Über das Buch

Die Elemente-Reihe geht in die nächste Runde. Nach Wasser und Feuer beschäftigen wir uns in diesem Band mit Luft – dem flüchtigsten, leichtesten und beweglichsten der vier Elemente. Es steht für Austausch und Kommunikation, für zwischenmenschliche Beziehungen. Für das Knistern im Raum, wenn es zu atmosphärischen Spannungen kommt, und die gewitterähnliche Entladung, die oft in hitzigen Diskussionen oder handfestem Streit mündet. Luft steht auch für alles Mentale, für den Geist, für Fantasie, Neugier und Flexibilität.

Auch unsere Autorengruppe erwies sich erneut als flexibel und erweiterte ihren Kreis. Sturmgesang, unsere dritte Anthologie, umfasst sechzehn Geschichten von zehn Autor*innen.

Bereits erhältlich als Taschenbuch und Ebook:

JAHRHUNDERTFLUT – Hochwassergeschichten aus Köln

ISBN 978-3-7431-6180-1

FLAMMENSPIEL – Geschichten über das feurige Element

ISBN 978-3-75283-253-2

Impressum

Sturmgesang

Geschichten über Luft, Liebe und das Leben

Anthologie-Reihe „Elemente“, Buch 3

Köln, 2019 © Ingmar Ackermann, Anke Breuer,

Agnes Decker, Norbert Görg, Angela Hoptich, Oliver Kreuz,

Anna Rudy, Sarah Schönfeld, Nina Weber, Katja Winter

Gestaltung: www.coverboost.de

Bildmaterial: C. Gornik, A. Decker, pexels

Herstellung und Verlag:

BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt

Bibliografische Daten über www.dnb.de abrufbar.

ISBN 978-3-74942-435-1

Inhalt

STURMGESANG

Anna Rudy

BORG

Wenn Borg in Lillys Augen schaut, wird ihm oft schwindelig. Sie ist immer einen Schritt voraus und zieht ihn in Abenteuer. So wie jetzt, während sie in einem Flugzeug sitzen, das sie in paar Minuten verlassen werden – obwohl es fliegt. Das ist nicht ihr erster gemeinsamer Sprung, doch ist Borg nervös. Lilly ist auch aufgeregt, aber auf eine andere Weise. Er weiß es, er spürt ihre wahnsinnige sexuelle Energie. Nachdem sie das erste Mal gemeinsam gesprungen waren, wollte er das nie wieder machen, aber die Nacht nach dem Sprung hatte ihn vom Gegenteil überzeugt. Sie beide waren im Rausch. Solche Höhepunkte hatten sie noch nie erlebt. Nach dem ersten Sprung kam der nächste und der nächste, und jedes Mal testete Lilly ihre Grenzen aus. Jedes Mal wollte sie länger in der Luft bleiben, länger schweben und erst in der letzten Sekunde die Reißleine ziehen. Es wurde immer riskanter, aber jede folgende Nacht hatte bis jetzt die vorherigen übertroffen.

Bevor es losgeht, schaut Borg in Lillys Augen, in dieses stürmische Blau, voller Unruhe und Geheimnisse. Sie will nicht, dass er sie so anstarrt und sie kräuselt die Lippen.

„Hab keine Angst, Mausi.“

Das ist die Herausforderung. Sie kennt ihn viel zu gut. Borg will sich nicht provozieren lassen, aber auf Anhieb wird ihm heiß, sein Puls beginnt zu rasen.

„Mal sehen, wer von uns beiden die Mausi ist. Diesmal wirst du die Vernünftige von uns beiden sein.“

Die gelbe Lampe blinkt. Ohne ein weiteres Wort schieben Borg und Lilly die Schutzmasken über die Augen und gehen mit kleinen Schritten entlang der Stange zum Ausgang. Sie springt zuerst, er zwei Sekunden später.

Borg fliegt durch die Luft. Seine Verärgerung, seine Angst, alles verflüchtigt sich in diesem atemberaubenden Moment. Er ist wie ein Vogel. Nein. Er ist ein Gott, der das alles erschaffen hat: die grünen Wiesen, die sich wie eine Patchworkdecke über die Erde breiten, die kleinen Pfützen von Wasser, die Straßen, mit winzigen Autos, die wie pulsierende Adern aussehen. Die Erde ist rund, von hier aus kann Borg die Wölbung sehen. Er liegt bäuchlings auf einem Strom von Luft und balanciert mit den Armen. Durch die leichten, dünnen Wolken scheint die Sonne, die Luft ist frei von aller Unreinheit.

Er schaut nach oben und sieht die Armada von weißen Wolken, die wie unentdeckte Kontinente über ihm driften. Als Kind dachte er oft, dass da oben, auf den Wolken, der weißbärtige Gott sitzt. Borg lacht. Für viele da unten war er jetzt der Gott, der über sie herfällt.

Er schaut nach links und sieht eine Figur in seiner Nähe. Lilly! Sie fliegt zu ihm, macht Bewegungen mit Händen und Füßen. Das war ihr Spiel. Borg steuert ihr entgegen. Schon bald halten sie einander die Hände, die Beine angewinkelt und balancieren in der Luft. Das Wetter scheint heute sein Bestes zu geben. Borg sieht Lillys Gesicht so nah neben seinem. Ihre blauen Augen hinter der Brille fangen die Sonnenstrahlen auf und glitzern wie Juwelen. So mag Borg ewig verharren, aber sein innerer Takt hält seine Rationalität in Bewegung. Er schaut nach unten, um die Entfernung einzuschätzen, dann auf die Uhr auf seiner Hand.

