Verbesserte und aktualisierte Neufassung 2015

Umschlaggestaltung: Nicolas C. Hammann

unter Verwendung einer Illustration

von Gustave Doré zu Ariosts Orlando Furioso

Alle Rechte © 2015 Joachim Hammann

Herstellung und Verlag:

BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt

ISBN 978-3-7431-8473-2

INHALT

VORWORT ZUR NEUFASSUNG 2015

Mein Buch Die Heldenreise im Film hat seit seinem Erscheinen im Februar 2007 sehr viel Zuspruch bekommen, hat hier und da aber auch heftige Kritik hervorgerufen. So richtig kalt gelassen hat das Buch anscheinend niemanden.

Ich würde sagen, daß die immer intensive Reaktion, ob gut oder schlecht, der beste Beweis dafür ist, daß das geistige Konzept der Heldenreise auf Menschen wirkt.

Das gilt gerade auch da, wo man der Heldenreise mit überraschendem Unverständnis (»So gesehen ist doch alles Heldenreise! Das ist völlig redundant.«) oder verblüffender Dummheit begegnet ist (»Sie kritisieren diesen Film. Aber das ist doch ein anerkannter Filmkunstklassiker!«), oder wo man die Heldenreise vom Tisch wischen will, indem man mir vorwirft, ich sei ein »christlicher Fundamentalist«.

Ich habe nichts dagegen kritisiert zu werden, aber ich habe die Heldenreise nicht geschrieben. Man kann höchstens sagen, daß ich ihr eine ausführliche Darstellung gewidmet habe: Ich habe die Mythen und Märchen und natürlich die Filme für sich sprechen lassen und ergänzend die Zeugnisse von Ethnologen, Anthropologen, vergleichenden Religionswissenschaftlern, Philosophen und Psychologen herangezogen. Ich habe die Heldenreise auch nicht »selbstgestrickt«, wie ein Rezensent meint, denn sie wird seit Tausenden von Jahren von allen Völkern und in allen Kulturen erzählt.

Mir kommt es manchmal so vor, als nähmen Kritiker und Ablehner der Heldenreise die Haltung ein, die Agent Smith in Matrix Revolutions gegenüber dem Helden Neo so formuliert: »Glauben Sie wirklich, Sie kämpfen für etwas? Ist es Freiheit? Vielleicht Wahrheit? Könnte es für die Liebe sein? Illusionen, Mr. Anderson, Launen der Wahrnehmung! Vorübergehende Konstrukte eines schwächlichen menschlichen Intellekts, der verzweifelt versucht, eine Existenz zu rechtfertigen, die ohne Bedeutung oder Bestimmung ist.«

Sollte die Heldenreise — immerhin so etwas wie die in Geschichten gesammelte Weisheit der ganzen Menschheit — wirklich nur nichtssagend, konstruiert, überflüssig und blödsinnig sein?

Es ist wirklich verräterisch, wie unsachlich die Leute oft reagieren — die Heldenreise drängt sich ja nicht auf, predigt nichts, stellt keine Theorien auf, macht keine Vorschriften fürs Leben, verlangt nicht bestimmte Übungen oder Praktiken und erläßt auch keine Gesetze.

Aber sie wirkt. Kein Zweifel, die Heldenreise ist ein außergewöhnlich effektives Instrument, wenn es darum geht, die Menschen zu berühren — auch gegen ihren Willen. Dann finden sie das Ansinnen der Heldenreise sehr schnell als Zumutung.

Die charakterliche Entwicklung zu Heldentum, die Heldenreise genannt wird, will uns nicht helfen, am Ende zu Fäuste ballenden, kriegerischen Siegertypen und milliardenschweren Erfolgs-Unternehmern zu werden. Die Heldenreise ist keine Held-Werdung nach gängigem Verständnis, sondern eine Heil-Werdung.

Das ist eine schöne Botschaft, aber die äußerst bittere Medizin, die es zunächst zu schlucken gilt, ist die: daß wir Menschen alle »defizitär« sind, daß uns etwas fehlt, daß uns Teile unserer Persönlichkeit, wie die Heldenmythen erzählen, »geraubt« worden sind, und daß es nun darum geht, daß wir wieder vollständig und die ganz normalen und gesunden Menschen werden, die wir ursprünglich einmal waren. So gesehen ist die Heldenreise keine Held-Werdung, sondern eine Mensch-Werdung.

Daß wir Menschen alle verletzt wurden und daß uns allen, ohne Ausnahme, etwas Wesentliches genommen wurde — auch wenn wir das nicht glauben wollen oder sogar heftig von uns weisen —, ist eine harte und häßliche Wahrheit, und man kann vielleicht sagen, daß alle Widerstände gegen die Heldenreise daraus resultieren, daß man nicht die (heldenhafte) Kraft hat, die Möglichkeit der eigenen Beschädigung ins Auge zu fassen.

Die Aussage der Heldenreise ist ganz einfach: Nur wenn man zu akzeptieren vermag, daß man alles andere als ein vollkommenes Kind Gottes ist und bereit ist zu erkennen, wie man wirklich ist, mit all den Unzulänglichkeiten, Ängsten, Träumen, Defiziten, Angebereien und Bösartigkeiten, geht man auf die »Reise« und kann am Ende wieder zum glücklich spielenden Kind des Paradieses — mit den Worten des Heldenmythos: zu einem Helden oder zu einer Heldin — werden.

Mehr sagt die Heldenreise nicht — das heißt, sie sagt es noch nicht einmal, sondern erzählt nur, wie ein Mann oder eine Frau, die durch irgendwelche Geschehnisse aus ihrem trägen und langweiligen Alltagsdasein gerissen werden, in aufregende Abenteuer verwickelt werden, das Schönste und Beglückendste erleben, was ihnen je passiert ist und am Ende überrascht feststellen müssen, daß sie noch im Leben eine so gute Zeit hatten und sich noch nie so lebendig und bereichert gefühlt haben. Das ist schon alles. Jeder von uns darf sich erlauben, diese Geschichte spannend und unterhaltsam zu finden, anregend und nachahmenswert — oder sie schroff und gereizt abzulehnen. Nein, danke, ich bleibe lieber zuhause und gucke Fernsehen.

Eigentlich macht die Heldenreise doch ein tolles Angebot: Wenn du den Mut hast, dein jetziges Leben — in dem du, gib es zu, nicht zufrieden bist — aufzugeben, wirst du unglaublich faszinierende und aufregende Erlebnisse haben.

Aber Männer schauen sich lieber Actionfilme an und Frauen lesen lieber Liebesromane (sogar sadomasochistische!), als daß sie sich aufmachen, Action und Liebe am eigenen Leib zu erfahren.

