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Vollständige eBook-Ausgabe der Hardcoverausgabe

Text copyright © 2012 Pete Johnson

Titel der Originalausgabe: The Vampire Fighters

Die Originalausgabe ist 2012 im Verlag Random House Children’s Books (Corgi Yearling), London, erschienen.

© 2020 arsEdition GmbH, Friedrichstraße 9, München

Alle Rechte vorbehalten

Text: Pete Johnson

Übersetzung: Maja von Vogel

Covergestaltung: Grafisches Atelier arsEdition unter Verwendung von Illustrationen von Thorsten Saleina und Bildmaterial von GabrielJose/shutterstock.com

Innenvignetten: Thorsten Saleina und Bildmaterial von GabrielJose/shutterstock.com

ISBN eBook 978-3-8458-4037-6

ISBN Printausgabe 978-3-8458-3841-0

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Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

Dieses Buch ist all den Leseclubs gewidmet,

denen ich begegnet bin oder die mir geschrieben haben.

Dass ihr euch so viele Gedanken darüber macht,

wie die Abenteuer von Markus, Tallulah und Gracie weitergehen,

hat mich inspiriert. Ich hoffe, ihr seid mit meiner

Fortsetzung der Ereignisse einverstanden!

INHALT

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Prolog

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

Diesen Brief nach dem Lesen sofort zerreissen!

Ein Paar Sachen, die ihr über Pete Johnson vielleicht noch nicht wisst

PROLOG

Etwas lauerte in der Dunkelheit.

Etwas, vor dem man sich zu jeder Zeit fürchten sollte.

Der Blutige Geist.

So haben ihn die Leute genannt. Unser örtlicher Radiosender berichtet von nichts anderem mehr. Wahrscheinlich hat er bald sogar sein eigenes Instagram-Profil.

Zum ersten Mal wurde er an Silvester von einer Frau gesichtet. Es war ein dunstiger, grauer Morgen und sie war zum Laden an der Ecke unterwegs. Sie eilte gerade die Straße hinunter, als sie ein durchdringendes, schrilles Kreischen hörte.

»Es klang wie ein wütender Papagei«, beschrieb sie es später. Sie sah nach oben und hielt Ausschau nach einem Vogel. Stattdessen schwebte eine Gestalt auf sie zu.

Es war nur ein schattenhafter Umriss, viel zu weit weg, um Einzelheiten erkennen zu können. Aber die Hände des Wesens waren gut zu sehen. Sie waren so lang und dünn wie die Knochenhände eines Skeletts und schienen ihr zuzuwinken. Von den Fingern tropfte etwas, das ihr eine Gänsehaut über den Rücken jagte: Blut.

Die blutigen Skeletthände kamen näher und tanzten vor ihrem Gesicht. Die Frau wollte wegrennen, aber die Hände hatten sie mit einem bösen Zauber belegt. Sie war wie erstarrt.

Plötzlich schoss eine Hand auf sie zu, so schnell wie eine angreifende Kobra. Sie spürte einen Luftzug und erhaschte einen kurzen Blick auf das totenblasse Gesicht der Gestalt. Es jagte ihr eine Höllenangst ein. Auf einmal bleckte es die Zähne zu dem schrecklichsten Lächeln, das sie je gesehen hatte. Seine dunklen Augen waren völlig leer und leblos.

Die furchtbare, tote Kreatur schien die Frau zu sich zu ziehen und fortbringen zu wollen. Sie konnte sich nicht wehren, mit einem Schlag war alle Kraft aus ihrem Körper gewichen. Ihre Knie gaben nach und sie sank zu Boden, während das Wesen direkt über ihr lauerte.

Kurz bevor die Frau das Bewusstsein verlor, hörte sie eilige Schritte näher kommen. Hinterher sagte sie, was für ein Glück es gewesen sei, dass ihr Mann ihr nachgelaufen war, weil sie ihr Portemonnaie vergessen hatte.

