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1. Auflage, September 2014

ISBN 9-783735-749741

© 2014 Thomas Schutz. Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Dies betrifft auch die Vervielfältigung und Übertragung einzelner Textabschnitte durch alle Verfahren wie Speicherung und Übertragung auf Papier, Transparente, Filme, Bänder und digitale Speichermedien, soweit es nicht §§53 und 54 URG ausdrücklich gestatten.

Herstellung und Verlag: BoD - Books on Demand, Norderstedt

Coverfoto: Leon Jacob

Illustrationen: Lucas Krupp

Umschlaggestaltung, Satz und Layout: Raphael Lechner

Inhaltsverzeichnis

Das Vermächtnis
der Wächter

bermorgen ist mein 18. Geburtstag. Mein ganzes Leben habe ich mich auf diesen Tag gefreut und tue es auch jetzt noch. Vielleicht heute mehr denn je. Einige mögen meinen, dass dies ein ganz normaler Geburtstag sei, wie jeder andere auch. Mag sein. Aber für mich bedeutet er etwas ganz besonderes. Und jeder, der glaubt, mich zu kennen, und sich Freund nennt, weiß dies auch. Doch nie hätte ich gedacht, dass ich mich auf etwas anderes noch mehr freuen könnte. Auf Morgen. Nur noch 36 Stunden. Dann werde ich einer von ihnen sein: Victor, Aiyana, Thore und ich. Eigentlich wären wir sieben. Aber keiner weiß, ob es die anderen drei oder ihre Nachfahren aus dem ersten Zeitalter noch gibt oder wo oder was mit ihnen geschehen ist. Ja, wohl wahrlich, bislang war Berlin meine kleine Welt und meine Zeitrechnung erstreckte sich von den einen Sommerferien zu den nächsten. Doch jetzt weiß ich, dass sich meine Zeitrechnung bald etwas ausdehnen wird.

Wohl an. Noch 36 Stunden. Es ist nicht die Frage, ob oder wie oder wann. Die Entscheidungen sind längst gefallen. Das ‚wie‘, ist mir zwar noch nicht bekannt, aber es blieb seit den Altvorderen nahezu unverändert. Es ist keine Mutprobe oder so was. Es geht vielmehr darum, dass man einer von ihnen wird, und um das, was man selber mit einbringt – nicht materiell, sondern eher die Person an sich. Das, was man ist. Nicht das, was man zu seien glaubt. Jack – mit diesem Namen lässt sich Victor heutzutage in Berlin anreden – gab mir die Aufgabe, mich für 36 Stunden zurückzuziehen und all das, was seit unserem ersten Treffen vor drei Jahren geschehen ist, aus meiner Sicht aufzuschreiben. Aber nicht abstrakt oder distanziert, sondern so, als würde ich, würden wir wieder dabei sein. Als würde man alles noch einmal erleben. Das Gute wie das Andere.

Bevor er mich alleine ließ, sagte er, dass am Anfang das Schreiben noch holperig und langatmig wäre, aber dann würde es Fahrt bekommen, nur noch so fließen und man könne gar nicht so schnell schreiben, wie die Erinnerungen kommen und einen übermannen. Am Ende muss ich mich für drei Dinge entscheiden, die ich mit in die Gemeinschaft einbringe: Ein Gestein, eine Pflanze und ein Tier. Aber nicht drei, die ich gerne hätte oder die ich selbst gerne wäre. Alle drei müssen zu mir passen, zu meinem Innersten selbst passen. Dann verstärken und beschützen sie mich. Wähle ich die falschen, sind sie bestenfalls neutral oder stehen mir nur im Wege. Dann bin ich zwar einer der vier, stärke aber nicht die Gemeinschaft, wie ich es hätte können, wenn ich treffender gewählt hätte.

Ein Gestein. Darüber habe ich noch nie nachgedacht. Oder eine Pflanze. Ok, mein Lieblingstier, aber darum geht es ja nicht. Zugute halten kann ich mir, dass ich der Jüngste bin, der jemals die Möglichkeit erhielt, in die Gemeinschaft aufgenommen zu werden. Und das geht nur einstimmig. Welch ein Vertrauen! Von allen! Vorher war Jack mit 19 Jahren der Jüngste. Das wusste ich. Thore hat es mir mal in einer stillen Stunde berichtet. Keiner war je jünger. Seit den Altvorderen im ersten Zeitalter bis heute. Oh, Mann. Wenn einer erahnt, wie ich mich jetzt fühle, dann er. Und er hat zugestimmt und mir meine Aufgabe gegeben. Die Aufgabe, die jeder bekam. Alle immer die gleiche Aufgabe. Aber dadurch wird es nicht leichter. Es gibt keine Musterlösung, die man auswendig lernt, und dann, tata, eine Eins.

Er denkt, ich könne es schaffen. Und das nach so kurze Zeit. Noch mehr Vertrauen. Er würde mich nicht in‘s Messer laufen lassen: hat er bislang nicht getan, also warum gerade jetzt? Außerdem wäre das Kinderkram, pillepalle, wie er zu sagen pflegt. Und wie lang er schon dabei ist. Immer auf der Suche nach den anderen dreien. Vor drei Jahren war Tjara noch dabei. Tjara, was so viel heißt wie „Engel“ oder auch „Engel der Zukunft“. Und bei ihrer Erscheinung dachte man auch sofort an einen Engel. Doch auch Engel können fallen: Damals waren sie vier, aber sie starb, wurde gestorben, ging von uns. Morgen werde ich ihren Platz einnehmen. Aber nicht als Tjara, sondern als ich. Victor, also Jack, sagte, dass keiner den anderen ersetzen könne. Niemals. Man sollte es erst gar nicht versuchen. Warum auch: „Sie ging, Du kommst. So ist das“. Er gab mir ein kleines schwarzes Buch und einen Bleistift. Klopfte mir voller Anerkennung für die bisherige Zeit auf die Schulter und ging. Na, toll.

