieht die Lebensgeister in die Nacht
  46. Von der Kunst, Blitze zu bündeln
  47. Zur Kunst der Kapitulation
  48. Vom Zauber der Nüchternheit
  49. Von der Kunst, Dinge gültig zu beenden
  50. Von der Ausschüttung des Bewusstseins
  51. Sieh, wie die Dunkelheit das Licht nährt
  52. Die zauberhafte Kraft der Sympathien
  53. Von der Leichtigkeit, weise zu herrschen
  54. Eindeutig ist die Magie, zweideutig der Magier
  55. Von der Macht der Dunkelheit
  56. Von der Wahrheit jenseits des Horizonts
  57. Von der Schule der Irr- und Umwege
  58. Vom flüchtigen Zauber des Hier und Jetzt
  59. Vom Zauber, flügge werden zu dürfen
  60. Von der Zaubermacht des Schlafes
  61. Von der Versuchung des Drachentöters
  62. Zur Magie des Neubeginns
  63. Von der zauberhaften List der Bescheidenheit
  64. Von der bewahrenden Kraft der Magie
  65. Vom Mut, sich aufrichtig enttäuschen zu lassen
  66. Nicht jeder Reigen ist zauberhaft
  67. Mit sanfter Hand die Kraft bezwingen
  68. Von der Zaubermacht der Träume
  69. Zur magischen Kraft des Magiers
  70. Der Zauber liegt im Auge des Betrachters
  71. Vom reinigenden Feuer
  72. Von der erhebenden Kraft der Winde
  73. Von der gestaltenden Kraft der Erde
  74. Vom wandelbaren Fluss der Bewegung
  75. Von der tragenden Kraft der Elemente
  76. Das stille Wunder des Geistes
  77. Liebe, das unbekannte siebte Element
  78. Von der Notwendigkeit, sich selbst zu befreien
  79. Wundersam ist der Zauber der Zufriedenheit
  80. Süß ist der Duft der Erkenntnis
  81. Ursache und Wirkung unterbrechen
  82. Vergeblich ist es, die Seligkeit zu horten
  83. Wissen nimmt den Zauber
  84. Die Zauberkraft des Ausgleichs
  85. Zauberhafter Abschied von den Vorurteilen
  86. Geduld lässt die magische Kraft reifen
  87. Gedanken, die sich gern im Kreise drehen
  88. Weiße Magie ist eine unteilbare Kraft
  89. Heilsame Blessuren
  90. Hinter der Kulisse die Kulisse entdecken
  91. Zauberhafte Launen stiftet der Mond
  92. Den Palast der Magie betreten
  93. Unverständlich ist die Wahrheit
  94. Geduld ist eine Himmelsmacht
  95. Wahrer Zauber ist ein Fluss voll Liebe
  96. Zur magischen Kunst der Unterbrechung
  97. Die Gedanken sind frei
  98. Zauberhaft ist das Lied der Schönheit
  99. Tief reicht der Zauber des Unbewussten
  100. Magie als falscher Trost
  101. Der Kreislauf entrinnt sich selbst
  102. Vom guten und vom schlechten Zweifel
  103. Zauberkräftig ist die Einsicht
  104. Zauberhaft ist die Freundschaft mit sich selbst
  105. Schier grenzenlos ist die Magie
  106. Irrtum ist aller Zauber Anfang
  107. Vom Nutzen des Falschen
  108. Vom falschen Zweck der Magie
  109. Vom Verlust der Magie um der Magie willen
  110. Jeden Tag wird die Welt neu geschaffen
  111. Vom Mitleid der Meister
  112. Von der Mühe, seine Seele rein zu halten
  113. Vom magischen Handwerk
  114. Von der Unsicherheit der Helden
  115. Ein weiterer Versuch, Liebe zu erklären
  116. Verloren sind der Meister wie der Schüler
  117. Die Durchschnittlichkeit überwinden
  118. Zwei Seiten einer Medaille überblicken
  119. Von der Ratlosigkeit der Ratlosen
  120. Die Versuchung irdischen Glücks
  121. Vom stillen Wert der Erfahrung
  122. Wie sich der Blick im Zauber verliert
  123. Magie ist keine Zauberei
  124. Die Zaubermacht der Einbildung
  125. Im Tod schöpft sich das Leben
  126. Im Dreieck klärt sich der Zauber
  127. Dreimal schließt sich der Zauberkreis
  128. Zauberkraft ist Schöpferkraft
  129. Leichtfüßig will der Magier sein
  130. Schwer ist das Gesetzbuch der Magie
  131. Die Beschränkung der Feinde
  132. Wie innen, so außen und dergleichen mehr
  133. Vom magischen Binden und Lösen
  134. Vom magischen Schweigen und Sprechen
  135. Zu den Versuchungen der Magie
  136. Einem Fährmann gleich ist die Magie
  137. Mit Leidenschaft um die Magie werben
  138. Der Wille färbt den Zauber
  139. Von der Häutung des Himmels
  140. Magisch tönt das eigene Echo im Ohr
  141. Wer den Kreis weiht, heiligt den Ort
  142. Zwei Weisen versiegenden Zaubers
  143. Von der Kunst, ein Engel zu werden
  144. Vom magischen Reichtum der Empfindungen
  145. Von der Klarheit der Zeichen
  146. Magische Klingelschilder
  147. Der Traum von der Allverbundenheit
  148. Selbstbesonnen ist der Weg
  149. Körperhaft ist die magische Schwingung
  150. Vom gerechten Ausgleich der Energien
  151. Erleuchtet scheint jede Illusion
  152. Wie man selbst zum Engel wird
  153. Von der sichtbaren Erscheinung des Magiers
  154. Das leere Ritual und das volle Leben
  155. Von der Güte der Energien
  156. Die Flamme über der Pyramide
  157. Von der Tugend der rechten Abweisung
  158. Der wahre Zauber gehört dem Mutigen
  159. Der Weg ist nicht das Ziel
  160. Vom Trieb und dem Getriebensein
  161. Ein Versuch, die Welt auf den Kopf zu stellen
  162. Von der ehrlichen Lust an der Lust
  163. Von der falschen Sehnsucht nach Harmonie
  164. Zu den karmischen Eitelkeiten
  165. Schöpferisch darf der Abbruch sein
  166. Vom Übertritt in eine andere Sphäre
  167. Heile Bewegung ist lebendiger Stillstand
  168. Die Lösung für weitere Lösungen
  169. Fünffach ist der Zauber der Versuchung
  170. Riskant ist der Weg der Magie
  171. Die Geister bannt das Alter
  172. Die Magie hinter der Magie
  173. Von der Tugend des Mitleids
  174. Die Magie ist ein rauschendes Fest
  175. Ein roter Strom ist die Magie
  176. Vom Hochmut, hell und dunkel zu vermischen
  177. Wahre Fülle ist allein himmlische Fülle
  178. Von Fall zu Fall der Magie näher kommen
  179. Die Reise hat noch nicht begonnen
  180. Wenn sich die Ziele als Ziele offenbaren
  181. Den Lauf der Dinge akzeptieren lernen
  182. Der Zauber hinter dem Zauber
  183. Von der Schönheit des Endens

