Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

Die erste Auflage erschien 1997 im Karl F. Haug Verlag,

Hüthig GmbH, Heidelberg

Dritte, überarbeitete und erweiterte Auflage

© 2014 Yürgen Oster, Puerto de la Cruz, Teneriffa, Spanien

Herstellung und Verlag: BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt

ISBN 978-3-735-765-604

Alle Bilder, Fotografien und Grafiken vom Autor

Alle Rechte, insbesondere Vervielfältigung jeder Art, fotografisch oder durch elektronische Medien und die Übersetzung in andere Sprachen sind vorbehalten. All rights reserved.

Inhalt

Danksagung

An erster Stelle möchte ich allen Menschen danken, die über Generationen Tai Ji Quan gepflegt haben, sodass es uns heute zur Verfügung steht. Vor allem gilt mein Dank meinem Meister Gia Fu Feng, der mich tief berührte, dessen Lehre weit über Tai Ji Quan hinausging. Besonderen Dank schulde ich meinen weiteren Lehrern, Prof. Chee Soo aus London, der meine erste Begeisterung weckte, Ma Jiang Bao, der mir den Wu Stil nahebrachte, und Fei Yu Liang, der mir das weite Feld der Stile und Formen offenbarte und meinen Blick für die Genauigkeit schärfte. Lange, nachdem die erste Ausgabe dieses Buches fertiggestellt war, lernte ich die Meister der Wudang Dao Jia Gong Fu Akademie in den Wudangbergen kennen, insbesondere Zhong Xue Yong und Guan Yong Xing. Sie alle bestärkten mich in meinen Kenntnissen und erweiterten meinen Horizont. Davon ist manches in die neue Auflage eingeflossen.

Ich danke allen meinen Schülern, von denen ich unendlich viel gelernt habe und all jenen, die am Zustandekommen dieses Buches beteiligt waren.

Einleitung

Wenn wir das uns Bekannte als etwas Neues betrachten, werden unsere Fähigkeiten auf ein höheres Niveau gehoben.

Meine erste Begegnung mit Tai Ji Quan fand noch im Verborgenen statt. Es war nur ein Gerücht, die Mitteilung eines Freundes, er wiederum habe einen Freund, der einen daoistischen Tanz praktiziere. Das, nebenbei erwähnt in einem Gespräch über das Dao De Jing (Tao Te King) , erschien mir sehr merkwürdig, zumal es sich dabei um festgelegte Bewegungsfolgen handeln sollte. Festes, Starres, Regelwerk stand meinem Verständnis des Dao aber vollkommen entgegen. Beschreibt Lao Zi nicht alles als ein Fließen, sich ständig verändernd?

Was ich damals glaubte gelesen zu haben, finde ich heute als Zitat nicht mehr. Dafür fallen mir jetzt beim Blättern folgende Zeilen aus dem siebzigsten Kapitel ins Auge:

Meine Worte stammen aus uralter Zeit.

Meine Handlungen sind diszipliniert.

weil die Menschen nicht verstehen,

haben sie auch keine Kenntnis von mir.

Nur wenig Zeit nach dem oben erwähnten Gespräch machte ich den ersten Kontakt mit dem Yi Jing (I Ging) dem Buch der Wandlungen. Vor allem mit dem sogenannten inneren Werk fand ich für mein Studium nun fester umrissene Strukturen als in Lao Zis fünftausend Zeichen. Trotzdem hatte ich oft genug den Eindruck, mich in einer Welt jenseits des Alltäglichen zu bewegen.

Je weiter meine Studien fortschritten, desto stärker wurde in mir der Wunsch nach einem praktischen Übungsweg. Mir wurde klar, dass nicht nur Theorie, sondern in jedem Fall eine praktische Methode zum Verständnis dieser Weltanschauung nötig ist. Auf meiner Suche fand ich eine Unterweisung in tibetisch-buddhistischer Meditation und während dieser Tage konnte ich eine junge Frau beobachten, die sich im Tai Ji Quan übte. Ich fand diese Form der Meditation, gelinde ausgedrückt, zunächst einfach lächerlich. Es dauerte dann noch fast ein weiteres Jahr, bis ich mich überreden ließ, an einem Tai Ji Kurs teilzunehmen. In der Zwischenzeit hatte ich auch einiges an Literatur über die “Meditation in Bewegung” gefunden, ohne dadurch wirkliche Ermutigung gefunden zu haben. Erst als ich dann tatsächlich meine Arme hob und senkte, da wuchs in mir eine Begeisterung, wie sie vorher - und nachher- durch nichts anderes jemals in mir geweckt wurde.

