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Martin Kleen

Anästhesie

Kriminalroman

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Zum Autor

Martin Kleen, geboren 1965 in Erlangen und in Franken aufgewachsen. Studium der Medizin ebenfalls in Erlangen, danach fünf Jahre medizinische Grundlagenforschung und Habilitation in München. Anschließend vier Jahre Tätigkeit als Anästhesist und dabei Sammlung von Stoff für viele noch zu schreibende Romane. Berufsbegleitendes Managementstudium. Von 2002 bis 2004 Arbeit in der medizintechnischen Industrie. Seit 2005 arbeitet er wieder als Anästhesist in einer Münchner Klinik.

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2020

(Originalausgabe erschienen 2007 im Leda-Verlag)

E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: Katrin Lahmer

unter Verwendung eines Fotos von: © Cristal / stock.adobe.com

ISBN 978-3-8392-6530-7

Widmung

Für Olik und Minda

1. Kapitel

Charlotte Arbro öffnete langsam die Augen. Sie wollte weiterschlafen, aber der Piepser in der Brusttasche des OP-Hemds gab auf- und abschwellende Kreischlaute von sich. Sie konnte nicht schon wieder arbeiten, es durfte nicht sein, sie wollte den Piepser ausschalten, Ruhe haben.

Nach einer Sekunde begriff sie, fuhr vom Sofa auf, ihre Schienbeine schlugen mit lautem Krachen an die Kante des niedrigen Tisches. Sie hatte im Sitzen vor dem laufenden Fernseher geschlafen. Keine halbe Stunde war vergangen, seit sie den letzten Patienten auf die Intensivstation gebracht hatte. Ein Verkehrsunfall. »Scheiße.« Ihre Zunge löste sich schwer vom trockenen Gaumen. Sie fuhr sich durch die roten Locken, die Kopfhaut juckte vom kalten Schweiß, der mit dem Aufwachen ausgebrochen war. Sie zog den Funker aus der Tasche. Ihr Finger verhakte sich im Kettchen mit dem Generalschlüssel, und sie fand den Knopf auf dem Gerät nicht sofort. Ein Druck, die Nummer wurde angezeigt.

Strauchelnd sprang sie auf, stieß ihre Schuhe von den Füßen, die weißen Holzpantinen krachten gegen die Wand. Sie rannte den Krankenhausgang hinunter. Mist, dachte sie, Notkaiserschnitt.

Die Neonröhren erhellten rhythmisch ihren Weg. Keuchender Atem, das Geräusch nackter Füße, der wahnsinnige Piepser. Notkaiserschnitt. Eine Mutter oder ein Kind starb.

Sie bog links ab, der rechte Fuß stieß sich an der Glastür ab wie in einer Steilkurve. Sie sprang die Treppe hinab. Jetzt nur nicht umknicken, dachte sie. Ein Absatz – noch einer – die Metalltür des Treppenhauses schlug scheppernd gegen die Wand. Ein weiterer langer, von Neonröhren beleuchteter Gang flog an ihr vorbei.

Sie hörte ihren keuchenden Atem, ein scharfes Putzmittel lag in der Luft, der Geschmack des Schlafes war noch auf der Zunge. Sieben, fünf, sieben, vier. Ihre Finger zitterten, während sie die Tasten antippte. Der Boden war kalt, sie spürte die Fugen der Kacheln unter den Sohlen. Ein Summer gab die Tür frei, sie flog auf, Charlotte stürzte hinein – ihr Zeh stieß gegen den Türrahmen –, ein dumpfes, hartes Geräusch, ein Knacken. Zischend saugte sie Luft ein. »Verdammt. Alles geht schief.«

»›Guten Morgen‹ heißt das«, sagte eine dicke Frau mit weißblond gebleichtem Lockenkopf.

»So ein Mist, verflucht … wo muss ich hin?«

»Kreißsaal Mitte, Frau Doktor. Man wartet schon auf Sie.«

Sie humpelte zur schweren Holztür des Kreißsaals. Ihr Zeh pochte vor Schmerz. Klappern von OP-Besteck erfüllte den Raum. Der Geruch von Blut lag in der Luft. Sie atmete noch schwer – das süßlich widerliche Aroma von Fruchtwasser stieg ihr in die Nase, sie verzog die Mundwinkel.

»Guten Morgen, ich heiße Arbro, ich bin die Narkoseärztin.« Sie wandte sich der Patientin zu, holte tief Luft. »Wir müssen eine Narkose machen, die Frauenärzte müssen Ihr Baby holen, haben Sie das verstanden?« Ihr Atem wollte sich nicht beruhigen. Sie spürte ihren Puls im Hals.

Die Frau stöhnte und nickte schwach.

»Guten Morgen, Charlotte. Alles fertig. Starten wir?«

Charlotte drehte sich um, schaute zum Anästhesiepfleger Knut Tarler auf. »Knut. Mann, gut, dass du da bist. Los geht’s.«

Sie fuhr herum, ein Mann hatte sie an der Schulter berührt und sagte: »Was machen Sie mit meiner Frau?«

Sie sah in die panischen Augen im runden Gesicht des Mannes. Angehörige machen immer Probleme, dachte sie. »Das ist nichts für Sie, bitte gehen Sie jetzt hinaus. Ihr Kind muss geholt werden, Ihre Frau bekommt eine Narkose, ich passe gut auf sie auf, bitte gehen Sie jetzt.« Sie fasste seinen Oberarm und versuchte, ihn in Richtung Tür zu schieben.

Er wehrte sich gegen ihren Griff. »Nein. Ich bleibe hier, bei meiner Frau.«

»Lassen Sie den Unsinn, gehen Sie jetzt, wir haben keine Zeit für Diskussionen.«

»Nein, ich bleibe hier, fangen Sie an, ich bleibe hier.«

Knut ging an Charlotte vorbei und baute sich vor dem Mann auf. Sie konnte mit ihm streiten und Zeit verlieren, sie konnte Knut bitten, ihn hinauszuwerfen. »Ihre letzte Chance.« Sie nahm die Atemmaske. »Gehen Sie, es ist besser für Sie.«

Er schüttelte den Kopf, stand breitbeinig neben seiner Frau und hatte ihre Hand in seinen breiten Händen verborgen. Er konnte nicht helfen, störte nur, aber es war keine Zeit mehr, sich mit ihm zu beschäftigen.