Vorwort

Die Idee zu diesem magischen Stundenbuch entstand aus der Betrachtung der früher üblichen Stundenbücher, die als Andachtsbücher eine Jahrhunderte alte Gepflogenheit privater Kontemplation begründeten. Der Gedanke, eine gleichermaßen andächtige Näherung an den magischen Raum zu schaffen, lag sehr nahe. Ihn erhielt insbesondere der mir vielfach vorgetragene Wunsch meiner Leser, das "Zaubern" erlernen zu wollen. Ein Wunsch, der durch die Beschreibung magischer Welten in populärer Fantasyliteratur anhaltend genährt wird. Dass dieser Wunsch zudem ganz allgemein auf fruchtbaren Boden fiel, liegt teilweise auch an einer immer mehr unüberschaubar werdenden Welt, in der sich der Einzelne magisch wirkenden Kräften ausgesetzt fühlt, da er die tatsächlichen Ursachen seiner erlebten Bedrängung nicht mehr klar benennbaren Ereignissen zuordnen kann. Insofern wächst der Wunsch nach Mächtigkeit. Ein Wunsch freilich, der sich durch die Magie so nicht erfüllen lässt.

Allerdings ist in diesem Wunsch nach Mächtigkeit auch der uneingestandene Wunsch nach Wiederherstellung seiner durch die Mitwelt angegriffenen Integrität versteckt. Man möchte wieder heil werden und verspricht sich die Erlangung und vor allem die Bewahrung dieses Heilseins durch Magie. Sofern in diesem stillen Wunsch nicht das unbedachte Verlangen nach magischen Rezepten steckt, sondern das Sehnen nach einem heilen Raum, in dem man zu sich selbst finden kann, und diese Selbstfindung als ein magisches Wirken verstanden wird, mag die Magie die zu Recht angesprochene Kraft sein. Ist sie doch stets ein räumliches Wirken, wenn auch vornehmlich ein Wirken in transzendenten Sphären. Dennoch ist sie die uns nahe Kraft, die die Sphären zu überwinden vermag und sowohl aus dem Dinglichen ins Geistige als auch umgekehrt gestaltend wirkt.

Aus der Begegnung mit dieser wiederkehrenden Forderung wuchs meiner ursprünglichen Idee nach einem magischen Stundenbuch allmählich ein fester Grund zu. Denn, so mein weiterer Gedanke, wie soll sich der magische Raum erschließen lassen, wenn nicht durch einen im Fassbaren bereitgestellten Raum? Mit einer Sammlung magischer Kontemplationen wollte ich die Skizze eines Raumes anfertigen, der durch die Beschäftigung mit ihm zur erfahrbaren Wirklichkeit werden sollte. Mit diesem Gedanken wurde die Idee rund und drängte zur Gestalt. So war es mir schließlich möglich, der Tradition der mittelalterlichen Stundenbücher folgend, eine neue Form zu finden und die so lange in mir waltende Idee zu realisieren.

