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LARISSA KRAVITZ

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Mit Illustrationen
von S.R. Ayers

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Für Chani, Dovid und René.

Inhalt

DIE INVESTORELLA-STORY

MEIN VERSPRECHEN AN DICH

Wissen statt Produkte

Gut gemeint und doch daneben

Gutes Geld und gut für die Welt

Klischee adé

DIE NACKTEN FAKTEN

Schreckgespenst Altersarmut

Faktencheck für zukünftige Golden Girls

KOHLE FÜRS PORTFOLIO

Deine jährliche Wirtschaftsprüfung

Investorellas liebste Spar-Hacks

Voller Kübel statt verstaubtes Budget: das Bucket-System

DIE BÖRSEN-BABE-BASICS

Das Depot – wie, was und wo?

Daten für die Smarten

Die Investorella-Leseliste

Die Investorella-Watchlist

ZINSEN ZUM GRINSEN

Was sind Anleihen?

Was ist ein Rating?

Was bewegt Anleihen?

Zinsprodukte zusammengefasst: Anleihen-ETFs

Wie finde ich meine Traum-Anleihe?

AKTIEN – DIE KÖNIGINNEN-DISZIPLIN

Was bewegt die Aktienmärkte?

Was bewegt meine – genau die eine – Aktie?

Fundamentaldaten – die Basis, auf der das Unternehmen steht

Wie finde ich meine Traumaktie – und wie kaufe ich sie?

Go, go! Grüne Aktien!

Aktien und Aktivismus

Stock-Picking: Ja oder Nein?

DIVIDENDEN OHNE ENDE

Wie finde ich eine gute Dividendenaktie?

Der Dividendenabschlag

Dividenden in Bullenmärkten

Dividenden bis ans Lebensende

ETFS – BREIT GESTREUTE INVESTMENTS FÜR JEDERFRAU

Warum ETFs statt Fonds?

Wie finde ich den richtigen ETF für mich?

ETFs per Sparplan

IMMOBILIEN – RENDITE AUS ZIEGELN UND ZEMENT

Immobilienaktien

REITs – Brave Immobilien-Unternehmen mit hohen Renditen

NAV – eine besonders wichtige Kennzahl

Immobilien als Altersvorsorge

PORTFOLIOMANAGEMENT

Was man wissen sollte

Simpel, aber keineswegs dumm

Wie gehe ich als private Investorin vor?

ALTERNATIVE INVESTMENTS

Lebensversicherungen

Währungen

Derivate

Rohstoffe

Crowdfunding

Kryptowährungen

RISIKOMANAGEMENT

Die Wissenslücke

Vorsicht vor „Insider-Tipps“!

Vorsicht vor Betrug mit Aktien

Risikomanagement-Maßnahmen

Das Noah-Prinzip

Stops gegen Kusverluste

MEIN ERSTES PORTFOLIO IN ZEHN SCHRITTEN

INDEX

QUELLENVERZEICHNIS

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DIE INVESTORELLA STORY

„Jedes Minenfeld ist eine Goldmine.”

Es war ein Sonntagabend im September 2018 und ich hatte noch keine Ahnung, dass dieser Satz in den nächsten 24 Stunden mein Leben verändern würde. Ich saß in einem Vortrag von David, dem Mann meiner Freundin Hannah. Die beiden sind das weiseste und inspirierendste Pärchen, das ich kenne. David ist ein eindrucksvoller Redner und ich war bis dato noch nie bei einem Vortrag von ihm, bei dem ich nicht gelacht und manchmal zugleich geweint habe.

„Seht ihr”, meinte David zum Publikum. „Wir leben das Leben falsch herum. Immer wenn etwas nicht so läuft, wie wir es uns vorstellen, dann ärgern wir uns und fragen: Warum ich? Stattdessen sollten wir uns freuen, denn jedes Problem ist eine Chance, uns weiterzuentwickeln. Es ist ein Zeichen, dass du aus deiner Komfortzone raus musst, um zu wachsen. In jeder Herausforderung ist ein Schatz vergraben, der darauf wartet, von dir entdeckt zu werden. Wenn du also vor einem Dilemma stehst, dann ärgere dich nicht. Freue dich, denn es ist ein Zeichen, dass dir Großartiges bevorsteht.”