»Frau Arbro, jetzt los. Die Frau hat eine Menge Blut verloren. Eine vorstehende Plazenta, wenn wir das Kind jetzt nicht rausholen, verblutet sie. Ich brauche eine Narkose. Jetzt.« Gerhard Dobrindt stand im Operationskittel und sterilen Handschuhen zwischen den erhobenen Beinen der Schwangeren und bewegte hektisch die Hände.

»Bin schon dabei. In zwei Minuten können Sie schneiden, Herr Dobrindt. Alles fertig?« Er antwortete nicht. »Knut, gib ihr Thiopental, Ketamin, beides volle Dosis.«

Der Mann stand in Knuts Weg. Knut war mehr als einen Kopf größer, es sah leicht aus, als er ihn mit einer Bewegung seines Armes zur Seite schob.

»Lass ihn, Knut, wir haben keine Zeit für ihn. Gut. Succinylcholin, 100 Milligramm.« Sie nahm die Atemmaske vom Gesicht der Frau, führte den Beatmungsschlauch in die Luftröhre ein. »Schnitt!«

Dobrindt setzte das Skalpell an, sah noch einmal unter sich auf den Boden. »Frau Arbro, sie verliert eine Menge Blut. Ich meine, wirklich verdammt viel.«

»Ich bin nicht blind. Ich kann keinen Druck mehr messen. Knut, hast du Ephedrin dabei?« Er nickte und zeigte auf die angesetzte Spritze. »Noch mal. Es reicht nicht. Haben wir Blut?«

»Nein, Charlotte.« Knut stöhnte, als er den Mann bei den Schultern nahm und einen Meter zur Seite trug. Seine Augen waren aufgerissen, sein Gesicht hatte die Farbe von verdünnter Milch angenommen. »Wir können es anfordern, dauert 15 Minuten, wenn wir Lebensgefahr ankreuzen.«

Ein Rumpeln ließ Charlotte sich umdrehen. Der Mann lag auf dem Rücken, sein rechter Arm klemmte verdreht unter ihm, das rechte Bein lag in einem schmerzhaften Winkel. Sie konnte sich jetzt nicht um ihn kümmern. Dummer Kerl, sie hatte ihn gewarnt.

»15 Minuten sind zu lange. Wir bestellen, sobald Zeit ist. Wir geben ihr konzentrierte Kochsalzlösung und eine Volumenersatzlösung.« Sie wusste, dass es nichts bedeutete, Lebensgefahr anzukreuzen. Sie tat es immer, wenn sie im OP Blut brauchte, sonst dauerte es Stunden.

»Machen Sie irgendetwas, Frau Arbro«, sagte Dobrindt, »hier unten spritzt es raus wie aus einer Wasserleitung. Ich hol jetzt das Kind, ich weiß nicht, was wir noch tun können.«

Knut riss die Verpackung zweier Infusionsbeutel auf. Papier und Plastik fielen vor seine Füße.

»Mach schnell, sie hat keinen Kreislauf mehr. Gib mir das Zeug. Spritz ihr ein Milligramm Adrenalin. Her damit.« Charlotte tippte der Hebammenschülerin vor die Brust. »Gehen Sie zum Telefon, wählen Sie neun, drei, fünf und sagen Sie, wir brauchen zehn Einheiten Blut im Kreißsaal. Blutgruppe null negativ. Jetzt. Wiederholen Sie das.« Das Mädchen schaffte es stockend, Charlotte schob sie aus der Tür. »Los, Mädel, renn.«

Charlotte schloss beide Leitungen an, band eine Blutdruckmanschette um die Beutel und pumpte.

Auf Dobrindts hellgrünem Operationsmantel waren bis zum Hals große, rote Flecken. Die Raste einer Edelstahlklemme knackte, er sagte: »Hypertone Kochsalzlösung ist nicht zugelassen für Schwangere.«

Muss er sich einmischen, dachte sie, ein Frauenarzt, der sich um Medikamente kümmert, das kann nicht gut gehen. Zum Glück konnte der Mann am Boden sie nicht hören. »Zugelassen oder nicht, sie ist ausgeblutet«, rief sie. »Wenn sie das jetzt nicht bekommt, haben wir keine Chance auf eine lebende Patientin, die uns verklagen kann!« Sie drehte sich um und pumpte weiter. Mit jedem Druck ihrer Hand spritzte mehr Lösung durch die Leitungen in die Venen der Frau. Der Klettverschluss der Blutdruckmanschette knirschte unter dem Druck.

»Überlegen Sie sich, was Sie tun.« Dobrindt stöhnte, während er eine weitere Klemme im Bauch zudrückte. »Niemand wird hinter Ihnen stehen, wenn dieses Kind behindert ist. Egal, ob Sie schuld sind oder nicht.«

Charlotte schüttelte den Kopf. Der Mann ist verrückt, dachte sie, der spinnt. Warum kümmerte er sich jetzt um die Zulassung hypertoner Kochsalzlösung? Sie musste diese Frau retten. Das Kind würde durch keine Infusion behindert sein – es würde sterben, wenn sie den Kreislauf der Frau nicht mehr herstellen konnte. »Schuld an was?« Ihr Unterarm schmerzte vom Pumpen.

»Schuld an einem behinderten Kind, an einer toten Mutter.« Blut und Fruchtwasser spritzten in Dobrindts Gesicht.

»Unsinn«, sagte sie.

»Ich kann wieder einen Blutdruck messen.« Knut Tarler stand neben der Patientin und tastete ihren Puls.

Ein krächzender Schrei ließ Charlotte zu Dobrindt sehen, während er der Hebamme ein blaues, blutiges Baby in die gewärmten Tücher legte.

»Ich muss die Gebärmutterarterien abklemmen, die Blutung ist noch nicht gestoppt. Wahrscheinlich verliert sie ihren Uterus, aber sie wird leben, sie hat Glück, dass sie bei uns ist.«

»Hey, Sie Held, vorhin klangen Sie noch ganz anders. Hast du ein Danke gehört, Knut?«

»Sie vergreifen sich im Ton, Frau Arbro, Ihre Chefin wird das nicht gerne hören.« Dobrindt beugte sich wieder über die Operationswunde.