Ok, fangen wir an.

Das kleine Buch war mit einer Art schwarzem Samt umschlagen und der hatte so eine Textur, wie es die Macs bei der Erstinstallation oft haben. Die Ecken des Buches waren mit feinen Silberarbeiten verziert und geschützt. Blank poliert. Keine Kratzer, kein Verschluss, kein Siegel. Ich schlug es auf. Kein Wasserzeichen, keine Symbole, keine Runen, kein Text. Nichts. Alles leer. Auch nicht so wie bei dem letzten Buch, das wir fanden. Nichts von all dem. Ok. Das Papier fühlte sich alt an und war es wohl auch. Ich möchte gar nicht wissen,…, aber fangen wir an. Wohl an.

Berlin, der 10.04.2013

Übermorgen ist mein 15. Geburtstag. Und am selben Tag hat auch mein ein Jahr jüngerer Bruder Julius Namenstag. Das wird ein Spaß. Horst, unser Vater,… hihi, welch‘ ein Name. Horst. Wie Bernd, das Brot, oder Karl. Ok, Beherrschung. Horst, unser Vater, ist nicht so ein typischer Horst. Ein echt guter Vater. Horst ist Hauptkommissar im Morddezernat und Anne, seine Frau, unsere Frau Mama, Innen- und Landschaftsarchitektin und leidenschaftliche Gärtnerin. Sie wollte früher Biologie studieren, doch da kam ich dazwischen. Anne und Horst werden sich für übermorgen wieder was prächtiges ausdenken. Speziell und spaßig. Wie immer. Schon cool die beiden. Es wird nie langweilig. Horst trägt immer so eine Puck-Brille mit Pornobrillentendenzen. Anne sagt, ich war schon als Baby immer von seiner Brille fasziniert und habe mit seiner Brille immer Faxen, sie aber nie kaputt gemacht oder sie fallen gelassen. Zu der Brille trägt Horst die Haare hellbraun, lang und glatt nach hinten gekämmt.

Dazu sein mittellanger Schnurrbart. Oh, Mann. Lederjacke in braun und eine Harley-Davidson. So ist Horst. Und Anne vergöttert ihn und er vergöttert Anne. Da hab‘ ich wirklich Glück gehabt. Das wird mir jeden morgen bewusst, wenn wir, Julius und ich, in unsere Klasse kommen. 81% der Eltern sind geschieden, zwei- oder auch dreimal wiederverheiratet. Das haben wir mal in einem Projekt ermittelt und uns die Köpfe heiß diskutiert, was das so bedeuten könne. Naja, unsere Klasse. Das ist so eine Doppel-D-Zug-Klasse: Wir werden mit 16 unser Abi machen. Dazu hat mich eigentlich vor zwei Jahren Finn überredet. Ja, unser Finn. Mr. Spock, sein Spitzname, trifft es wohl besser. Nur Einsen. Gedächtnisweltmeister als Knirps. Wurde ihm dann zu langweilig: nicht die Sache an sich, sondern die Formate. Karten, die Zahl Pi auf fünftausend Nachkommastellen auswendig lernen und Reihen von Nullen und Einsen memorieren. Er war damals echt speziell. Ok, heute auch noch. Doch neben seiner Logik und seinem Hirn hat er noch eine unglaubliche Beobachtungsgabe, einen erfrischend trockenen Humor und Augen wie ein Adler. Oups, ok, Finn würde wohl einen Adler als Tier wählen. Aber für mich ist Finn in erste Linie ein sehr, sehr guter Freund. Und ich nenne nicht wirklich viele so. Eigentlich nur drei. Finn, seinen kleinen Bruder Nils und Tore. Tore ist zwar zwei Jahre älter als wir und nicht in unserer Supa Dupa-Klasse, aber was macht das schon. Tore lernte ich letztes Jahr am S-Bahnhof Alexanderplatz schätzen.

„Der Tod lauert meist dort, wo man ihn am wenigsten erwartet“, sagt ein altes Sprichwort. Es war so gegen 06:00 Uhr am Sonntagmorgen. Alles war noch dunkel und nur ein Paar Verstrahlte der Nacht irrten noch zu der nächsten Party. Alles wie immer, obwohl hier in der letzten Zeit viele zusammengeschlagen wurden. Einer so sehr, dass er starb. Ich hüpfte aus der S-Bahn direkt in eine Gruppe von älteren Mädels, die ich am Abend vorher mit vielen Flaschen Wodka am Bode-Ufer gesehen haben, als sie gerade umfielen. Ja, hier in Berlin fallen halt keine Kühe um, wie auf dem Land, sondern Mädels;) Bei diesen Mädels ein Rudel brünstiger, reicher Doppel-Nullen. Alle noch jenseits. Keine wirklich gute Kombination.

