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Udo Wolter

Das Satansspiel - True Crime

Tatsachenbericht

Saga

1

Die Wurfvorrichtung in dem Schießraum der »Normandie« warf Taube auf Taube empor. Alfred de Marigny hob das Gewehr und schoß. Eine weiße Tonscheibe nach der anderen zerbarst in der Luft.

»Ausgezeichnet«, sagte der untersetzte Mann neben Marigny. »Ich sehe Ihnen bereits längere Zeit zu. Sie trafen die ganze Serie!«

Marigny legte die Waffe nieder.

»Auf der Insel Mauritius und in England gewann ich einige Meisterschaften im Taubenschießen.«

Der andere nickte. Er nahm das aufgeladene Gewehr und schoß, genau wie Marigny, die ganze Serie der »Tauben« herunter.

»Nehmen wir in der Bar einen Drink?« fragte er lächelnd. »Unzweifelhaft sind wir beide die besten Schützen an Bord.«

Sie gingen über das Promenadendeck zur Bar. Mit schäumender Bugwelle lief die »Normandie« – eines der größten, modernsten und luxuriösesten Schiffe der Atlantiklinie – auf Kurs nach New York. In den Liegestühlen genossen die Passagiere der ersten Klasse die warme Frühjahrssonne.

»Sie kommen aus Mauritius?«

»Aus London«, sagte Marigny. »Aber ich bin in Mauritius geboren. Meine Familie kam vor zweihundert Jahren mit den ersten französischen Einwanderern hin. Wir besitzen dort Zuckerplantagen.«

Marignys Begleiter winkte den Mixer heran. In der Bar befanden sich um diese Zeit nur wenige Leute. »Ich komme gerade aus Spanien. Habe mich dort verdammt lange im Bürgerkrieg herumgetrieben.« Er wandte sich um und begrüßte eine junge Frau, die in die Bar kam und sich suchend umsah. »Meine Verlobte, Martha Gelhorn. Mein Name ist Ernest Hemingway.«

Marigny verbarg bei der Vorstellung mühsam seine Überraschung. Dies also war Hemingway! Bisher las er von ihm nur sein Buch »Farewell to arms«, doch es beeindruckte ihn tief.

»Ich glaube, Sie sind allein an Bord?« fragte Hemingway. »Wollen Sie später mit uns essen?«

Marigny zögerte. Sollte er Hemingway erzählen, daß sich seine Frau Lucett und sein Freund Georges mit auf der »Normandie« befanden? Sollte er ihm die verrückte Geschichte dieser gemeinsamen Überfahrt anvertrauen?

»Wir sehen uns dann später zum Dinner«, sagte er. Er beschloß, mit Lucett zu sprechen. Sie waren erst gestern aus Southampton ausgelaufen und sich bisher aus dem Wege gegangen.

Lucett lag auf der Couch in ihrer Kabine und blätterte in Magazinen, die verstreut um sie herum auf dem Boden lagen. Marigny und sie waren knapp ein Jahr verheiratet. Jetzt fuhren sie in Begleitung von Georges nach den Staaten, um sich dort scheiden zu lassen.

Marigny nahm eine Zigarette, die Lucett ihm reichte. Sie ließ sich nichts von den Dingen anmerken, die in diesen Tagen passiert waren.

»Wo ist Georges?«

»Er gibt gerade ein Kabel auf. Seine Frau macht ihm wegen seiner Scheidung Schwierigkeiten und bombardiert ihn mit Funksprüchen.«

Marigny beherrschte sich. Er mußte sich zur Ruhe zwingen. Mit Ausbrüchen und Szenen machte er auf Lucett keinen Eindruck.

»Du und Georges, ihr seid beide verrückt! Ich hätte ihn in Southampton über Bord werfen sollen, anstatt in diese wahnsinnige Reise einzuwilligen.«

Lucett zuckte mit den Schultern.

»Was hättest du damit erreicht? Ich wäre ihm nachgesprungen.«

»Herrgott!« Marigny schnellte aus dem Sessel empor, stand mit zwei Schritten vor seiner Frau. »Wir waren doch glücklich, Lucett! Georges ist mit Diana North aus einer der reichsten und ältesten englischen Adelsfamilien verheiratet. Jung verheiratet, gerade ein paar Monate länger als wir! Vergeßt doch nicht den Skandal, den ihr heraufbeschwört! Die ganze englische Gesellschaft, die Klatschrubriken der Presse werden euch durch den Dreck ziehen.«

Lucett drückte mit einem kurzen Ruck die Zigarette aus.