Charlotte winkte ab und sah auf ihren nackten Fuß. Der Zeh schmerzte, er war blutverschmiert. Trocknende und frische Blutspuren bedeckten den Linoleumboden um ihren Platz am Kopfende.

»Sie hätten den Kreislauf nicht hinbekommen, wenn ich die Blutung nicht gestoppt hätte.« Er sprach laut und zitternd. »Kann mal jemand den Mann da vom Boden aufsammeln und hinausbringen? Der macht mich nervös – Scheiße!« Blut spritzte auf seine Brust. »Jetzt halten Sie das doch, verdammt, Sie sehen doch, was los ist!« Er riss die Hand der Assistentin zu sich und gab ihr einen Wundhaken.

»Knut, ist das Blut endlich da? Schaust du mal? Dobrindt, wann war die Geburt? Für mein Protokoll.«

»Ruhe jetzt. Sehen Sie, wo das herkommt? Halten Sie das weg!« Er zog am Instrument in der Hand der Assistentin. »Stellen Sie sich doch nicht so dumm an! Verdammt, die untere Hohlvene ist eingerissen. Oh Gott. Große gebogene Klemme!« Er nahm ein Instrument aus der Hand der Schwester.

Charlotte steckte zwei neue Flaschen statt der ausgedrückten Beutel an die Infusionssysteme. »Knut, nimm die und drück, was du kannst.« Sie sah sich nach der Hebammenschülerin um. »Holen Sie das Telefon her. Rufen Sie die Blutbank an und geben Sie mir dann den Hörer.«

»Was ist das für eine Klemme? So ein Unsinn!« Dobrindt warf das Instrument mit Kraft auf den Boden, die Raste löste sich und die Feder ließ die Klemme gegen den Stahleimer auf dem Boden springen. Der blecherne Knall vermischte sich mit Dobrindts Schreien. »Geben Sie mir keine gerade Klemme, wenn ich eine gebogene brauche! Die Frau verblutet! Und Sie kennen Ihr Instrumentarium nicht! Scheiße! Gibt es hier nur Laien?« Seine Augen über der Gesichtsmaske verrieten Panik.

Die Hebamme reichte Charlotte den Telefonhörer. Sie musste dieses Blut besorgen. Sie klemmte den Hörer zwischen Wange und Schulter und bereitete noch eine Infusion vor. »Schaffen Sie jetzt endlich den Kerl hinaus, verdammt«, sagte sie und hörte ihre verstärkte Stimme im Hörer. »Wenn der wach wird, kippt er uns ja gleich wieder um.«

Das rhythmische Tuten wurde durch eine ruhige Männerstimme unterbrochen: »Blutbank, Meese?«

Meese, woher kenne ich den Namen, dachte sie. »Herr Meese, hier ist Arbro, Anästhesie. Wir haben zehn Einheiten null negativ Blut bestellt, wo bleiben die?«

»Wir haben viel zu tun, es ist mitten in der Nacht, es gibt nur mich und eine Assistentin. Ihre Konserven werden zusammengestellt, sobald die Assistentin wieder frei ist.«

»Herr Meese, ich bitte Sie, holen Sie das Blut selbst aus dem Kühlschrank oder unterbrechen Sie den anderen Auftrag.« Sie musste sich beherrschen, um ruhig zu bleiben. »Wir brauchen das Blut jetzt, nicht in fünf Minuten. Jetzt! Die Frau verblutet mir hier.«

»Alle Bestellungen sind dringend. Ich habe hier noch drei Anforderungen – überall ist ›Notfall‹ angekreuzt, genauso wie auf Ihrer.«

»Herr Meese, Sie verstehen nicht.« Sie sprach lauter. »Wenn ich für diese Patientin kein Blut bekomme, ist sie in zehn Minuten tot. Helfen Sie uns.«

Meese seufzte und sagte gelangweilt: »Dann werde ich die Konserven eben selbst heraussuchen. Aber Sie bestellen den Transportdienst, um das Blut abzuholen.«

Sie wollte ihn erwürgen. Das Gespräch dauerte ihr zu lange, sie hatte Besseres zu tun, als zu telefonieren. »Jetzt hören Sie mir zu, Herr Meese!« Ihr Schreien ließ die Hebamme neben ihr zusammenzucken. »Sie bringen dieses Blut in den nächsten drei Minuten hier in den Kreißsaal! Sie selbst! Sonst werde ich Sie wegen unterlassener Hilfeleistung verklagen! Haben Sie das verstanden?« Meese legte auf. Charlotte ließ den Hörer von der Schulter gleiten. Sie musste den Blutverlust ausgleichen. Sie nahm sich vor, die Drohung wahr zu machen, wenn Meese nicht kommen würde. »Knut, drücke rein, was irgend geht, ich lege noch einen Zugang.«

Der Herzton aus dem Überwachungsgerät raste, die automatische Blutdruckmanschette surrte ständig, aber kam zu keinem Ende. Dobrindt stopfte ein weißes Tuch in die Operationswunde und stemmte seine Faust mit dem Gewicht seines Körpers darauf.

»Die Hohlvene ist praktisch abgerissen – ich weiß nicht.« Das Tuch saugte sich voll Blut. »Arbro, tun Sie, was Sie können, ich brauche noch Zeit. Ich weiß nicht, ob ich das hinbekomme – um Gottes willen.«

Charlotte klebte das Ende der dicken Infusionsnadel auf den Hals der Patientin und schloss eine Infusionsleitung an. Sie drückte einen Knopf an der Spritzenpumpe, die piepsend zum Leben erwachte.

»Wer ist Frau Arbro?« Charlotte erkannte Meeses Stimme.

Keine Anzeige, dachte sie und lächelte. Sie drehte sich um. Ein großer, dünner Mann mit grauem Oberlippenbart stand vor ihr. Über der Brusttasche des Arztmantels steckte ein Schild mit der Aufschrift »Prof. Meese«. Deshalb war ihr der Name beim Telefonieren bekannt vorgekommen, er war Chefarzt der Blutbank. Ihr war nicht mehr nach Lächeln. Sie hatte ihn angeschrien, mitten in der Nacht in den Kreißsaal zitiert. Das würde ein Nachspiel geben, aber jetzt war keine Zeit. Sie nahm ihm die durchsichtige Plastiktüte mit den Blutkonserven aus der Hand, sagte »danke« und drehte sich zur Patientin um.