„Bleib dicht hinter mir“, sagte Tore, der aus dem Nichts auftauchte. Er jonglierte mich an der Gruppe vorbei, die mich als Ziel ihrer allwöchentlichen Morgenklatsche ausgewählt hatte. Schon sauste ein leere Flasche Wodka dicht an meinem Kopf vorbei und zerkrachte an einer Plakatwand neben mir. Vor uns die Rolltreppe. Da rollten zwei der Nullen heran, einer mit einer Flasche, einer mit einem Messer. Tore wich geschickt der Flasche aus und der Schwung des Angreifers beförderte ihn selber zu Boden. Als auch schon der Zweite über ihn zu Boden fiel: Tore hatte ihn mit einem Schulterwurf – oder wie das heißt – behänd herumgewirbelt. Alles in Sekunden. Alles stand still. Alle starrten. Nichts bewegte sich. Tore rannte mit mir die Rolltreppe runter zum nächsten Taxistand. –

Verdammt. Jetzt hab ich einen Krampf in der Hand. Gerade habe ich mich so richtig gefreut, dass ich nach so langer Zeit noch so leserlich mit der Hand schreiben konnte, wie ich es vor Jahren im Kalligrafie-Kurs gelernt hatte. Und dann jetzt das. Krampf in der Hand und aus. Wenn ich jetzt… „Ah, na klar. Das hätte ich mir ja denken können“. Kaum hatte ich an mein iPad gedacht, erschien auch schon auf der Seite des Buches eine Tastatur wie auf meinem iPad. Das nenn’ ich mal eine Technologie. Cool. Ok, dann kann’s ja weiter gehen…

… Tore rannte mit mir die Rolltreppe runter zum nächsten Taxistand. Da standen zwei. Rein in‘s erste und weg. Horst sagte, als wir eine Weile später bei uns am Küchentisch saßen, dass die Aktion von Tore ziemlich riskant gewesen war: „Hätte auch anders ausgehen können“. Anne weinte und nahm uns alle drei in die Arme. Tore ist jetzt ein enger Freund der Familie und Horst, glaube ich, wünscht sich, dass Tore später mal Kommissar bei ihm wird.

Ich war mit Julius und Tore um 19:00 Uhr zur Doppelwurst bei Konnopke‘s verabredet, dem Kult-Imbiss von 1930 am historischen Standort unter den Hochbahn-Brücken der Linie U2 an der Eberswalder Straße. Eigentlich war es ein schöner Tag, der 99. Tag im Jahre 2013. Die Osterferien waren gerade vorbei und schon fiel wieder der Unterricht aus. Und zwar von heute, Mittwoch, bis erstmal Freitag wegen Lehrerstreiks. Nett. Das Wetter heute spielte bislang so lala mit. Bedeckt bei 8° Grad. Trotzdem, Wannsee: wir kommen! Aber ein Platzregen beendete unseren Ausflug schon auf dem Weg zur Tram-Haltestelle. Dazu ein kühler Wind und schon schnieften wir wieder gen Hause. „Ok, später Wurst statt Wannsee?“, fragte Julius in die Runde. Alle stimmten zu. Ich traf so gegen 18:50 Uhr bei Konnopke‘s ein und stellte mich schon mal in die Schlange, die heute dank des usseligen Wetters recht lang war. Um genau 19:05 Uhr war ich an der Reihe, aber von den anderen beiden war noch keiner da. Auch keine SMS oder so. Naja. „Ok: Eine Doppelwurst, mittelscharf, und ein Bockbier, bitte!“ Und schwups, alles kam sofort: Eine Frau machte die Kasse und holte das Bierchen aus dem Kühlschrank. Eine andere nahm die beiden Würste vom Grill und jagte sie durch die Schneidemaschine. Die dritte Frau gab dann gleich die Sauce drauf und würzte anschließend ordentlich nach. Und, tata, fertig war die Doppelwurst. Ich nahm in der hinteren Sitzecke im nächsten Häuschen platz, hielt zwei Plätze frei und begann, erstmal die Flasche aufzuplöppen. Plöpp. Herrlich. 19:30 Uhr. Mhh. Ok, zweiter Gang. Die Schlange war jetzt bedeutend kürzer, was aber eher ungewöhnlich war. Als ich wieder zur Sitzecke zurück kam, waren meine Plätze belegt. Ich fand aber auf den Holzbänken an der Straße ein Plätzchen neben zwei Frauen, die ihre beiden kleinen Kinder irgendwo rumtoben ließen. Sie quatschten und rauchten und quatschten und tranken und…: Tantentratsch deluxe. Die zweite Doppelwurst war schärfer und mir schossen sogleich die Tränen in die Augen. So muss es sein. Aber dann durchzuckte mich ein Unwohlsein. Komisch, hatte ich sonst nie. Es ließ aber nicht nach, sondern verstärkte sich eher. Irgendwie hatte ich jetzt das Gefühl, als wenn ich beobachtet werde. Tore. Julius. Ich blickte mich um. Aber außer den tratschenden Tanten, ihren zwei Knirpsen und vier Leuten war da keiner. Seltsam. Da ging ein Mann in einem schwarzen Anzug an mir vorbei, bestellte zwei Bock und ein kleines Menü, setze sich jenseits der tratschenden Tanten hin und begann zu essen. Auf einmal hörte ich alles um mich herum viel deutlicher und klarer. Unheimlich, aber cool. Den Tantentratsch, die Gespräche der Damen am Grill, die Touristen auf der anderen Straßenseite, den Familienstreit im 2. OG und den Straßenverkehr. Eigentlich ist hier 50 km/h, „aber, naja, 70 und mehr fahren die schon“, murmelte ich in mein Bockbier. Zu den lauteren Straßengeräuschen gesellte sich jetzt zum ersten Mal ein anfangs leises, dann immer lauter und höher werdendes Pfeifen, wie aus einer Hundepfeife für Menschen. Ich war auf einmal hellwach und angespannt. Gespannte Unruhe machte sich breit: Etwas stand kurz bevor. Plötzlich ging alles ganz schnell. Einer der Knirpse krabbelt unter dem Geländer direkt auf die Straße, die Ampeln sprangen auf grün und, zack, die Autos und LKWs sausten auf regennasser Fahrbahn los. Die Tanten tratschen weiter. Noch 40m. 35m. Der Mann im schwarzen Anzug sprang auf und in einem Satz über das Geländer. Ab jetzt sah ich alles in Super-Zeitlupe: Er ergriff den Knirps am Arm, während die Reifen quietschten, warf ihn und sich hoch auf die andere Seite. Bevor der Knirps auf den Boden klatschte, fing er ihn sicher auf. Kaum gelandet: Rums! Ein 40-Tonner krachte von hinten ungebremst in einen Transporter und schleuderte sie beide direkt auf sie zu.