Das war 1976. Ich habe Lehrer gefunden und wieder verloren. Ich habe Schüler gefunden und wieder verloren. Ich habe Formen gelernt und wieder vergessen. Seit meinem ersten Heben der Arme bis heute ist viel Zeit vergangen und es hat sich viel getan.

Es war im Jahr 1984, ich lebte auf einer Mühle mitten im Wald, wo ich die Zeit fand, alles was ich bis dahin über Tai Ji Quan gelernt hatte, von meinen Lehrern und aus den wenigen Büchern, die es zu dem Thema gab, zu ordnen und nieder zu schreiben. Zunächst machte ich das nur für mich, dann dachte ich daran, es zu veröffentlichen, aber kein Verlag war interessiert. 1985 eröffnete ich in Köln meine erste Schule, eine der ersten Schulen für Tai Ji Quan in Deutschland überhaupt, und die Seiten verschwanden zwischen anderen Unterlagen. Es dauerte weitere zwölf Jahre, bis ich den Kontakt zum Haug Verlag fand, der das Buch publizieren wollte. Das auf einer alten Schreibmaschine erstellte Manuskript wurde zum ersten Mal elektronisch erfasst, überarbeitet und fand seinen Weg in die Öffentlichkeit.

Es war kein großer Erfolg, wurde aber dennoch in der Szene geschätzt. Noch immer wieder bekomme ich Schreiben der Anerkennung, obwohl das Buch schon lange vom Markt ist. Das hat mich bewogen, es neu aufzulegen.

Dieses Buch handelt von der Sprache des Tai Ji Quan, sofern man eine Bewegung als Sprache bezeichnen kann. Die Bedeutung der Künste werden unterschiedlich gewertet. Tai Ji Quan kann als eine Kampfkunst aufgefasst werden, als ein Lebensweg, Gesundheitsübung oder Meditation. Während der Zeit meiner Praxis habe ich auch verschiedene Versuche erlebt, Tai Ji Quan in ein anderes System zu integrieren oder nutzbar zu machen. Zu Beginn meines Weges wurden von allen Beteiligten die meditativen und weltanschaulichen Aspekte als das Wichtigste gesehen. Das hatte zur Folge, dass die Technik meist in den Hintergrund trat und die korrekte Ausführung nicht ernst genommen wurde. Bald begegnete ich Psychotherapeuten, vorwiegend aus der Gestalt Schule, die Tai Ji Quan in ihre Arbeit integrieren wollten. Was hierbei geschah, würde ich heute überhaupt nicht dem Tai Ji zurechnen, das gleiche gilt für Theater- und Tanz Experten.

Inzwischen hat sich die Medizin den Übungen zugewandt, zwar vorwiegend dem Qi Gong, aber überall werden von Volkshochschulen und Krankenkassen Tai Ji Quan Kurse angeboten, die in der Art ihrer Durchführung, wenn überhaupt dann nur ein oberflächliches Bild bieten können. Es soll hier nicht gesagt werden, dass diese Bemühungen grundsätzlich falsch seien, sie sind nur schlecht informiert. Es hat dies damit zu tun, dass Tai Ji Quan in ein sehr komplexes System eingebettet ist. Unter einer qualitativen Anleitung lässt sich durchaus die Folge einer Tai Ji Form wirkungsvoll erlernen, ohne die theoretischen Hintergründe zu kennen. Die in diesem Buch enthaltenen Informationen sollen dazu dienen, Sinn und Bedeutung der Bewegungen besser zu verstehen. Ich hoffe, damit Missverständnisse und Fehlinterpretationen vermeiden zu helfen.

Die aufgezeigte “Sprache”, die sich in der chinesischen Kultur über mehr als drei Jahrtausende entwickelt hat, ist wie jede andere Sprache der Versuch, Wirklichkeit zu beschreiben und Informationen zu transportieren, es ist nicht eine objektive Wahrheit.