Gleichzeitig ist die hiermit verkörperte Idee der Ausdruck meiner Hoffnung, dem vernommenen Wunsch nach spirituellem Heilsein ein Fundament zu geben, von dem aus er zur Wirklichkeit wird. Dass diese Wirklichkeit geschehen möge, ist mein Wunsch an den Leser.

München, im Herbst 2004

M.M.

Vorwort zur 2. Auflage in der Reihe Theurgia

Dieses Buch ist mir längst selbst zum Stundenbuch geworden. Ich blättere gerne in ihm und finde mich mit ihm häufig in stiller Betrachtung und Zwiesprache wieder. Seine Kontemplationen wirken auf mich wie Blumen der Weisheit, die sich in wandelnder Schönheit jeden Morgen aufs neue öffnen.

Das Stundenbuch der weißen Magie erscheint seit nunmehr zwei Jahren in der Reihe Theurgia und bleibt somit seinen Lesern, die mit ihm arbeiten und es weiterempfehlen, auf Dauer erhalten. Wegen seines besonderen Charakters eines Breviers, das den Leser über lange Zeit begleiten wird, wurde es als Hartband konzipiert. Hierzu wurde es von mir nochmals gründlich durchgesehen und die angebotenen Kontemplationen durch kleine Änderungen und Ergänzungen verschiedentlich vertieft beziehungsweise abgerundet. Geringfügige Korrekturen wurden zudem bei der hier vorliegenden zweiten Auflage berücksichtigt.

München, im Frühling 2009

M.M.

Einleitung

Zur Entwicklung der historischen Stundenbücher

Stundenbücher sind ein Bestandteil abendländischer Kultur; und sie sind sowohl Ausdruck einer tiefverwurzelten Frömmigkeit als auch Ausweis mittelalterlicher Buchkunst. Gleichwohl wirken die Stundenbücher und ihre Prinzipien der Andacht bis in die Liturgie unserer Zeit hinein. Grundsätzlich begreift man als Stundenbücher illustrierte Andachts- und Gebetbücher, die den Christen dazu dienten, ihren Alltag mit Gebeten und Besinnung zu strukturieren.

Im 14. Jahrhundert tauchten erstmals Stundenbücher auf, die sich aus den Breviers der Kleriker und dem täglichen Gebetszyklus der Mönche ableiteten. Seit dem 11. Jahrhundert wurden diese Breviers verfasst, die den reisenden Mönchen dazu dienlich waren, das ihnen vorgeschriebene Gebet auch außerhalb der klösterlichen Gemeinschaft korrekt einzuhalten. Auf der weltlichen Seite ging den Stundenbüchern die Tradition der Fürstenhäuser voraus, kostbare Gebetbücher zu besitzen. Seit der karolingischen Zeit war es dem hochgestellten Adel ein Bedürfnis, private Andachtsbücher zu besitzen, die entsprechend wertvoll gestaltet und ausgeschmückt waren. Beides also, hier mönchische Frömmigkeit, da adelige Prunksucht, verband sich in den aufkommenden Stundenbüchern. Dementsprechend skeptisch wurden sie anfänglich auch vom Klerus aufgenommen, da sie eine Profanierung der Breviers wie der Gebetszeiten darstellten.

Für Laiengebetbücher wurden meist die Anhänge der Breviers verwendet, die sich aus den Gebeten zu Ehren der Gottesmutter, dem gekreuzigten Heiland, den sieben Bußpsalmen und der Allerheiligenlitanei zusammensetzten und auch Gebete zur Totenvigil, der nächtlichen Wache am Sarg eines Verstorbenen, enthielten. Die Gebete zu Ehren Marias nannte man auch „kleine Horen“ oder „kleine Tagzeiten“, da sie im Gegensatz zur mönchischen Tageinteilung nur vier Gebetszeiten vorschrieben. So betete der Laie am Morgen, zu Mittag sowie zum Abend und zur Nacht. Dagegen begann das erste Gebet der Mönche, die Mette oder Matutin, zur Mitternacht. Ihm folgte die Laudes, das Morgengebet nach der Mette gegen drei Uhr früh; dann die Prim, die erste Stunde zu Arbeitsbeginn, darauf die Terz in der dritten Stunde. Ihr folgte zu Mittag in der sechsten Stunde die Sext und am Nachmittag die Non zur neunten Stunde. Die Vesper war das Gebet am Ende des Arbeitstages. Beendet wurde der alltägliche Gebetszyklus mit der Komplet als dem eigentlichen Nachtgebet.