Märchen wirken auf uns Heutige oft recht altmodisch und scheinen sich gegen ein adäquates Verständnis zu sperren, so daß es der großen interpretatorischen Leistungen einer Hedwig von Beit, eines Eugen Drewermann, eines Bruno Bettelheim oder einer Marie-Luise von Franz bedarf, um sie aufzuschließen und uns ihre Weisheit und Lebenshilfe zugänglich zu machen. Erich Neumann und Joseph Campbell (und Eugen Drewermann) haben das gleiche für Mythen getan, wobei Campbell der Verdienst zukommt, mit seinem Begriff Abenteuer des Helden — woraus dann mit den Jahren die Reise des Helden geworden ist — die alten Geschichten für uns wieder lebendig gemacht zu haben.

Ich denke aber, da ist etwas zu ergänzen, und ich will das versuchen.

Die oben genannten (von mir hochgeschätzten, das will ich hier ausdrücklich erwähnen) Autoren gehen zurück nach Ägypten, zu den alten Griechen, nach Afrika, zu den Eskimos und zu den Kinder- und Hausmärchen der Gebrüder Grimm, wodurch bei einigen Lesern der Eindruck erweckt werden könnte — das ist eben, was ich befürchte —, daß die Weisheit der Mythen und die Lebenshilfe der Märchen, nur dort, in der Vergangenheit, zu finden sind, also ausgegraben und für die heutige Zeit wiederbelebt werden müssen.

Ich hingegen will es unternehmen zu zeigen, daß der Mythos auch heute, in unserer Zeit, höchst lebendig ist, ja, lebendiger und verbreiteter denn je, und daß es höchst ertragreich ist, das Es war einmal so in ein Es ist umzuwerten (um eine glückliche Formulierung von Otto Rank zu verwenden). Der Mythos ist. Er lebt. Die wirkungsmächtigste, zig Millionen Menschen auf der ganzen Welt erreichende Version des uralten Mythos der Heldenreise finden wir im modernen Gewand des Films.

Ich hatte ein Buch geschrieben, das den heilenden Mythos der Heldenreise darstellt und zeigt, daß er heute fast nur noch in Filmen zu finden ist und das deswegen den Titel Die Heldenreise im Film trug. Der Untertitel lautete: Drehbücher, aus denen die Filme gemacht werden, die wirklich berühren. Das klang schrecklich umständlich, beinhaltete jedoch das eine entscheidende Wort berühren.

Die Heldenreise will nicht nur schildern, wie die durchschnittlichen Männer oder die unglücklichen Frauen so und so vieler Märchen, Mythen und Filme zu sogenannten Helden und Heldinnen werden, sondern sie will auch uns — den Zuschauern, den Leserinnen, den Zuhörern, Ihnen und mir — helfen, unser Leben besser zu meistern.

Einige meiner Leserinnen und Seminarteilnehmer haben mich denn auch mit Recht darauf aufmerksam gemacht, daß Die Heldenreise im Film nicht nur ein Manual für Drehbuchautoren und Filmschaffende, sondern ein Buch für alle Menschen sei — weil ja die Medizinmänner der Urzeiten ihre Initiationen auch nicht nur für die Intellektuellen des Stammes durchgeführt und die alten Mythen nicht nur kommenden Geschichtenerzählern vorgetragen hätten, sondern vorhatten, allen Mitgliedern der Gemeinschaft zu helfen. Deswegen hätte ein neuer Untertitel also lauten können: Wie man sich selber verstehen lernt. Ergänzend: Wenn man den Mut dazu hat.

Einige wenige Frauen und Männer haben diesen Mut. Sie werden Heldinnen und Helden genannt.

Ich habe den thematischen Schwerpunkt ein bißchen verschoben. Die überarbeitete und aktualisierte Neufassung ist noch immer ein Buch für DrehbuchautorInnen und Filmschaffende, und es gibt nachwievor keine genauere und ausführlichere Darstellung der Struktur der Heldenreise und damit der Struktur eines Drehbuchs.

Aber die Neuauflage wendet sich auch, wie die Held- und Heldin-Werdungen, die beschrieben werden, an alle Menschen (von denen einige wenige Drehbuchautoren sind) — zumindest an all diejenigen, die bereit sind, dem wichtigsten und hilfreichsten Mythos der Menschheit, der Abenteuergeschichte von der »Reise« des Helden, ihre Aufmerksamkeit zu schenken.

Setzen Sie sich entspannt hin, denn es wird eine lange und anstrengende Reise werden, aber erlauben Sie sich auch Vorfreude, denn Sie werden Ganz Großes Kino erleben.

Wir sitzen alle zusammen am nächtlichen Lagerfeuer. Schauen Sie sich die zitternden Schatten auf der Höhlenrückwand an und hören Sie zu, was Ihnen die Schamanen und Gurus, die Medizinmänner und Seelendoktoren, die Hexen und Zauberinnen, die Geschichtenerzähler der Vorzeit — und die Filmautoren unserer Zeit zu sagen haben.

Die Atmosphäre ist aufgeladen und die Nacht ist voller Magie. Liebe Glühwürmchen tanzen um uns herum, unheimliche Raubvögel mit schwarzen Schwingen fliegen über unsere Köpfe hinweg und aus dem Urwald sind beunruhigende Laute von unsichtbaren Tieren zu hören.

Kommen Sie mit auf die Reise zu sich selbst — nichts anderes ist die Heldenreise — und zwar so weit, wie Sie es irgendwie schaffen können, so weit, wie Ihr Mut und Ihre Kraft reichen.

Je weiter Sie reisen, das heißt, je weiter Sie in das eigene, angstmachende Dunkel eindringen, desto mehr werden Sie über sich und Ihr Leben lernen.

Die Idee der Heldwerdung — der Kampf mit dem Drachen und die Wiedereroberung des Schatzes der geraubten Seele — ist der größte geistige Entwurf der Menschheit.

Die Autoren der Heldenreise, die Medizinmänner, Zauberfrauen, Mythendichter, Geschichtenerzähler, Gurus, Alchimisten, Therapeuten, Schamanen und Magier — und die Drehbuchautorinnen und Autoren! —, möchten helfen, die Menschen von seelischer Krankheit zu heilen und die Welt in einen friedlicheren Platz zu verwandeln.

Und, ja natürlich, Sie zu einer besseren Autorin oder zu einem besseren Autor zu machen.

Joachim Hammann

im April 2015

EINLEITUNG

Was für eine Kunst ist die Filmkunst?

Bevor wir das Schlaraffenland des Verständnisses von Filmen als Heldenreisen betreten, müssen wir uns durch einen theoretischen Hirsebreiberg hindurchfressen, weil die gängigen Filmtheorien Film in einen sehr fragwürdigen Traditionszusammenhang der visuellen Künste oder von Drama und Theater, Literatur und Erzählkunst einordnen. Dadurch wird ein richtiges Verständnis dessen, was Film ist, beziehungsweise dessen, was für eine »Kunst« die sogenannte Filmkunst ist, erschwert, wenn nicht gar unmöglich gemacht.

