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Über dieses Buch

Lesen gilt heute fast schon als retro: Wenn es um dessen Vorzüge geht, wird gern von »Kontemplation« und »Entschleunigung« gesprochen. Bücher sollen Rückzugsort und »Wellness-Oase für die Seele« sein.

All das greift entschieden zu kurz: Als Lesende nehmen wir an der Unruhe der Welt teil und schärfen unser Bewusstsein für Mehrdeutigkeiten aller Art. Und selbst die mächtigsten Zeichen lernen wir als das zu nehmen, was sie sind: Setzungen, die nicht alternativlos sind. Ein kluger wie leidenschaftlicher Essay für alle Buchmenschen, die das eigene Lesen und Tun bedenken.

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Dichten ist nicht Nägelkauen und Zahnstochern, sondern eine öffentliche Angelegenheit.

 Alfred Döblin

Wenn die vernetzte Welt um uns herum immer schneller und stressiger wird, liegt es nahe, in den kontemplativen Seiten der alten Kulturtechnik Lesen eine Art Gegenwelt und den unique selling point für gedruckte Bücher zu sehen. Und es stimmt ja auch, dass das genaue Lesen längerer oder anspruchsvoller, verdichteter Texte Zeit beansprucht, Konzentration und Ruhe erfordert.

Doch ist das alles? Und was heißt das genau? Wir mögen uns ja nach mehr Ruhe sehnen, aber führt uns diese Sehnsucht zum Buch? Ist das Buch nur dazu da, die sonstige Beschleunigung zu kompensieren? Da finden gerade fundamentale Umwälzungen in unserem Medienalltag statt, und dann soll die neue Antwort einfach nur die x-te Entdeckung der Langsamkeit sein?

Schon in dem beliebten Wort »Entschleunigung« verbirgt sich das bloß Reaktive und damit die konzeptuelle Abhängigkeit von einer anders funktionierenden, eben schnelleren medialen Umgebung. Von Entschleunigung kann nur derjenige reden, der die sentimentalische Perspektive desjenigen einnimmt, für den Bücher im hektischen Medienalltag kaum eine Rolle (mehr) spielen und dessen sehnsüchtige Projektion auf eine einzige Dimension reduziert ist: dass das Bücherlesen auf jeden Fall nicht so hektisch ist. Das ist ungefähr so, als würde man nach dem Ende des Urlaubs, wieder zurück im stressigen Job, das Besondere des Urlaubs – tautologisch und wahrscheinlich gelogen – darauf reduzieren, dass es im Urlaub eben nicht so hektisch wie im Job zuging. Von den Delfinen, die plötzlich,

Das mit der Büchersehnsucht verbundene Gefühl ist zwar real und absolut ernst zu nehmen, weil es mit realen Defiziten unseres Medienalltags zu tun hat, es ist aber kein Gefühl, das auf der primären Ebene des Lesens selbst entsteht. Die verbliebenen Leser*innen kann man damit also per se nicht ›abholen‹, weil es beim Lesen um vielfältigere Gefühle geht. Und ob man Nicht-mehr-Leser*innen dadurch zum Wieder-Lesen bringt, dass man eine Sehnsucht anspricht, die sich ja gerade der als schicksalhaft empfundenen Tatsache verdankt, dass man es unter heutigen Bedingungen nun mal nicht mehr schafft zu lesen, ist mehr als fraglich.