Auch wenn sich das Stundenbuch der Laien an diesen Ordensregeln und deren Breviers orientierte, war es doch eher ein selbstverständliches wie ebenso symbolisches Zeichen von Frömmigkeit, das zudem unübersehbar mit der Demonstration eigener Wohlhabenheit als Beweis verdienter Gottgefälligkeit einherging. Denn die Stundenbücher waren oft aufwendig und somit kostspielig illustriert. Allein die hochwertigen Pergamente und Farben als auch die oft besondere Meisterschaft der Illustratoren belegen, dass die Stundenbücher zu ihrer Zeit zweifellos den Charakter von Statussymbolen besaßen. Die Illustratoren waren bei der Auswahl der Andachtsbilder einem sich allmählich herausbildenden Kanon verpflichtet, deren Gestaltung selbst war wiederum dem jeweiligen Zeitgeschmack und den dementsprechenden Ansprüchen der Künstler wie Auftraggeber unterworfen. Auffälligerweise wurden die Stundenbücher im Gegensatz zu anderen Gebetbüchern höchst selten in die jeweilige Landessprache übersetzt. Hier galt die Beibehaltung des Lateinischen vermutlich als Beleg einer vornehmen Gelehrsamkeit des Besitzers. Dass es jedenfalls auch hier mehr um den Schein ging, mag man an den teilweise haarsträubenden Fehlern im Text ablesen.

Trotz solcher Mängel waren die Bücher in Gebrauch und nicht nur gut verwahrter Schmuck. Dies war möglich, da die Gläubigen die erforderlichen Gebete ohnehin auswendig kannten und die Betrachtung der Andachtstafeln als eine eigene Art religiöser Beschaulichkeit verstanden wurde. Waren doch die Miniaturen bis ins Detail durchkomponiert und selbst die prachtvollen Bordüren von mitteilsamer Symbolik, die von den Besitzern wohl verstanden wurde. Nichts an den Darstellungen und Ausschmückungen war zufällig, vielmehr strotzten sie von der erzählenden Vielfalt einer ungewöhnlich reichen Bildersprache. Dies entsprach dem damaligen allgemeinen Lebensgefühl, in dem es ebenso wenig Zufälligkeiten und demzufolge auch keinen eigenständigen Begriff für den Zufall gab. Vielmehr lebte man in einer von Vorsehung bestimmten Welt lesbarer Zeichen, die zwar ihren Gang, aber keine in die Zukunft gerichtete Entwicklung besaß. Statt dessen verstand man das damalige Leben als ein fortwährendes Glaubensbekenntnis und biblisches Gleichnis. Danach war das gesamte Leben Religion im buchstäblichen Sinne, nämlich Rückbindung zum gefürchteten und doch zugleich erlösenden Tod, der dem Gläubigen nach entsprechender Läuterung den Übergang ins Paradies versprach.

Gemäß diesem Verständnis waren die Kosten für ein Stundenbuch bereits eine Form des Ablasses und seine Betrachtung zur Gebetszeit eine ebenso klärende Konzentration wie erbauliche Versenkung. Dies machte die Stundenbücher zu geschätzten Objekten des religiösen Menschen. Insofern hielt sich die Tradition dieser illustrierten Gebetbücher bis ins 19. Jahrhundert hinein. Danach wandelten sich die Stundenbücher mehr oder minder zu schlichten Gebetbüchern. Die Tagzeiten als solche aber blieben für Kleriker wie Laien bis heute gegenwärtig. So gelobt der Diakon bei seiner Weihe zum Priester, seine alltäglichen Gebete zu verrichten, wofür ihm nach wie vor eigene Breviers in die Hand gegeben werden. Auch für den gläubigen Laien werden noch Stundenbücher zur alltäglichen Besinnung verlegt, so wie auch die kleinen Tagzeiten in den Kirchen weiterhin begangen werden. Insbesondere die Vesper ist eine von der Gemeinde reichlich genutzte Gelegenheit zum gemeinsamen abendlichen Gebet in der Kirche.

Zuletzt wurden die Gebetsregeln zu den Tagzeiten und die Anforderungen an zeitgemäße Stundenbücher 1963 auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil reformiert.

Zur Idee des magischen Stundenbuches

Das vorliegende Stundenbuch der weißen Magie wirkt hinsichtlich der Tradition der christlichen Stundenbücher zunächst als ein Widerspruch in sich. Scheinen doch Magie und Christentum vorderhand zwei grundsätzlich unvereinbare Weltauffassungen zu sein. Sofern man an Hexerei und schwarze Magie denkt, trifft dies ohne Abrede zu. Andererseits gibt es im Christentum durchaus auch eine magische Tradition. Damit sind keineswegs die Rituale und Zeremonien des Gottesdienstes, der Sakramente und der allgemeinen Seelsorge gemeint, die erkennbare magische Momente in sich bergen und bei abergläubischen wie afterreligiösen Zauberhandlungen nachgeäfft werden.