Wenn Sie verstanden haben, was die so genannte Filmkunst ist, haben Sie die wesentliche Erkenntnis gewonnen, die Ihr Verständnis von Film radikal verändern und Sie in die Lage versetzen wird, Filme nicht nur als Unterhaltung oder Kunst, sondern als die zeitgenössische Version Tausende Jahre alter heilsamer und hilfreicher Weisheiten zu sehen.

Ist Film eine visuelle Kunst?

Es wird oft behauptet, daß Film zu den visuellen Künsten gerechnet werden muß, also in einer Tradition mit der Malerei und der Fotografie steht. Auch Fotoromane und Comic Strips gehören in diesen Zusammenhang.

Aber mit dem Ansatz »visuelle Kunst« stehen wir vor der schwierigen Frage, wie man belegen will, warum ein Film als Kunst zu gelten hat. Was die Bildsprache betrifft, so unterscheiden sich Amateur- und Pornofilme ja nicht wirklich von den Meisterwerken des Kinos: Großaufnahmen, Nahaufnahmen, Totalen, Schwenks, Zooms, Schnitte, Überblendungen und das ist es fast schon. Ich denke, es ist einmal mit Recht gesagt worden, daß die Sprache des Films recht dürftig ist.

Falls die atemberaubenden Bilder die Filmkunst ausmachen sollten, dann müßten doch ein Actionregisseur, ein Werbefilmer oder ein 22jähriger Jungstar, der ein Musikvideo inszeniert, als größere Künstler gelten als Ingmar Bergmann oder Woody Allen. Aber es ist doch der Gehalt, der den fundamentalen Unterschied zwischen einem filmischen Meisterwerk und einem Pornofilm ausmacht und der jeden Werbefilm auf den Müllhaufen der Nichtigkeit und des Überflüssigen wirft! Es ist doch der Autor Ingmar Bergmann, der uns etwas zu sagen hat!

Ich habe wenig bis kein Verständnis für die euphorische Begeisterung der Filmwissenschaft und des Feuilletons für Filme wie Vertigo oder Citizen Kane, wo die visuelle Gestaltungskraft der Kameramänner und Regisseure allein schon dafür sorgen soll, daß diese Filme zu den größten Kunstwerken zählen.

Fast jeder Werbefilm ist brillant, weil Werbefilmer für gewöhnlich die visuelle Sprache des Films handwerklich besser beherrschen als die Filmregisseure, aber daß das jüngste Musikvideo für Britney Spears oder das visuelle Feuerwerk, das für die Einführung des neuen Opel Corsa-Modells abgebrannt wird, irgend etwas mit Filmkunst zu tun hat, dürfte kaum zu beweisen sein.

Woran also liegt es, wenn ein Film uns packt, ins Geschehen hineinzieht und uns nicht mehr losläßt? Auch wenn seine Bilder an Fernsehen oder einen Dokumentarfilm erinnern? Wenn es also nicht die aufregenden Bilder sind?

An der Inszenierung?

Ist Film eine Regisseurskunst?

Es kann meines Erachtens keinen Zweifel daran geben, daß der wahre Künstler, originäre Schöpfer oder Urheber diejenige Person ist, die das leere Blatt, die leere Leinwand oder den leeren Bildschirm mit Worten, Noten, Farben oder Umrissen füllt — und nicht die Person, die das darstellt, wiedergibt oder inszeniert.

Der leere Bildschirm, über den ich rede, ist nicht die Leinwand im Filmtheater, auf der angeblich der Regisseur herumkritzelt — mit dem »Kamera-Stift«, wie es der französische Filmtheoretiker Alexandre Astruc wollte —, sondern ist der leere Computerbildschirm, den der Drehbuchautor mit Worten füllt. Falls es so etwas wie die Filmkunst geben sollte, dann ist der wahre Künstler und Schöpfer eines Films dafür verantwortlich: der Drehbuchautor.

Aber niemand wird in der Filmwissenschaft (Wissenschaft! Hah!) und im Feuilleton höher geschätzt als der Regisseur; er wird für den eigentlichen Filmkünstler gehalten.

Mal abgesehen, daß das wissenschaftlich völlig unhaltbar ist, sagt uns schon der normale Menschenverstand, daß das nie im Leben stimmen kann. Ist Faust eine Regiekunstwerk? Hamlet? Endstation Sehnsucht? Die Zauberflöte? Nora oder ein Puppenheim? Das wagen auch die Filmwissenschaftler nicht ernsthaft zu behaupten, aber warum sollen die Verfilmungen dieser Stücke jetzt plötzlich Regiekunst sein? Durch welche Magie? Ich denke, da kommen die Apologeten der Regisseurskunst schon ins Stammeln.

Sie können bestimmt die Titel von fünf Theaterstücken von Shakespeare nennen, obwohl die vor vier Jahrhunderten geschrieben wurden. Es dürfte Ihnen aber schwer fallen, fünf Regisseure aus den letzten fünfzig Jahren zu nennen, die Shakespeares Dramen für die Bühne inszeniert haben. Wer ist hier bitte der wahre und zu Recht berühmt gewordene Künstler?

Vergleichen Sie einmal ein Theaterstück mit einem Drehbuch und Sie werden sofort erkennen, daß ein Drehbuch sehr viel genauer vorschreibt, was gesagt werden und was zu sehen sein soll und was die Schauspieler tun sollen. Der kreative Spielraum, den ein Theaterregisseur hat, ist sehr viel größer als der, den ein Filmregisseur hat.

Was ist denn nun die schöpferische Leistung eines Regisseurs, die ihn zum Film-Künstler macht? Ich weiß es nicht, und mir hat es auch noch niemand erklären können. Daß ein Regisseur eine Art Feldherr sein und eine ganze Truppe, das Filmteam, dazu bringen muß, in einer vorgegebenen Zeit und mit einem vorgegebenen Budget einen Film zu drehen, ist zweifelsohne eine große Leistung. Ich könnte das nicht. Aber das sind Führungsqualitäten. Etwas zu sagen zu haben, ist etwas ganz, ganz anderes. Ich glaube, das Künstlerische an einem Regisseur reduziert sich auf ein paar minimale stilistische Eigenheiten — wie zum Beispiel die Entscheidung eines Autors, längere Sätze zu schreiben und eines anderen, öfter mal einen Punkt zu setzen.

Der Autorenfilm

In den sechziger Jahren wurde in der französischen Filmzeitschrift Cahiers du Cinema ein neuer Ansatz entwickelt, den man politique des auteurs nannte und mit dem man die Position des Drehbuchautors — der bis dahin völlig machtlos den Direktiven der großen Studios, der unkreativen Einflußnahme von Produzenten (und Regisseuren!) und dem Umgeschrieben- und Verschlimmbessert-Werden durch routinierte alte Hasen ausgeliefert war — stärken wollte. Man forderte, nicht jedes Drehbuch durch den Mainstream-Kommerzprodukt-Fleischwolf zu drehen, sondern den Autor die Regie und eine Art Gesamtverantwortung übernehmen zu lassen, um die ursprüngliche künstlerische und manchmal recht originelle Vision möglichst intakt zu erhalten.