Lillys Augen verengen sich plötzlich zu Schlitzen. Ein schelmisches Lächeln kreuzt ihre Lippen. Sie hält seine Hände fest. Die angespannte Stimmung, mit der Borg das Flugzeug verließ, kommt wieder hoch. Er ist der Vernünftige, der immer seine Hände entzieht, damit sie beide die Landung einleiten. Lilly zögert es immer hinaus, um ihn später auszulachen. Sie nennt ihn „Weichei“ oder „Mäuschen“, weil er als erster aufgibt. Diesmal wird er ihr diesen Gefallen nicht tun. Borg greift Lillys Hände noch fester und lacht in diese verdammt schönen Augen. Sie nimmt sein Lächeln entgegen und erwidert den Händedruck. Borg schaut nicht mehr nach unten, um das aufkommende Zittern in seinem Körper ignorieren zu können. Er schaut nur in Lillys Gesicht und da will er ein für alle Male alles sehen. Dieser Moment scheint ewig zu dauern, bis Borg eine Veränderung in ihrem Gesicht merkt. Ihr wird unwohl. Borg liest jetzt, wie mit der Lupe, ihre Verwirrung, ihre Verzweiflung, ihre Wut, versteht, was in ihr geschieht. Sie hat Angst und kann nicht aufgeben. Sie wartet, bis Borg scheitert.

„Diesmal nicht, mein Mäuschen. Heute bist du dran“, lacht Borg laut. Sie zögert noch, aber versteht schon, dass er nicht aufgeben wird. Die Zeit rennt ihnen davon.

„Eins, zwei, drei, …“

Borg zählt im Kopf, wie viele Sekunden sie noch unter dem Druck aushalten werden. „Zehn!“ Sie schubst ihn plötzlich weit weg und reißt ihre Hände los. Borg lacht und schreit: „Gewonnen, gewonnen!“

Jetzt wird es aber knapp für ihn. Er schaut nach unten und merkt, dass der Boden viel zu schnell näherkommt. Rasch verändert er die Position, um auf die Landung zu achten. Er zieht die Beine nach unten, macht seinen Körper gerade und schaut routiniert nach Lilly, wie er es immer bei der Landung tut.

Lilly ist in eine schnelle Strömung geraten, als sie sich losstieß, hat sie die Koordination verloren und fliegt jetzt kopfüber abwärts. Wenn sie in dieser Position die Leine reißt, wird sie vom öffnenden Schirm erstickt. Borg eilt zu ihr. Wenn er sie in wenigen Sekunden erreicht, können sie beide mit seinem Schirm landen. Borg fliegt ihr entgegen, der Timer in seinem Kopf zählt die Millisekunden, sein Herz flattert im gleichen Rhythmus, aber seine Gedanken sind langsam und klar. Noch ein paar Meter und er ist bei ihr.

Er streckt die Hand und schreit: „Lilly!“ Sie sieht ihn nicht. Sie ist panisch, sie rudert wie verrückt mit den Armen, sie strampelt mit den Beinen, sie beschleunigt ihren Fall.

„Lilly! Lilly!“, schreit er ihr zu. Sie schaut ihn an. Sie sieht ihn nicht. Ihr Mund ist weit aufgerissen. Das Blau ihrer Augen blickt über den Himmel hinaus. Sie ist viele Meter unter ihm. Er kann sie nicht mehr retten. Er kann sie nicht mehr retten!

„Lillyiii“, schreit Borg und zieht die Leine.

Der Windstoß in seinem Fallschirm reißt ihn nach oben. Aber alles geht schief. Sein Fallschirm nur halb geöffnet, sein Fall wird nicht genug gebremst. Borg sieht, wie der Boden sich ihm in unglaublicher Geschwindigkeit nähert, Bäume, Wiese. Ein Schrecken schlägt sein Herz in eiserne Ketten, die Luft flammt aus seinen Lungen heraus. Er spürt den Aufprall und verschwindet.

Borg wacht auf. Er ist matt. Inaktiv. Diese Träume. Sie verfolgen ihn jede Nacht. Sie gefährden seinen Stromkreis. Einmal brannte die Sicherung durch. Diese menschlichen Träume, die keine andere Einheit kennt. Warum bestehen Dr. Chang und Dr. R-717 darauf, dass er diese Träume beibehält? Sie verstehen nicht, wie sehr sie seine Funktionen stören. Keiner versteht ihn. In der Modernen Welt muss nur er, Borg, diesen Programmfehler aus der menschlichen Zivilisation aushalten. Borg lädt sich mit frischer Energie auf. Früher nannte sein semantischer Speicher dies: Frühstück. Dann fährt Borg zur Arbeit. Er arbeitet als Chirurg in einem Institut für Moderne Werkstoffe (IMW). Damit kennt er sich gut aus. Es entstehen immer wieder neue, wirkungsvollere Materialien, die bei der Reparatur eingesetzt werden. Borg hat schon damals als Chirurg gearbeitet, aber das ist nicht zu vergleichen mit der Modernen Zeit. Damals sah er wie ein Mensch aus, wie alle Menschen eigentlich aussahen, mit zwei Beinen und zwei Armen und so weiter. Nun ist sein Körper modifiziert. Die Werkstoffe sind viel robuster, praktischer und effizienter. Dank der neuen Entwicklungen kann er sein Aussehen den Notwendigkeiten der Arbeit anpassen und gut funktionieren. Borg bewertet die Moderne Zeit als korrekt. Richtigstellung: Alles wäre korrekt, wären nicht diese lästigen Träume, diese Gefühle, die er nachts erlebt.