»Glück hin oder her«, fügte sie hinzu. »Was hätte mir dieses Wesen schon tun können – außer mir Angst einzujagen? Es war schließlich nichts weiter als ein besonders scheußlicher Geist.«

Aber da lag sie komplett falsch. Ich wusste genau, was es in Wirklichkeit gewesen war.

Und ich hätte sonst was dafür gegeben, es nicht zu wissen.

1. KAPITEL

Drei Tage vorher - Montag, 29. Dezember
9.30 Uhr

Hallo, Blog.

Hier bin ich wieder.

Erinnerst du dich noch an mich? Markus – auch Freak genannt.

Ich war ein völlig normaler Junge, bis ich vor drei Monaten dreizehn geworden bin. Am Abend meines Geburtstags erzählten mir meine Eltern ganz nebenbei, dass sie Halbvampire seien und ich mich auch bald in einen verwandeln würde.

Ich war noch dabei, diese Neuigkeit zu verdauen, als ein spitzer weißer Eckzahn in meinem Mund auftauchte und mir ein paar Tage Gesellschaft leistete. Und das war erst der Anfang. Danach vergiftete ich mich an einer Pizza (es war Knoblauch drauf) und bekam einen Blutrausch, als ich neben einem netten Mädchen im Kino saß. Das Date lief nicht besonders gut.

Trotzdem glaubst du wahrscheinlich, es müsste ziemlich cool sein, ein Leben als Halbvampir zu führen.

Willst du die Wahrheit wissen? Es ist überhaupt nicht cool. Als Halbvampir musst du dich ständig verstellen und hast nichts als Ärger. Am schlimmsten ist das Gefühl, seltsam und anders als alle anderen zu sein. Als wäre ich jetzt für immer ein Freak. Ich kann dir gar nicht sagen, wie sehr ich das hasse!

Du willst wissen, ob es nicht auch ein paar Vorteile gibt? Na gut, hier sind sie: Ich darf jede Nacht bis drei Uhr aufbleiben. Und manchmal flattere ich ein bisschen durch die Gegend. Erst verwandle ich mich in eine Fledermaus und dann hebe ich ab. Gestern Nacht war ich über eine halbe Stunde in der Luft!

Letzten November habe ich außerdem eine besondere Fähigkeit bekommen. Ein paar Stunden lang konnte ich telepathische Nachrichten verschicken – zum Beispiel an Gracie, den einzigen weiblichen Halbvampir in meinem Alter, den ich kenne. Gracie ist total cool und witzig. Ich konnte auch Gedankennachrichten von ihr empfangen.

Das war einfach unglaublich. Vor allem, weil nur sehr wenige Halbvampire über eine zusätzliche Gabe verfügen. Telepathische Fähigkeiten kommen extrem selten vor. Leider hat es bei mir nur kurze Zeit funktioniert. Doch bald soll die besondere Fähigkeit zurückkehren, diesmal für immer. Es müssen nicht zwangsläufig telepathische Kräfte sein, obwohl eine so mächtige Gabe natürlich super wäre. Es könnte alles Mögliche sein. Vielleicht bin ich plötzlich wahnsinnig stark oder kann total schnell rennen. Ich war also ziemlich aufgeregt – wenn auch längst nicht so aufgeregt wie meine Eltern.

Wir warteten alle drei gespannt auf meine besondere Fähigkeit, die ich dann für den Rest meines Lebens behalten sollte. Wir warteten und warteten.

Und wir warten immer noch.

»Wir müssen einfach Geduld haben«, sagte Dad andauernd. Mir gegenüber tat er zuversichtlich, aber ich hörte ihn und Mum flüstern, dass meine besondere Fähigkeit sich eigentlich spätestens bis Weihnachten hätte zeigen müssen.

Und gerade eben haben meine Eltern die schreckliche Bombe platzen lassen.

Du wirst es nicht glauben, Blog. Ich kann es selbst kaum glauben. Mitten in den Weihnachtsferien, wenn alle Kids im ganzen Land – besser gesagt, auf der ganzen Welt – auf der faulen Haut liegen, soll ich zur Schule gehen. Allerdings nicht in meine normale Schule. Nein, ich soll an einem zweitägigen Spezial-Intensivkurs für Halbvampire »in meiner Situation« teilnehmen. Der Kurs findet in einem Institut namens Villa Eckzahn statt. Morgen geht es los.