Es kann uns hier nicht weiter beschäftigen, wie mit den Jahren, in einer der ironischsten Wendungen der Filmgeschichte, aus dem Autor, dem man helfen wollte, seine ursprüngliche Vision über die Runden zu retten, der Regisseur wurde, dessen handwerkliche Umsetzung der Worte in Bilder auf einmal der entscheidende künstlerische Akt sein sollte und der den Ehrentitel — der Gipfel an Unsinn! — auteur, Autoren-Filmer bekam.1 Wir wollen von dem Ganzen behalten, daß das Drehbuch einmal als das konstituierende und mit Abstand wichtigste Element eines Films und fast schon als eine Art Heiligtum betrachtet wurde — so wie ein Theaterstück heute noch immer und mit Recht angesehen wird.

Film und Schauspielkunst

Von allen an der Herstellung eines Films Beteiligten wird niemand höher bezahlt als die Stars — die Schauspielerinnen und Schauspieler, welche die Heldinnen und Helden der Filme verkörpern.

Stars seien, sagt man, die »Tür« in die Story — die Zuschauer interessieren sich sehr viel mehr für das, was die Heldin oder der Held des Films treiben, wenn sie von Angeline Jolie oder Brad Pitt gespielt werden statt von namenlosen Allerweltsschauspielern.

Stars haben die Qualität — und das macht sie eben zu Stars —, die Identifikation der Zuschauer mit der Heldin oder dem Helden der Story schneller und stärker auszulösen. Das nennt man die Aura, die Ausstrahlung, das Filmogene, das Charisma der Stars — kurz: die Star-Qualität. Das ist eine Begabung, die man nicht lernen kann und die uns diese Frauen und Männer bewundern und lieben läßt.

Nun passiert aber folgendes: Wir finden Stars vor allem deswegen so toll, weil wir sie — fälschlicherweise! — mit ihren tollen Helden- und Heldinnen-Rollen identifizieren. Das Mutige, Geistreiche, Charmante, Kämpferische oder Schurkische, das wir bewundern, wird aber nicht vom Menschen Robert de Niro geleistet (der ansonsten, privat, ein Supertyp sein mag), sondern vom Helden der Story, der von dem Schauspieler Robert de Niro dargestellt wird.

In Hollywood empfiehlt man den Drehbuchautoren, Heldinnen und Helden zu kreieren, die so faszinierend sind, daß die Stars sie unbedingt spielen wollen. Ein Drehbuch habe dann große Chancen verfilmt zu werden, sagt man, wenn ein Star bereit ist, die Hauptrolle zu spielen.

Viele Filme mit großen Stars floppen aber, weil die Schauspieler und Schauspielerinnen die dürftig konzipierten Hauptrollen, die sie spielen müssen, nicht mit Leben füllen können. Für den Star interessieren sich noch immer Millionen, aber nicht für den blassen und unsympathischen Helden des Films und sein langweiliges Tun — die Rolle, die der Star unglücklicherweise zugesagt hat zu spielen.

Ist es also so, daß die Heldin oder der Held der Story — und nicht der Star! — die Garanten für den Erfolg eines Films sind? Entsteht dadurch die Filmwirkung? Auf Grund von brillant geschriebenen Heldinnen- und Heldenrollen?

Schon richtig, aber das müssen wir ein bißchen präziser fassen. Ein Drama ist Handlung. Entsteht also die Filmwirkung auf Grund des packenden Schicksals eines Einzelnen? Des bewegenden Kampfes einer Frau und eines Mannes um ihr Glück?

Kommen wir damit nicht schon beim Autor an? Dem ursprünglichen Schöpfer des Filmdramas — der Person, welche die Figur des Helden erfindet, seine Geschichte entwirft, die Handlung beschreibt und das Ganze in Szenen aufteilt?

Inhalt

Es ist ein erwähnenswertes Kuriosum, daß Filmwissenschaft und Filmkritik der Überzeugung sind, eine Love Story auf einem Luxusdampfer könne nur kommerzieller Hollywood-Schwachsinn sein — oder habe nur dann eine Existenzberechtigung, wenn der Untergang der »Titanic« als Metapher für den Technik- und Fortschrittswahn der Neuzeit gelesen werden kann —, die Geschichte einer lesbischen Türkin aus Berlin Kreuzberg dagegen, die über den zweiten Bildungsweg zu einer erfolgreichen Verlagschefin wird und mit kurdischer Exilliteratur reüssiert, müsse zwangsläufig wertvoll, wenn nicht gar Filmkunst sein. Geht es also um einen wertvollen Inhalt?

Fernsehen übrigens, so weit es nicht triviale Unterhaltung ist, geht von dem gleichen Ansatz aus: daß sich ein Fernsehfilm als wertvoll und preiswürdig durch einen hochanständigen Inhalt beweist. Das liegt auf demselben Argumentationsniveau, als würde man sagen, van Goghs Selbstporträt sei keine Kunst, weil man ja eigentlich das Elend der gequälten Menschheit darstellen muß.

Ihnen ist bestimmt auch schon aufgefallen, daß in den letzten Jahren mehr und mehr Preise für Filme, Lieder oder Bücher von aufdringlicher political correctness vergeben werden. Vielleicht versteht in den Jurys niemand wirklich etwas von der Qualität eines Kunstwerks und richtet deswegen seine Beurteilung an der (spießigen) Hochanständigkeit des Inhalts aus.

Aber daß Film am Ende gar eine Inhaltskunst sein soll, erinnert fatal an nationalsozialistische Machwerke und sozialistischen Realismus, und darüber erübrigt sich jede weitere Bemerkung.

Story

Gibt es eine Story-Qualität, wie es eine Star-Qualität gibt? Gibt es aufregende Stories? Filmwirksame Stories? Kommerzielle Stories? Stories, die man eher verfilmen sollte als die anderen — die langweiligen oder schon tausendmal gesehenen?

Ist die Originalität der Story entscheidend? Aber was ist mit dem Originalitätswert der Story »Cop soll Mord aufklären« — im Fernsehen und im Kino zehntausendmal gesehen, und noch immer eine der populärsten Stories?

Oder ist es vielleicht die höchst originelle Variante der einen abgegriffenen Kriminalstory, welche die Zuschauer so fasziniert? Nein, die Menschen haben sich zwei-, dreitausend Jahre und mehr immer die gleichen Geschichten, Sagen, Legenden und Mythen erzählt. Etwas muß also dran sein an den Stories, die auch nach Tausenden von Jahren immer noch die gleiche Faszination auf uns ausüben. Es reicht anscheinend aus, wenn es nur um »Cop soll Mord aufklären« geht.

Aber was ist diese zeitlose Qualität? Die Qualität, die irgendwo in der Story versteckt sein muß? Die Qualität, die wir vielleicht unterhalb der Plot-Oberfläche finden können?