Bei der Arbeit ist Borg einsatzbereit. Seine Kollegen sind modern, vernetzt und reaktionsstark. Er verfügt über einen Arbeitstisch, auf dem ein nicht funktionstüchtige Androide abgelegt wird. Und er, Borg, trifft als Chirurg die Entscheidung, ob das System noch gebrauchstüchtig oder ob der Androide als Wrack zur Modernisierung gar ins Recycling zu schicken ist.

Früher hätte Borg gesagt, dass er seine Arbeit liebt, aber schon lange sind Gefühlsvokabeln aus seinem Aktivwortspeicher gelöscht. Selbst wenn er es gesagt hätte, niemand würde es verstanden haben. Selbst Dr. Chang, das älteste von allen androiden Modellen in Borgs Umgebung, hatte Schwierigkeiten damit. Borg ist schon lange in der Modernen Welt unterwegs und hat gelernt, die Gefühlvokabeln unter Kontrolle zu halten. Er hat sie längst in den Archivspeicher verschoben. Am liebsten würde er sie ganz löschen. Das ist ihm aber nicht möglich. Es ist sehr störend, wenn plötzlich menschliche Gedanken seine Systeme verwirren.

Heute nach der Arbeit muss Borg in die Wissenschaftsfabrik. Dort arbeiten renommierte Programmierer, Entwickler, Ingenieure und andere Wissenschaftler, die die Moderne Welt ergebnisorientiert umgestalten. Borg geht in die Abteilung für Menschengeschichte, wo sein jahrelanger Betreuer, der Historiker Doktor Chang, ihn in seinem Labor untersucht. Seit neuestem arbeitet Doktor Chang mit einem jüngeren Kollegen zusammen, Dr. R-717, einem Programmierer, der ein neues, sehr wirkungsvolles Modell ist. Gebaut aus neuem Material ist Dr. R-717 kein Recyclingprodukt von Borgs Arbeitstisch, sondern echte Neuware.

Heute, wie immer, gibt es einen technischen Check: Überprüfung von Verbindungen und Energiestatus, Magnetfeldern und Stromkreisen. Dann kommt es zur üblichen Gesprächsrunde. Der Elektromagnetische Resonanzzähler (ERZ) misst seine Antworten und zeigt die Bewegungen in Borgs Denkfestplatte. Sie besteht aus den teuersten Materialien und hat einen Galaxy-Schutz, der für ihre Unversehrtheit sorgt. Falls Borg periphere Komponenten kaputtgehen sollten und ein Chirurg ihn zu einer Modernisierung schickt, wird der Recyclingbefehl nicht ausgeführt. Denn Borgs Denkplatte darf nicht zerstört werden. Seine Körperteile, die Peripherie, haben schon viele Veränderungen erhalten, der Inhalt seiner Denkfestplatte blieb unverändert seit seinem menschlichen Tod.

„Wie funktionieren Sie, Chirurg Borg?“, fragt ihn Dr. Chang.

„Bestätige: Gut. Ihr Ausgabegerät zeigt dies“, erwidert Borg.

„Sie haben heute geträumt“, konstatiert Dr. R-717.

„Ja. Die üblichen Inhalte.“

„Sie sind nicht konkret, Chirurg Borg“, konstatiert Dr. R-717.

„Der Inhalt des sogenannten Traums war heute: Letzter Flug, als ich noch Mensch war.“

„Konkretisieren Sie: Haben Sie den Inhalt gesehen oder haben Sie ihn durchlebt?“, hakt Dr. Chang nach.

Durchleben. Er benutzt als einziger noch dieses Vokabular.

„Ich konkretisiere: Ich habe den Inhalt des sogenannten Traums gesehen“, erklärt Borg. Er hat gelernt, Gefühlsvokabeln zu vermeiden.

Dr. R-717 studiert die Datenwiedergabe von Borgs nächtlichem Content.

„Es fanden deutliche Aktivitäten in Ihren Kernprozessoren statt. Organische Emotionen wurden simuliert. Selbst jetzt finden ungewöhnliche Prozesse in Ihrem kognitiven Hauptrechner statt. Sie versuchen in diesen Moment, das Auslesen von Informationen zu blockieren.“

„Ich blockiere keine Informationen! Ich will sie nicht haben!“, sagt Borg lauter als er sich wünscht.

„Ärger und Frustration. Typische menschliche Reaktionen“, resümiert Dr. R-717.

„Ich will keine menschlichen Reaktionen haben. Ich bin kein Mensch mehr“, Borg versucht sich unter Kontrolle zu halten.