Wir werden zunächst dem Begriff des Qi begegnen. Qi ist in der westlichen Kultur ohne Gegenstück. Es wird meist als Energie übersetzt. Das ist sehr vage und gibt uns wenig an die Hand. Obwohl auch in der chinesischen Literatur nie genauer erklärt wird, was Qi ist, wird doch definiert, wie Qi funktioniert. Die weiteren Begriffe, eingebettet in das Kapitel ,Dao‘, im wesentlichen die Yin Yang Lehre und die Lehre der fünf Wirkphasen, sind sowohl auf die stoffliche als auch auf die nichtstoffliche Welt anwendbar. Sie haben im vorliegenden Kontext hauptsächlich Bedeutung zur Erläuterung der Qi-Funktionen. Die klassischen Texte sind teilweise ohne Kenntnis dieser Lehren nicht zu verstehen. Die dann folgenden Hinweise sollen helfen, Übende zu immer neuen Tiefen dieser Kunst zu führen.

Es wird bewusst darauf verzichtet, den Versuch zu unternehmen, in Buchform einen Tai Ji Quan Ablauf zu beschreiben oder gar zu vermitteln. Auch die Darstellungen der Basis- und Partnerübungen sollen als erläuternde Teile verstanden werden, nicht als Unterrichtsmaterial. Tai Ji Quan lässt sich nur unter der Anleitung eines qualifizierten Lehrers erlernen.

Für alle chinesischen Namen und Begriffe wurde die inzwischen gebräuchliche Pin Yin Umschrift benutzt. Im Anhang findet sich eine Hilfe zur richtigen Aussprache. In einigen Fällen wurde zum besseren Verständnis die mitunter bekanntere alte Umschrift, nach dem Wade-Giles System, beim ersten Vorkommen in Klammern hinzugefügt.

Die historische Entwicklung

Hat Tai Ji Quan seinen Ursprung in den geheimnisvollen Wudangbergen? Oder entstand es schon früher?

Oder später?

Was ist eigentlich Tai Ji Quan, was macht es so einzigartig? Worin unterscheidet es sich von anderen Kampfkünsten und was ist sein gesundheitlicher Wert?

Die Legende

Auf der Suche nach den Ursprüngen des Tai Ji Quan mischen sich Legenden und Geschichte. Die Wurzeln reichen wohl einige tausend Jahre zurück. Im Klassiker der inneren Medizin, Huang Di Nei Jing So Wen (ca. 2 - 3 Jahrh. v.u.Z.), werden mit Atemtechnik verbundene Körperübungen erwähnt. Gymnastische Übungen, Box- und Ringstile sowie unterschiedliche Waffenkampftechniken hatten schon immer einen festen Platz in der chinesischen Kultur.

Ein bedeutendes Ereignis in dieser Entwicklung war das Auftauchen des indischen Weisen Bodhidharma (chinesisch Da Mo) um 527. Er gilt als der Begründer des Dhyana oder Chan Buddhismus, aus dem das japanische Zen hervorging. Im Shao Lin Kloster am Song Shi Berg in der Provinz Henan lehrte Da Mo, nachdem er neun Jahre lang ununterbrochen vor einer Wand sitzend meditiert hatte. In der Erkenntnis, dass die Mönche nur im guten gesundheitlichen Zustand ausreichende Energie zur Konzentration auf das Objekt ihrer Meditation aufbringen könnten, ermunterte er sie zu frühmorgendlichen Übungen. Er schuf eine Reihe von 18 Bewegungssystemen, aus denen das Shao Lin - Quan hervorging. Nach Da Mo’s Tod fanden diese Übungen über mehrere Jahrhunderte kaum noch Anhänger. Als zu Beginn der Tang Dynastie (618 - 906) ein Bürgerkrieg ausbrach, mischten die Shao Lin Mönche ihre Übungen mit lokalen Kampfkunsttechniken, woraus ein neuer Stil entstand, der als Lo Han bekannt wurde. Die Mönche waren mit ihrer Technik sehr erfolgreich und bekamen die Erlaubnis, weiterhin Kampfkunstmönche auszubilden. 1522 brachte ein Mönch namens Zhue Yuan die Kampfkünstler Li Sou und Bai Yu Feng nach Shao Lin und entwickelte mit ihnen die fünf Tierstile.