Es drängt sich auf, daß es die Struktur der Story selber sein muß, von der die Qualität ausgeht, das — unglaublich, aber wahr — ganz einfache Strickmuster. Aber wie kann das sein? Was hat dieses Strickmuster denn so Besonderes an sich, daß die Menschen seine Wirkung immer wieder erleben wollen?

Genau das werden wir zu klären haben, und wenn wir das getan haben, werden wir sehen, daß fast alles von dem, was als anerkannte Kunst gilt oder was ein filmisches Meisterwerk sein soll, entweder vom visuellen Stil oder vom Inhalt her legitimiert wird. Und wenn von der Struktur gesprochen wird, dann ist immer nur die dramatische Konstruktion der Story gemeint — die Konstruktion! nicht die Struktur! — und das, was gewöhnlich als Filmkunst in den hohen Himmel gehoben wird, sind die Filme, die das — anscheinend wertlose, blöde, spießige, langweilige, nichtssagende, altmodische — Strickmuster nicht beachten oder nicht kennen, die es gegen den Strich bürsten, ironisch verfremden oder der Lächerlichkeit preisgeben, oder die es verletzen und zerstören.2

Wir hingegen werden feststellen, daß es sich genau umgekehrt verhält und die Qualität, die die Menschen berührt, ausgerechnet im — bleiben wir ruhig bei dem abwertenden Ausdruck — Strickmuster zu finden ist.

Vornehmer ausgedrückt: in der Struktur.

Diese Struktur soll angeblich die dramatische Struktur sein und jedes Drehbuchhandbuch — bis auf das von Christopher Vogler (Die Odyssee des Drehbuchschreibers), auf den wir noch zu sprechen kommen werden — empfiehlt, eine Story perfekt dramatisch zu konstruieren, um einen erfolgreichen Film bekommen.

Die Empfehlung muß nicht falsch sein und vielleicht (vielleicht!) bekommen wir am Ende wirklich einen erfolgreichen Film, aber die Heldenreise ist Tausende Jahre alt und die größten Erzähler, Schriftsteller und Dichter der Menschheit haben sich neben Seelendoktoren und Therapeuten dieser Struktur bedient. Es leuchtet unmittelbar ein, daß sie das nicht getan haben — genauso wenig wie vor fünftausend Jahren ein Medizinmann in Zentralafrika —, um damit kommerziellen Erfolg zu haben.

Sie alle haben die Struktur der Heldenreise angewandt, um den Menschen etwas zu zeigen und zu erklären, um ihnen etwas Hilfreiches und Heilendes an die Hand zu geben.

Ist Film eine dramatische Kunst?

Zwar erzählt man sich schon lange unter Filmleuten das Bonmot — es wird mal Samuel Goldwyn, mal Billy Wilder zugeschrieben —, daß man zu einem guten Film drei Dinge brauche: ein gutes Drehbuch, ein gutes Drehbuch und ein gutes Drehbuch.

Aber wie bekommt man ein gutes Drehbuch? Das Drehbuch also, das angeblich garantiert, daß der Film gut wird? Indem man das Visuelle betont? Verfolgungsfahrten, Liebesszenen, Prügeleien, Schauplatz- und Schuß-, aber wenig Wortwechsel? Das empfiehlt niemand ernsthaft.

Indem man eine faszinierende Heldin oder einen coolen Helden entwirft? Indem man eine originelle Story erfindet? Schon besser. Aber nicht genug. Nicht ganz richtig.

Vom Beginn der Filmkunst an hat man angenommen, daß der Film dem Drama und dem Theater nahesteht. Viele Begriffe aus der Welt des Films belegen das: Spielleiter und Regisseur, Filmschauspieler, Lichtspiel, Filmtheater, Inszenierung, Szene, Vorhang im Filmtheater usw. Was das Drehbuch eines Films betrifft, so spricht man auch in Begriffen, die der Dramentheorie entlehnt sind: Exposition, erregendes Moment, Szene, Wendepunkt, Schürzung des Knotens, Steigerung des Konflikts, Akteinteilung usw.

Wenn Film eine dramatische Kunst ist und dem Theater nahe steht, dann zunächst einmal deswegen, weil er eine Handlung, ein Geschehen, ein drama, wie das griechische Wort heißt, vorführt.

Es war in der Geschichte der dramatischen Künste aber so, daß man all die Handlungen, die wir so gerne im Kino sehen und die von Schiller und Goethe das Epische genannt wurden — Massenbewegungen, Reisen über Land, über und unter Wasser oder durch die Luft, Kämpfe, Schlachten, Kriege, große Naturkatastrophen, Explosionen und so weiter —, wegen der Beschränkungen der technischen Mittel nicht auf der Bühne zeigen konnte. Das alles konnte, bis auf ein paar mehr oder minder überzeugende Theatereffekte, nur mit Worten geschildert werden — genau wie in literarischen Werken, in Erzählungen, Sagen, Legenden, Mythen, Märchen und Romanen.

Was den Film so deutlich vom Theater unterscheidet und was ihn so aufregend und publikumswirksam macht, ist, daß er das sogenannte Epische, das man im Theater nicht sehen und das man bis zum Beginn der Filmkunst nur lesen oder hören konnte, sozusagen wirklichkeitsgetreu vorführen kann.

Also kann die Antwort, Film sei eine dramatische Kunst (und gute Drehbücher seien dramatisch perfekt konstruierte Stories) nur halb richtig sein. Das filmisch so wichtige Epische kommt dabei nicht zu seinem Recht.

Aber bleiben wir beim Stichwort Drama, denn damit kommen wir der Lösung unseres Problems sehr viel näher als mit der oberflächlich-phänomenologischen Betrachtung visuell aufregender epischer Szenen.

Wir müssen das Wort dramatisch in zwei Teilen betrachten. Zum einen beinhaltet es natürlich das Zeigen von Handlungen, und im Film vor allem der so genannten epischen Handlungen.

Was uns aber interessiert, ist das Dramatische im Sinne einer spezifischen Konstruktion der Erzählung, so wie sie mit dem Theater aufgekommen war: Fehlen des Erzählers, Abgeschlossenheit der Erzählung, Einheit der Handlung (ein zentraler Konflikt), Erregung von Angst um den Helden und von Hoffnung, daß es gut ausgeht, Kampf des Helden um Auflösung des einen Konflikts und damit so genannte kathartische Reinigung von starken Gefühlen der Angst (Spannung) und Hoffnung (Identifikation oder Mitgefühl mit dem Helden).

Es wird oft behauptet, daß eine Story im Kino nicht funktioniert, wenn sie episodisch, locker, erzählerisch aufgebaut ist, sondern nur dann, wenn sie dramatisch konstruiert ist.

Ich will nicht langweilige Filme verteidigen, aber mit der Idee der dramatischen Konstruktion verabschiedet man sich von jedem Versuch, das Spezifische der Filmkunst zu begreifen und vernünftige Erklärungsmodelle anzubieten.