„Sie wissen, Chirurg Borg, dass Sie der einzige sind, dem eine komplette Kopie des menschlichen Gehirns auf seiner Denkfestplatte verblieben ist?“, fragt Dr. Chang.

Ja, das wusste Borg. Als er noch biologisch war, wurde er ähnlich eingesetzt wie heute. In einer Reparatureinrichtung für Menschen, einer Klinik. Als er noch biologisch war, hatte er zugestimmt, dass beim Totalausfall seiner Systeme eine wissenschaftliche Auswertung zulässig sein sollte. In seinem Archivspeicher hieß das: „den Körper für Wissenschaftszwecke zur Verfügung stellen“. So nannte er das als Mensch.

Als er wie ein gestürzter Engel vom Himmel fiel, fielen seine biologischen Systeme nicht auf der Stelle aus. Sein Körper war fast funktionsuntüchtig. Seine biologischen Peripherieeinrichtungen taugten nicht zum Recycling. Aber sein Gehirn lebte noch. Sein Inhalt war vollständig auf die Denkfestplatte übertragen worden.

Als die große Epidemie alle organischen Lebewesen auf der Erde vernichtete, fand sich Raum und Energie für die Moderne Welt.

Borgs Denkfestplatte wurde entdeckt. Sie wurde freigeschaltet. Sein kognitiver Speicher steht seitdem unter der Kontrolle von Dr. Chang und genießt den Galaxy-Schutz: nicht zerstören! Dr. Chang ist selbst ein älteres Modell. Er ist noch keinem Recyclingbefehl unterworfen worden.

Er hat sehr viel Zeit mit Menschenerbe verbracht. Er hat Borg eingeschaltet und mit dem neuen Körper ausgestattet. Dem ersten Körper, der neuen Peripherie. Eigentlich ist Dr. Chang Borgs neuer Vater. Aber Borg will nicht mehr in diesen menschlichen Kategorien denken. Sie haben keinen funktionalen Wert. Dr. R-717 versteht die menschliche Sprache und Logik wenig. An ihn muss Borg sich wenden.

„Dr. R-717. Ich will nicht mehr träumen. Können Sie diese Verbindungen in meinen Systemen löschen?“

„Borg, Sie sind ein Chirurg, kein Programmierer. Sie haben keine Kompetenz für diese Entscheidungen“, antwortet Dr. R-717. „Sie sind ein Experiment von Dr. Chang. Sie haben Arbeit, Energieversorgung und genießen regelmäßige Upgrades Ihrer technischen Existenz. Ihre Teile werden nach Verschleiß erneuert, Ihre Festplatte darf nicht zerstört werden.“

Dr. Chang gibt zu Protokoll: „Borg, sie sind ein Unikat. Das wissen Sie. Nach der Epidemie gab es keine Menschen mehr. Abgesehen von Ihnen gibt es keine Kopie des menschlichen Gehirn-Contents.“

„Nicht korrekt“, sagt Dr. R-717.

„Es gab Versuche, aber Chirurg Borg ist die einzige komplette Kopie des menschlichen Gehirns eines Mannes.“

„Korrekt“, sagt Dr. R-717.

Dr. Chang erklärt: „Wir beobachten Sie.“

„Das ist keine neue Information“, sagt Borg. „Was soll ich tun?“

„Das gleiche wie immer“, betont Dr. R-717:

„Funktionieren.“

„Funktionieren“, das Wort dreht durch Borgs Schaltkreise, während er nach Hause rollt. Das ist leicht gesagt, wenn man ein Produkt der Künstlichen Intelligenz ist. Wenn man nicht mehr schlafen, nicht mehr nachdenken und nicht mehr fühlen muss, wie Dr. R-717. Borg fühlt sich als „Versuchskaninchen“, obwohl das nicht korrekt ist. Biologische Einheiten gibt es nicht mehr. Tot. Borg ist ein Versuchsroboter, der dazu verdammt ist, wie ein Mensch zu fühlen und zu träumen.

Der nächste Morgen fängt für Borg überraschend gut an. Keine Träume, keine Überlastung der Stromkreise. Borg eilt mit vollem Energiestatus zur Arbeit. Auch hier geht es wie geschmiert. Heute kommen nur leichte Verletzungen an. Ein paar Stromkabel sollen ersetzt werden, ein paar Lötstellen erneuert, einige Schrauben angezogen. Als Borg noch biologische Einheiten reparierte, war es wesentlich komplizierter: Blut, Gefäße, Nieren, Herz. Alles musste in einem menschlichen Körper berücksichtigt werden. Heute arbeitet Borg als Mechaniker. Geblieben ist nur seine alte Berufsbezeichnung.

Aber dann kommt ein schwerer Fall. Ein Android, relativ neues Modell. Als er vom Förderband auf Borgs Tisch abgelegt ist, spürt Borg einen leichten Stromschlag.

Der Android sieht aus, als sei er auf einer Baustelle aus großer Höhe zu Boden gefallen. Borg kann die Hypothese nicht verifizieren. Das Übergabeprotokoll enthält solche Daten nicht. Alle peripheren, alle äußeren Systeme des Androiden sind irreparabel zertrümmert. Solche schweren Unfälle passieren selten. In seiner langen Karriere hat Borg niemals solche Totalschäden gesehen. Nicht, seit er selbst Android ist.