»Ich wollte Sie nur einmal kennenlernen, Frau Arbro.« Charlotte hörte, wie die Schiebetür geschlossen wurde. Sie hatte genug Probleme, konnte nicht daran denken, was ihre Chefin dazu sagen würde.

»Knut!« Sie warf zwei Blutbeutel in seine Richtung. »Drück das rein!«

»Ohne Kreuzprobe?«

»Ja, verdammt, ohne Kreuzprobe.« Sie riss den Verschluss von einem Beutel, ließ ihn auf den Boden fallen. Der Beutel wölbte sich in ihren Händen, die sie darum gelegt hatte, um das Blut durch die Infusionsschläuche zu pressen. Das Blut war eiskalt, ihre Fingernägel krallten sich in die Haut der anderen Hand. Sie zitterte vor Anstrengung. Das Blut muss in die Patientin, dachte sie, das ist ihre Chance zu leben.

»Es reißt immer weiter auf«, sagte Dobrindt. Der Schweiß stand auf seiner Stirn, vermischte sich mit Blutspritzern und lief in die Augenbrauen. »Die Klemmen sind zu scharf, das Gewebe ist mürbe. Arbro, halten Sie den Kreislauf aufrecht, ich brauche Zeit – mehr Zeit!«

Die piependen Herztöne wurden schneller, flossen ineinander. Anstelle des Blutdrucks zeigte das Gerät »Low« an. In Charlottes Kopf vermischten sich die Töne mit einem inneren Echo. Alles war ein Pfeifen, ihre Ohren klangen. »Alles, was ich kann, Dobrindt.« Charlotte ließ den leeren Blutbeutel auf den Boden fallen, steckte den nächsten an. »Alles, was ich kann, Dobrindt – halten Sie die Blutung auf, ich schütte nach, was ich kann.«

»Blutung aufhalten!« Er klang zornig. »Das sagen Sie so einfach.«

»Es hilft nichts, wenn ich oben reinschütte«, Charlotte zeigte auf ihn, »und Sie lassen unten alles wieder herauslaufen.« Der rhythmische Piepton des Geräts schlug in ein gleichmäßiges Pfeifen um. Plötzlich war ihre Aufregung weg, sie wusste genau, was zu tun war, es war antrainierte Routine, das musste es sein, sonst war es nicht zu schaffen.

Charlotte trat neben die Patientin. »Drück weiter Blut rein, Knut, ich reanimiere. Dobrindt, stoppen Sie die Blutung, egal wie, sonst ist es vorbei!« Charlotte tastete den Brustkorb ab, fand die Stelle, legte ihre Handballen auf und drückte kräftig nach unten. Sie fühlte eine Rippe unter ihrer Hand brechen. Ein wenig daneben, dachte sie, das passiert. Ein widerliches Reiben begleitete jeden Stoß ihrer Arme. Das Überwachungsgerät ließ Charlottes Herzmassage hörbar werden, die Töne mischten sich mit dem Rauschen in ihrem Kopf. »Komm wieder, verdammt, komm wieder!« Das Beatmungsgerät mischte Alarmtöne in Dobrindts Fluchen, wenn der Druck durch Charlottes Hände zu groß wurde.

»Ich gebe auf, ich kann nichts mehr tun, es ist alles zerfetzt. Arterien, Venen, alles reißt, alles ist mürbe.« Dobrindt sah mit aufgerissenen Augen zu Charlotte, von seiner blassen Haut leuchteten Blutspritzer.

»Kommt nicht in Frage. Das geht nicht.« Ihre Stimme wurde lauter und leiser mit dem Rhythmus der Herzmassage. »Eine junge Frau. Das Kind. Der Mann. Versuchen Sie es noch einmal. Sie muss wiederkommen.«

»Ich kann nichts mehr tun.« Er stemmte beide Fäuste tief in den Bauch der Patientin. »Es läuft überall heraus. Egal, wo ich drücke oder klemme, es spritzt an zwei neuen Stellen. Es hat keinen Sinn mehr.«

Charlotte wurde übel. Sie hatte gedrückt, bis die Arme erlahmten. Dobrindt hatte daneben gestanden und nur auf die offene Wunde gestarrt. Sie gab auf.

Die Gerüche des Raumes überfielen sie. Das Fruchtwasser, das Blut, die versagenden Schließmuskeln der sterbenden Patientin. Sie schluckte mühsam. Vor ihr lag der bleiche Körper der jungen Frau. Die Haut war warm, die Augen halb geöffnet. Das Gesicht war ausdruckslos, alle mimischen Muskeln entspannt. Tot. Langsam nahm sie die Hände vom Brustkorb und zog das zurückgeschlagene Tuch bis über ihr Gesicht.

Vor dem Kreißsaal musste ihr Mann stehen, der noch hoffte, er könne seine Frau und sein Kind so schnell wie möglich mit nach Hause nehmen. Sie sah zu Dobrindt, er lehnte am Fensterbrett und rieb wieder und wieder die blutigen Handschuhe am Operationskittel. Sein Gesicht war bleich, die großen Augen auf die offene Operationswunde gerichtet. Er kann es ihm nicht sagen, dachte sie. Charlotte zog sich die Handschuhe aus, fuhr sich durch die Haare und hielt ihre Locken einige Augenblicke im Nacken zu einem Bündel gefasst. Sie ging auf das fahrbare Bettchen zu, in dem das neugeborene Mädchen lag. »Hat die Frau einen Namen für das Kind angegeben?«

Die Hebamme nickte und zeigte Charlotte ein rosa Kärtchen am Kopfende des Bettes: »Ann Marie Wermke«. Charlotte nahm das in Tücher gewickelte, schlafende Kind auf den Arm und ging zur Schiebetür und auf den Flur. Der Mann sah sie und kam schnell auf sie zu. »Herr Wermke, ich habe Ihr Baby. Ann Marie, heißt sie so?«

»Ann Marie, ja – kann ich sie nehmen?« Tränen standen in seinen Augen. Er lächelte, die Mundwinkel zuckten, als ob er weinen wollte. Er ließ es nicht zu. »Wie geht es meiner Frau?« Er sah auf das Namensschild auf ihrem Mantel. »Dr. Arbro, wie geht es meiner Frau? Wann kann ich zu ihr?« Sein rundes Gesicht strahlte. Er war genauso groß wie Charlotte. In seinen Armen hielt er ungeschickt und vorsichtig das schlafende Kind. Er senkte den Kopf über das kleine Gesichtchen und berührte eine winzige Wange mit einem riesigen Finger. Er hob den Kopf, lächelte sie an und sagte: »Wie geht es meiner Frau?« Kurz sah er auf seine Tochter hinab und blickte Charlotte erneut mit großen Augen an.