Film erschöpft sich nicht in einer wirkungsvollen dramatischen Konstruktion. Es geht nicht wirklich darum, eine x-beliebige Story spannend-dramatisch zu konstruieren. Es geht um eine Wirkung — aber letztlich um eine andere Wirkung als die, nicht zu langweilen.

Aber von was geht die Wirkung nun aus — wenn es nicht das Visuell-Epische ist? Wenn es nicht die Star-Qualität ist? Wenn es nicht die Regiekunst ist? Und wenn es auch nicht die perfekte dramatische Konstruktion der Story ist, die in jedem Drehbuch-Handbuch empfohlen wird?

Geht sie tatsächlich vom Strickmuster aus? Ja. Das ist die Erklärung.

Aber dieses Strickmuster ist nicht die dramatische Konstruktion, sondern das Strickmuster ist die Heldenreise (die nicht zwingend dramatisch konstruiert sein muß).

Zwischenbilanz

Unbefriedigende Erklärungsversuche noch und noch. Fragen über Fragen. Halbwahrheiten bestenfalls. Sinnvolle Teilerklärungen. Soll man mit einem solchen theoretischen Kuddelmuddel einen Film beurteilen? Oder machen?

Irgend etwas, das erklärt werden müßte, bleibt unausgesprochen.

Ich sage Ihnen, was es ist: Film ist keine Kunst — jedenfalls nicht so, wie das immer verstanden wird. Film ist weder eine dramatische, visuelle, Story- oder Schauspielkunst noch eine moderne — also mit den traditionellen dramatischen Erzählstrukturen spielende oder sie zerstörende — Kunst, wie wir sie im Autorenfilm finden.

Film steht in einem ganz anderen Traditionszusammenhang. Wir müssen sehr weit zurückgehen, wenn wir die Wurzeln des Films finden wollen.

Hoffentlich nicht bis zu Adam und Eva, denken Sie. Doch. Genau dorthin müssen wir zurückgehen.

Der Paradiesmythos

Seit es uns Menschen gibt, seit es den Homo Sapiens gibt, leiden wir unter der Schwere des Daseins. Wir sind unzufrieden und unglücklich, weil das Leben zu großen Teilen aus Ängsten, Enttäuschungen, Niederlagen, frustrierten Anstrengungen, Geldmangel, Mißerfolgen, Fieslingen, Lügnern, Betrügern, Krankheiten und Tod — und wenig Glück und Erfolgen besteht. Wir wissen nicht, warum wir auf der Welt sind oder warum Gott die Welt so grausam eingerichtet hat. Manchmal kommen wir uns seltsam fremd und verloren auf dem blauen Planten vor, und wir fühlen uns ständig bedroht — ob von der Atombombe, von Umweltkatastrophen oder von Terroristen.

Die meisten von uns leiden nicht einfach dumpf und ergeben vor sich hin. Wir entwickeln ein Bewußtsein für die Lage, in der wir uns befinden, ein Nachdenken darüber, wie man sie ändern könnte. Wir fragen uns, ob »das« schon alles ist oder ob es nicht doch eine Möglichkeit gibt, zufriedener, ruhiger und glücklicher zu werden.

Wir Menschen scheinen zu spüren, daß es etwas Besseres geben könnte und daß es möglich sein müßte, aus dem gegenwärtigen armseligen Leben hinaus in ein glücklicheres Dasein zu kommen.

Das ist, könnte man sagen, das größte Thema der Menschheit und anscheinend auch ein ewiges — seit Urzeiten.

Irgendwann in der Geschichte der Menschheit bildete sich so etwas wie eine erste geschichtsphilosophische Ansicht heraus. Einige Menschen erzählten — überall auf der Welt, in allen Kulturen —, daß der Zustand der Welt deswegen so fürchterlich sei, weil die Urahnen zwar einmal in einem Reich unendlicher Fülle und Glückseligkeit gelebt hatten, aber daraus vertrieben worden waren.

In den Mythen der Völker heißt dieses Reich »Paradies« oder »Garten Eden«, die Aborigines Australiens bezeichnen die glückliche erste Zeit der Menschheit als die »Traumzeit«. Sie wird auch das »Goldene Zeitalter«, die »Vorzeit« oder die »Zeit der Urahnen« genannt. Damals lebten die Menschen, erzählte man sich, noch bei Gott, in seiner Nähe, und gingen nicht im Stadtwald, sondern in seinem Garten spazieren. Man sagt auch, daß eine Brücke die Erde mit dem Himmel und die Urahnen mit den Göttern verband.

Lange Zeit befolgten unsere Urahnen, nennen wir sie Adam und Eva,3 die Gesetze der Götter und lebten in Rechtschaffenheit. Aber eines Tages wurden sie angeblich selbstherrlich und übermütig — und verloren das Paradies. Eine Geschichte erzählte, daß es neben den guten Göttern auch böse Mächte, zum Beispiel Teufel in Gestalt von Schlangen, gab, die so etwas wie den Paradiesverlust und alles mögliche andere Schmerzliche und Schlechte im Leben bewirken konnten.

Was nie recht klar wurde, war, ob das Paradies der Gottesnähe eine glückliche Zeit (»Goldenes Zeitalter«) oder ein schöner Platz (»Garten Eden«) gewesen war. Auf jeden Fall war das Paradies weit weg, vorbei, verspielt, verloren.

Weise Frauen und Medizinmänner

In ihrer Verlorenheit fragten die Menschen andere um Rat. Die meisten wußten es auch nicht besser, aber immerhin gab es doch einige wenige, die Antworten zu haben schienen. Diese wenigen schienen irgendwie mit der Welt der Urahnen oder mit den Göttern und ihrer Welt in Verbindung zu stehen und über ein besonderes Wissen zu verfügen. Sie machten den Eindruck, als seien sie schon einmal »drüben«, bei den Urahnen, im Paradies gewesen. Man nannte sie weise Frauen, Priesterinnen und Zauberinnen oder weise Männer, Medizinmänner und Schamanen. Man hielt sie für Auserwählte der Götter und betrachtete sie mit Ehrfurcht und Bewunderung.

Diese weisen Frauen und Medizinmänner brachten einen revolutionären Gedanken in die Welt. Sie behaupteten, die Menschen könnten zu Lebzeiten die verloren gegangene Seinsweise des Paradieses — welche die normale, eigentliche, natürliche, ursprüngliche Seinsweise aller Menschen sei — wiederfinden; sie könnten wieder mit den Göttern in Verbindung treten und wie die Urahnen in ihrem Garten und nach ihren Gesetzen leben. Die weisen Frauen und Medizinmänner versprachen, mit ihrem Wissen, ihrer Erfahrung und ihren Zauberkräften den Menschen zu helfen, das zu erreichen.

Damit entstand der schönste und großartigste geistige Entwurf der Menschheitsgeschichte — eine therapeutisch wirksame Praxis, mit der man das, was in der Evolution schief gelaufen war, was der Schöpfer verbockt oder der Teufel kaputt gemacht hatte, wieder heilen und jedem Menschen helfen konnte, zur »paradiesischen« Weise, das heißt: der eigenen gesunden ursprünglichen, aber verloren gegangenen Seinsweise, zurückzukehren.