Er erzählte die wahre Geschichte eines Gemischtwarenhändlers in Kanada am Anfang des 20. Jahrhunderts. Die Familie besaß ein relativ schlecht laufendes Geschäft und wohnte in der winzigen Wohnung über dem Laden. Die Eltern wachten jeden Tag mit Rückenschmerzen auf, da sie auf einer abgenutzten Matratze schliefen. Für den Geburtstag seiner Frau sparte der Mann jeden Cent, um sie mit einer neuen Matratze zu überraschen. Als er sich diese endlich leisten konnte, waren seine Rückenschmerzen so stark, dass er es nicht schaffte, sie über die Treppen hinaufzutragen. Die Matratze blieb also im Laden liegen. Natürlich ärgerte sich der Mann sehr darüber, doch als ihm dann ein paar Stunden später ein Kunde die Matratze um das Doppelte des Einkaufspreises abkaufte, verflog seine schlechte Laune. Zwanzig Jahre später besaß die Familie den größten Matratzenhandel Kanadas.

Es ist was Wahres dran, dass die besten Chancen oft so entstehen, dachte ich. Auch ich hatte in meinem Leben bereits mehrmals die Erfahrung gemacht, dass Situationen, die auf den ersten Blick negativ erschienen, am Ende des Tages zu etwas viel Besserem führten als ich je erwartet hätte.

Ich erinnerte mich an den Bewerbungsprozess bei einer Bank, als ich zwanzig Jahre alt war. Damals war ich zwar die beste Kandidatin, aber bekam den Job dann aus absurden Gründen nicht. Meine Enttäuschung war riesig, doch kurz darauf wurde ein weitreichender Skandal dieser Bank publik und ich war froh, dass ich nicht dort arbeitete. In der Zwischenzeit hatte ich zudem einen wesentlich besseren Job gefunden. „Jedes Minenfeld ist eine Goldmine.” Das merke ich mir, dachte ich und spazierte nach dem Vortrag glückselig nach Hause.

Als ich am nächsten Morgen meine Augen öffnete, war mein Gefühl der Verbundenheit mit Gott und der Welt verschwunden. Es war Montagmorgen. Ein richtiger Montag. Ich wachte müde auf und konnte kaum aufstehen. Ich hatte keine Lust, zur Arbeit zu fahren. Zu spät dran war ich sowieso. Ich kroch aus dem Bett und duschte. Meine Haare machten natürlich nicht das, was ich wollte. Ich zog einfach irgendetwas an. Die Milch reichte gerade für den Kaffee. Eigentlich sollte ich schon seit einer halben Stunde im Büro sein. Ich entschied mich wie so oft gegen das Frühstück und dafür, direkt zu meinem ersten externen Termin zu fahren. Bei der Autobahnauffahrt begann der Stau.

Als ich meinen kleinen roten Mini mit Rennwagenstreifen auf dem Büroparkplatz zwischen all den Kombis in den verschiedensten Schwarz-Blau-Grau-Abstufungen einparkte, wurde ich bildlich daran erinnert, dass ich hier eigentlich nicht hineinpasste.

Ich leitete eine Stabsstelle in einem internationalen Immobilienkonzern, der in Deutschland, Österreich und Osteuropa operierte. An dem Unternehmen, für das ich arbeitete, war an sich nichts auszusetzen. Mein Job war interessant und gut bezahlt. An manchen Tagen musste ich unter Hochdruck dringende Probleme lösen, an anderen besichtigte ich mit Helm und Sicherheitsstiefeln halbfertige Baustellen, die die nächsten Hauptquartiere cooler Tech-Firmen werden würden. Nach ein paar Monaten im Unternehmen wurde ich gefragt, ob ich Teil des Aufsichtsrats sein wollte – des höchsten Gremiums einer börsennotierten AG. Ich war zu dem Zeitpunkt 32 Jahre alt und somit die jüngste Aufsichtsrätin eines ATX-Unternehmens.1

Obwohl meine Arbeit spannend war, hatte ich nicht das Gefühl, damit die Welt zu verändern. Anfang des Jahres hatte ich einen schweren Verkehrsunfall gehabt, der zum Glück keine permanenten Gesundheitsschäden außer oberflächliche Narben hinterlassen hatte. Doch die Sinnfrage, die ich mir danach stellte, saß tief. Nun hatte ich all diese Erfahrung, die Ausbildungen, die Sprachen und konnte meine Talente nicht wirklich dazu nutzen, die Leben vieler anderer Menschen positiv zu berühren.