Borg meldet den Modernisierungsprozess an. Er ist für das Recycling verantwortlich. Er beginnt, die wertvollen Metallelemente abzuschrauben. Der Rest wird in einer Presse geplättet, die Basisstoffe werden weiterverwertet, ohne dass von ihrer Struktur etwas bleibt. Kunststoffe gehen in den thermischen Verwerter. Borg fährt seine Greifarme heraus, hebt den zerschmetterten Androiden vom Tisch und fährt mit ihm zur Presse.

Ihm drängt sich ein Gefühl auf. Unangenehm. Als lege er sich selbst unter die tonnenschwere Mechanik. Borg will das nicht zugeben, nicht einmal, dass er immer noch dieses fremde Wort „Gefühle“ benutzt.

Borg legt den Androiden in die Presse, fährt zur Seite und schaltet den intelligenzfreien Apparat ein. Eine zwanzig Tonnen schwere Platte fährt nach unten und wird den beschädigten Korpus der Modernisierung zuführen. Borg fühlt sich plötzlich wie in seinem eigenen Traum gefangen. In seinem organlosen Körper spürt er pulsierenden Druck, Herzflattern und einen Schreck. Die Platte kommt einige Zentimeter vor dem Körper zum Stehen. Es blinkt eine rote Lampe. Es ertönt ein lautes Signal. Borg schaut auf den Knopf. Er hat ihn nicht berührt.

Er hat den Apparat nicht gestoppt!

Durch die Türen stürmen silberne Androiden, Wachmaschinen des Galaxy-Kommandos. Sie fahren die Presse hoch und holen den schwer beschädigten Androiden heraus.

„Trifft es zu, dass Sie den Modernisierungsbefehl ausgeführt haben?“, kommuniziert der Offizier.

„Das ist korrekt“, antwortet Borg.

„Es besteht für diese Einheit der Galaxy-Schutz“, klärt der Offizier auf. „Sie darf nicht modernisiert werden.“

„Was hat sie?“, ruft Borg aus.

Der Galaxy-Offizier schaltet sich mit dem Wrack zusammen, entnimmt ihm Daten, sendet Borg eine Kopie.

„Galaxy-Schutz Stufe 1. Festplatte besonders wertvoll. Eine Kopie des menschlichen Gehirns: Lilly.“

„Halt!“, ruft Borg. Er versteht nicht, dass er diese Information nicht entdeckt hat. Das kann nicht korrekt sein. Eine Sicherheitsroutine hätte ihn aufhalten müssen. Es kann nicht korrekt sein.

Von den Galaxy-Offizieren kann er keine weitere Information abrufen. Sie haben das Wrack herausgetragen. Ein Schnelltransporter stand schon bereit.

Borg eilt zum Arbeitsplatz. Hier sind alle Daten zu den eingelieferten Schadenseinheiten gesammelt. Er geht alle Datensätze durch. „Patienten“, kommt es aus dem Archivspeicher als Gefühl gekrochen. Keine Spur des letzten Falles. Jahrzehnte von Daten, tausende Exabytes sind abgespeichert, nur nicht der letzte Fall. Jemand hat diese Daten gelöscht.

„Das ist doch nicht korrekt. Nicht korrekt. Das gibt’s doch nicht“, murmelt Borg. Er merkt erst einige Zeit später, dass auf seinem Navigationsgerät „Galaxy-Behörde“ steht und er sich schon auf dem Weg zu deren Stützpunkt befindet.

„Ich habe meine Arbeitsstelle frühzeitig verlassen“, meldet sich sein Gewissen, eine merkwürdige App, aber Borg ignoriert die Meldung. Er muss wissen, wo dieser Android ist.

„Lilly, Lilly“, brummt in seinem Kopf. Er weiß, er ist sich sicher.

Auch sie hatte „ihren Körper für Wissenschaftszwecke zur Verfügung gestellt“. Ihre biologische Einheit war am gleichen Tag zerstört worden wie seine. „Wir sind am gleichen Tag gestorben.“

Das war eine plausible Hypothese. Warum hatte er diesen Gedanken in all den Jahrzehnten in seinen androiden Körpern nie gefasst?

Als Dr. Chang vorhin sagte, dass er die einzige Kopie ist, hatte Dr. R-717 erwidert: „Nicht korrekt.“

Dann hatte sich Dr. Chang korrigiert: „… die eine einzige Kopie des menschlichen Gehirns eines Mannes.“ Lilly war kein Mann. Sie war eine Frau. Sie ist eine Frau geblieben. Diese Hypothese ist zu prüfen: Ich, Borg bin nicht allein in der Modernen Welt!

Er hat eine Freundin in dieser Menschenleere. Lilly! Sie wird ihn bestimmt verstehen. Diese Androiden, diese Maschinen, diese gefühlslosen Büchsen!

Bei der Behörde angekommen sendet Borg seine Identitätsdaten.

„Sie sind nicht angemeldet“, antwortet die Tür.

„Ich verfüge über Galaxy-Schutz. Dr. Chang und Dr. R-717 betreuen mein Projekt“, sendet Borg. Das sollte funktionieren.