Den langen Weg zurück zur verloren gegangenen normalen und gesunden Seinsweise nennt man Heldenreise.

Die Zauberinnen und Medizinmänner wurden etwas konkreter: Es gebe keinen Ort und keine Zeit, die man Paradies nenne, sondern »Paradies« sei nur ein anderes Wort für einen bestimmten positiven, glücklichen Seinszustand des Menschen. Der eben sei verloren gegangen und seitdem sei das Leben mühselig und seien die Menschen unglücklich.

Nach Auffassung dieser Männer und Frauen war es so, daß Teufel, böse Geister, den Menschen etwas ungeheuer Lebenswichtiges und das Leben einfach Machendes geraubt hatten. Die Menschen seien nicht irgendwie unzufrieden und vage unglücklich, sondern sie seien unvollständig, sie seien defizitär (gemacht worden). Das Paradies war Fülle gewesen, aber jetzt herrsche ein Mangel, den eine jede und ein jeder spüre. Der ursprüngliche Zustand sei Ganzheit und Vollständigkeit gewesen, aber jetzt fehle etwas. Und was ganz wichtig sei zu begreifen: Nicht draußen in der Welt, in der Wirklichkeit, sei etwas verloren gegangen (das Goldene Zeitalter, der Garten Eden), sondern in einem jeden Menschen, im Inneren des Menschen sei etwas weg.

Es ging also nicht darum, die schlechte Welt wieder zu einem (wie auch immer definierten) Paradies umzuformen, sondern der Aufruf ging an alle Menschen, an sich selber zu arbeiten, die Lücke zu spüren, das Fehlende zu identifizieren und zu ersetzen oder sich das, was »geraubt« worden sei, wieder zurückzuholen.

Böse Geister hätten, sagten die Medizinmänner, die Seele geraubt. Es gelte, die bösen Geister aufzuspüren, sie zu bekämpfen und die verlorene Seele zurückzuerobern, um sich wieder vollständig zu machen.

Einige tausend Jahre später, um genauer zu sein: im Jahr 1980, waren die Diagnose der Zauberinnen und der Therapievorschlag der Medizinmänner noch immer gültig und man sprach von den Jägern nach dem verlorenen Schatz (der Seele). Wie unsere Vorfahren sind wir der Überzeugung, daß der Teufel hinter der (armen) Seele her ist, und noch immer sprechen wir bei den Menschen, denen böse Geister die Seele (griechisch: psyche) geraubt haben, von psychischer Erkrankung.

Ein Wissenschaftler unserer Zeit, der eindeutig in der Tradition der Medizinmänner steht, der Psychologe C. G. Jung, sagt, das höchste Ziel der menschlichen Entwicklung sei die Wiederentdeckung und dann die Befreiung und Wiederinbesitznahme der von einem bösen Geist gefangen gehaltenen Seele.4

Jesus sagte: Dann werde man wieder zu einem Kind (des Paradieses). Die Heldenmythen sagen: Dann werde man eine Heldin oder ein Held.

Angst und Ich-Erhaltung

Es gab ein großes und auch für Zauberinnen und Zauberer, die allerlei magische Praktiken beherrschten, schier unüberwindliches Problem: Trotz der Sehnsucht der Menschen, sich wieder glücklich, ganz und heil zu fühlen, gab es sehr starke — und zunächst völlig unerklärliche — Widerstände gegen die therapeutische Praxis. Die Menschen hielten mit aller Kraft am unglücklichen Status quo, in dem sie sich gegenseitig das Leben zur Hölle machten, fest. Obwohl alle sich nach einem Leben in der paradiesischen, erfüllenden Welt sehnten, schien niemand die Reise dorthin auf sich nehmen zu wollen.

Was war die Erklärung dafür? War der Weg zurück ins Paradies vielleicht zu schwierig?

Ja, sagten die weisen Frauen und Männer, aber nur deswegen, weil sich die Menschen selber im Wege standen, weil sie Widerstände produzierten, weil sie sich gegen ihr Glück wehrten.

Für die Zauberinnen und Schamanen konnte es nur eine Erklärung für die Weigerung der Menschen geben, sich ihre geraubte Seele wiederzuholen: Die Menschen hatten panische Angst vor dem schrecklichen Ungeheuer, das ihnen die Seele geraubt hatte, und wagten es nicht, ihm gegenüber zu treten und es herauszufordern. Die Menschen bauten eine Mauer der Angst auf, die sie vor einer Konfrontation mit dem Ungeheuer schützte, die sie aber andererseits auch daran hinderte, wieder vollständig und glücklich zu werden.

Die Diagnose »panische Angst« galt um so mehr, je vehementer die Menschen darauf beharrten, keineswegs von einem Teufel ihrer Seele beraubt worden zu sein, und je sturer sie darauf bestanden, rundum glücklich zu sein und keine Hilfe von Medizinmännern nötig zu haben. Gerade damit gaben sie unfreiwillig preis, wie groß ihre Angst wirklich war: Weil sie solche Angst vor dem Ungeheuer hatten, leugneten sie einfach seine Existenz und konnten folglich auch nie sein Opfer geworden sein.

Diese Haltung hatte eine — in seinen Folgen für alle Menschen — grausame und mörderische Konsequenz und macht die Welt bis heute zur Hölle. Denn wer behauptete, nicht beraubt, defizitär, unvollständig zu sein, behauptete damit auch gesund und vollständig, ja, perfekt, vollkommen zu sein.

Warum war die Welt trotzdem ein so fürchterlicher Platz? Wenn doch alle Menschen perfekt waren?

Die Antwort, die sich die Menschen selber gaben, war sehr schlicht: Nur man selber war perfekt, alle anderen Menschen hatten schlimme Fehler — und waren diejenigen, die am schlechten Zustand der Welt schuld waren. Also weg mit ihnen. Kopf ab.

Um besser zu verstehen, was das Problem ist, können wir die damalige Diagnose — panische Angst vor dem Ungeheuer — mit heutigen Worten wiedergeben: Dann lautet die Diagnose, daß die Menschen an dem litten und leiden, was wir Selbst-Erhaltung nennen, Erhaltung ihres eigenen Standpunkts. Richtig muß es aber Ich-Erhaltung heißen, denn das Selbst ist, nach C. G. Jung, der Begriff, der die Ganzheit des Paradieses bezeichnet. (Dieser Unterschied zwischen Ich und Selbst wird uns ab hier zentral beschäftigen.)

Die Menschen waren also, von Angst getrieben, nur an einem interessiert — an der Erhaltung der nach-paradiesischen, gottfernen Persönlichkeit, obwohl es doch gerade diese beraubte und unvollständig gemachte Ich-Persönlichkeit war, die sie unglücklich machte.