Vielmehr begleitete das Christentum von jeher eine als Theurgie bezeichnete Form der Magie, die über die Naturerkenntnis zur Gotteserkenntnis führen sollte. Wobei mit Naturerkenntnis keine kontemplative Naturbetrachtung gemeint war, sondern die Entdeckung des göttlichen Geistes als vom begnadeten Magier wahrnehmbare Manifestation in der dinglichen Welt. Denn da, so der primäre Gedanke, die Welt eine Schöpfung Gottes war, musste sich ihr Schöpfer auch in den Gesetzmäßigkeiten der Natur offenbaren. Allerdings suchte man hier nicht nach wissenschaftlichen Gesetzmäßigkeiten im heutigen Sinne, sondern nach den Entsprechungen von Erscheinung und vorausgesetzter Idee.

So sah etwa das gemeine Volk in simpler Übertragung in einem herzförmigen Blatt einen Bezug zum tatsächlichen Herzen und darüber hinaus zum Herzen der Gottesmutter, und versuchte stellvertretend durch Manipulation des Blattes, das eine wie das andere zu beschwören. Dagegen erblickte der akademische Geist beispielsweise im Licht des Merkurs den Erzengel Raphael und vermutete in ihm zugleich die Eigenschaften des Quecksilbers. Dementsprechend wurden die Planetensymbole stellvertretend zugeordnet. Die Belebung des jeweiligen Symbols durch magische Besprechung und Einbindung in magische Formeln sollte eine gleichwertige Anregung in einer höheren Ebene bewirken, so wie auch der Pathos des Höheren über das Symbol eine entsprechend analoge Ergriffenheit in der niederen Sphäre auslösen sollte. In dieser Weise ließen sich die Dämonen und Engel beschwören und zitieren, wodurch letztlich die erkennende Seele des Magiers zu tieferem Gottesverständnis gelangen würde. Agrippa von Nettesheim und Paracelsus waren zwei auch heute noch gemeinhin bekannte Vertreter dieser Auffassung einer theurgischen Magie.

Vor diesem Hintergrund betrachtet bietet die weiße Magie, die bis heute unverändert als Theurgie aufgefasst wird, eine spirituelle Sicht auf die Welt, die eher eine Ergänzung als einen Widerspruch zu den bekannten religiösen Vorstellungen darstellt.1

Ebenso ist ein Stundenbuch der weißen Magie kein anstößiger Gegensatz zum tradierten Stundenbuch, sondern vielmehr eine erlaubte Adaption, durch die die abendländische Übung der Kontemplation fortgeschrieben wird. Jene Form stiller Vertiefung durch Anschauung ist damit gemeint, bei der der Betrachter gleichzeitig zu seiner Schau in sich zurücktritt. Das Schauen als solches wird hierdurch zur Lösung von sich selbst. – Nicht mehr ich schaue, sondern es schaut. Gelingt dies, offenbart sich das Geschaute über seine bloße Sichtbarkeit hinaus. Seine gehobene Transzendenz wird zur sich kundtuenden Gegenwart einer ungeahnten spirituellen Dimension.

Derart tiefe Kontemplation anzustoßen, zu fördern und stetig zu machen, war der Grundgedanke, der dem Stundenbuch der weißen Magie vorausging. Gleichermaßen sollte mit diesem Stundenbuch auch ein echtes Zauberbuch entstehen, das dem an der weißen Magie Interessierten ein Wegweiser und Schlüssel zum magischen Raum wird. Als ein Zauberbuch ist das Buch ein Paradoxon. Damit steht es ganz in der Tradition der Magie, die wie jede tiefergehende Magie von jeher auch die Kunst des Umgangs mit dem Widersprüchlichen ist. Das Buch wird bereits durch seine bloße Existenz zu einem in die Welt getretenen fassbaren Zauber. Es ist in seiner Gesamtheit eine Form „geronnener“ Magie und zugleich ein Hort pulsierender magischer Kraft, aus dem schließlich durch das lesende Verständnis seines Benutzers weißmagische Energie zu fließen beginnt.

Folgerichtig darf man die Betrachtungen in diesem Buch als ein Stück Esoterik in ihrer ursprünglichen Bedeutung verstehen. Denn das spirituelle Geheimnis liegt für jedermanns Augen offen zu Tage. Ein jeder darf es sehen und ergreifen. Doch nur der Eingeweihte wird das Geheimnis bemerken und entschlüsseln. Da zudem ein wahres Geheimnis in sich stets ein noch tieferes Geheimnis verbirgt, ist die Enthüllung des ersten Geheimnisses der Beginn einer langen Reise, während der sich die Wahrheit immer weiter entfaltet und sich in vielen Farben und Facetten zeigt. Diese Vielfalt zu einen ist dabei die Forderung. Wem es letztlich gelingt, die Bilder wieder zu einem Bild beziehungsweise zu einer gültigen Stimmung zusammenzufassen, der rundet das Geheimnis. Diese Geschlossenheit, in der man selbst zum Einbezogenen wird, ohne darin noch erkennbarer Part zu sein, macht die eigentliche Wahrnehmung der Transzendenz aus und führt zur ersehnten Tiefe wahrer Kontemplation – der bekannte Raum verliert sich, dafür öffnet sich ein geistlicher Raum.