Sie atmete lange aus. »Herr Wermke, Ihre Frau hat sehr viel Blut verloren. Es war extrem schwierig, die Blutung zu stillen.« Er streichelte die Wange des Säuglings, sah Charlotte eine Sekunde nicht an. Er hob den Kopf und forderte stumm Fortsetzung. »Der Frauenarzt hat alles getan, um die Blutung zu stillen, wir mussten große Mengen Blutkonserven geben.«

»Ich will zu ihr.«

Charlotte fuhr sich mit der Hand durch das Haar, ihre Stirn war feucht von kaltem Schweiß. »Sie wird nicht wieder gesund. Es tut mir sehr leid, es war nicht möglich, die Blutung zu stillen. Der Blutverlust war so groß, dass unsere Behandlung nicht ausgereicht hat, sie zu retten.«

Es war immer noch ein Lächeln auf seinem Gesicht. Langsam trat er von einem auf das andere Bein und sah sie an. »Nein.«

»Herr Wermke, ich muss es Ihnen leider sagen, Ihre Frau ist vor zehn Minuten gestorben.«

Seine Arme schlangen sich fester um das Kind. Seine Lippen sahen aus, als hätten sie niemals gelächelt. Seine Augen hatten keine Tränen mehr. »Nein. Nein!«

Charlotte stemmte ihre Fäuste in die Hosentaschen, zog die Schultern hoch und sagte schneller als normal: »Herr Wermke, Ihre Frau ist gestorben. Wir haben getan, was wir konnten, wir haben gekämpft – aber wir haben verloren.«

Der Mann wich einen Schritt zurück und hob das Kind vor seine Brust. »Das kann nicht sein – ich habe doch gerade noch … nein.«

Sie ging einen Schritt auf ihn zu, wollte ihn berühren, aber er wich aus. Sie blieb mit ausgestreckter Hand stehen und sagte: »Sie hatte eine vorliegende Plazenta, haben Sie das nicht gewusst? So etwas ist sehr gefährlich, die starke Blutung ist die häufigste Komplikation bei dieser Anomalie.« Sie streckte ihren Arm noch einmal zu ihm aus, beugte sich vor, erreichte seine Schulter und fasste sie sanft. »Herr Wermke, es tut mir sehr leid. Wir haben alles getan, die Blutung war einfach zu stark, es war unmöglich. Ihre Frau ist ohne Schmerzen gestorben.«

Er sah sie aus großen, trockenen Augen an. Kein Wimpernschlag, kein mimischer Muskel rührte sich. Sie hielt seinem Blick stand, sie spürte, wie ihre Augen sich mit Tränen füllten, und schämte sich dafür. Er riss seine Schulter nach hinten, das Baby wimmerte leise. »Sie haben alles getan?« Sein Gesicht verzerrte sich in Wut. »Nein, aber nein. Maria tot? Sie war doch gesund, was haben Sie getan? Was ist schiefgegangen?«

Charlotte ließ den Arm sinken. »Nein, Herr Wermke, es war alles richtig, da war kein Fehler.«

»Nein? Und warum haben Sie mich hinausgeschickt aus dem Kreißsaal?« Feine Tropfen Speichel flogen durch das Neonlicht. »Natürlich, keine Zeugen. Ich bin doch nicht bescheuert! Erzählen Sie mir doch nichts, mich können Sie nicht betrügen.«

Die Schiebetür glitt auf, Dobrindt trat auf den Gang und schloss die Tür hinter sich.

Wermke ging auf ihn zu. »Ich will zu meiner Frau.«

Dobrindt hatte sich das Gesicht gewaschen, in seinen Haaren und auf der Brille waren noch Blutspritzer. Er blieb vor der Tür stehen und sagte: »Herr Wermke, das ist jetzt nicht gut, warten Sie bitte noch zehn Minuten.« Seine Haut war nicht mehr so blass. Er stand gerade, die breiten Schultern zurückgenommen, breitbeinig vor der Tür, als wenn er niemanden hineinlassen wollte.

»Ich werde Sie alle verklagen! Das Krankenhaus, Sie – unterlassene Hilfeleistung, fahrlässige Tötung, ich nehme mir den besten Anwalt, ich mache Sie alle fertig, Sie werden bezahlen, das schwöre ich Ihnen!«

Charlotte hob die Hand in Richtung Dobrindt. Sie ging hinaus, ohne zu antworten. Sie ging langsam den Gang hinunter und sah ihren nackten Füßen zu, wie sie über die Kacheln gingen. Die Metalltür zum Treppenhaus schlug hinter ihr zu.

Sie ließ sich auf das verstaubte Sofa im Aufenthaltsraum fallen und versuchte, einige Minuten nicht zu denken. Nach einer Viertelstunde gab sie es auf, es funktionierte nicht. Sie überlegte kurz, griff zum Telefonhörer, wählte die Funkernummer von Dobrindt und wartete. Das Telefon klingelte, sie hob ab. »Herr Dobrindt, ich habe Sie angefunkt, ich wollte mit Ihnen über Frau Wermke sprechen, haben Sie Zeit?«

»Es ist kurz vor vier Uhr früh, muss das jetzt sein? Wenn ich Glück habe, bekomme ich noch drei Stunden Schlaf, den Tag über muss ich weiterarbeiten.«

»Jetzt. Treffen wir uns in der Küche der Intensivstation? Da gibt es immer Kaffee.«

»Das können wir doch morgen erledigen, Sie sollten auch schlafen.«

»Ich will jetzt nicht schlafen. Bitte, Herr Dobrindt, es ist wichtig.«

»Wir treffen uns morgen. Gute Nacht.«

»Nein! Warten Sie, es ist wichtig, es dauert nicht lange, bitte.«

»Sie werden mich nicht schlafen lassen, stimmt’s?« Seine Stimme klang amüsiert, sie hatte ihn, jetzt nicht nachlassen, dachte sie.