Mein Büro – mit seinen Glaswänden und dem grauen Teppich – kam mir an diesem Tag wie ein goldener Käfig vor, in dem ich gefangen war und dazu verdonnert, Reports zu generieren, die deren Adressaten rein aus Pflichtbewusstsein lesen würden.

An dem besagten Montag war dieses Gefühl besonders schlimm und ich verfiel in eine gedankliche Abwärtsspirale. Ich ärgerte mich über all die Leute, die das Glück hatten, in scheinbar erfüllenderen Jobs zu arbeiten. Leute, die mit vielen Menschen arbeiteten und ihrer Kreativität freien Lauf lassen konnten.

Ich ärgerte mich über die Nachteile, die ich in meinem Leben gehabt hatte. Meine Eltern konnten mich in meiner Jugend nicht viel unterstützen, da sie in der Zeit selbst zu kämpfen hatten. Ich durchlebte Phasen der Krankheit und krassen Armut. Während andere ihre Studentenparties genossen, hatte ich eine 64-Stunden-Woche mit Vollzeitjob und berufsbegleitenden Studium. Die Jobsuche danach war nicht unbedingt einfacher. Ich war zwar sehr gut qualifiziert und hatte überdurchschnittlich viel Erfahrung für mein Alter, aber ich war nicht das, was Arbeitgeber in der Finanzbranche damals suchten: ein junger Mann im blauen Pulli von der Wirtschaftsuniversität.

Ich ärgerte mich darüber, dass ich in meinem aktuellen Job ehrlich versuchte mich einzugliedern und dies nicht so funktionierte, wie ich mir das vorstellte. Früher wäre ich einfach gegangen, wenn mir etwas nicht passte. Ich hätte den Job gewechselt oder gleich das Land. Diesmal blieb ich dran, aber scheinbar führte das nicht zum gewünschten Resultat.

Ich ärgerte mich vor allem über mich selbst und darüber, dass ich so enorm unzufrieden war. Auf gut Wienerisch würde man sagen: Ich war so richtig grantig.

DIE ERINNERUNG

Stopp, dachte ich mir, das kann’s doch nicht sein! Davids Satz schoss mir wieder durch den Kopf: „Jedes Minenfeld ist eine Goldmine.”

Ich atmete durch und entschloss mich nach einer wichtigen Lektion oder großen Wachstumschance in meiner aktuellen Situation zu suchen. Der erste Schritt war, mich selbst nicht so ernst zu nehmen und mich über das zu freuen, was ich hatte. Dankbarkeit lautete die Devise. Objektiv gesehen ging es mir nicht schlecht. Ich hatte ein Dach über dem Kopf. Ich hatte genug zu essen. Ich lebte in einem sicheren Land. Ich hatte einen Job. Es gibt viele Menschen auf der Welt, für die all das nicht selbstverständlich ist. Außerdem war ich in meinem Privatleben sehr glücklich. Immerhin war ich mit dem Mann meiner Träume verlobt.

Eine positive Gedankenspirale begann. Wenn ich daran dachte, wo ich Anfang zwanzig startete, konnte ich durchaus stolz auf meine Leistung sein. Da fiel mir plötzlich mein erster Arbeitstag als Aktienhändlerin ein.

Ich war 20 Jahre alt und überglücklich, dass jemand gewillt war, mir eine Chance zu geben, obwohl mein Lebenslauf nicht Schema F entsprach. Während der typische Weg war, nach der Schule zu studieren und dann in den Arbeitsmarkt einzusteigen, hatte ich bereits mit 18 begonnen zu arbeiten, machte mit zwanzig die Händlerinnenprüfung und studierte berufsbegleitend. Ich war also im Vergleich zu anderen Bewerberinnen relativ jung. Mein Chef hat damals wohl meine Leidenschaft für den Kapitalmarkt gesehen und mich für meinen Traumjob eingestellt – Aktienhändlerin.