»Dort lernst du, deine besondere Fähigkeit zu entwickeln«, sagte Mum.

»Kommt überhaupt nicht infrage!«, rief ich. »Es sind Ferien und ich brauche dringend Erholung.«

»Das sehe ich genauso«, sagte Mum überraschenderweise.

»Warum streiten wir uns dann?«, wollte ich wissen.

»Wir streiten uns nicht, wir diskutieren«, korrigierte mich Dad. »Wir finden auch, dass du dich erholen solltest. Aber wir fänden es besser, wenn du dich in der Villa Eckzahn erholst.«

Hast du schon mal so etwas Verrücktes gehört? Ich versuchte, meinen Eltern klarzumachen, wie irrwitzig dieser Plan war. Aber sie hörten mir gar nicht zu.

»Es reicht jetzt«, sagte Mum plötzlich. »Wir haben die Angelegenheit lange genug diskutiert. Dad und ich haben eine Entscheidung getroffen und dabei bleibt es.«

»Meine Meinung zählt wohl überhaupt nicht, was?«, fragte ich empört.

»Natürlich zählt sie, deshalb durftest du sie auch ausführlich darlegen«, sagte Mum. »Aber wir sind nun mal deine Eltern.«

Ich kann’s echt nicht mehr hören! Jedes Mal, wenn sie nicht mehr weiterwissen, kommt dieser blöde Spruch: »Wir sind deine Eltern und wir haben immer recht.«

Dienstag, 30. Dezember
10.45 Uhr

Gerade haben mir meine Eltern verraten, wo sich diese Villa Eckzahn befindet. In London, nicht weit von Covent Garden, in der Blut (!)buchenallee. Die Villa scheint ein beliebter Treffpunkt für Halbvampire zu sein, auch wenn das natürlich kein Mensch wissen darf.

Dad hat mit Dr. Chaney, dem Leiter des Instituts, gesprochen. Meine Tasche ist gepackt. Gleich geht’s los. Ich kann’s kaum erwarten.

10.47 Uhr

Kleiner Scherz.

18.45 Uhr

Ich schreibe jetzt von meiner Zelle aus – ups, ich meine natürlich mein Zimmer. In der Blutbuchenallee standen lauter riesige, todschicke Häuser (manche Halbvampire sind offenbar stinkreich), und die Villa Eckzahn lag ganz am Ende. Auf dem kleinen Schild neben der Tür stand nur Dr. Chaney.

Mum klingelte und eine Frau mit furchtbar grimmigem Gesichtsausdruck öffnete uns. Sie hätte eine prima Türsteherin abgegeben. Sie flüsterte eine Weile mit meinen Eltern, was mich ziemlich ärgerte. Ich bin schließlich kein kleines Kind mehr. Dann verkündete Miss Türsteherin, meine Eltern sollten jetzt gehen, und sie würde sie anrufen, wenn sie mich wieder abholen könnten.

Der Abschied von meinen Eltern fiel mir nicht leicht. Aber das ließ ich mir natürlich nicht anmerken, weil ich immer noch furchtbar sauer auf sie war.

Dann führte mich Miss Türsteherin schnaufend wie ein wütender Stier in einen Raum, der so ähnlich aussah wie das Wartezimmer beim Zahnarzt. Nur weniger freundlich. Zwei Jungs und ein Mädchen saßen kerzengerade auf vornehmen Stühlen. Sie sahen aus, als müssten sie gleich die schwerste Prüfung ihres Lebens ablegen.