»Ich fürchte, nicht. – In der Küche?«

»In der Küche also.« Er seufzte. »Nur eine Viertelstunde – was wollen Sie eigentlich?«

»Das sage ich Ihnen, wenn Sie kommen.«

»Gut. Haben Sie Zigaretten?«

»Ich rauche nicht«, sagte sie.

»Keinen Kaffee ohne Zigarette, ich kaufe welche auf dem Weg.«

Sie fühlte Verlangen aufkeimen. Seit drei Jahren hatte sie nicht geraucht. Schwarzer, starker Kaffee, eine Zigarette, das war ihre Vorstellung von Entspannung gewesen. Seit drei Jahren hatte sie sich das versagt, es gehörte zu sehr zu ihrer Sucht.

Charlotte und Dobrindt saßen im Halbdunkel der Teeküche auf der Intensivstation an einem Tisch mit grellgrüner Plastikdecke. Vor ihnen standen zwei Steingutbecher mit zu starkem Kaffee. Dobrindt hielt eine filterlose Zigarette zwischen den Fingern. Er sah gut aus. Charlotte sah auf die Tischplatte.

»Wollen Sie wirklich keine?«, sagte er.

Charlotte zögerte. Sie wollte nicht nachdenken. »Warum nicht – ja.« Dobrindt klopfte eine Zigarette aus der zusammengedrückten Schachtel und hielt ihr ein rauchendes Benzinfeuerzeug hin. Der Rauch biss ihr in die Kehle, sie atmete ein, glaubte zu spüren, durch welche Arterien das Nikotin ihr in das Gehirn schoss. Plötzlich drehte sich alles. In ihrem Bauch verkrampfte sich etwas. Sie atmete mühsam aus. »Wow, das habe ich lange nicht gehabt. Man sollte immer nur einmal im Jahr rauchen. Was für ein Kick.«

Sie rauchte langsam, er nippte Kaffee.

»Also?« Er sah sie an, seine Stimme klang nüchtern, geschäftsmäßig.

»Was hat Wermke gesagt? Hat er sich beruhigt?«

»Wermke? Der Mann der Frau aus dem Kreißsaal? Er wollte seine Frau sehen, hat gefragt, warum sie gestorben ist.« Er blies Rauch durch die Glut seiner Zigarette.

»Und?«

»Und was? Was ich gesagt habe? Das Gleiche wie Sie, ich habe es ihm gesagt, so wie es war. Weiter nichts.« Dobrindt rieb sich die Augen. »Ist immer ziemlich schrecklich, so was.«

»Hat Wermke Ihnen keine Vorwürfe gemacht, den Fehler bei Ihnen gesucht?«

»Natürlich hat er das, das tun sie immer. Man darf sich auf die Diskussion gar nicht einlassen, dann hören sie gleich wieder auf.«

Sie hustete Rauch aus. »Einfach ignorieren?« Sie beugte sich über den Tisch. »Aber man kann doch seine Fragen nicht einfach ignorieren.«

»Sie lassen das zu nahe an sich heran. Sie können nicht um jede gestorbene Patientin trauern, als wäre sie Ihre Mutter. Das hält kein Mensch aus.« Er blies Rauch aus dem Mundwinkel von ihr weg.

Was Dobrindt gesagt hatte, erschien ihr kalt. »Und wenn wir doch etwas falsch gemacht haben? Wenn Sie einen Fehler gemacht haben?«, sagte sie, aber sie wusste, das es nicht so war.

Dobrindt nahm die Zigarette aus seinem Mundwinkel und stieß den Stummel in den Aschenbecher. »Moment mal. Sie zitieren mich mitten in der Nacht hierher, wollen mit mir über Gefühlsduseleien reden, und dann fangen Sie auch noch an, mir falsche Behandlung vorzuwerfen.« Er stemmte sich aus seinem Stuhl. »Mir reicht es jetzt, ich versuche noch etwas zu schlafen.«

»Jetzt beruhigen Sie sich doch, ich habe doch nicht Ihre Behandlung gemeint, ich will nur nachdenken, was schiefgelaufen ist.«

Dobrindt ging in Richtung Tür, drehte sich dann um und sah Charlotte an. »Drehen wir den Spieß um, wie gefällt Ihnen das? Ich will Ihnen sagen, was schiefgelaufen ist. Sie haben den Kreislauf nicht erhalten können. Ich hatte keine Zeit mehr, das Problem zu beheben. Wermke hat Ihnen Vorwürfe gemacht? Mir nicht – jetzt raten Sie mal, warum.«

»Was der Mann denkt, ist doch egal, was weiß er schon? Aber Sie wissen wie ich, dass es blutet, weil Blutgefäße zerschnitten werden. So einfach ist das. Ich war nicht an den Gefäßen dran, oder?« Sie holte tief Luft. »Ich konnte den Kreislauf nicht erhalten, weil … Lassen wir das, ich wollte Ihnen nicht die Schuld an der Misere geben.«

»So? Es klang aber so. Sie haben Angst bekommen, wie das morgen aussehen wird: Patientin tot, Mann klagt womöglich. Jetzt wollten Sie schon gleich nachts klären, wer hier schuld ist.«

»Jetzt setzen Sie sich schon hin und rauchen noch eine, das beruhigt.«

»Aber ich mache nicht mit, meine Liebe. Sie werden schon sehen, was Sie davon haben. Es haben sich schon andere mit mir angelegt.«

Sie stand zu schnell auf, ihr verletzter Zeh stieß an ein Tischbein und erinnerte sie an den Bluterguss, der sich unter dem Nagel gebildet hatte. Der Schmerz nahm ihr für einen Moment das Gleichgewicht. »Scheiße, ich wollte doch nur …« Die Tür fiel ins Schloss. Sie warf die Zigarette in den Aschenbecher, sie prallte ab und blieb auf der Tischdecke liegen. Unter der Glut entstand ein Fleck, der sich von braun nach schwarz verfärbte und größer wurde. Der scharfe Geruch verbrannten Kunststoffs stieg ihr in die Nase. Sie war wütend auf Dobrindt, er war Oberarzt, sie nur Assistentin, das hatte er sie spüren lassen. Er konnte jedem erzählen, sie hätte versagt, ihr würde man nicht glauben. Wer glaubte schon einer Neuen? Bei der Einstellung hatte ihr die Chefin eine Oberarztstelle versprochen. Sie hatte alle Voraussetzungen, deshalb hatte sie sich beworben. Aber sie war erst seit einem Monat angestellt, kaum jemand kannte sie.