»Sinnlos, sich darüber auszusprechen, Freddie. Es ändert nichts an meinem Entschluß.«

»Warum hast du mich überhaupt geheiratet?« fragte er kurz.

»Sollte ich noch weiter mit meiner Mutter in der kleinen Wohnung der Avenue Martina zusammenleben? Mit fünfzigtausend Francs, die uns mein Vater nach seinem Tod als jährliche Rente hinterließ?«

»Und da kam ich«, sagte er zynisch. »Gut genug, um dich aus dieser Umgebung herauszuholen. Dumm genug, zu glauben, daß du mich liebtest.«

Sie machte eine abwehrende Handbewegung.

»Nein, Freddie. Du gefielst mir! Aber was Liebe bedeutet, wußte ich bis dahin selbst nicht genau.«

Sie wußte es jetzt durch Georges. Marigny betrachtete die junge Frau, die ihm so schonungslos die Wahrheit sagte. Noch lag ihre Schweizer Hochzeitsreise nicht lange zurück. Damals glaubte er zum ersten Male, glücklich zu sein. Hatte er zu früh geheiratet? Er war jetzt –1937 – siebenundzwanzig Jahre alt. Lucett, die unersättliche, lebenshungrige Lucett riß ihn aus den einsamen, bitteren Jugendjahren, die noch immer auf ihm lasteten. Und Georges, sein einziger Freund aus dieser schweren Zeit in Mauritius, wurde sein Rivale.

Mauritius! Hastig flogen die Bilder jener Zeit an ihm vorüber. In der strengen Atmosphäre seines Vaterhauses durfte der Name seiner Mutter nie erwähnt werden. Damals hieß er noch, nach seinem Vater, Alfred de Fouqueraux. Seine Mutter, die aus der Familie de Marigny kam, ließ sich nach dreijähriger Ehe scheiden und heiratete in Paris erneut. Niemand auf der Insel, keiner der Verwandten, erkannte die Scheidung an. Der Vater haßte ihn, weil er ihn an die Schmach erinnerte, die seine Frau ihm angetan hatte. Schon in den frühesten Jugendjahren gab er ihn in eine Klosterschule. Alle angesehenen Familien der Insel betrachteten seine Mutter als »Fortgelaufene«, alles übertrug sich auf ihn! Sogar seine Schulkameraden mieden ihn, schlossen ihn aus ihren Spielen aus. Er erhielt keine Einladung. Wehrlos mußte er mit jungen Jahren zuhören, wie von seiner Mutter als einer »Verworfenen« gesprochen wurde, die in wilder Ehe lebte. Wie Felssteine legten sich die strengen Sitten, die sich seit zweihundert Jahren auf der abgeschlossenen Insel hielten, die Kleinlichkeiten, Härte und Engherzigkeit ihrer Bewohner auf seine junge Seele. Seine ganze Jugend war er stets allein, ohne einen einzigen Freund. Nicht einmal zu den Festtagen sah er seinen Vater, alle Feiertage wurden mit nichtssagenden, an die Schulleitung geschickten Geschenken ausgefüllt. Er wuchs ohne Liebe auf, bis ihn ein schweres Nervenfieber auf das Krankenlager warf. Nach seiner Genesung schickte man ihn auf Rat seines Onkels auf das Royal College in Mauritius.

Dort lernte er Georges kennen! Er war der erste Mensch, der sich um ihn kümmerte. Georges, Marquis de Visdelou-Guimbeau, war ein Jahr älter als er. Er war kein Kolonialfranzose, hatte den größten Teil seiner Schulzeit in Paris verbracht. Alle Weißen auf Mauritius stammten von französischen Siedlern und lebten, nachdem sie später britische Untertanen wurden, in einer Mischung von französischer Kleinbürgerlichkeit und strenger britischer Tradition. Georges hatte für alle überalterten und engherzigen Ansichten, die ihm bisher das Leben zur Hölle gemacht hatten, nur Spott übrig. Er erzählte ihm von Paris, einer anderen, freieren Welt, die außerhalb der Insel lag. In kurzer Zeit wurden sie unzertrennliche Freunde.