Am ersten Arbeitstag war ich um 7:50 Uhr im Büro – überpünktlich und sehr nervös. Einige Minuten später saß ich vor dem Börsenhandelssystem XETRA und dutzenden blinkenden Bildschirmen. Der Chefhändler gab mir eine kurze Einführung. Ich nickte dabei, als ob ich ihn verstehen würde, aber er hätte genauso gut Chinesisch mit mir sprechen können. Dann läutete das Telefon direkt vor mir. Alle Händler waren bereits am Hörer, also hob ich reflexartig ab.

Ein Kunde! Was jetzt? Ich begrüßte ihn freundlich und begann zu fragen, an welchen Aktien er Interesse hatte. Gott sei Dank nannte er mir ein Unternehmen, das ich aus den Medien kannte. Ich wollte ihm den Kurs nennen und begann im Finanzinformationssystem Bloomberg herumzutippen. Bloomberg ist leider nicht wie Google. Da gab’s keine Maus und keine Suchleiste, sondern man musste – zumindest damals – Tastenkombinationen verwenden, um an die benötigten Informationen zu kommen. Diese kannte ich natürlich nicht, und am Bildschirm poppten kryptische bunte Zahlen auf.

Ich musste mir schnell etwas überlegen, also begann ich dem Kunden Fragen zu stellen. Dann baute ich auf seinen Aussagen auf: „Ja, diese Entwicklung ist wirklich gut.” … „Stimmt, die News waren in letzter Zeit sehr positiv.” … „Ja, im Chart sieht man schon, dass sich ein Dreieck bildet.” … Ein Dreieck? Welches Dreieck? „Gut”, meinte der Kunde nach einigen Minuten. „Ich würde gerne 50.000 Stück für meinen Fonds kaufen.”

Meine erste Order! Wow! Ich wusste gar nicht, wie man einen Orderschein ausfüllt, also nahm ich einfach ein Blatt Papier und schrieb auf, was der Kunde mir diktierte. Da fiel mir auf, dass der Chefhändler und mein Chef mich die letzten paar Minuten beobachtet hatten. Ich verabschiedete mich freundlich von dem Kunden und legte auf. Stolz präsentierte ich den bekritzelten Zettel.

„Sehr gut, Larissa, deine erste Order!” Ein breites Grinsen zog sich über mein Gesicht und ich strahlte. „Und…”, fuhr mein Chef fort, „…wie hieß der Kunde?”

Oh nein! Ich hatte bei all der Nervosität komplett vergessen, nach dem Namen des Kunden zu fragen. Ich lief rot an. Mein Chef sah mir den Schock im Gesicht an, lächelte nur herzlich, drückte am Telefon eine Taste, um die zuletzt eingegangene Nummer zu wählen und bestätigte die Order. Die anderen Trader amüsierten sich natürlich köstlich darüber. Als der Handelstag vorbei war, rief mich der Chefhändler in den Meetingraum. Komplett platt von der Reizüberflutung und immer noch etwas blamiert von meiner Aktion am Morgen trat ich ein. Alle waren versammelt und ein Kollege drückte mir ein Glas Sekt in die Hand. „Gratuliere zu deiner ersten Order, Larissa! Willkommen am Kapitalmarkt.”

Ich liebte diesen Job. Am Anfang war die Lernkurve extrem steil und ich musste sie schnell erklimmen. Ich hatte zwar bereits mit 14 meine ersten Aktien gekauft und seitdem immer gern Bücher über das Thema Börse gelesen, aber direkt am Markt zu handeln war ein ganz anderes Kaliber. Die ersten paar Wochen waren unglaublich intensiv. Selbst als ich mich abends ins Bett legte und die Augen schloss, sah ich die bunten blinkenden Zahlen noch vor mir.

Genau dieses Phänomen führte auch zu einem sehr lustigen Moment in einer Vorlesung meines Bank- und Finanzwirtschaft-Studiums. Als wir Optionsbepreisung durchnahmen, schrieb der Professor ein Beispiel an die Tafel mit dem Preis einer Aktie, der Volatilität, dem Zinssatz und der Laufzeit einer Option. Ich passte gerade nicht auf, also sprach er mich an: „Sie sind doch auch Optionshändlerin! Wie viel schätzen Sie, würde eine Option mit diesen Parametern kosten?” Da ich den ganzen Tag über Stunden hinweg Optionspreise im Blick hatte, hatte ich ein gewisses Gefühl dafür entwickelt. „7,6”, tippte ich. Der Professor berechnete dann den Optionspreis, und das Ergebnis belief sich auf exakt 7,62. Meine Studienkolleginnen drehten sich entsetzt zu mir um. Sie dachten wohl alle, ich hätte gerade die so genannte Black-Scholes-Optionspreisformel im Kopf ausgerechnet. Dabei war es nichts Weiteres als ein bisschen Gefühl, Praxiserfahrung und ein Quäntchen Glück.