Hinzu kommt die unfreiwillige Ironie, die darin besteht, dass jede noch so gut gemeinte App, jedes weitere Tool, jedes aufregende Event, mit dem alte Leser*innen gebunden und neue, jüngere gewonnen werden sollen, zunächst einmal einfach nur das sind, was sie sind: weitere Optionen, weitere Produkte in unserem stressigen Medien- und Konsumalltag. Das Problem also besteht darin, dass jedes Marketing fürs Buch als Teil einer großen Antientfremdungsindustrie technisch und ökonomisch genau das betreibt, was ›kulturell‹ dann nach erfolgtem Kaufakt beim Lesen kompensiert werden soll. Dieses Dilemma ist zwar trivial und nicht aus der kapitalistisch organisierten Welt zu schaffen. Man muss es aber reflektieren. Wenn man das nicht tut und sich in einer Art »halbierten Moderne«, wie der Soziologe Ulrich Beck das nennen würde, einrichtet, wird auf Dauer nicht nur die Glaubwürdigkeit des eigenen Entschleunigungsnarrativs ausgehöhlt, sondern es werden auch wichtige Brücken zu öffentlichen Diskursen abgebrochen, das Buch also noch weiter in die Nische des »Retro-Charmes« geschoben.

Deshalb auch ist es wenig sinnvoll, das alte Narrativ der im 18. Jahrhundert beklagten Lesesucht durch den Vorwurf des Binge-Watching zu ersetzen und zu behaupten, Serienkonsum bedeute im Gegensatz zum Lesen vor allem Stumpfsinn und Zerstreuung. »Habe ich Zeit verschwendet?«, fragt, bezogen auf seinen Serienkonsum, der Schriftsteller David Wagner in

Kulturkritische Gegenüberstellungen dieser Art – hier die Konzentration auf das eine, ›heilige‹ Buch, dort zerstreuende Sucht nach Serien oder schlechten Romanen – führen zu völlig falschen Bildern auf beiden Seiten. Für die Literaturkritikerin Marie Schmidt ist es diese Abspaltung des alltäglichen, multimedialen Lesens von einem zurückgezogenen, feierlichen Lesen ›echter‹ Bücher, die dem Lesen am meisten schadet:

Die Trennung muss weg. Und etwas von der Wachheit, Schnelligkeit und Gier, mit der wir Newsfeeds, Chats und Mails lesen, muss her – aber für die Literatur. Was wir kultivieren sollten, ist ein aufregendes, chaotisches, lebendiges Lesen.

Zu dieser Lebendigkeit gehört auch, dass sich das Lesen nicht so einfach funktionalisieren lässt: Statt dass wir zuverlässig das richtige Maß an Erkenntnis, Vergnügen oder Erbauung bekommen, müssen wir uns nach bestimmten Lektüren, wie der Literaturkritiker Dirk Knipphals völlig zu Recht festgestellt hat, oft erst einmal wieder neu zusammensetzen:

Das richtige Lesen ist manchmal ein Tanz, manchmal ein Spiel, manchmal ein Spaziergang, manchmal ein ›ernstes Wort von Mensch zu Mensch‹ (Kafka), manchmal eine Expedition, manchmal aber auch ein Kampf.

Mit Wellness oder Lebenskunst hat das Lesen also nicht viel zu tun. Vor allem aber kann man mit Vita-contemplativa-Konzepten keine plausiblen Brücken zu den notwendigen politischen Kämpfen der Gegenwart, zur Vita activa, schlagen. Es

Es gibt eine schöne Stelle in Georg Wilhelm Friedrich Hegels (1770–1831) religionsphilosophischen Vorlesungen, wo er von den »Verwüstungen der Theologie« spricht, die darin bestehen, dass nicht etwa die Atheisten oder die Philosophen, sondern die Theologen selbst, also die scheinbaren Verteidiger der Religion, »alles getan haben, um das Bestimmte der Religion aufzulösen«. Richtet womöglich, auf das Lesen übertragen, die Oasen- und Wellness-Rhetorik die schlimmsten »Verwüstungen« an?