Sie wusste, dass sie keinen Fehler gemacht hatte, und Dobrindt hatte schließlich die Verantwortung für seine Operation. Sie wollte für ihr Ziel kämpfen. Sie wollte die Oberarztstelle haben, die ihr die Chefin versprochen hatte. Sie wollte die Karriere in der Klinik, für die sie studiert hatte, für die sie fünf Jahre Facharztausbildung an der Uni durchgestanden hatte.

Sie wollte der Chefin bei der Frühbesprechung in ein paar Stunden alles erklären. Noch bevor Dobrindts Anschuldigung zu ihr kommen konnte. Oh nein, nicht schon wieder dachte sie. Sie blies die Wangen auf. Nicht schon wieder. In diesem Moment spürte sie deutlich, wie sie sich von Dobrindt angezogen fühlte. Obwohl, oder vielleicht gerade weil er sich eben so unmöglich benommen hatte. Sie schüttelte den Kopf. Es war nicht das erste Mal, dass sie sich in so einen verliebt hatte.

2. Kapitel

Eine Stunde später schlief Charlotte in ihrem Dienstzimmer. 50 Meter entfernt tippten Finger ruhig die Zahlen in die Tasten. Drei, eins, sieben, sieben. Das Schloss summte, die Tür sprang unter dem Druck der Schulter auf. Eine weiße Hose, Hemd und Arztkittel wurden auf einen Bügel gehängt, dunkelgrüne OP-Wäsche von exakten Stapeln in einem Regal genommen.

Mit der Zunge angefeuchtete Finger nahmen das aktuelle Blatt des Abreißkalenders neben dem Ausgang der Umkleide: 1. Juli 2002. Sie rissen es ab, falteten es exakt zusammen und steckten es vorsichtig in die Kitteltasche neben eine 20-Milliliter-Spritze.

Auf dem Gang zu den Operationssälen grüßte eine Putzfrau freundlich: »Guten Morgen.«

»Guten Morgen.« Die Stimme war bekannt hier, geschätzt – unauffällig. Zwei Hände stemmten sich gegen den Griff der schweren Schiebetür zu Saal zwei und schoben sie halb auf.

Geräte summten, leise zischte Gas aus der Beatmungsmaschine. Ein langsames Ticken kam von irgendwo aus der abgehängten Decke. Die Klimaanlage hatte den Raum abgekühlt. Schutz vor Keimwachstum. Es roch nach Desinfektionsmittel.

Die Finger nahmen eine 20-Milliliter-Spritze vom Edelstahltablett auf der kleinen Ablage neben dem Beatmungsgerät. Der Aufkleber war vorgedruckt. Thiopental, das Narkosemedikament, von Hand war »25 mg pro ml« darunter geschrieben. Der Aufkleber löste sich mit einem kleinen, rauen Geräusch leicht von der Spritze. Die durchscheinend gelbliche Flüssigkeit spritzte scharf in die graue Plastiktüte im Abfallkorb. Die leere Spritze verschwand in der Kitteltasche neben dem Kalenderblatt. Eine Hand holte eine volle Spritze aus der Tasche, klebte den Aufkleber auf die identische Stelle. Alles sah perfekt aus, die Farbe der Lösung, die Spritze war das gleiche Fabrikat. Unschuldig lag sie auf dem vorbereiteten Tablett, schien auf ihren Einsatz bei der ersten Narkose des Tages zu warten. Diese Spritze enthielt nicht, was darauf stand. 20 Milliliter konzentriertes Kaliumchlorid, etwas Lebensmittelfarbe, das perfekte Imitat. Ein tödliches Imitat. Es würde schnell gehen und würde nicht nachweisbar sein.

3. Kapitel

Eine Stunde später saß Charlotte am ovalen Tisch in der Bibliothek der Klinik für Anästhesie des Waldklinikums Heidelberg. Sie war seit einem Monat hier angestellt, noch galt es, sich zu beweisen. Sie hatte von Neuem beginnen müssen zu zeigen, dass sie eine gute Narkoseärztin war. Sie war zu früh aufgestanden, ihr tat jede Minute leid, sie wollte schlafen, döste mit verschränkten Armen.

Ein solariumbrauner Mann mit kurzen, schwarzen Haaren und blond gefärbtem Latinobart kam herein. Ole Snekamp. Ein verrückter Kerl, dachte Charlotte, aber er war einer der wenigen, den sie in diesem Laden mochte. Er trug eine weiße Jeans und ein weißes, eng anliegendes, glänzendes T-Shirt mit eckigem Ausschnitt. Die enge Hose ließ Details erkennen, für die sie kein Interesse hegte. Sie vermied es hinzusehen, um nicht lächeln zu müssen.

»Charlotte! Wieder zehn Minuten zu früh aufgestanden?« Seine Sprechweise war affektiert, aber er konnte den Anflug rheinpfälzischen Dialekts nicht verbergen. »Rechne mal aus, was das in 30 Jahren Berufstätigkeit ausmacht.« Er strich nur angedeutet durch sein kurzes Haar, auf das zu viel Gel aufgetragen war. »Ach, ich hab wieder viel zu kurz geschlafen. Bin in der Szene versumpft.« Er schien auf eine Nachfrage zu warten. »Ich habe meinen Kater mit Mineralwasser und Aspirin in den Griff bekommen. Oh, ich sag dir …«

»Ole, könntest du etwas weniger reden um die Uhrzeit oder wenigstens etwas leiser? Ich habe Dienst gehabt.« Charlottes Augen brannten, und sie schmeckte noch den Knoblauch der Pizza von gestern Abend, den die Zahncreme nicht hatte vertreiben können.