„JACK“, schrie ich mit all meiner Kraft. Woher ich seinen Namen wußte, weiß ich bis heute nicht. Er verstand sofort. Machte, noch auf der Straße liegend, mit dem Knirps zwei Rollen zur Seite. Keine Sekunde zu spät. Einer der 40-Tonner krachte direkt neben ihnen auf den Gehsteig, schleuderte weiter und begrub eine alte Dame unter sich, bevor er gegen den Baum knallte. Stille. Aber nur kurz. Dann krachte der Transporter frontal in die wartende M1. Wieder Stille. Einer der daneben stehenden Passanten war wohl Arzt. Er alarmierte gleich alle und versorgte, so gut es ging, die alte Dame, die unter der Zugmaschine vor dem Baum eingequetscht war. Noch bevor der Notarzt eintraf, hörte er aber sichtlich betrübt auf und verdeckte den Ort mit einem Tuch vom einem nahegelegenen Obststand. Die tratschenden Tanten saßen immer noch neben mir und es dauerte eine Weile, bis die eine, wohl die Mutter, zu begreifen schien, was da gerade geschehen war. Jack hielt inzwischen den Knirps in seinen Armen und trug ihn über die Straße, an den vielen quer stehenden Autos vorbei zu der Mutter, die den beiden sitzend entgegen starrte. „Das nennt man wohl Schockstarre“, dachte ich. Erst als der Kleine schluchzend seine leicht verschrammten Arme seiner Mutter entgegenstreckte, schossen ihr die Tränen in die Auge und drückte ihren Knirps fest an sich. „Danke“, sagte nicht sie zu ihm, sondern Jack mit seiner Clint Eastwood-Stimme zu mir, „noch ein Bierchen?“ Ich nickte noch immer ganz verblüfft und benommen: „Ein Bierchen?“ Das Pfeifen war weg. Das Unwohlsein auch. Hinter mir stürzten Julius und Tore heran: „Alles klar mit Dir? Geht‘s Dir gut?“ „Ja, alles klar! Habt Ihr auch dieses Pfeifen gehört?“, fragte ich in Richtung Julius. „Pfeifen? Ne, die Autos haben eher gequietscht und gekracht“, antwortete er: „Schau! Alles ist ein einziger Schrotthaufen! Und überall Blaulicht! Es sind wohl einige LKWs und dutzend PKWs ineinander gerutscht. Zwei Trams hat‘s auch getroffen. Dazwischen eingeklemmte Fahrradfahrer und Fußgänger. Die Polizei hat alles abgesperrt und die Rettungswagen sausen nur so herum“. „Und Du, Tore, hast Du es gehört?“ „Nope. Ich war erst hier, als Du laut JACK gerufen hast. Woher kennst Du denn Berlin‘s Helden des Tages?“, fragte er voller Anerkennung. „Woher ich ihn kenne?“ Ich schaute sie hilfesuchend an: „Ich kenne ihn nicht. Nie vorher gesehen. Das ist es ja.“ Wie auf‘s Stichwort erschien Jack, der Mann in Schwarz, mit vier Flaschen Bockbier, stellte sie auf den Holztisch und wandte sich zu einem Polizisten, der von hinten auf ihn zukam. Er beantwortete all die Fragen des Polizisten und drehte sich dann wieder zu uns um. Wir hatten die Befragung aufmerksam verfolgt und selber noch eine Menge Fragen. „Erst ein Bier, dann die Fragen“, sagte er und…. Plöpp. Unsere drei Plöpps folgten einstimmig. Wir alle mussten schmunzeln. „Na, dann mal Prost!“, sagte er sichtlich amüsiert. Mann, hatten wir einen Durst! „Drüben starb eine alte Dame und wir trinken amüsiert ein Bier“, schoss es mir durch den Kopf, sagte aber nichts. Der Mann in Schwarz blickte darauf hin zur stark ramponierten Zugmaschine, wo jetzt ein Leichenwagen vorfuhr: „Den Knirps gerettet, die alte Dame tot. Du hast heute mich gerettet, Linus. Nochmals Danke. Wann immer Du meine Hilfe brauchst, werde ich da sein!“ Kurze Pause. Dann drehten Julius und Tore ihren Kopf wie beim Tennis zu mir und erwarteten meine Antwort. „Woher kennen Sie meinen Namen?“, war das Erste, was mir – neben einer Träne – wieder in den Kopf schoss. „Woher kennst Du meinen?“, konterte er. „Das ist dann meine nächste Frage an Sie“, brach es aus mir heraus, „Ich kenne Sie nicht. Nie vorher gesehen. Bevor Sie kamen, fühlte ich mich auf einmal beobachtet. Dann kamen Sie. Dann plötzlich dieses Pfeifen und dann ging alles los. Als der 40-Tonner Kurs auf Sie nahm, rief ich Ihren Namen. Er war einfach da“. „Präkognition. Faszinierend! Das ist ja mal‘n Ding! Und dann gleich doppelt“, ertönte es hinter mir voller Ehrfurcht. Finn hatte sich unbemerkt durch die Absperrungen geschlichen, ließ mich zu Ende berichten und brachte sich dann voller ‚Spok‘scher‘ Inbrunst in das Gespräch ein. Er war für Finn‘sche Verhältnisse einen kurzen Moment wirklich sehr aufgeregt. Dann kehrte er aber eiligst in den Spock-Modus zurück, bevor wir uns ‚Sorgen machen mussten‘. Der Mann in Schwarz blickte erst Finn, dann uns amüsiert an: „Ihr seid eine illustre Truppe“. Finn verblüffte er dann mit einer nahezu perfekten Spock-Stimme: „Präkognition trifft es zwar nicht vollständig, aber in einer ersten Näherung: akzeptabel“. Und weiter mit seine ‚normalen‘ Clint Eastwood-Stimme: „Auch ein Bier?“ Ihm hatte noch nie jemand ein Bier angeboten und, soweit ich mich erinnern kann, hat er auch noch nie eins getrunken. „Warum eigentlich nicht?“, verblüffte Finn wiederum uns. Eine Dame von Konnopke‘s hatte es wohl gehört und kam mit einer Flasche Bockbier zu uns herüber: „Für die Retter und Einsatzkräfte machen wir heute länger auf. Der Vater des geretteten Kindes will heut‘ Abend alles zahlen. Er ist gleich mit seiner Frau und dem Krankenwagen mitgefahren und…“. Doch bevor sie sichtlich aufgeregt weiter reden konnte, stürmten Julius, Tore und Finn hurtig zum Grill.