Diese esoterische Verschlüsselung ist für sich bereits ein Paradox, das darin besteht, ein Geheimnis als Geheimnis zu bewahren, indem man es öffentlich macht. Zugleich ist das Paradoxe ein magisches Prinzip. Das umfassende Erkennen magischer Widersprüchlichkeit, indem man das Irreale der Magie erfasst und doch gleichzeitig seine Realität nicht leugnet, ist der erste Schritt zur Annäherung an den magischen Raum. Ihm folgen viele weitere Schritte, in denen sich ein paradoxes Verständnis herausbildet, durch das sich die erkennbaren Widersprüche aufheben, weil sich in einer holistischen Sicht eine übergeordnete Logik erschließt. Auch diese Entwicklung des Verständnisses vermittelt sich intuitiv als ein räumliches Geschehen. Es entspricht fast einer sich sinnlich herausbildenden Näherung an den magischen Raum. Denn grundsätzlich basiert magisches Verständnis auf der Wahrnehmung geistiger Räume als wirklichkeitsnahe Räume, die letztlich als greifbare Räume vom eigenen Geist erfasst, durchwirkt und bezogen werden.

Begreift man dieser Sicht folgend das vorliegende Stundenbuch als eine Beschreibung des magischen Raumes, wird die Beschäftigung mit ihm zu einem Paternoster, einem Kreislauf, der den Adepten in unbemerkten Wendeln auf dem magischen Weg tiefer und tiefer in den Raum hineinführt. Man schreitet voran, auch wenn man sich oberflächlich gesehen wiederholt durch die verschiedenen Stationen bewegt. Denn durch die aufdeckende Beschäftigung mit den jeweiligen Geheimnissen der Stationen wandelt man sich und erschließt sich neue Rätsel. Aus der Wiederholung wird eine Disziplin der Wandlung. Zunahme und Wegnahme zeichnen diesen Prozess aus. Wir erlangen lebendiges Wissen, indem wir totes Wissen verlieren. Es ist die angewandte Lösung des uralten Paradoxons: Wer weiß, weiß nichts; wer dies weiß, weiß alles. Darüberhinaus haben Zunahme und Wegnahme in weiterer Weise Bedeutung. Wir sammeln durch das Voranschreiten auf dem Wege Ballast an und verlieren ihn durch unsere Wandlung wieder. Regeln und Gesetze, Ansichten und Urteile, Stimmungen und Temperamente lösen sich und formen sich erneut, um sich zu lösen. Am Ende aber steht letztgültige Lösung, die gleichermaßen himmlische Sammlung ist.

Zur Form des magischen Stundenbuches

Das strukturgebende Maß für dieses Stundenbuch ist in seinem wesentlichen Kern zweifellos der kontemplative Geist, der sich durch die Andacht über den tradierten Stundenbüchern formte. Er ist eine über Jahrhunderte ausgebildete Geisteshaltung, die uns als erhaltenes Phänomen auch heute noch ohne weiteres zugänglich ist. Die Anbindung an die geistige Essenz dieser kontemplativen Ausformung, gewissermaßen als Anbindung an den spiritus horae, erlaubt es andererseits, überkommene Formen zu übergehen, um aus der wesentlichen Kraft zu schöpfen und deren Geist neu zu beleben. Deswegen orientiert sich dieses Stundenbuch nicht an den überlieferten Tagzeiten und Kalendarien, sondern misst sich allein daran, Wege zur weißen Magie aufzuzeichnen und Möglichkeiten zu schaffen, ihren Raum aufzuschließen.

Das Stundenbuch umfasst 183 Kontemplationen. Das sind für die Hälfte eines Jahres alltäglich eine Betrachtung, sofern man sich pro Tag mit dem Lied einer Seite auseinandersetzt.2 Gleich einem Lied sind in diesen Kontemplationen Stimmungen verschlüsselt, die sich sowohl inhaltlich, wie begrifflich, als auch über den Rhythmus der Sprache erschließen. Aus diesem Grunde empfiehlt sich beim Lesen der Texte der gesprochene Vortrag. Hierdurch entsteht eine weitere Ebene, die ein noch feineres Verständnis und Eingehen in die angestoßene und sich entfaltende Schau erlaubt.

Einen weiteren Rhythmus erlaubt die Einteilung des Stundenbuches in drei sichtbare Abschnitte zu jeweils 61 Kontemplationen. Folgt man ihm, kann man jeweils eine Betrachtung zu den drei Tagzeiten Morgen, Mittag und Abend lesen. Dieser Rhythmus wurde in verwandter Weise bei der Reihung der Kontemplationen berücksichtigt. Danach reicht der Morgen bis zum 61. Lied, der Mittag bis zum 122. Lied, während das letzte Drittel zum Abend zählt.