»Hey, Bombenstimmung hier, was?«, scherzte ich. »Ich bin Markus, falls es euch interessiert. Und das sollte es. Und wer seid ihr?«

Doch bevor jemand antworten konnte, verkündete eine tiefe, feierliche Stimme: »Ihr braucht euch einander nicht vorzustellen, denn ihr werdet nicht lange hierbleiben.« Ein Mann mit ernstem Gesicht stand völlig reglos auf der Türschwelle. Seine Arme waren vor der Brust verschränkt. Er war groß und ziemlich alt und hatte einen langen, spitzen Bart. Er trug einen schwarzen Anzug und sah mehr aus wie ein Bestattungsunternehmer als wie ein Schuldirektor. Das war dann vermutlich Dr. Chaney.

»Wir helfen Halbvampiren dabei, ihre besonderen Fähigkeiten zu entwickeln«, erklärte er. »Unsere Erfolgsquote liegt bei einhundert Prozent. Wenn ihr uns vertraut und mit uns zusammenarbeitet, wird alles gut. Ich hoffe, euer Aufenthalt hier wird sehr kurz und höchst erfolgreich sein. Jetzt übergebe ich euch euren persönlichen Tutoren. Sie erwarten euch in euren Unterrichtsräumen. Miss Ramsay wird dich als Ersten dorthin begleiten, Markus.«

Miss Türsteherin führte mich zu einer Tür am Ende eines langen Korridors. Ich klopfte und ging hinein. Ich hatte Tische und Stühle erwartet, aber der Raum war völlig leer, abgesehen von einem Telefon an der Wand. Es sah ganz anders aus als in einem normalen Klassenzimmer. Außerdem war kein Mensch zu sehen. Was zum Teufel soll ich hier?, dachte ich. Ich will nach Hause! Plötzlich merkte ich, dass ich keineswegs allein war. Es war noch jemand da. Auf dem Fußboden lag eine Frau auf einer großen gelben Gymnastikmatte.

Sie war noch ziemlich jung, lächelte mir zu und stellte sich als Tara vor. Sie sagte, sie würde sich sehr freuen, mich kennenzulernen. Sie trug ein buntes Top, eine grüne Hose und pinkfarbene Turnschuhe und sah aus, als hätte sie in einem früheren Leben eine Fernsehshow für Zweijährige moderiert. Dann wollte sie wissen, was mein allergrößter Wunsch sei.

»In diesem Moment?«, fragte ich. »Auswandern!«

Erstaunlicherweise war das nicht die richtige Antwort. Ich hätte sagen sollen, mein größter Wunsch sei, meine besondere Halbvampir-Fähigkeit zu entwickeln. Laut Tara versuchte diese Fähigkeit durchzubrechen, schaffte es aber nicht, weil ich eine unsichtbare Mauer um mich herum errichtet hätte.

»Ich will ja nicht unhöflich sein, Tara«, sagte ich zu der Frau, die immer noch auf dem Boden lag. »Aber das ist kompletter Unsinn. Ich war bereit für meine besondere Fähigkeit, aber sie ist einfach nicht aufgetaucht.«

»Weißt du auch, warum?«, fragte Tara. Ohne meine Antwort abzuwarten, fuhr sie fort: »Weil du dich selbst blockierst. Und diese Blockade müssen wir lösen.«

»Klingt so, als hätte ich Rückenprobleme«, murmelte ich.

Dann musste ich mich neben sie auf eine »besonders bequeme« Gymnastikmatte legen, die dort bereits auf mich wartete. Tara erklärte mir, mein Halbvampir-Ich sei so etwas wie mein Schattenselbst, das ich ständig wegstoßen würde. »Aber dieses Schattenselbst ist Gold wert!« Sie wurde ganz aufgeregt. »Und du wirst diesen Schatz heben, sobald du dich mit deinem anderen Ich anfreundest.«

Danach sollte ich mein Halbvampir-Ich begrüßen, indem ich die Hand ausstreckte und rief: »Hallo, Halbvampir-Ich, ich heiße dich willkommen!«

»Ist das dein Ernst?«, fragte ich.

»Absolut.«

»Kann ich das auch später machen, wenn ich allein bin?«

»Nein, jetzt bitte.«

Ich lag also auf dem Boden neben einer völlig fremden Frau und redete mit meiner Hand. So leise wie möglich murmelte ich: »Hallo, Halbvampir-Ich, ich heiße dich willkommen.« Dabei kam ich mir völlig bescheuert vor.