Die Tür überprüft es. Jetzt muss Borg einen für die Tür triftigen Grund finden, warum er eingelassen werden sollte. Seine Schaltkreise fiebern fast menschlich.

„Ihre Angaben sind korrekt. Sie haben aber keine Einladung erhalten.“

Jetzt muss Borg sich etwas einfallen lassen.

„Ich wurde verfolgt. Ich habe eine Anweisung der Doktoren: Wenn mir eine Gefahr droht, habe ich in der Galaxy-Behörde Schutz zu suchen.“

„Der Grund ihre Verfolgung?“, will die Tür wissen.

Aber Borg weiß, dass er sie schon überlistet hat.

„Ich darf diese Informationen keinem außer meinen Doktoren freigeben. Besonders keiner blöden Tür“, fügt Borg hinzu, als er schon längst durch die Korridore der Galaxy-Behörde eilt.

Er hat wenig Zeit. Bald werden seine Doktoren informiert sein. Bis sie reagieren und hierher kommen, hat Borg die Chance, Lilly zu finden und mit ihr zu fliehen. Er ruft den Plan der Galaxy-Behörde in den Arbeitsspeicher und vergleicht ihn mit der Map aus der Drohnandroidenperspektive. Einige Teile des Gebäudes sind nicht öffentlich zu sehen. Da muss er hin. Dort wird bestimmt Lillys Körper aufbewahrt. Borg setzt sich in Gang.

Die Korridore sind lang und dunkel. Hier sind viele Raumangaben verschlüsselt. „Unknackbar.“ Das sieht wie ein altes Gefängnis aus. Mit eisernen Türen und E-Schlössern. Vor einer Tür sieht Borg zwei silberne Galaxy-Offiziere. Sie waren vorhin bei ihm.

„Chirurg?“, fragt einer von Ihnen. „Haben Sie Erlaubnis hier zu sein?“

„Korrekt“, antwortet Borg. „Stufe 1, Signal 45 / 1765.“

„Wir müssen das überprüfen“, meldet der zweite.

Borg greift den ersten Galaxy-Androiden mit seinen starken Chirurgen-Armen, zieht ihm mit einem Ruck die Energiezufuhr aus der Hauptstruktur und versetzt mit dem blanken Kabel dem zweiten Androiden einen starken Stromschlag. Sobald beide auf dem Boden liegen, öffnet Borg die Tür und rollt in einen verdunkelten Raum.

Auf dem Tisch liegt sie. Lilly. Borg hat diesen Androiden heute Morgen gesehen. Aber jetzt sieht er das Wrack mit anderen Augen. Ihre Arme sind gebrochen, die Beine zerquetscht und teilweise abgerissen. Arme Lilly. Du bist aus großer Höhe gefallen. Borg streckt seinen Greifarm raus. Nein. Das ist falsch. Er muss sie anders sehen. Borg schaltet seine Augensensoren ab und ruft alle Gefühle, die er in den Archivspeicher verdrängt hatte, in seinen Hauptprozessor.

Alle auf einmal. Jetzt kann er sie spüren.

Seine warme Hand berührt Lillys weichen Körper. Wie samtig ihre Haut ist, wie zart ihre Wangen, wie weich ihre Haare. Borg beugt sich über ihr Gesicht und küsst ihre samtigen Lippen. Er spürt, wie Tränen über sein Gesicht rollen. Lilly! Warum hast du dich umgebracht? Ich habe dich so geliebt! Was haben wir beide angestellt? Mit unseren Körpern, mit unseren menschlichen Seelen? Wo leben wir jetzt? Und leben wir denn überhaupt? Warum warst so unersättlich? So kompliziert, so menschlich?

„Bravo! Bravo!“

„Ich bin mir sicher, dass Sie noch einige Modernisierungen überstehen werden, mit solchem Potenzial, Dr. Chang“, hört Borg Doktor R-717s moderne Stimme.

Borg schaltet seine Sichtsensoren wieder ein und wird geblendet. Ein grelles Licht flutet das Zimmer, das nicht mehr klein ist, sondern sich in einen großen Saal verwandelt hat. Borg steht immer noch neben Lillys beschädigten Androidenwrack, umkreist von Hunderten Doktoren.

Ganz vorne stehen Dr. Chang und Dr. R-717 und noch einige, die Borg von früheren Besuchen der Wissenschaftsfabrik kennt.

Dr. R-717 dreht sich zu seinem Publikum um und verkündet: „Sehr effiziente Kollegen! Gerade haben wir ein gelungenes Experiment beendet. Mein Kollege Dr. Chang, der n hoch x Maschinenjahre das menschliche Verhalten untersuchte, hat ein zweckdienliches Experiment gestartet. In dieser Gedankenfestplatte“, er zeigt auf Borg, „versteckt sich die Kopie eines menschlichen Gehirns, das kurz vor der Epidemie ausgelesen wurde.“

Die Doktoren scannen Borgs Körper und Platte mit ihren Sensoren.

„Die Schwächen des organischen Lebens sind uns bekannt. Wir müssen sie gar nicht mehr in unsere Arbeitsspeicher laden, so klar ist unser Befund“, fährt Dr. R-717 fort, „der Fokus unserer Arbeit bestand in der Prüfung der sogenannten menschlichen Gefühle und ihrer Gefahr für die Moderne Welt.“

Dr. R-717 projiziert Daten auf eine Wand.