DER REIZ DER BÖRSE

Von dieser Zeit an bis zum heutigen Moment durchlief ich verschiedene berufliche Stationen. Ich arbeitete als Aktien- und Optionshändlerin, zog später nach Prag und arbeitete im Währungshandel einer französischen Bankengruppe. Tschechisch zu lernen war eine ziemliche Herausforderung. Ich brauchte etwa eine Woche, um „Auf Wiedersehen” aussprechen zu können, aber ich schaffte es, im Markt Fuß zu fassen und wechselte ins Treasury eines der größten Immobilienfonds in Zentral- und Osteuropa. Das Treasury ist so etwas wie die interne Bank eines Konzerns. Es organisiert die Finanzierungen, die Geldflüsse, den Währungshandel, die Rohstoffpreisabsicherungen und die Wertpapierinvestitionen des Unternehmens. Mit 25 leitete ich das Treasury eines börsennotierten Solarenergie-Unternehmens. Die Branche boomte damals und ich fühlte mich wie ein Teil einer globalen Energierevolution. Nach einiger Zeit fiel mir eine Idee in den Schoß. Ich wollte erforschen, ob und wie sich Social-Media-Posts auf Börsenkurse auswirken. Also begann ich erneut ein Studium, widmete mich dieser Frage und entwickelte danach Algorithmen auf Basis meiner Forschungen. Diese Arbeit bescherte mir ein ziemliches Abenteuer und schickte mich auf Reisen von Los Angeles bis Tel Aviv. Ich lernte Bankdirektorinnen und sogar den Vorstand von Microsoft kennen. Die Kommerzialisierung des Projekts fiel jedoch schwieriger aus als gedacht, also orientierte ich mich neu und kam aufgrund eines glücklichen Zufalls wieder nach Wien.

Ich sammelte in all dieser Zeit viel Wissen, viel Erfahrung und vor allem viele Geschichten, an die ich gerne zurückdenke. Eines jedoch fiel mir in meiner gesamten Laufbahn immer wieder auf: Ich war oft die einzige Frau.

Auf Veranstaltungen stach ich für gewöhnlich aus der Menge heraus. Als ich einmal mein finanzmathematisches Startup präsentierte, trug ich ein zusammengeknotetes Männer-T-Shirt, weil alle Sprecherinnen das Gleiche tragen mussten, es aber einfach keine Frauengrößen gab. Als ich als Strategieentwicklerin arbeitete, war ich sogar die einzige Frau im Unternehmen und hatte meine eigene Toilette.

Ich fand es immer enorm schade, dass sich scheinbar so wenige Frauen für diese spannende Welt interessierten, in der jeden Tag alles passieren konnte. Der Kapitalmarkt eröffnet einem eine neue Welt. Beschäftigt man sich mit Unternehmen, so liest man plötzlich Artikel über ein indisches Generika-Unternehmen, das all den gierigen Pharmariesen die Show – und den Markt – stahl, indem es HIV-Medikamente in Entwicklungsländern für 1 Dollar am Tag anbot oder von einer Herztablette, die zwar keine Herzleiden lindert, aber wegen ihrer Nebenwirkung derartig zum Verkaufsrenner wurde, dass über ihren kometenhaften Erfolg sogar ein romantischer Hollywoodfilm gedreht wurde2.

Die Börse hat die Eigenschaft, dass sie die menschliche Psyche spiegelt: Man begegnet starken Emotionen wie Angst und Gier oder unserem Herdentrieb, der sich manchmal in bizarren Trends äußert, in denen der Großteil der Investorinnen einem Hype und gewissen Aktien verfällt, und gelegentlichen Momenten des irrationalen Überschwangs3.