»Das kannst du viel besser«, behauptete Tara. »Versuch’s gleich noch mal.«

Zwei Jahrhunderte später durfte ich aufhören, mit meiner Hand zu sprechen. Stattdessen musste ich rhythmisch »Hey, ich bin ein toller Halbvampir und glücklich mit mir und der Welt« rufen. Anschließend fragte Tara mich tatsächlich, ob ich ein Kribbeln in den Händen spüren würde, als erstes Anzeichen dafür, dass meine besondere Fähigkeit bald durchbricht.

Alle fünf Minuten wollte sie wissen, ob ich nicht doch ein klitzekleines Kribbeln spürte. Und jedes Mal, wenn ich ihr versicherte, meine Hände seien völlig kribbelfrei, versetzte das der allgemeinen Stimmung einen leichten Dämpfer. Tara hörte sogar für zwei Sekunden auf zu lächeln. Aber dann sagte sie entschlossen: »Kein Problem, wir versuchen es morgen einfach noch mal.« Sie stand auf, ging zum Telefon und nahm den Hörer ab. »Hallo, Miss Ramsay. Nein, leider noch kein Durchbruch, aber wir machen trotzdem für heute Schluss. Würden Sie Markus bitte zu seinem Zimmer bringen? … Wie bitte? Ach, tatsächlich? Das ist ja wundervoll! Bis gleich!«

»Was ist wundervoll?«, fragte ich.

Tara zögerte, dann sagte sie ruhig: »Zwei der Schüler, die du vorhin getroffen hast, können wieder nach Hause fahren.«

»Heißt das, ihre besonderen Fähigkeiten sind schon durchgebrochen?«

»Richtig, aber das ist hier ja kein Wettbewerb. Wir sollten uns davon nicht entmutigen lassen. Schließlich kann deine Fähigkeit auch jederzeit durchbrechen, nicht wahr?«

»Wenn du es sagst …«, murmelte ich. Ich hatte das ganze Thema gründlich satt.

»In deinem Zimmer wartet eine Mahlzeit auf dich. Deine Eltern haben gesagt, du hättest keine besonderen Verpflegungswünsche.«

»Nein, abgesehen davon, dass ich jeden Tag zwei Tüten Chips mit Barbecue-Geschmack essen soll. Das ist sehr wichtig für meine Ernährung. Und Gummibärchen, davon kann ich einfach nicht genug bekommen. Und natürlich Pommes mit Ketchup …« Ich quasselte immer weiter, bis die ewig schlecht gelaunte Miss Türsteherin kam, um mich zu meinem Zimmer zu führen.

Wie soll ich dir mein Zimmer beschreiben? Die Wände sind in einem herzerfrischenden Kotzgelb gestrichen. Es gibt ein Bett und einen Tisch (auf dem ein sehr unappetitlich aussehender Salat stand), und das war’s. Abgesehen von einer Dusche und einem Klo, das offensichtlich für einen kleinwüchsigen Zwerg gebaut wurde. Ich darf mein Zimmer heute Abend nicht mehr verlassen – und damit ich gar nicht erst in Versuchung komme, haben sie mich kurzerhand eingeschlossen. Angeblich soll die Ruhe beruhigend und konzentrationsfördernd wirken. Aber ich hasse diese endlose Stille wie die Pest!

Wenigstens kann ich Gracie schreiben. (Sie ist die Einzige, der ich von diesem Ort erzählen darf.)

Gracie schrieb:

Es ist, als müsstest du tagelang nachsitzen.

Meine Antwort:

Genauso fühle ich mich auch. Und dass mein Zimmer wie eine Gefängniszelle aussieht, ist garantiert kein Zufall.

21.35 Uhr

Gracie schickt mir eine alberne Whatsapp-Nachricht nach der anderen, zum Beispiel:

Gibt es eigentlich einen Preis für die ungewöhnlichste besondere Fähigkeit?

Ohne Gracie würde ich hier drinnen glatt durchdrehen.