Irgendwann später – ich glaube sogar einige Wochen nach meinem Geburtstag – habe ich dann mit Finn den Begriff „Präkognition“ gegoogelt. Doch noch bevor Google Antworten vorschlug, zitierte Finn den Duden aus dem Gedächtnis wie immer wortwörtlich, exakt und beeindruckend schnell: „Laut Duden ist Prokrastination eine außersinnliche Wahrnehmung, bei der zukünftige Ereignisse vorausgesagt werden“. „Naja, ist schon seltsam“, fuhr er fort. „Erinnerst Du Dich noch an mein letztes Referat über Jack, the Ripper?, fragte er mich, ohne ernsthaft zu glauben, dass ich dieses ‚epochale‘ Ereignis unserer Schulgeschichte je vergessen könnte. Finn hatte sich für seinen Vortrag im Schlüsselkompetenzkurs „Präsentieren lernen“, den er noch vor den Pfingstferien halten sollte, den eher reißerischen Titel „Jack is back“ gewählt. Alle dachten zuerst, dass er wieder über Fraktale, chaotische Symmetrien in der Mathematik und Kunst oder über die Theorie dynamischer Systeme referiert. Auch bei der Ankündigung seines Vortragstitels eine Woche vor seinem Vortrag waren noch fast alle der Meinung, dass „Jack“ der Name eines Attraktors sei. Am Tag seiner Präsentation trug Finn schwarz. Was an sich nicht ungewöhnlich für ihn war. Das Jackett, Hemd, Hose und die Stiefel aber schon: Dior Homme anno 2007. Er sah so aus, als sei er gerade bei Hedi Slimane in Paris, Mailand oder New York vom Laufsteg gesprungen. Wahnsinn, wer hätte das gedacht. Eine irritierend-neugierige Spannung lag in der Luft: „Was mag jetzt kommen? Jack is back @Mode?“ Seine 30-minütige Keynote-Präsentation begann er dann mit den Worten: „Jack, the Ripper: Wer kennt diesen Namen nicht? Im Herbst 1888…“. Zugleich startete er bei der Jahreszahl 1888 einen Schwarz-Weiß-Videofilm und man dachte sogleich an eine arte- oder BBC-Dokumentation. Allmählich identifizierte man aber die Gebäude im Video als Gebäude in Berlin im Jahre 2013. Technisch perfekt gemacht. Der Übergänge von London auf Berlin kaum sichtbar. Cool. Er präsentierte aktuelle Fälle aus Berlin – da hat wohl Horst etwas beigesteuert –, bekannte Psycho- und Soziopathen, ihre Muster, ihre Geheimnisse und die Faszination, die diese und ‚Jack‘ heute immer noch versprühen. 29:47. Punktlandung. Alle saßen immer noch gespannt und irgendwie atemlos da. Welch‘ eine Präsentation. Man hatte das Gefühl, dass der Ripper gleich in den Klassenraum rein kommt oder vielmehr schon drin ist. Wenn Finn jetzt noch „Buh“ gesagt hätte, hätten alle vor Panik laut geschrien. Welch ein Spaß. Und welch eine Perfektion. Nie hatte jemand das Thema „Faszination Gewalt“ so scharfsinnig und aktuell, technisch und dramaturgisch so perfekt und fesselnd thematisiert. Er musste dann später seine Präsentation in vielen Klassen, am Elternabend, am Schulfest und in so manchen Bezirksarbeitskreisen wiederholen.

Als wir an diesem Tag von der Schule nach Hause gingen, fragte ich ihn, wann und wo er sein Outfit gekauft habe. „Gekauft? Hast Du eine grobe Ahnung…“, doch als er mein Schmunzeln sah, brach er ab und boxte mir präzise auf den Oberarm. „Ich bring alles nachher zurück: Bist Du dabei?“ Ich war dabei. So fuhren wir gemeinsam zu einer Havel-Insel. Mussten mit einem Boot übersetzen und tauchten ein in eine andere Welt. Und das mitten in Berlin. Wahnsinn. Das kleine Fährboot legte an und wir sprangen an Land. „Betreten auf eigene Gefahr“, stand auf dem Schild am Steg. Ok. Der steinerne Weg vom Steg führte kerzengrade in den Wald. Nach ca. 300 Meter führte er auf einen kreisförmigen Weg, von dem in jeder Himmelsrichtung wieder weitere Steinwege abgingen. „Faszinierend“, sagte Spock, ähh. Finn. Ich wußte zwar nicht was, stimmte ihm aber aus voller Überzeugung zu. „Die Villa da hinten ist es!“, sagte er voller Bewunderung. Und, in der Tat, je näher wir kamen, desto mehr waren wir jetzt beide fasziniert. Eine Art römische Landvilla mit Säulen und Skulpturen. Wie im alten Imperium. Nur halt auf einer grünen Insel mitten in Berlin. Als wir gerade auf das prachtvolle Hauptportal zugingen, kam plötzlich eine Frau im dunkelgrünen bis schwarzem Lederoutfit um die Ecke, wobei unter ihrem bodenlangen Mantel eine Art Schwert oder Dolch hervorblitzte. „Gut, dass Du auch mitgekommen bist!“, warf sie uns durchaus freundlich entgegen. „Wir sitzen hinten im Garten am Wasser. Kommt am bestem hier entlang“. Sie führte uns auf einem kleinen Steinweg durch den perfekt gepflegten Garten um die Villa herum, die ein beachtliches Ausmaß hatte. Am Ufer war eine Art Mini-Amphitheater aus hellem Sandstein, so dass der wieder schwarz gekleidete Jack als erster zu erkennen war. Neben ihm saßen noch ein gleichaltriger Mann, der mit seinen dunkelblond gelockten Haaren wie ein römischer oder keltischer Kriegerfürst aussah, und… Horst! Horst?