Dann kam die erste, zufällige Begegnung mit seiner Mutter. Sie veränderte sein ganzes Leben. Bisher hatte er nicht einmal gewußt, wie sie aussah, kannte kein einziges Bild von ihr. Niemals würde er ihr bleiches, elendes Gesicht vergessen, als Georges sie ihm auf einem Tennisplatz in Mauritius ahnungslos vorstellte und sie seinen Namen hörte. Es war das erste Mal, daß sie sich aus Paris auf die Insel wagte. Bisher hatte ihr Mann jedes Wiedersehen mit ihrem Kind untersagt, ihr verschwiegen, wo Alfred sich aufhielt.

Es folgte eine furchtbare Aussprache mit seinem Vater, die erste und letzte seines Lebens. Er legte den Namen Fouqueraux ab und nahm den Namen seiner Mutter an. Von seinem Vater zur Entscheidung gezwungen, entweder auf ein weiteres Wiedersehen mit seiner Mutter zu verzichten oder das Haus zu verlassen, entschied er sich mit siebzehn Jahren ohne Überlegung für seine Mutter. Langsam begannen in Paris, unter der aufopfernden Fürsorge seiner Mutter und seines Stiefvaters, die harten Bilder seiner Jugend zu verblassen. Ganz verließen sie ihn nie. Seine ganze Jugend hatte er alles, was ihn bewegte, allein lösen müssen. Man hatte ihn einsam gemacht, und er war immer auf sich selbst gestellt. Eine gewisse Arroganz und Abgeschlossenheit, die auch seinen Umgang mit Frauen belastete, blieb zurück.

Marigny blickte auf, als er Lucetts Gesicht sah, das sich der Tür zuwandte. Georges stand in der Kabine. Er hatte nicht erwartet, den Freund hier zu finden. Sie wollten sich auf der Überfahrt so wenig wie möglich sehen. Georges hatte die »Normandie« genommen, um dem Skandal in England zu entgehen und Lucett in den Staaten nicht allein zu lassen.

Waren es die Erinnerungen an Mauritius? Marigny erhob sich, löste die fast unerträgliche Spannung dieser Situation. Er wollte nicht so hart sein wie sein Vater, wollte nicht, wenn er Lucett verlor, auch noch den einzigen Freund verlieren. Georges’ Freundschaft hatte sich durch Jahre bewährt! Er war, außer seiner Mutter, der einzige Mensch, der ihm blieb. Diese jähe Leidenschaft zwischen Georges und Lucett, die sie blindlings mit ihrem gesellschaftlichen Ruf bezahlten, war etwas, gegen das er machtlos war.

Langsam ging er auf Georges zu, reichte ihm die Hand.

»Ich will keine Feindschaft zwischen uns, Georges. Ich bin einverstanden, meine Ehe in New York zu lösen.«

 

Marigny lief auf dem verlassenen Deck auf und ab. Würde er je eine Liebe erleben, wie sie jetzt zwischen Georges und seiner Frau aufflammte? Hastig zündete er sich eine Zigarette an. Das kleine Licht flammte in der Dämmerung auf und erlosch. Einen Augenblick lang spiegelten die breiten Scheiben des Promenadendecks seine große, schlanke Gestalt, ein Gesicht mit hoher Stirn und scharfgeschnittenen Zügen wider. Ihm fielen die Frauen zu, wenn er wollte, aber diese Art Liebe wollte er nicht. Er war ständig engagiert und dabei innerlich immer bestrebt, jenen gesellschaftlichen Betrieb zu überwinden, den er auf Grund seines Titels und seines Geldes nicht meiden konnte.

In Geldangelegenheiten hatte er eine glücklichere Hand als in der Liebe! Er fuhr mit einem Vermögen von hunderttausend Dollar in die Staaten, um sich New York geschäftlich zu erobern und drüben seine landwirtschaftlichen Studien abzuschließen. Er lächelte bitter. Es hätte seine zweite Hochzeitsreise mit Lucett werden sollen!

War er nicht mit Hemingway verabredet? Er mußte sich für den Speisesaal umkleiden. Marigny überblickte die elegante Kabine. Noch vor zwei Jahren hätte er sich dies nicht träumen lassen. Mit einem kleinen Kapital, das er sich als Student in London und während der Semesterferien auf der Insel Réunion verdient hatte, wurde er durch einen einzigen glücklichen Coup ein wohlhabender Mann, der jetzt sorglos seinen Studien und Geschäften leben konnte. Auf irgendeiner Gesellschaft, in die ihn Georges einführte, hatte er Jaime Weinstein kennengelernt, einen der reichsten chilenischen Finanzmänner. Sie freundeten sich an. Ihm verdankte er den Tip, der ihm jetzt dieses luxuriöse Leben ermöglichte.