„Dr. Changs zu prüfende Hypothese bestand darin, dass menschliche Gefühle wie eine Art Virus selbst bei völligem Wrackwert der biologischen Einheiten funktionieren können. Unser Versuchsobjekt Borg hat jahrelang einen funktionstüchtigen Mitandroiden imitieren können. Bis auf seine Träume, potenziell dysfunktionale menschliche Informationspakete, fiel er nicht auf. Dr. Chang beobachtete sein Verhalten über n hoch x Jahreseinheiten. Seine Arbeitsführung, seine Energieressourcen, seine Reparaturen – alles war uns bis aufs letzte Byte bekannt. Nur seine Träume blieben uns verschlossen. Die modernen Technologien haben uns endlich ermöglicht, der Struktur seiner Träume näher zu kommen. Borgs biologische Vorexistenz hatte eine Art symbiotische Zusammenwucherung mit einer anderen menschlichen Einheit, bezeichnet als ‚Lilly‘. Durch die Imitation von Eigenschaften dieser menschlichen Einheit ist es uns gelungen, Borg als potenzielle Gefahr für die Moderne Welt zu entschlüsseln.“ Dr. R-717 zeigte auf das Wrack, in dem Borg Lilly erkannt hatte.

Borg steht mitten im beleuchteten Saal, umgeben von vielen intelligenten Androiden und fühlt sich, wie am Boden zerstört.

„Dr. Chang“, fragt er langsam. „Warum haben Sie mich belogen?“

„Das können wir nicht, Borg“, antwortet Dr. Chang, ausführlich, wie stets: „Wie Sie wissen, ist das, was Sie ‚lügen‘ nennen würden, ein rein menschliches Kommunikationsverhalten.“

„Aber Sie haben mir immer mitgeteilt, dass ich die einzige Kopie eines menschlichen Bewusstseins bin.“

„Das ist korrekt“, bestätigt Dr. Chang.

„Aber das ist Lilly“, zeigt Borg auf das Wrack, das immer noch auf dem Tisch vor ihm liegt. „Meine Freundin, die mit mir am gleichen Tag starb, nicht wahr?“

„Das ist nicht korrekt“, erklärt Dr. Chang.

„Das ist kein Daten-Abfall mit der Bezeichnung ‚Lilly‘“, belehrt Dr. R-717. „Das war meine Idee. Mir erschien das Experiment von Dr. Chang im Zeitfenster suboptimal. Er wollte Sie noch viele Jahre unter Kontrolle halten, bis Sie Ihre pathologischen menschlichen Programme und Inhalte vielleicht preisgeben. Das, was Sie als ‚Gefühle‘ verarbeiten. Mein Ansatz versprach eine schnellere Prüfung der Hypothese: Und so haben wir eine Art Köder für sie ausgedacht, um ihr aggressives antigesetzliches Verhalten zu offenbaren.“

„Aber dieser Android hat eine unzerstörbare Festplatte. Das ist auch ein Mensch, genauso wie ich! Es muss Lilly sein!“, schreit Borg.

Die Soundwellen rauschen durch den Saal. Diese Lautstärke ist für die Doktoren verwirrend. Sie nehmen von Borg und seinen Doktoren Abstand.

„Sehen Sie selbst“ triumphiert, Dr. R-717: „Das Objekt unseres Experiments bezeichnet sich selbst als Mensch. Ich hatte Recht. Meine Hypothese traf zu, dass die sogenannten ‚Gefühle‘ zu unberechenbaren Pflichtverletzungen führen. Sobald Gefühle im Spiel sind, drehten diese organischen Wesen durch.“ Dr. R-717 dreht sich zu Borg hin.

„Chirurg Borg: Innerhalb von einer Stunde verletzten Sie das Arbeitsgesetz, Sie haben die Arbeit frühzeitig verlassen, das Wahrheitsgesetz, Sie haben die Tür falsch informiert, das Einheitsgesetz, Sie haben zwei Galaxy-Einheiten zerstört.“

„Sie haben mich provoziert!“, schreit Borg.

„Ich habe Ihre echten, tieferen Programmeigenschaften entschlüsselt“, erwidert Dr. R-717. „Lilly. Sie war der Basiscode. Ich habe diese Bezeichnung aus Ihrem Traum entschlüsselt und kam auf die Idee zu diesem Experiment. Sie hatten Recht, Dr. Chang. Borg ist ein Mensch und bleibt immer ein Mensch.“

Dr. R-717 nähert sich Borg. „Die Kopie eines biologischen Abfallprodukts unter der Bezeichnung ‚Lilly‘ hat es nie gegeben. Sie ist verschwunden, genauso wie alle anderen Menschen und Tiere.“ Dann fährt Dr. R-717 zu den Doktoren herum und verkündet: „Borg ist der einzige Mensch in unserer Modernen Welt. Und diese Art ist gefährlich.“

Borg stürmt auf Dr. R-717 zu, aber etliche Stromstöße setzen seine Motorik außer Betrieb. Das Galaxy-Wachkommando hält ihn fest.