Mittwoch, 31. Dezember
8.30 Uhr

Ich wurde vorhin von Miss Türsteherin geweckt, die mir das Frühstück brachte. Mir blieb glatt der Mund offen stehen, als ich sah, was es gab: klumpigen Haferbrei! Angeblich soll er voller Vitamine sein. Leider hat er dafür umso weniger Geschmack. Selbst Oliver Twist hätte dankend auf einen Nachschlag verzichtet.

12.50 Uhr

Habe gerade geschlagene vier Stunden intensive Entspannungsübungen mit Tara hinter mich gebracht. Wir haben sehr tief und mitteltief geatmet und zwischendurch mein Mantra aufgesagt. Noch nie in meinem Leben habe ich mich weniger entspannt gefühlt.

13.20 Uhr

Soeben ist der dritte Schüler, der gestern mit mir zusammen angekommen ist, wieder abgereist – natürlich mit seiner besonderen Fähigkeit im Gepäck. Also bin ich jetzt der Letzte, dessen Blockade sich immer noch nicht gelöst hat.

20.15 Uhr

Bin wieder zu Hause, Blog! Ich habe dir doch erzählt, dass die Villa Eckzahn eine Erfolgsquote von einhundert Prozent hat, oder? Tja, ich fürchte, ich habe die Statistik komplett ruiniert. Was mich nicht wirklich belastet, im Gegenteil. Heute am späten Nachmittag haben sie es aufgegeben und meine Eltern angerufen.

Tara hat ihnen eine Liste mit Übungen gegeben, die ich jeden Abend machen soll. »Wenn Markus wirklich am Ball bleibt, können immer noch wundervolle und großartige Dinge geschehen, da bin ich ganz sicher«, behauptete sie. Außerdem hat sie mir ihre Telefonnummer zugesteckt, falls ich mal jemanden zum Reden brauche. Auch wenn das bestimmt nie der Fall sein wird, habe ich ihre Nummer in meinem Handy abgespeichert.

Auf der Rückfahrt im Auto haben meine Eltern versucht, gute Laune zu verbreiten. Doch ich habe genau gesehen, wie Dad Mums Hand nahm und sie tröstend drückte. Und Mum flüsterte: »Keine Sorge, mir geht’s gut. Ich hab die Hoffnung noch nicht aufgegeben.«

Donnerstag, 1. Januar - Neujahr
0.30 Uhr

Mum, Dad und ich haben mit einem Gläschen Blut feierlich auf das neue Jahr angestoßen. Dann sagte Dad: »Außerdem möchte ich noch gerne auf Markus’ besondere Fähigkeit anstoßen. Sie lässt sich zwar etwas Zeit«, er warf Mum einen raschen Blick zu, »aber das Warten lohnt sich, da bin ich mir ganz sicher.«

Ehrlich gesagt glaube ich nicht mehr daran, dass sich meine besondere Fähigkeit jemals zeigen wird. Sie hätten mich bestimmt nicht aus der Villa Eckzahn geworfen, wenn die geringste Chance bestünde, sie irgendwie aus der Reserve zu locken. Und ja, ich gebe zu, das wurmt mich ein klitzekleines bisschen. Ich wäre gerne ein cooler Superheld geworden. Wer nicht? Außerdem hätte das meine Eltern endlich mal so richtig vom Hocker gehauen – stattdessen bin ich wieder mal eine totale Enttäuschung für sie.

Aber ich bin eben einfach kein Superheld. Bin es nie gewesen. Und tief in meinem Inneren habe ich das die ganze Zeit gewusst. Darum werde ich das Thema ein für alle Mal abhaken. Jawohl, genau das werde ich tun.

Ich habe sogar einen Vorsatz fürs neue Jahr gefasst. Hier kommt er: Ich werde nie wieder an irgendeinem Halbvampir-Kurs teilnehmen und keinen einzigen Gedanken mehr an meine besondere Fähigkeit verschwenden.

Stattdessen konzentriere ich mich ab sofort auf die wirklich wichtigen Dinge des Lebens: Mädchen!