»Legen Sie jeden Schilling, den Sie besitzen, in Blei und Zink an«, sagte ihm Weinstein eines Tages. »Beide Metalle werden in den nächsten Monaten himmelhoch klettern! Blei steht im Augenblick zwei Pfund höher als Zink. Wenn beide Preise gleich sind, verkaufen Sie sofort.«

Er legte sein ganzes Kapital in Blei- und Zinkverträgen an. Wenige Monate später erhielt er für jedes eingesetzte Pfund fünfzig dazu ...

Hemingway stieß während des Essens seinen schweigsamen Tischnachbarn an.

»Was ist los mit Ihnen, Marigny?«

»Ich erzähle es Ihnen später!«

Um Mitternacht, als Martha Gelhorn gegangen war, vertraute er sich dem Mann an, von dem soviel Ruhe und Festigkeit ausging. Hemingway hörte ihn aufmerksam an.

»Sie sind sehr jung, Freddie. Mit der Zeit lernen Sie, nicht alles tragisch zu nehmen. Für mich ist Ihre Reise zu dritt nur amüsant, etwas romantisch. Die wirklichen Erlebnisse unseres Lebens sind härter. Wenn ich etwas für Sie tun kann, so werde ich Sie meinem New Yorker Rechtsanwalt, Maurice Speiser, empfehlen. Er soll Sie so schnell wie möglich scheiden.«

Zehn Jahre später, als er nach seinem Prozeß auf dem Gut Hemingways in Kuba Zuflucht fand, sollte Alfred de Marigny noch einmal an diese Worte des berühmten Schriftstellers denken.

 

Die Sommersaison auf den Bermudas setzte ein. Alle Fluggesellschaften legten Sondermaschinen von New York zu den Inseln ein, um die vielen Geschäftsleute zu befördern, die über das Wochenende zum Fischen oder Baden kamen und ihre Familien besuchten. Auch Marigny war, nach seiner durch Maurice Speiser sehr rasch vollzogenen Scheidung, auf einige Wochen aus der brütend-heißen Wolkenkratzerstadt entwichen. Seine Abschlußstudien begannen erst im Herbst. Er suchte sich dafür das landwirtschaftliche College in Trinidad aus.

Im Frühstücksraum seines Hotels begegnete er Ruth Fahnestock-Schelmerhorn. Er hatte sie bald nach seiner Ankunft in den Staaten in der großen, prunkvollen Villa ihres Mannes in Glen Coye auf Long Island kennengelernt. Fahnestock war sein englisches Bankhaus. Auf einer halb geschäftlichen Einladung wurde er Ruth und ihrer Schwester Faith vorgestellt. Die beiden Frauen gehörten jetzt mit zu dem Kreis seiner amerikanischen Freunde, die ihn bewogen, für die Sommerwochen nach den Bermudas zu fliegen. Es war eine ganze Bande vergnügter junger Männer und Frauen, meistens Söhne und Töchter wohlhabender amerikanischer Familien. Er wurde auf Grund seines Titels als Graf de Marigny ohnehin von den erstaunlich adelssüchtigen Frauen dieser in Dollarmillionen schwimmenden Familien von einer Party zur anderen weitergereicht. Es erstaunte und belustigte ihn, doch er hatte zur Zeit nichts anderes zu tun. Da er sich nach Abschluß seiner Studien eine Farm einrichten wollte, brauchte er geschäftliche Verbindungen. Diese Wochen nach der Trennung von Lucett sollten nichts weiter als Ablenkung und Vergessen sein.

»Gut den gestrigen Abend überstanden?« fragte er Ruth lachend. Dunkel erinnerte er sich, sie und ihre Schwester Faith in vorgerückter Stunde in dem Weekend-Haus eines seiner Freunde geküßt zu haben. Die Gesellschaft hatte sich bis zum Morgengrauen hingezogen.

Er saß an ihrem Frühstückstisch. Sie sah ihn mit einem schrägen, herausfordernden Blick an.

»Gehen wir miteinander schwimmen?«

»Ich wollte zum Fischen hinaus.«

Ruth schloß sich sofort an.