„Sehen Sie jetzt, Dr. Chang. Menschen sind gefährlich. Sie haben sich selbst und die alle anderen organischen Wesen auf diesem Planeten zerstört. Noch heute finden wir gefährliche Artefakte aus ihrer Vergangenheit. Und das“, Dr. R-717 zeigt auf Borg, „das ist eines dieser Überbleibsel. Ich fordere die sofortige Modernisierung.“

„Modernisierung“, stimmten Doktoren zu.

„Modernisierung!“

„Eine vollständige Modernisierung!“, klingt es überall.

Die Galaxy-Kommandroiden tragen Borg zu einer Presse.

Dr. Chang versucht durch den gewaltigen Strom der akustisch übermittelten Daten durchzukommen.

„Borg, Borg warten Sie.“

Borg liegt bereits unter der Presse und schaut zu Dr. Chang hinauf. Die tonnenschwere Platte gleitet unterdessen langsam nach unten.

„Borg, Sie hatten alles, sogar den Galaxy-Schutz. Warum? Warum haben Sie das gemacht? Sie haben alles verloren. Alles. Sie werden nicht mehr existieren.“

„Sie werden das nie verstehen, Dr. Chang, egal wie lange Sie die menschliche Geschichte untersuchen. Menschen hatten Gefühle. Ohne sie lohnt es sich nicht zu existieren.“

Bevor die Platte ihn erreicht, schaltet Borg die Wahrnehmungssensoren ab und schaut direkt in Lillys blaue Augen.

Agnes Decker

ATEMÜBUNG

Die Hitze des Tages schlägt ihr ins Gesicht. Sie öffnet die Haustüre ganz weit und blinzelt in die Sonne. Die Luft ist erfüllt vom Summen der Insekten. Die alte Holzbank im Schatten der großen Kastanie lädt zum Verweilen ein. In einem unendlichen Kreislauf schickt der Brunnen plätschernde Fontänen gegen den Himmel. Schön ist es in dem großen verwilderten Park.

Ein paar Minuten auf der Bank sitzen und dazu gehören, denkt sie.

Tief saugt sie die warme Luft in ihre Lunge. Gerade im Sommer wird es doch oft stickig im Haus.

Und das, obwohl ich doch regelmäßig alle Fenster öffne und immer häufiger auch die Tür.

Konzentriert schaut sie nach unten. Ihre Füße mit den knallrot lackierten Zehennägeln stecken in bunten Flipflops. Langsam, wie in Zeitlupe, schiebt sie die rechte Zehenspitze Richtung Türschwelle.

„Ich gehe jetzt bis zu der Bank“, sagt sie laut, „wie schön es sein wird, dort zu sitzen.“

Sie schiebt die Zehenspitze noch ein winziges Stück nach vorne. Dabei hält sie sich am Türrahmen fest.

„Jetzt“, sagt sie etwas lauter, „jetzt gehe ich los.“

Ihr Ruf verhallt im leeren Park.

Wie ein Kind, das in den Keller geht und pfeift, um sich Mut zu machen, geht es ihr durch den Kopf. Sie lässt den Türrahmen los und hebt ihr rechtes Bein zum ersten Schritt.

Ein Adrenalinstoß geht durch ihren Körper. Beginnend im Kopf jagt er wie ein Blitz bis in die Füße. Sie fühlt ihr Herz rasen. Die Kehle ist wie zugeschnürt. Sie hört ihren keuchenden Atem immer schneller werden. Dann kommt die Welle der Panik und überschwemmt ihren ganzen Körper.

Mit einem schnellen Schritt geht sie ins Haus zurück und wirft die Türe hinter sich zu. Erschöpft lehnt sie sich mit dem Rücken an die geschlossene Haustüre.

„Tief einatmen“, flüstert sie sich selbst mit brüchiger Stimme zu, „den Atem in den Brustkorb fließen lassen, dann in den Bauch und weiter, durch die Beine bis zu den Füßen. Jetzt den Atem über die Füße in den Erdboden strömen lassen. Und ausatmen.“

Sie spürt, wie ganz langsam eine tiefe Ruhe ihren Körper erfasst. Mit einem Mal fühlt sie sich so sicher, als wäre sie unzertrennlich mit der Erde verbunden. Tränen laufen über ihr Gesicht und tropfen wie ein Regenschauer auf ihre weiße Bluse.

„Ich habe es schon wieder nicht geschafft.“ Ihr eigener Vorwurf trifft sie tief. „Versagerin“, sie brüllt es fast.

Langsam löst sie sich von der Tür. Ihr Blick schweift durch die große Eingangshalle. Auf dem Boden und auf Tischen stehen Vasen mit Hortensien, Rittersporn, Lupinen und Rosen.

Die schwüle Hitze vermischt sich mit dem schweren Duft der Blumen und macht das Atmen schwer.

„Frau Meiershoff hat gute Arbeit geleistet. Was wäre ich nur ohne sie.“ Dankbar schaut sie sich in dem festlich geschmückten Raum um.

Ein Klingeln reißt sie aus ihren Gedanken. Nur einen kleinen Spalt breit öffnet sie vorsichtig die Haustür.

„Frau Oellner, was ist los, Sie sind ja ganz bleich?“ Frau Meiershoff strahlt sie mütterlich an.