»Komm schon, Charlotte, hab ich jemals leise geredet? – Du glaubst gar nicht, was mir gestern in dieser Print Media Lounge über den Weg gelaufen ist. Wie der aussah!« Er zog das Wort in die Länge und ließ die Hand vornüberkippen. »Das stählerne Pferd vor dem Haus hätte gewiehert, wenn es gekonnt hätte.« Er schwieg eine Sekunde. »Aber er war schon verdammt knackig«, fügte er nachdenklich hinzu.

Sie hörte Worte, aber den Sinn wollte sie nicht begreifen. Sie war nur müde. Sie warf ein »interessiert mich nicht« in Oles Erzählungen. Er redete weiter. Das affektierte Geplapper ging ihr auf den Geist. Sie sagte: »So ein Quatsch!«, ohne zu wissen, wovon er gerade sprach. Sie wollte nur ein paar Minuten Ruhe. Ihre Augen fielen immer wieder zu. Nur ein wenig Ruhe. Sie hörte sich Ole unterbrechen: »Tuntentratsch«. Ole Snekamp schien von Charlottes Bemerkungen so wenig zu verstehen wie Charlotte von seinen Erzählungen.

Der Tisch hatte sich bis auf wenige Plätze gefüllt. Gespräche flogen quer durch den Raum, Stühle rückten, und Operationspläne und Kopien eines Rundschreibens wurden weitergereicht. Charlotte löste mühsam die Verschränkung ihrer Arme, nahm einen Plan vom Tisch und las die zweite Zeile: »Wegener, weiblich, 79 Jahre, Kolonkarzinom, Hemikolektomie rechts, Rückenlage, Saal zwei, Dr. Arbro.« Sie war zu einem anspruchsvollen Fall eingeteilt. Ein Vertrauensbeweis, dachte sie, vielleicht eine Prüfung. In jedem Fall eine Chance, sich zu beweisen. Sie wollte sie nutzen, auch wenn sie im Moment nicht wusste, wie sie so lange wach bleiben konnte.

Sie wollte die Chefin noch vor der ersten Operation sprechen. Dobrindt konnte sein Gerücht noch nicht in Umlauf gebracht haben. Das Gemisch aus Gefühlen verwirrte sie und weckte sie um ein weniges auf. Sie konnte sich vorstellen, wie er ihr vor der Chefin Fehler bei der Arbeit vorwarf, aber sie konnte sich auch vorstellen, wie er sie umarmte. Sie presste ihre Fingerkuppen beidseits an die Schläfen. Scheiße, dachte sie, nimm dich zusammen.

Das Rundschreiben lud zu einer Fortbildung ein. Heiner Paschke, der Justitiar der Klinik, wollte über »Richtlinienkonforme Patientenaufklärung« sprechen.

Die Digitaluhr über der Tür klickte und zeigte 6.59 Uhr. Burkhardt, der leitende Oberarzt, trat in den Raum. Die Gespräche wurden gedämpfter. Er legte Wert auf Disziplin und fing damit bei sich selbst an. Er trug makellos gebügelte, weiße Hosen und Hemden und hatte den Arztmantel bis oben zugeknöpft. Sein grauer Haarkranz war kurz geschoren.

Charlotte hatte ihn nicht mehr gesehen, seit er bei ihrem vorletzten Dienst vor drei Tagen mitten in der Nacht unangemeldet in einen Operationssaal gekommen war und einen Bericht über den Patienten von ihr gefordert hatte. Der Kerl ist immer da, dachte sie, hat wahrscheinlich keine Familie. Charlotte schüttelte langsam den Kopf. »Was dieser Beruf aus einem machen kann!«

Ole lehnte sich an ihre Schulter und zischte: »Burkhardt? Um Himmels willen, der wäre auch ohne den Job so. Läuft den ganzen Tag rum und kneift seine Rosette um anderer Leute Hälse.« Ole schwieg einen Moment. »Aber er hat ja auch niemanden mehr, zu dem er nach Hause kommen kann.«

Charlotte zischte zurück: »Niemanden mehr

»Später – und das mit der Rosette ist wirklich unangenehm. Stell dir das mal vor.«

Charlotte kicherte, boxte Ole in die Seite und sagte: »Nein, danke. Ole, du bist ein Schwein – aber ich liebe dich.«

»Eigentlich schade, dass mir das am Arsch vorbeigeht, Süße.«

»Drum sag ich es ja, Herzchen.«

Emelie van Wijkem trat ein, ging auf den Kopf der Tafel zu und setzte sich, während Maria Glaser ihr den Stuhl an den Tisch schob. Glaser war eine junge, zarte Frau, eine Ärztin im Praktikum, die immer etwas gebückt ging, als ob sie Angst hätte. Alle Gespräche waren verstummt. Glaser drehte sich um und bediente eine automatische Espressomaschine im Regal hinter der Chefin. Professor van Wijkem nahm den Operationsplan, sie schob die Lesebrille auf die dünne Nasenspitze und las schweigend. Mit der linken Hand fuhr sie über ihre aschblonden Haare, die am Hinterkopf zu einem Dutt gebunden waren. Im Sonnenlicht sah Charlotte die unzähligen einzelnen Haare van Wijkems, die sich ungezügelt kräuselten. Die Chefin wischte einige davon aus dem Gesicht und senkte ihre Hand ausgestreckt langsam auf die Tischplatte. Die Pumpe der Maschine erstarb, Glaser nahm die Tasse und stellte sie leise auf die Stelle, der sich die Hand näherte. Glaser ließ zwei Würfel Zucker in die Espressotasse gleiten. Van Wijkems Hand erreichte den Löffel, sie rührte um, ohne hinzusehen, und führte die Tasse zum Mund. Charlotte folgte fasziniert diesem täglich gleichen Ritual.

»Guten Morgen«, sagte van Wijkem. »Der Plan ist klein heute. Keine Besonderheiten, oder? Erich? Burkhardt? Gibt es etwas aus dem Dienst zu berichten?«