»Warten Sie nachher auf mich. Ich kleide mich nur für das Boot um.«

Er blickte ihr nach. Sie sah gut aus, schlank, gepflegt und war – wie fast alle Frauen ihrer Kreise – neben dem viel beschäftigten Mann etwas unausgefüllt. Er schätzte sie auf ungefähr dreißig Jahre, sie hatte eine entzückende, sechsjährige Tochter, Sheila. Durch ihre vielen Reisen in alle Welt lagen sie und ihre Schwester über dem Durchschnitt der amerikanischen Frauen, an deren Lebensart er sich mit seinen europäischen Auffassungen erst langsam gewöhnte.

Das Boot trieb träge vor dem Wind. Marigny ließ die Segel fallen und warf die Angel aus. Ruth lag im Hintergrund auf einer Bank. Sie trug zum Schutz gegen die Sonne eine große Hornbrille und einen Strohhut. Er konnte von seinem Platz ihr Gesicht nicht sehen.

»Gefällt Ihnen Faith, Freddie?«

Er hockte vor seiner Angel, antwortete einsilbig. Hoffentlich vertrieb sie ihm mit ihrem Gerede nicht die Fische. Schon gestern abend, bei den paar Küssen, war sie eifersüchtig auf ihre Schwester gewesen. Er hatte sich nicht viel dabei gedacht. Fast alle Frauen in diesen snobistischen Badeorten der Bermudas hatten nichts anderes im Sinn als ihre Affären.

Marigny ahnte nicht, daß Ruth sich in den Sinn gesetzt hatte, ihn zu erobern. Ihre Entschlossenheit lernte er erst später kennen! Seine Jugend, seine Zurückhaltung und seine verschlossene Art reizten sie. Er hatte andere Manieren und eine andere Art, mit Frauen umzugehen, als die Geschäftsleute der Wall Street, die meist um sie waren. Ihre Familie gehörte zu den vierhundert reichsten Familien in New York, ihr Vater war einer der einflußreichsten Männer in den Staaten. Allein aus einem ihr überschriebenen Trust erhielt sie ein Taschengeld von 16 000 Dollar. Sie war gewohnt, ihren Willen durchzusetzen. Marigny, der nur einmal, in der Stimmung des gestrigen Abends, etwas aus sich herausgegangen war, entzog sich ihrem Einfluß. Gerade deshalb interessierte sie sich für ihn!

Gegen Mittag machte Marigny Pause.

»Halten Sie das Boot etwas, Ruth«, sagte er. Mit einem langen Sprung setzte er über Bord. Er war ein hervorragender Schwimmer. Die langen, einsamen Jahre in Mauritius, in denen seine Kameraden den verschiedensten Geselligkeiten und Vergnügungen nachgingen, hatte er für seine sportliche Ausbildung benützt. Er schoß ausgezeichnet, spielte – durch Georges – gut Tennis, war ein verwegener Segler. Seine Sturmfahrten in Mauritius und Réunion, wenn sich kein Fischer auf das Meer wagte, hatten ihn oft in Lebensgefahr gebracht.

Schläfrig lag er in der brütenden Mittagssonne neben Ruth. Wassertropfen liefen über seine braune Haut. Plötzlich spürte Marigny, wie die Frau neben ihn glitt.

»Nimm mich in den Arm, Freddie«, sagte sie leise. Er fühlte ihre Lippen. Sie waren hier draußen allein, wie auf einer fernen Insel.

»Ruth!«

»Wenigstens in diesen Wochen will ich glücklich sein«, sagte sie hastig. »Ich ertrage meine Ehe nicht mehr. Du ahnst nicht, wie allein ich bin.«

Ihre Leidenschaft riß ihn mit. Seine flüchtigen Abenteuer in den letzten Monaten mit einigen dieser so gleich aufgemachten und gleich daherredenden Girls hatten ihn kalt gelassen. Ruths Wildheit schlug wie ein zündender Funke auf ihn über ...

Erst nach seiner Rückkehr in die Staaten erfuhr Marigny, wie ernst Ruth dieses Sommerabenteuer nahm. Mister Seligmann, ein Geschäftsfreund, in dessen Villa in Port Washington er wohnte, holte ihn eines Morgens an das Telefon.

»Anruf für dich, Freddie!«

Marigny nahm den Hörer auf und erkannte Ruths Stimme.

»Ich muß dich unbedingt in den nächsten Tagen sprechen.«

»Ich komme nicht in dein Haus«, sagte er kurz.