Die Einteilung und Bezifferung der Lieder lässt den in der Zahlensymbolik Bewanderten zu Recht aufhorchen. Steht doch die 61 als babylonische Zahl für den Neuanfang, da um Eins mehr als die große Zahl. Bezüglich ihres symbolhaften Temperaments ist sie dem Ouroboros ähnlich, der sich in den Schwanz beißenden Schlange, beziehungsweise dem Drachen, der sich sein Schwanzende ins Maul legt. Dies sind Symbole der ewigen Wiederkehr und Wandlung. Die Schlange frisst sich selbst, um sich neu zu gebären. Hierin ist zugleich ein himmlisches Symbol verborgen, das der Sternenkundige im auf- und absteigenden Mondknoten erkennt. Diese tändelnde Wanderung des Mondes um die Sonnenbahn ist ein nächtliches Gleichnis am Firmament, in dem wir die aufsteigende Schlange Kundalini wiederfinden, jene mysteriöse Kraft der Erleuchtung, die gebändigt angeblich den wahren Meister auszeichnet.

Die Zahlensymbolik ist freilich nicht die einzige hintergründige Linie, die bei der Zusammenstellung der Kontemplationen berücksichtigt wurde. Vielmehr wirkten als stimmungsformende Impulse bei der Erstellung der Texte auch die Temperamente des Jahreskreises mit. Neben astrologischen Charakteren waren es vor allem archetypische Bilder, die bewusst gehoben wurden, um sie gleichsam als konservierte Impulse in den Text zu geben. Hier harren sie für den Leser der Entdeckung und dienen als Anstoß zur Belebung eigener Bilder, auf dass sich der in den Text gegebene Zauber erneut schöpft und sich selbst schöpfend wandelt. Denn das eigentliche Geheimnis jedes Zaubers und Rituals liegt niemals in seiner Wiederholung. Vielmehr ist es seine lebendige Offenbarung allein, die für sich ursprüngliche Schöpfung ist. Es ist die Gegenwärtigkeit der angerufenen Kraft, die einen Zauber wirksam krönt. Ohne ihre Unmittelbarkeit bleibt ein Zauber allenfalls eine Demonstration des Willens und ein zeremonielles Erfahren.

Allerdings sollten diese hintergründigen Fäden bei der Rezeption der Kontemplationen auch hintergründig bleiben. Denn sie boten bei der Erstellung des Stundenbuches nur leitende Struktur, die selbst nie unmittelbar zum Thema wurde. Statt dessen war diese Struktur das Gerüst, das der Zauber des Wortes umhüllend umfloss. In diesem das Wort als Schöpfung begreifenden Sinne ist dieses Stundenbuch ein echtes Zauberbuch und deshalb manifestierte Magie.

Die Einteilung der 183 Kontemplationen in Losung, Versenkung und Stimmung folgt wiederum der Vorstellung des Liedes, indem eine auf die jeweilige Gestimmtheit gezielte schöpferische Spannung erzeugt wird, durch die eine gleichwertige Anwandlung beim Leser angestimmt werden soll. Gleichzeitig bietet diese Unterteilung Gelegenheit, das Thema aus verschiedenen Perspektiven zu betrachten. Ein erster Anstoß ist indes der Liedtitel. Eher selten ist er inhaltliche Aussage allein, dafür häufig Richtungsweiser wie Widerspruch. So bleibt offen, ob er in die Irre führt oder uns das Ziel dartut, und warnt uns dergestalt, die Betrachtung nie schlüssig zu beenden.

Die vorangehende Losung stellt eine Verdichtung dar, die sich durch angeregte Nachdenklichkeit über ihren verknappten Sinn entfalten und hierdurch zu einer atmosphärische Sicht verhelfen soll. Diese sich öffnende sphärische Blüte mag den Duft stiften, der bei der folgenden glücklichen Auseinandersetzung mit dem Thema der Versenkung den Raum füllt. Der Raum soll sinnlich wahrnehmbar sein. Die kompakte Schrift der Versenkung ist gewollte Form. Einerseits entspricht sie dem Fluss der Schau, die stets gegenwärtig aus sich selbst schöpfend die gewohnten Entwicklungsschritte einer linearen Zeitauffassung verneint. Es ist gewissermaßen eine holistische Bildung, die hier wirksam wird. Gleichzeitig verschleiert die kompakte Form die versteckten Verse, die es zu entdecken gilt und die bei in sich wandelndem Maß wiederum den Text wandeln und neue Ausblicke eröffnen. Dass nichts verborgen wird, aber gerade hierdurch tiefere Strukturen und Einblicke in sehr dichter Weise vermittelt werden, steht in der Tradition magischer Esoterik. Dies gleicht dem symbolisch verschlüsselten Bild, ähnlich dem Andachtsbild eines mittelalterlichen Stundenbuches, das in sich eine verzweigte Geschichte trägt, die nur der Kundige und sich in das Bild Vertiefende zu lesen weiß, während sich der Unkundige an der Anmut des Bildes erfreut und nur in stiller Weise von seiner unerkannten Tiefe berührt wird. Freilich kann aus der Häufigkeit solcher Berührung auch das tiefere Verständnis geweckt werden und der Schleier von den Augen fallen. Solche Augenblicke sind wahre Momente der Initiation, die dank der gebotenen Kontemplationen mögliche Widerfahrungen sein sollten.