Lesen, so die zentrale These des vorliegenden Essays, ist keine kontemplative Quelle der Ruhe und Entschleunigung, sondern ein Herd der Unruhe und Kontingenz. Das Lesen gedruckter Bücher mag gesellschaftlich und medienhistorisch immer mehr zum Nischenphänomen werden. Das Lesen selbst aber ist alles andere als ein Nischenphänomen. Und beim Lesen von gedruckten, insbesondere literarischen Texten können Fähigkeiten (neudeutsch: Kompetenzen) ausgebildet und verfeinert werden, die auch für andere Formen des Lesens in unserer Kultur hilfreich sind. Im Grunde ist es relativ egal, ob man diese Kompetenzen mit einem Goethe-Gedicht oder der Aufschrift auf einer Duschgel-Flasche trainiert. Auch die Frage, ob digital oder analog gelesen werden sollte, ist weniger wichtig, als oft behauptet wird. Wichtiger ist nach Ansicht des Leseforschers Gerhard Lauer zunächst einmal schlicht die Lesesozialisation: Vorlese-Erfahrungen in der Kindheit, das Lernen von Konzentration, ob am Bildschirm oder mit Papier, und ein lebendiger Deutschunterricht.

Durch eine solche Sozialisation und die Erfahrung des Lesens als Vita activa lernen wir, an der Unruhe der Welt

Ja gewiß, das Lesen ist nicht übel. Gut am Lesen ist zum Beispiel, daß es keinen Krach macht und ein Lesender ruhiggestellt ist, daß er also nicht herumfuchtelt und unangenehm kommunikativ wird.

 Max Goldt

In seinem Discours sur l’origine et les fondements de l’inégalité parmi les hommes (Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen) aus dem Jahr 1755 stellt Jean-Jacques Rousseau (1712–1778) der Ruhe des Naturzustands die Unruhe der modernen Kultur entgegen: Während sich der wilde Mensch des Naturzustands nur nach »Ruhe und Freiheit« sehnt, ist der zivilisierte Mensch der bürgerlichen Gesellschaft »immerzu tätig«; er »schwitzt, hetzt sich ab, quält sich ohne Unterlaß, nur um sich noch mühsamere Beschäftigungen zu suchen«. »Welch ein Schauspiel stellen doch für einen Kariben die mühevollen und vielbeneideten Arbeiten eines europäischen Ministers dar!«

Die Gegenüberstellung von Ruhe und Unruhe hat eine lange Geschichte und findet sich als Topos bereits in der alttestamentarischen Erzählung vom Sündenfall, der zu Brudermord und Sprachverwirrung führt, oder in der Prometheus-Geschichte, wie sie Platon im Protagoras-Dialog erzählt.

Bis heute speist sich die Kulturkritik aus solchen Gegenüberstellungen: Hier ein (re-)konstruierter Ursprung, ein Kosmos oder göttlicher Heilsplan, die (narrativ) für Ordnung, Halt und Ruhe sorgen, dort eine von Menschen gemachte Kultur der Unruhe, die zu Chaos, Sünde und Entfremdung führt.

Die Ironie einer solchen Kulturkritik besteht allerdings darin, dass sie ihrerseits, als Erzählung, als Dialog, als schriftliche Antwort auf die Frage einer Akademie, nicht jenseits dessen

Mit dem Philosophen Ralf Konersmann könnte man sagen: Kultur bedeutet per se Unruhe. Der Begriff der Kultur entsteht überhaupt erst unter den neuzeitlichen Vorzeichen einer Unruhe der Welt, die daraus resultiert, dass die menschlichen Verhältnisse aus keiner vorgegebenen metaphysischen Ordnung mehr abgeleitet werden können, sondern alles von den Menschen selbst hergestellt, geregelt, erneuert und verändert werden muss. Vor allem aber resultiert die Unruhe daraus, dass die moderne Kultur, so der Soziologe Dirk Baecker, mit einer Praxis des Vergleichs einhergeht, aus der es kein Entrinnen gibt: Was sagen andere Menschen aus anderen Zeiten, von anderen Kontinenten zu dem, was ich denke und sage? Wie lebten und leben andere Menschen in anderen Kulturen?

Und findet man in früheren Zeiten und anderen Gegenden nicht, was man braucht, um verläßlich genug zu irritieren, weicht man in die Zukunft aus. Die ›Utopien‹ werden geboren, weil nur sie vergleichbar machen, was anders nicht

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