»Ich bin allein.«

Entschlossen, alle Beziehungen zu ihr abzubrechen, fuhr er zu ihr. In diesen Wochen auf den Bermudas, in denen sie seine Geliebte gewesen war, war er nicht unbeeindruckt von ihr geblieben. Aber sie war drei Jahre älter, verheiratet ... Er hatte alles zuerst für eine flüchtige Laune genommen. In den letzten Tagen vor seiner Abreise erlebte er, mit welcher verzweifelten Besessenheit sie sich an ihn klammerte. Wäre ihre gesellschaftliche Stellung in New York nicht so festgelegen, hätte er sich mehr Gedanken darüber gemacht. Daß sie jung geheiratet hatte und in ihrer Ehe nicht glücklich war, erfuhr er bald.

Ruth hatte sogar die Mädchen und den Diener aus dem Hause geschickt, als er bei ihr eintraf.

»Ich lasse mich scheiden, Freddie! Mein Mann weiß alles. Ich sagte ihm nach meiner Rückkehr sofort die Wahrheit.«

Er starrte sie an.

»Und?«

»Er wehrte sich natürlich. Schon Sheilas wegen. Als er meine Entschlossenheit sah, gab er schließlich nach. Aber ich darf Sheila nur drei Monate jedes Jahr bei mir haben. Aus Liebe zu dir verzichtete ich auf sie.«

»Du bist verrückt, Ruth«, sagte er. Ihre Eröffnung verschlug ihm den Atem. Sie machte kein Hehl daraus, daß sie ihn sofort nach ihrer Scheidung heiraten wollte. »Ich habe gerade einen Skandal hinter mir. Er schlägt jetzt noch in London haushohe Wellen. Sollten wir beide hier gleich in einen zweiten verwickelt werden? Denke an deinen Ruf, deine Tochter, die Stellung deines Mannes!«

»Ich liebe dich«, sagte sie heftig. »Ich war bereits bei meinem Rechtsanwalt, morgen weiß es die Presse ohnehin.«

»Ich bin gerade einige Monate von meiner ersten Frau getrennt«, stieß er hervor. »Das alles ist keine Basis für eine Ehe zwischen uns.«

Verzweifelt stand er vor ihrem Tränenausbruch. Hatte er ihre Leidenschaft so unterschätzt? Sie setzte alles für ihn aufs Spiel.

»Geh«, sagte sie kurz. »Geh doch nach Trinidad! Laß die Zeitungen über mich klatschen!«

»Warte wenigstens mit deiner Scheidung, bis ich im nächsten Herbst zurück bin.«

»Freddie«, sagte sie leise. »Ich weiß, du verstehst das alles nicht! Aber ich war in meinem Leben noch nie so glücklich wie in deinen Armen. Meine Ehe wurde durch Geschäftsinteressen bestimmt. Mein Mann war der beste Ehemann und Vater, aber ich liebte ihn nicht! Ich liebte noch nie einen Mann, bis auf dich.«

Sein Widerstand schmolz. Ruth war drei Jahre älter als er, aber eine sehr schöne und begehrenswerte Frau. Er glaubte ihr, er sollte auch in ihrer späteren Ehe, in ihrem zermürbenden, tödlichen Kampf fühlen, daß sie nur ihn und nur ihn allein liebte. Noch sah er nicht die Schatten, die aus dieser Stunde aufstiegen, sah nicht den langen, grauen Weg, der ihn zu der einzigen Liebe seines Lebens, zu Nancy Oakes, und über diese beiden Frauen fast an den Galgen führte.

Er bestimmte Ruth bei dieser Unterredung dazu, bis zu seiner Rückkehr aus Kuba auf ihn zu warten. Doch bereits einen Tag nach seiner Ankunft in Trinidad trafen ihre ersten Telegramme und Anrufe bei ihm ein. Wochen hindurch bombardierte sie ihn mit Briefen und Ferngesprächen. Sie hatte sich ihn mit einer Heftigkeit in den Kopf gesetzt, die nicht ohne Eindruck auf ihn blieb. Als er zu einer geschäftlichen Besprechung für einige Tage nach New York mußte, teilte er ihr sein Eintreffen mit.

Sie trafen sich im Barbizon-Plaza Hotel. Ihre wilde Zärtlichkeit in diesen Tagen und Nächten überflutete seine Bedenken. Ruth wartete und lebte nur für ihn. Er machte sich mit dem Gedanken vertraut, daß sie heiraten würden.

Am letzten Abend ihres Beisammenseins legte er behutsam den Arm um sie.