Gegen Ende der Tang Dynastie taucht die Gestalt des Zhang San Feng auf. Die Lebensgeschichte dieses legendären Begründers des Tai Ji Quan zu verfolgen ist allerdings äußerst schwierig. Weder sein Geburtsdatum noch seine Lebensdauer ist sicher überliefert. Wir können davon ausgehen, dass er während der Zeit der Sung Dynastie (960 - 1279) lebte. Einer Überlieferung zufolge, die heute als wahrscheinlich angenommen wird, wurde er am 9. Tag des 4. Monats im Sommer des Jahres Ting Wei geboren. Das wäre im Jahr 1247. Schon als 13jähriger bestand er die kaiserlichen Examen, was auf eine konfuzianische Erziehung deutet. Später wurde er auf Grund seiner Talente zum Distrikt Magister von Zhong Shan ernannt. Er zog jedoch das einsiedlerische Leben in den Bergen vor. Auf der Suche nach einem Mittel oder einer Methode zum Erlangen von Langlebigkeit und Unsterblichkeit wandelte er die meisten Jahre seines Lebens durch das Reich und kam auch in das Shao Lin Kloster, wo er in 10 Jahren das gesamte System des Shao Lin - Quan meisterte. Auch hiervon nicht zufrieden gestellt, wandte er sich dem Daoismus zu und zog sich zurück in die Wu Dang Berge, ein Zentrum daoistischer Klöster und Eremitagen in der Provinz Hubei. Die ihm bekannten Boxstile entsprachen mit der nach außen gerichteten Kraft nicht der daoistischen Weltanschauung. Wir haben einen Mann vor uns, der die drei philosophischen Schulen Chinas in sich vereinte. Darauf deutet auch sein Name San Feng, den er sich selbst gegeben hatte, was mit drei Reichtümer übersetzt werden kann. Er soll in den Wudang Bergen die dort vorherrschende Form des Daoismus reformiert und mit buddhistischen und konfuzianistischen Elementen angereichert haben.

Die Unterscheidung in innere und äußere Schulen begründet sich auf die tatsächliche Praxis der Kampftechniken. Die Schule der Shao Lin konzentriert sich auf ein Training der Muskeln und Knochen, auf Beweglichkeit und Schnelligkeit. Zhang San Feng hingegen verband diese Techniken mit der Konzentration auf die Atmung und Schulung der inneren Energie, was, wie wir später sehen werden, nur bedingt mit der normalen Sauerstoffzufuhr zu tun hat. Hierbei wird die Entfaltung der gesammelten Energie geübt.

Die Theorie, dass Yin und Yang in Gleichgewicht und Einklang die höchste Vollendung (Tai Ji) darstellen, sollte auch in den kämpferischen Übungen angewandt werden. Von der Beobachtung eines Kampfes zwischen einer Schlange und einem Kranich angeregt, wurde ihm das Prinzip des Tai Ji Quan offenbar.

Die Legendenbildung um Zhang San Feng kann in 3 Phasen gegliedert werden:

Teil 1: Schon zu seinen Lebzeiten galt Zhang San Feng als herausragende Persönlichkeit. Es wurden ihm außerordentliche Fähigkeiten nachgesagt. Nach seinem "Verschwinden" ließ Kaiser Cheng Zu (13601424) 13 Jahre nach ihm suchen, was aber auch durchaus ein Vorwand zur Auffindung des von Cheng Zu entmachteten und untergetauchten Herrschers Jian Wen gewesen sein könnte. Weder Zhang noch Jian Wen wurden gefunden. Die wahrlich unfassbare Gestalt Zhang San Feng wurde von Cheng Zu 1459 in den Stand eines Unsterblichen erhoben, ein Meister, der Dao verwirklicht hatte. In dieser Frühphase der Zhang-Mystifizierung gibt es keinerlei Erwähnungen, dass er ein herausragender Meister der Kampfkünste gewesen sei. Das ist beachtlich, da es gewöhnlich bei einer solchen Ehrung in den Analen festgehalten worden wäre.

Teil 2: In der 1669 veröffentlichten "Grabrede auf Wang Zheng Nan" von Huang Zong Xi (1610-1695) wird "der daoistische Unsterbliche Zhang San Feng vom Berg Wudang“ zum ersten Mal als Begründer der Inneren Schule des Kampfes" bezeichnet. Überhaupt scheint diese Lobesrede auf Wang Zheng Nan, einem berühmten Kampfkünstler seiner Zeit, die erste Schrift zu sein, in der zwischen innerer und äußerer Schule differenziert wird. Das zeugt allerdings nicht nur von einer veränderten Einstellung innerhalb der Kampfkünste, sondern kann durchaus auch politisch gelesen werden.