Voll überrascht, aber auch irgendwie erleichtert ging ich direkt zu ihm hinüber und wollte ihn gerade fragen,…, doch da ergriff Jack das Wort: „Schön das Ihr kommen konntet. Aiyana kennt Ihr ja bereits und Thore“. Doch das große schwarze Buch, das auf dem Steintisch lag, zog meine Aufmerksamkeit wie ein Magnet auf sich. Es waren eher mehrere glatte Steinplatten, in denen Symbole ‚drin‘ waren, die ich noch nie vorher gesehen hatte. Irgendwie ‚drin‘. Weder gemeißelt, noch geschrieben, aber doch sichtbar. Finn stupste mich in die Seite und machte ein Schritt auf den Steintisch zu. „NICHT ANFASSEN“, grollte Thor(e)s Stimme von hinten. Wir blieben augenblicklich stehen. Regungslos. Was für eine Stimme. „Jetzt ist es um uns geschehen (!)“, dachten wir. „Ihr seid neugierig“, sprach Jack freundlich, aber bestimmt weiter, „Gut. Das ist hilfreich. Ich habe Deinen Vater gefragt, was Dir ein Freude bereiten würde. Es gibt nur wenige, die von sich sagen könnten, dass sie mir das Leben gerettet haben“. Er reichte mir einen Briefumschlag, der auf der anderen Seite mit einem Siegel verschlossen war. Durch das Papier konnte man nicht fühlen, was darin war. Ok. Ich zerbrach das Siegel und schaute hinein. Eine Art EC-Karte. „Oh, Mann, wie cool ist das denn!“ Rasch zog ich die Karte heraus. Es war eine BahnCard 100 first. Ein Jahr Bahnfahren. Erster Klasse. Alle Züge – naja, fast alle. Zu jeder Zeit, sooft man will. Herrlich. Ich schaute noch immer ungläubig auf die Plastikkarte, auf die mein Name und die Gültigkeitsdauer in weißen Lettern gedruckt war. Ja, mein Name. Ich. Cool. Ich wußte gar nicht, wie ich mich jetzt bei wem bedanken sollte. In diesen Fällen war Finn ein wahrer Retter und Stratege: „Faszinierend“, kommentierte Finn im klassischen Spock-Stil, „da werden wir in den Sommerferien wohl ein Paar Bahnfahrten mehr machen!?“ Unser beider Blicke drehte sich zugleich zu Horst und wir setzten unsere allerliebstes Engelchengesichter auf. „Ok“, grinste Horst sichtlich amüsiert zurück, „Zwei Fünfzehnjährige. Sommerferien. Sechs Wochen bahnfahren. Allein, ohne Aufsicht?“ Jetzt von unserer Seite noch mehr allerliebste Engelchengesichter. „Wenn es Deine Eltern erlauben, Finn“, willigte Horst nach einer retardierenden Pause wohlwollend ein. Sie erlaubten es. Finn war da sehr überzeugend. Er schlug seinen Eltern vor, dass sie ihm auch eine BahnCard 100 first kaufen sollten. Dafür würde er während der ganzen Sommerferien auf seinen kleinen Bruder Nils (12) aufpassen – sprich Nils würde mit uns sechs Wochen durch Deutschland sausen, während Finn‘s Eltern sechs Wochen ein kinderfreies Haus für sich haben sollten. Ckeck: Der Deal galt.

Für Finn‘s Eltern ein kleiner Griff in die Portokasse. Finn‘s Eltern – eine Geschichte für sich. Dieses Ergebnis vorhersehend, wandte sich Finn an Jack: „Welche Punkte sollten wir ansteuern?“ Jack zückte ein Buch „The Inklings of Oxford“ und gab es uns mit den Worten: „Burgen und Schlösser. Als Ruinen oder bewohnt. Höhenburgen und Wehranlagen, Gärten und Parkanlagen mit Statuen und Skulpturen, mit Säulen und Zeichen. Schaut Euch alles genau an und hört Euch dazu die Geschichten und Sagen, Mythen und Legenden an!“, fuhr Jack fort: „Wir sollten ein kleines Grillfest feiern, bei welchem Ihr Eure Reiseroute vorstellt. Im Haus sind nette open-air Beamer, mit denen man hier alles recht ordentlich illuminieren kann. Ferner haben wir noch eine kleine Film- und Plattensammlung. Ich hörte, Ihr frönt der elektronischen Musik? Nun, da sind noch einige Schätze aus den Anfangszeiten von Kraftwerk und Depeche Mode. Und für Horst einiges von den Rolling Stones!“ Damit war das Fest beschlossen. Mir war zwar nicht ganz klar, was wir eigentlich feierten. Macht aber nichts. Wir feierten trotzdem alle und lange. Sogar die Eltern von Finn und Nils gaben sich kurz die Ehre, um flußseitig mit der ‚kleinen‘ Jacht anzulegen und die Getränke samt Kühlanlage beizusteuern. Nach dem ersten Anstoßen begann ihre Abmachung mit Finn, was bedeutete, dass sie recht plötzlich, fast überstürzt davoneilten. Schwups, weg waren sie. Ich glaube, keiner hat sie vermisst. Was eigentlich schade war, aber selbst der 12-jährige Nils hielt nichts von dieser Doppelfassade…, wo steckte er eigentlich?