Die sich an die Versenkung anschließende Frage soll wiederum eine Beziehung zum Alltag und zur Welt der Dinge knüpfen. Denn Magie ist ebenso ein greifbares Geschehen in der Welt und nicht nur in phantasierten Räumen, was bedeutet, dass Magie ebenso wie die durch die Kontemplation erlangte Anschauung auch das praktische Handeln durchwirken sollte.

Die abschließend skizzierte Stimmung sollte keineswegs nur als Ausklang verstanden werden. Vielmehr umreißt sie auch eine rituelle Situation praktizierten Zaubers. Diese Zauberpraxis wird allerdings nur angedeutet und bietet von daher keine konkrete Anleitung. Jedoch wird sie bis in Einzelheiten verstanden sein, sofern die vorangestellten Stationen der Kontemplation zueinander in Harmonie schwingen. Solche Harmonie stellt sich ein, wenn durch die Tiefe der Schau die Kontemplation als Weihe durchlebt wird. Hierbei verkehrt sie sich vom durchdachten Gegenüber zum räumlich wahrgenommenen Phänomen. Wir fühlen uns berührt und erfahren diese Berührung als ein begnadetes Geschehen. In diesem Moment mag sich dann das gegebene Bild runden und sich die Begegnung mit dem Höchsten einstellen. Dies ist dann auch der Augenblick, in dem die abschließende Bitte ihren Adressaten finden wird. Der Schritt ist getan. Er mag darauf an einem anderen Tag in gänzlich neuer Weise recht gesetzt werden.


1 Zudem hat sich der Begriff des Breviers inhaltlich längst vom ursprünglichen Gebetsbuch für Kleriker entfernt. Heute wird er gerne als Titel für kompakte Monografien gewählt. Gleiches gilt für den Begriff des Stundenbuches, der heute ebenso allgemein für verschiedene Ausformungen von Erbauungsliteratur benutzt wird.

2 Es ist die besonders dichte Form der Texte, die sie erkennbar mit den Eigenschaften von Liedern verbindet und deshalb diesen Begriff nahe legt, um sie zu umschreiben.

Das Stundenbuch der weißen Magie

Ein Tautropfen fängt

Das Licht der Morgensonne

Am Halm perlt Schöpfung.

1

Zur Magie der Weile

Losung

Zeitlos ist der Zeit habende. Sich Zeit zu nehmen vermag nur, wer Zeit hat. Zeit haben ist indes ein Luxus, der sich nicht erwerben lässt. Er fällt allein demjenigen zu, der klug zu verzichten weiß. Zeit ist aller Zauber Anfang.

Versenkung

Gut beschienen blicke ich weder zurück zum Anfang noch voraus auf das Ende des Pfades. Ich stehe an meinem Platz und sehe mich um, und in dieser Umschau entdecke ich die Richtung, in die mein nächster Schritt mich führt. Die Bewegung allein ist meine Freude. Sie ist ohne Richtung. Der Schatten dessen, der im Ziel stehen wird, weilt neben mir. Ich spanne meinen Bogen und sende meinen Pfeil in den Himmel. Ich verharre. Mein Pfeil stürzt aus dem Himmel zurück und trifft meinen Schatten. Ich lege den Pfeil in meinen Köcher zurück. Der mit mir weilende Schatten fällt von mir. Ich blicke mich um und setze erneut einen Schritt. Ich werfe keinen Schatten mehr. Die Bewegung fließt. Anfang und Ende sind entrückt. Wieder sende ich einen Pfeil in den Himmel. Er sirrt davon und fällt nicht mehr zurück. Die Bewegung fließt ohne Weile in alle Weile.

Kann ich mein Ziel aus den Augen verlieren, ohne mich darob zu ängstigen?

Stimmung

Handle ich im Augenblick, überwinde ich alle Vorsätze. Das, was ich jetzt tue, ist für sich bereits Erfüllung. Es zielt auf nichts. Darum darf ich meine Hände in den Schoß legen und auf das lauschen, was um mich waltet. Ich sammle mich und bitte um Teilhabe an diesem Walten. Ergreift mich seine Bewegung, bitte ich darum, mich auch ergreifen zu lassen. Ich bitte für diesen Tag und um die kraftvolle Leichtigkeit, auf ihn zu schauen. Möge mich diese ehrliche Bitte Tag um Tag durchs Jahr begleiten.

2

Zur Magie des Versagens

Losung

Der Traum von der Fülle ist der Traum des Durstigen. Wer angesichts der Fülle durstet, wird durstend in der Flut ertrinken. Dem wirklich Durstigen aber wird ein Tautropfen zum Labsal. Doch niemand träumt von einem Tautropfen.

Versenkung