Gestern habe ich eine Whatsapp-Nachricht von meinem besten Kumpel Joel bekommen. Er hatte an Silvester Besuch von seiner Freundin Katie. Sie sind jetzt schon rekordverdächtige sechs Wochen zusammen. Ich freue mich für ihn. Ganz ehrlich. Gleichzeitig stimmen mich solche Nachrichten irgendwie nachdenklich. Und ja, du hast es erraten, ich bin auch ein bisschen neidisch (was noch ziemlich untertrieben ist).

Vor allem, weil ich gerade Single bin. Was wirklich erstaunlich ist, wenn man meinen außerordentlichen Charme, mein gutes Aussehen und meine allgemeine Bescheidenheit in Betracht zieht. Eigentlich müsste ich ein international gefeierter Mädchenschwarm sein. Und irgendwie stehen die Mädchen auch auf mich. Na ja, zumindest lachen sie über meine Witze.

Abgesehen von der einen, die ich wirklich mag: Tallulah. Ich finde sie total super, aber mit dieser Meinung stehe ich in meiner Klasse ziemlich alleine da.

Tallulah ist wirklich manchmal etwas unfreundlich und gereizt – und zwar, wenn sie gute Laune hat. Wenn sie schlecht drauf ist, geht man ihr am besten aus dem Weg. Außerdem benutzt sie nie auch nur das kleinste bisschen Make-up und legt keinen Wert auf schicke Klamotten. Aber das bewundere ich gerade an ihr. Sie ist trotzdem sehr hübsch mit ihrem herzförmigen Gesicht und den großen Augen, die irgendwie direkt in einen hineinschauen können.

Dummerweise ist sie völlig besessen von Vampiren. Sie hat sogar eine eigene Seite namens Vampira ins Netz gestellt, weil sie der Meinung war, hier bei uns in Great Walden würden Vampire ihr Unwesen treiben.

Ich habe Insider-Informationen zu diesem Thema und kann dir versichern, dass Menschen nicht das Geringste von meinen sehr entfernten Verwandten zu befürchten haben – auch wenn du vielleicht in irgendwelchen Büchern etwas anderes gelesen hast. Vampire mögen nur Tierblut, Menschenblut ist ihnen zu sauer. Allerdings gibt es seit einiger Zeit eine Gruppe von Vampiren, die sogenannten tödlichen Vampire, die glauben, menschliches Blut würde ihnen ungeheure neue Kräfte verleihen, auch wenn es eklig schmeckt. Und es ist ihnen völlig egal, wie viel Blut sie dafür trinken müssen.

Diese tödlichen Vampire sind sehr gefährlich – für jeden. Letzten November ist einer von ihnen in unsere Gegend gezogen und hat angefangen, unschuldige Menschen anzugreifen – bis Tallulah ihn gestoppt hat (mit meiner fachkundigen Unterstützung, wie ich in aller Bescheidenheit hinzufügen möchte).

Beeindruckend, oder? Tja, meine Eltern waren leider kein bisschen beeindruckt. Stattdessen haben sie mich ordentlich zur Schnecke gemacht, weil ich die geheime Identität der Halbvampire in Gefahr gebracht hatte. Denn die erste und wichtigste Halbvampir-Regel lautet: Kein Mensch darf jemals erfahren, wer wir wirklich sind. Das leuchtet mir vollkommen ein. Sobald die Leute mitbekommen, dass Halbvampire in ihrer Straße wohnen, würden sie sich zu Tode fürchten – auch wenn wir völlig harmlos sind. Darum musste ich meinen Eltern versprechen, mich von normalen und tödlichen Vampiren fernzuhalten – und von Tallulah ebenfalls.

Aber Tallulah hatte sich inzwischen mit einem Vampir-Jäger namens Giles angefreundet. Er glaubt, dass weitere tödliche Vampire bei uns in Great Walden auftauchen werden, und er will sie aufhalten. Darum hat er Tallulah als Vampir-Jägerin eingestellt.