Er hatte sich auf Aiyana‘s Schoß gesetzt und schaute gespannt Finn zu, wie er die vier Beamer so justierte, dass sie die baumhohe Leinwand am Ufer ‚illuminierten‘. Dazu überall Kerzen. Riesige Sandkerzen und Windlichter. Das waren die Werke von Tjara, eine wahre Herrin des Lichts. Oh, Mann. Und natürlich Thore am Steingrill. Unser Tore hatte sich zu ihm gesellt. Ich glaub‘, sie verstanden sich sofort recht prächtig. Bis in den Morgen hat er ihn gebeten, ihm unzählige Würfe, Griffe und so was beizubringen, wie man was mit was zerschneidet und zerlegt usw. usw., was Thore auch mit Begeisterung tat: So einen ausdauernden Schüler hat man halt selten. Am meisten gefiel mir, wie viel Freude Horst hatte: Er brauchte sich heute um nichts kümmern. Und so zeigte er Anne, die vorher noch nicht hier war, alles, bevor die Turteltäubchen sich zu uns setzten, um die ‚Illumination‘ mitzuverfolgen. „Hast Du gemerkt“, sagte Anne zu mir, „Finn mag Tjara!“… Was war jetzt los? Meine Mutter fragte mich, ob ich gemerkt hätte, dass mein bester Freund Tjara mag. „Ich habe mich vorhin kurz mit Tjara über ihre Lichtspiele unterhalten“, fuhr Anne in voller Bewunderung fort, „Eine beeindruckende Frau: Einerseits Professorin für Archäologie mit dem Schwerpunkt ‚Die Bedeutung des Lichts und des Feuers in alten Kulturen und Völkern‘. Andererseits eine erfolgreiche Licht-Designerin – wie man hier überall bewundern kann. Klare Formen. Sie selber ja auch. Ich denke, dass fasziniert auch Finn an ihr. Achte mal drauf!“ „Was sagst Du zu Aiyana?“ Die Augen meiner Mutter begannen zu leuchten: „Aiyana, auch eine starke Frau. Auch sie ist Professorin für Archäologie – so lernten sie sich kennen, sagte sie mir. Aiyana ist DIE Expertin für Nachkampfwaffen, alte und noch ältere. Zudem ist sie die einzige Großmeisterin außerhalb Japans von einem sehr alte Orden. Aber was mich wirklich umhaut: Aiyana kennt hier jede Pflanze. Alle Tiere. Wenn ich jetzt nicht wüsste, dass sie Archäologin ist, würde ich denken, sie ist Biologin. Ich verstehe zwar noch nicht, was – und warum – die Vier hier mitten in Berlin eigentlich machen, aber schön, dass sie es machen und wir heute hier ihre Gäste sind. Und das alles, weil Du…“. Sie stockte kurz, nahm mich fest in ihre Arme und verweilt so eine Weile. Ja, Anne hatte recht: Schön, dass sie hier mitten in Berlin sind und wir heute alle hier seien dürfen. Und dann begann sie, die Illumination. Doch zuvor wollte Jack, dass Finn das Cover von ‚The Inklings in Oxford‘ einblendet. Wow, welch ein Anblick! Das Cover des Buches passte sich perfekt in den Baumbestand der Villa ein: Die Gebäude, die Bank und die übergroß gebeamten Buchstaben „C.S.Lewis, J.R.R. Tolkien and Their Friends“. THE INKLINGS OF OXFORD. Inklings: welch ein Wort! Bevor Jack es uns erklären konnte, hatte Finn schon das Wort ergriffen und präzisierte seine Recherchen in wenigen Wörtern. Während seiner lehrbuchreifen Ausführungen meißelte sich in unser Gedächtnis dieses Cover mit den Worten ein: „LEWIS, TOLKIEN, INKLINGS“.