Es war ein Teufelskreis: Die Angst vor dem Ungeheuer führte dazu, daß man an seinem unvollständigen Ich festhielt, um ja nicht wieder in Berührung mit dem schrecklichen Seelenräuber zu kommen. Und weil man nicht den Mut hatte, dem grausamen Ungeheuer entgegen zu treten, kam es auch nie dazu, daß man seine geraubte Seele zurückforderte und die wahre, gesunde, vollständige, paradiesische Ganzheit wiedergewann — daß man in der Sprache der Heldenmythen, ein Held oder eine Heldin wurde.

Es schien nur eine einzige Möglichkeit des Ausbruchs aus diesem Teufelskreis zu geben: Wenn es den Menschen sehr schlecht ging, wenn sie von Schicksalsschlägen erschüttert wurden und nicht mehr weiter wußten — wenn sie also richtig litten —, kamen sie auf Knien zu den weisen Frauen und Männern gekrochen und baten um Hilfe, beteten und opferten den Göttern und machten alle möglichen Versprechungen für die Zukunft, nur, damit es ihnen wieder besser ging. Dann konnten sich die Menschen nämlich nicht mehr der Erkenntnis verschließen, daß das ach so großartige eigene Ich doch nicht so allmächtig und allwissend war, wie sie immer behauptet hatten, sondern daß sie woanders Hilfe, Weisheit, Antworten suchen mußten.

Leid, großes, am eigenen Leib erfahrenes Leid — also Schwächung der panisch ängstlichen, aber gleichzeitig von sich eingenommenen und dem Schicksal der anderen gleichgültig gegenüber stehenden Ich-Persönlichkeit — zwang die Menschen, über das Ich hinaus zu denken und sich an etwas Anderes heranzuwagen.

Das brachte die Zauberinnen und Medizinmänner auf zwei Ideen. Die eine war, das sich immer mit allen Mitteln erhaltende Ich für kurze Zeit außer Kraft zu setzen, um die Menschen eine Grenzüberschreitung erfahren zu lassen und sie in Berührung mit etwas Anderem — vielleicht der geraubten Seele — zu bringen. Das klappte einigermaßen gut mit Rauschzuständen, Ekstase-Techniken, Musik, Rhythmen und Tänzen, blieb aber auf die Dauer der schönen und beglückenden Erfahrung begrenzt und führte in den seltensten Fällen zu der bewußten und mutigen Entscheidung, das Ungeheuer zu erschlagen, die geraubte Seele zurückzustehlen und sie sich wieder auf Dauer zu eigen zu machen.

Also blieb das Unglück und blieben die Ängste, weil die bösen Geister, die Seelenräuber, am Leben blieben. Die meisten von uns haben schon erlebt, daß die Sorgen, Ängste, eitlen Träume und unbegründeten Hoffnungen des Ich am nächsten Morgen auch dann noch da sind, wenn man sich am Vorabend durch Alkohol oder andere Drogen erfolgreich betäubt hat.

Das kennen wir alle auch von unseren Liebesbeziehungen: Am Anfang ist die Welt rosenrot, man lebt und liebt in symbiotischer Einheit und kommt, so ungefähr für drei Monate, nicht mehr aus der Kiste heraus. Aber dann meldet sich der Alltag zurück, Ernüchterung tritt ein und früher oder später ist man wieder da, von wo aus man gestartet war.

Die Weise der kurzfristigen Erfahrung der verloren gegangenen Welt hatte im übrigen die schlimme Eigenschaft, sich abzunutzen,5 und immer neue Kurzreisen mit Drogen und anderem Zauberkram hatten unangenehme Nebenwirkungen und kontraproduktive Spätfolgen, welche die positiven Ergebnisse überwogen.

Immerhin konnte die Erfahrung von Rauschzuständen aller Art helfen, die Menschen spüren zu lassen, daß es hinter der Mauer der Angst nicht nur schreckliche Ungeheuer, sondern etwas unendlich Schönes und Beglückendes gab. So erfuhren die Menschen wenigstens einmal — wenn auch nur für ein paar geliehene Stunden oder ein paar Monate Verliebtheits-Phase —, wie es sich anfühlte, im Paradies zu leben.

Die andere Strategie, welche die Zauberinnen und Medizinmänner entwickelten, sollte größeren und dauerhafteren Erfolg versprechen — den Menschen nicht nur für ein paar Stunden die Gelegenheit zu geben, sich in ein künstliches Paradies zu flüchten, sondern das Ich-Bewußtsein, das diese Erfahrung ja gerade verhinderte, und das vor und nach den Rauschzuständen ja erhalten blieb und nur zeitweise ein bißchen außer Kraft gesetzt wurde, gründlich zu zerstören.

Man mußte irgendwie versuchen, die ängstliche oder eitle Ich-Erhaltung unmöglich zu machen, um die Menschen zu ihrem Glück zu zwingen — in dem Sinn, wie wir das heute noch sagen, wenn wir ganz sicher sind, daß wir es besser als der Betroffene wissen: Der und der gehört geprügelt, wenn er diese Frau aufgibt oder diesen Job nicht annimmt.

So lange das Ich stark war, hielt es sich am Leben — und aus dem Paradies heraus.

»Das habt ihr jetzt davon«, konnten die Medizinmänner den Menschen da nur sagen, »es ist zwar nicht eure Schuld, daß ihr nicht mehr im Paradies lebt, das haben eure Urahnen verbockt, aber es ist ganz allein eure Schuld, wenn ihr nicht wieder dahin zurückkehrt.«

»Blödsinn!« antworteten die Menschen. »Was redet ihr alten Säcke da für eine Scheiße? Die anderen sind schuld! Die da! Und der da! Und der da hinten, der mit dem Splitter im Auge!«

Ich glaube nicht, daß irgendein Medizinmann, in welcher Zeit, in welcher Kultur oder bei welchen Völkern auch immer, sich dazu verstiegen hätte, den Menschen ein schweres Schuldgefühl wegen einer Tat einzureden, die sie nicht begangen haben. Das blieb christlichen Medizinmännern vorbehalten und damit haben sie viel Unheil angerichtet und der Vorwurf Sünde ist in diesem Zusammenhang gänzlich unangebracht. Wenn man von Erb-Sünde spricht, dann trifft das den Sachverhalt überhaupt nicht, aber andererseits stimmt es, daß wir Menschen unter einem schweren Erbe leiden, für das man die Urahnen, Gott, den Teufel, unsere Eltern oder die Evolution verantwortlich machen muß.

Man sollte Erbsünde als Unwort aus dem Sprachgebrauch streichen und endlich für das, was uns Menschen alle — völlig unverschuldet — schwer belastet, das Wort Erblast oder Altlast einführen.

Die Initiation

Und die Zauberinnen und Medizinmänner machten sich ans Werk, das Ich — die Summe von Unbewußtheit, Blindheit, Angst vor dem Seelenräuber, Verdrängung, Verstocktheit, Gottferne, Paradies-Vergessenheit, Überheblichkeit, Ichgefälligkeit, Rechthaberei und Eitelkeit — zu schwächen und zu vernichten.