Der nächste Teil der Geschichte ist ziemlich peinlich und ich komme nicht besonders gut dabei weg. Darum bringe ich es lieber schnell hinter mich. Tallulah wollte mich auch als Vampir-Jäger anwerben. Und ich habe das Versprechen, das ich meinen Eltern gegeben hatte, gebrochen und Ja gesagt. Du willst wissen, warum um alles in der Welt ich das getan habe?

Weil Tallulah mir anvertraut hat, dass sie an einem gefährlichen Virus leidet, seit sie mit ihrer Familie vor einiger Zeit im Urlaub war. Die Krankheit ist unheilbar, darum tat sie mir ziemlich leid. Außerdem mag ich sie natürlich.

Aber hinterher wurde mir schnell klar, dass ich die falsche Entscheidung getroffen hatte.

Doch dann bekam ich die Grippe und Tallulah auch. Selbst Giles hatte sich angesteckt und musste sogar ins Krankenhaus. Deshalb ist wochenlang nicht das Geringste passiert.

Immerhin habe ich Tallulah ein paar Whatsapp-Nachrichten geschickt. Ich hatte wirklich gedacht, wir wären inzwischen Freunde geworden. Es hat ewig gedauert, bis sie geantwortet hat, und als endlich eine Nachricht von ihr kam, war sie so kühl und nichtssagend, dass ich augenblicklich beschlossen habe, meinen Job als Vampir-Jäger an den Nagel zu hängen. Ich habe es Tallulah noch nicht gesagt. Aber vielleicht ist das auch gar nicht nötig, weil die Sache ja offensichtlich sowieso im Sande verlaufen ist.

Und dass ich jemals mit ihr ausgehen werde, ist nichts weiter als ein Traum, genauso wie meine Wunschvorstellung von übernatürlichen Superkräften oder davon, allen Mädchen den Kopf zu verdrehen.

Es wird nie geschehen.

Das ist mir jetzt endgültig klar geworden.

12.30 Uhr

Eben kam eine Nachricht von Tallulah:

DRINGEND!!! Hab gerade eine Nachricht von Giles bekommen. Treffen an der Bushaltestelle vor Giles’ Haus heute um 19.00 Uhr. Keine weiteren Informationen per Handy oder Telefon – zu gefährlich! Achte auf die Lokalnachrichten im Radio. Jetzt geht es richtig los! Ist das nicht toll??

2. KAPITEL

Donnerstag, 1. Januar
13.15 Uhr

Ich verzog mich in mein Zimmer und hörte die Lokalnachrichten im Radio. Erst kam lauter langweiliges Zeug. Dann schwafelte irgendein Politiker ewig über seine Hoffnungen fürs neue Jahr. Als er endlich fertig war, sagte der Nachrichtensprecher mit einem Lächeln in der Stimme: »Wie wäre es jetzt mit einer kleinen Gruselgeschichte zu Neujahr? Viel Spaß mit dem ›Blutigen Geist‹!«

Während der nächsten Minuten erzählte uns eine Frau namens Marilyn, was sie erlebt hatte. Mir kroch eine Gänsehaut über den Rücken. Ich wusste sofort, was wirklich passiert war. Ein tödlicher Vampir hatte die Gestalt eines Geistes angenommen, sein Opfer mit den Händen hypnotisiert und sich in eine Fledermaus zurückverwandelt, um der Frau das Blut aus den Adern zu saugen. Marilyn war nicht vor Schreck beinahe ohnmächtig geworden, sondern weil sie so viel Blut verloren hatte. Es war wirklich großes Glück, dass ihr Mann genau im richtigen Augenblick aufgetaucht war.

Das Einzige, was nicht so richtig zu meiner Theorie passte, war der Zeitpunkt des Angriffs. Ich hatte noch nie von einem Vampir gehört, der tagsüber zuschlug.

Während ich noch darüber nachdachte, hörte ich ein Geräusch hinter mir. Ich fuhr herum und erblickte meine Eltern. Sie standen offenbar schon eine Weile in der Tür und hatten den Bericht über den Blutigen Geist ebenfalls gehört.