Ok, soweit alles klar: Auf unserer Reise sollten wir also solche Orte und Legenden suchen: eine Art mythologische Schnitzeljagd. Mhh., aber da muss doch noch mehr dahinter stecken? Recht famose Archäologen sind sie doch selber. „Zum Dokumentieren“, sagte da Jack und gab Finn eine Kamera und noch eine andere: „In dem Rucksack da ist alles weitere“. Mit diesen Worten übergab er Finn die Bühne, setzte sich zu uns und war jetzt ebenso gespannt wie wir alle. Finn hatte wohl hunderte von Fotos über die vier Beamer so zu klassischer Musik kombiniert, dass alle mit großen Augen wie gebannt auf die Burgen, Gärten, Schlösser, Türme, Festungen, Ruinen, Seen, Sonnenunter- und -aufgänge schauten. Großaufnahmen von Wehranlagen und geheimen Türen, Rüstungen, Schwertern und Helmen, von Ringen und Ketten, von Pfeilen und Bögen, Katapulten und Kanonen. Da also würden wir bald hinfahren. Immer ein zwei Tage an einem Ort und dann weiter. Alles in Deutschland. Steht einfach alles da und ist immer zugänglich. Man muss nur hinfahren und es anschauen. Welch‘ Schätze doch vor unserer Haustüre so vor sich hin schlummern. Unglaublich. Und unglaublich schön. Tiefe Vorfreude überkam uns und es sah beinahe so aus, als wären wir alle irgendwie stoned. Die Zeit verflog. So gegen vier Uhr morgens fragte Jack: „Was sind Eure top five?“ Julius, der noch putz munter war und Finn‘s Illumination bis gerade mit klassischer und elektronischer Musik perfekt untermalt hatte – Julius war von uns der beste Musikus –, hatte sich gerade entschlossen, als vierter mitzufahren: „Auf Platz 5 ist, ganz klar, die Höhenburg Eltz der Herren von Eltz. Sie wurde niemals erobert oder zerstört“. Thor(e) baute sich neben ihm auf und nickte anerkennend: „Wohl wahrlich, eine gute Wahl!“ Er holte einige silberne Trinkpokale hervor, füllte sie mit Met, ließ einen alten, wohl germanischen oder keltischen Trinkspruch erschallen und es klirrten die Kelche: ich trank zum ersten Mal Met. „Nummer Vier ist Schloss Herrenchiemsee…, nein, nein, sorry! Nummer Vier ist das neugotische Wasserschloss Moyland im Kreis Kleve. Nummer Drei teilen sich das Schloss Marienburg bei Hannover, das König Georg der V. seiner Gemahlin baute, und das Schweriner Schloss, wo einst Herzöge und Großherzöge residierten. Nummer Zwei: Burg Hohenzollern, die scheinbar schwebende Stammburg der Hohenzollern auf 855 Meter. Und natürlich die Nummer Eins: Schloss Neuschwanstein“. „Na, da wollen wir mal schauen, ob Ihr das nach Eurer Reise auch noch so seht“, schmunzelte Thore und schenkte nochmals ordentlich Met nach. Jack stimmte nickend zu: „Wir sollten einen Treffpunkt am Ende Eurer Tour vereinbaren. Ich habe vernommen, dass Ihr beide, Thore und Tore, per Bike hinzukommt?“ Beide nickten recht synchron. Da hatten sich wohl wirklich zwei gefunden. „Gut. Dann treffen wir uns in Königstein an der Elbe im Herzen der Sächsischen Schweiz. Ihr Vier quartiert Euch irgendwo in Königstein ein, nehmt Euch einen Tag Zeit für die Festung und dann gebt mir Bescheid, wir kommen dann zu Euch. Und jetzt noch ein Prost, bevor ich in‘s Bett falle“, sprach‘s, trank‘s und verschwand in der Villa. Wir andern plumpsten auch alle danieder, und zwar dort, wo wir gerade saßen oder standen. Auch Anne und Horst. Welch ein Spaß. Kurze Zeit später trafen uns die ersten Sonnenstrahlen und Aiyana führte uns wieder nach vorne: „Thore und ich räumen später auf“, sagte sie beim Abschied, „Netter Abend. Hat uns gefreut. Ihr könnt jederzeit wiederkommen, wenn Ihr wollt. Bis spätestens in sechs Wochen in Königstein.“

Und so geschah es. Finn, Nils, Julius und ich brachen zwei Tage später auf und fuhren quer durch Deutschland. Immer ein bis zwei Tage an einem der Orte und dann weiter. Am Sonntag, den 28. Juli 2013, erreichten wir Dresden um 05:00 Uhr morgens und fuhren gleich zum Zwinger – herrliche Ruhe am frühen Morgen. Abends mit einer S-Bahn elbaufwärts nach Pirna. Dann mit einer Bummelbahn über Neustadt nach Bad Schandau. Hier übernachteten wir und fuhren morgens mit einer historischen Tram zu einem Wasserfall. Einem Touristenmagneten. Aber noch waren sie nicht da. In der morgendlichen Stille erklang dafür der Sound von Harleys. „25“, reagierte Julius sofort. „Mhh, eher 35“, übertraf ich ihn. Horst hatte uns früher fast immer zu seinen Treffen mitgenommen und dort machten wir immer dieses Spiel: Das Schätzen der korrekten Anzahl der Bikes anhand des Sounds. Julius hatte wie immer recht. Da erspähten wir auch schon die Gruppe in der Ferne. Zwei von ihnen schienen Helme mit Hörnern (?) zu tragen. „Seht ihr auch…“, sagten wir alle vier gleichzeitig. Ok, die anderen sahen auch diese Hörner. Irgendwie unheimlich bei diesem leichten Nebel. Die beiden Gehörnten setzen sich von der Gruppe ab, als diese an uns vorbei rauschte. Die beiden hielten direkt vor uns. Keine Hörner. Nur diese matt-schwarzen Helme mit den Silberverzierungen. „Fragt nicht“, erklang unter dem einen Helm die Stimme von unserem Tore. Er nahm seinen Helm ab und strahlte uns an. Die andere Harley erschallte und schloss zu der Gruppe auf. Da waren sie wieder, die Hörner. Ganz deutlich. Die Gruppe verschwand geordnet in der Kurve um den großen Felsblock. Weg waren sie. Unterhalb des Wasserfalls gegenüber von einem alten Wirtshaus war ein kleiner Biergarten. Dort gingen wir hin und setzten uns an einem Tisch unter einem mächtigen Baum. Es war Selbstbedienung: Bauernfrühstück für vier in einer großen Pfanne. Wir erzählten zuerst, was wir erlebt hatten, und dann Tore. Dann wieder wir. Dann die Bauernfrühstücksmittagspfanne. Wir wurden von den unzähligen Touristen umspült. Egal. Wir hatten soviel zu berichten. Tore hatte jetzt einen Führerschein und durfte eine der Harleys von Thore fahren. Sie war – selbstredend – ein Unikat. Schwarz-silbern und so verziert wie einer von Thores Trinkkelchen. So auch sein Helm, der nicht nur matt war, sondern irgendwie dunkelsilber gemustert. Tore war mächtig stolz. Wir auch.