Zudem ist die Börse blind. Ihr ist egal, welche Hautfarbe du hast, wie alt du bist, welches Geschlecht du hast oder wo du geboren bist. Wenn du investierst, zählen dein Wissen, deine Leistung, dein Geschick und manchmal auch dein Glück oder Pech. Du hast die Macht darüber zu entscheiden, wie du dein Geld anlegst und kannst wählen, ob du in einen Ölkonzern investierst oder in ein Unternehmen, das eine neue Recyclingtechnologie entwickelt.

In der Vergangenheit waren immer wieder Menschen oder Unternehmen an mich herangetreten mit der Bitte, sie zum Thema Kapitalmarkt zu beraten. Gelegentlich hatte ich kleine Vorträge gehalten und das stets sehr gerne gemacht. Immer wieder hatte ich den Gedanken, Investmentseminare für Frauen zu veranstalten. Das könnte ich doch in die Tat umsetzen.

Warum eigentlich nicht?, dachte ich, als ich in meinem Büro saß. Vielleicht war genau das der goldene Gedanke? Vielleicht musste ich mich so richtig ärgern, um diese alte Idee wieder aufzugreifen? In meiner Startup-Zeit hatte ich gelernt, wie man Ideen evaluiert. Genau das konnte ich ja nun tun.

Als Mitglied des Wiener Frauennetzwerks Sorority war ich auch Teil von deren Facebookgruppe, die über 3.000 Mitglieder hatte. Ein guter Ort, um meine Idee zu testen. Also verfasste ich einen detaillierten Text mit der Frage, ob jemand in der Gruppe Interesse an einem Investmentseminar hätte. Doch im nächsten Moment machte ich einen Rückzieher und löschte den Text wieder. Wer weiß, wie die Gruppenmitglieder darauf reagieren würden?

DER ERSTE SCHRITT

Jetzt sei doch nicht so eine feige Nuss, dachte ich mir. Ich wagte also den Sprung von der Klippe, schrieb binnen zwei Minuten einen neuen Text, postete ihn auf Facebook und schloss sofort das Browserfenster, als könne ich mich dadurch vor meinem Posting verstecken.

Es dauerte ein paar Sekunden, bis sich der Adrenalinschub gelegt hatte. Stattdessen stellte sich Neugier ein. Vielleicht hatten ja wirklich vier oder fünf Personen Interesse? Ich könnte einen echt netten Workshop in meinem Wohnzimmer abhalten. Die paar Teilnehmerinnen hätten bequem auf meiner Couch Platz. Das wäre ein echt schöner Sonntagnachmittag und ich hätte viel Freude daran, mein Wissen und meine Begeisterung zu teilen.

Ich sah also zwei Minuten später auf Facebook nach. Mein Beitrag hatte einige Likes geerntet, sowie 15 Kommentare von Frauen, die Interesse hatten. 15 Kommentare in zwei Minuten! Das würde eng werden in meinem Wohnzimmer! Eine kindliche Freude stellte sich bei mir ein, als ich sah, wie im Minutentakt mehr Kommentare dazukamen.

Mittlerweile war es Zeit, das Büro zu verlassen. Ich hatte einen Abendtermin und kam spät nach Hause. Bevor ich mich ins Bett legte, wollte ich noch einmal nachsehen, wie sich mein Post entwickelt hatte. Die Spannung war groß. Schnell fand ich meinen #MaketheMarketsFemale-Beitrag wieder und konnte es kaum fassen: Binnen sechs Stunden hatten mehr als 120 Frauen kommentiert und ihr Interesse bekundet. Ich war hin und weg. Manche schrieben sogar, dass sie schon seit Langem nach einer solchen Möglichkeit gesucht hatten und auch ihre beste Freundin mitbringen würden.

Ich dachte wieder an Davids Vortrag: „Wenn du auf dem richtigen Weg bist, bekommst du ein Zeichen”. Klarer konnte es kaum sein. An diesem Abend schlief ich lächelnd ein.

Sechs Wochen später fand der erste Investment-Workshop mit 70 Teilnehmerinnen für die Sorority statt. In den zwölf Monaten danach besuchten über 600 Frauen meine Workshops. Nach dem Basis-Workshop ging es mit dem Live-Trading weiter – ein Workshop, bei dem ich echtes Geld auf ein Wertpapierdepot lege und die Kursteilnehmerinnen entscheiden, wie wir es nachhaltig investieren. Sie generieren Ideen, wir finden dazu passende Wertpapiere und gehen den Analyseprozess gemeinsam durch. Zu guter Letzt platzieren wir in Echtzeit mit echtem Geld die Wertpapier-Order. Die Entwicklung dieses Depots verfolgen wir dann gemeinsam.

Doch damit nicht genug. Das Echo auf meine Workshops begann, die Presse auf den Plan zu rufen. Es folgten Radioshows, Podiumsdiskussionen und Pressetermine. Artikel über meine Arbeit und Interviews erschienen. Ich begann weitere Workshops und Online-Kurse zu Spezialthemen zu produzieren, rief gemeinsam mit der Produzentin Jeanne Drach den „Investorella”-Podcast ins Leben und startete einen YouTube-Kanal. Und ich schrieb dieses Buch.

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MEIN VERSPRECHEN AN DICH

WISSEN STATT PRODUKTE

Grundsätzlich solltest du dir immer die Frage stellen: Wer steckt hinter der Information, die ich gerade bekomme? Handelt es sich um eine neutrale Information oder soll mir etwas verkauft werden? Banken, Fondsgesellschaften und Versicherungen haben teilweise grenzgeniales Marketing für ihre Produkte. Wenn wir uns an eine Bank wenden, dann wissen wir natürlich, dass es sich um keine neutrale Beratung handelt, sondern dass uns die Produkte dieser Bank angeboten werden. In anderen Fällen ist es schwerer ersichtlich.

Besonders nach der Finanzkrise im Jahr 2008 kam die Rolle von Vermögensberaterinnen und deren Neutralität vermehrt ins Gespräch. Diese bieten oft eine breite Produktpalette mehrerer Institutionen an, dennoch sind sie im Normalfall von Verkaufsprovisionen abhängig. Sie müssen Produkte verkaufen, um davon leben zu können. Dies kreiert einen Interessenkonflikt und die Frage der Neutralität steht permanent im Raum. Es gibt zwar Vermögensberater, die ihre Leistungen auf Honorar- statt Provisionsbasis anbieten und keine spezifischen Produkte verkaufen. Sie stellen jedoch die Minderheit dar.

Hinzu kommt bei Banken, Versicherungen und Vermögensberatern das Thema der Informationsgefälle. Im Regelfall wissen diese Anbieter weit mehr über das Produkt als die Kunden. Diese haben also einen Informationsnachteil, der manchmal auch zu einem gravierenden finanziellen Nachteil werden kann.

Um diese Lücke zu schließen, kamen zahlreiche Blogs, Bücher und Kurse auf den Markt. Das ist logisch, eine gut gebildete Kundin kann bessere finanzielle Entscheidungen treffen. Doch Vorsicht! Hinter manchen Blogs stecken eigentlich Finanzinstitutionen. Manche Vorträge – besonders Veranstaltungen, die gratis sind – sind dazu da, um Kundinnen nachher zu Institutionen wie Banken und Versicherungen zu vermitteln. So manche Gratisberatung entpuppt sich schnell als Verkaufsgespräch. Mit der steigenden Popularität des Influencer Marketings lassen sich auch einige Podcaster und YouTuber von Banken und Versicherungen sponsern.

Mein erstes Versprechen an dich lautet daher: Neutralität. Ich promote keine Bank oder Versicherung. Hinter mir steht keine Institution. Auch für meine Podcasts akzeptiere ich keine Sponsoren aus der Finanzindustrie, damit meine Neutralität stets gewahrt bleibt.

GUT GEMEINT UND DOCH DANEBEN

Wenn wir schon bei Blogs, Podcasts oder YouTube sind. Natürlich gibt es viele wirklich neutrale Anbieter, die es mit der Verbreitung von Finanzwissen ernst meinen. Einigen folge ich gerne, doch manchmal höre ich Dinge, bei denen es mir die Haare aufstellt.

Die Menschen, die Tipps und Strategien verbreiten, meinen es im Normalfall gut. Leider wissen sie es oft nicht besser bzw. haben sie es verabsäumt, ihre Aussagen auf Korrektheit zu überprüfen. Dies kann weitreichende Konsequenzen haben. Nimmt man z. B. etwas, das man in einem Blog liest oder auf YouTube sieht, als gegeben hin, das nicht überprüft wurde, so kann es passieren, dass man suboptimal investiert oder sich schlimmstenfalls – im wahrsten Sinne des Wortes – ungeahnten Risiken aussetzt.

Auch unter Influencern gibt es Qualitätsunterschiede. Manche sprechen von ihren eigenen Erfahrungen und leiten davon Tipps und Strategien ab. Diese können bei anderen Menschen funktionieren, das ist jedoch nicht zwangsläufig so. Manche lesen ein paar Bücher und übernehmen die Thesen daraus ungeprüft. So machen Falschinformationen die Runde. Dann wieder werden zwar qualitativ hochwertige Informationen weitergegeben, jedoch nicht vollständig, sodass etwas Wichtiges fehlt. Meist ist dies der Risikohinweis.

Nun, woher weißt du, welche Information gut oder schlecht ist? Wem kannst du überhaupt vertrauen? Es gibt ein Kriterium, das du als Maßstab anlegen kannst, um die Qualität einer Information zu messen: Wissenschaftlichkeit. Zum Glück gibt es Ökonominnen, finanzmathematische Forscherinnen und Produkttesterinnen, die den ganzen Tag nichts anderes tun, als die Finanzwelt zu erforschen und Studien darüber zu verfassen. Diese Art von Information wirst du in diesem Buch finden.

Mein zweites Versprechen an dich lautet: Wissenschaftlichkeit. Beim Lesen wirst du immer wieder Fußnoten entdecken. Sie führen über Links zu Studien, damit du weißt, woher die Aussagen kommen. Mir ist es wichtig, dir Informationen zu geben, die dem aktuellen Stand der Wissenschaft entsprechen.

ZUM THEMA „GUT GEMEINT UND DOCH DANEBEN”

Manchmal liegen auch Expertinnen daneben. Ein berühmtes Beispiel dafür ist David Elias’ Buch „Dow 40.000”4. Nachdem im Jahr 1995 der US-Leitindex Dow Jones Industrial Index – einer der wichtigsten Aktienindizes der USA – 4.000 Punkte erreichte und im Jahre 1999 die 10.000er-Marke knackte, war der Autor im Sommer 1999 in seinem Buch davon überzeugt, dass der Dow Jones Index im Jahre 2016 bei 40.000 Punkten stehen würde. Tatsächlich schloss der DJI am 31.12.2016 bei 19.762,60 Punkten5. Knapp daneben. Elias war damit jedoch nicht allein. Andere Autoren schrieben zur selben Zeit Bücher wie „Dow 36.000”6 oder „Dow 100.000”7.

GUTES GELD UND GUT FÜR DIE WELT

Menschenrechtsverletzungen, Klimawandel, Plastik in den Meeren: Unser Weltwirtschaftskreislauf hat aktuell einige Probleme, die man als Investorin verständlicherweise bekämpfen will und keinesfalls verschärfen.

„Wenn ich am Kapitalmarkt investiere, befeuere ich dann nicht ein ausbeuterisches System?” Das ist eine Frage, die mir in Workshops immer wieder gestellt wird.

Die Antwort ist einfach: Du kannst es dir aussuchen. Du kannst in ein Öl- und Gas-Unternehmen investieren oder die Aktien eines Unternehmens kaufen, das pflanzlichen Fleischersatz herstellt. Du hast die Wahl zwischen einem Rüstungs- oder einem Recycling-Konzern. Wie du dich entscheidest, liegt an dir.

Damit dir die Entscheidung leichter fällt und du bei jedem Investment erkennen kannst, ob es sich nun um ein nachhaltiges Investment handelt oder nicht, lautet mein drittes Versprechen an dich: Nachhaltigkeit.

Dieses Buch enthält einige Informationen darüber, wie und wo du diese Daten findest (s. S. 75, 78, 126ff.), damit du eine informierte Entscheidung treffen kannst, die deinen Werten entspricht.

Ist nachhaltig gleich nachteilig?

„In nachhaltige Unternehmen und Fonds zu investieren und damit Gutes zu tun ist ja nett, aber ich will Geld verdienen!”

Der Glaubenssatz, dass nachhaltige Investments eine geringere Rendite aufweisen, wurde mittlerweile wissenschaftlich widerlegt. Eine Studie8 fand heraus, dass Unternehmen, die nachhaltig wirtschaften, auf lange Sicht eine bessere Rendite aufweisen. Eine weitere Studie9