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Widmung

Für meine Eltern Bärbel und Kai,

die mich seit jeher bei jedem Vorhaben unterstützen.

Und Bastian, der das Buch mittlerweile auswendig kennt.

Freigabevermerk

Nur für den Dienstgebrauch.
Trocken und termitensicher und, wo immer möglich,
unter Verschluss aufzubewahren.
Auswertung durch fremde Geheimdienste strikt untersagt.


gez.: Carmilla DeWinter
Sachverständige für holistische Logik und Plotlochfindung

Jan Michelsen

Oliver Bishop
und der
Dolch von Kar’hiri

Inhalt

Widmung

Freigabevermerk

Vorwort

Kapitel 1: Eine neue Heimat

Kapitel 2: Summerfield & Sons

Kapitel 3: Aufnahmeprüfung

Kapitel 4: Unglücklicher Zufall

Kapitel 5: Die Magische Liga von Irland

Kapitel 6: Proturus Mago Linos

Kapitel 7: Filbert Flutterfeet

Kapitel 8: Auf Reisen

Kapitel 9: Lichtung des immerwährenden Frühlings

Kapitel 10: Gastfreundschaft

Kapitel 11: Der neue Zauberstab

Kapitel 12: Silbersonnen-Fest

Kapitel 13: Duell bei Nacht

Kapitel 14: Auf der Flucht

Kapitel 15: In Sicherheit

Kapitel 16: Druidische Magie

Kapitel 17: Mitternachtsmarkt

Kapitel 18: Unerwartete Hilfe

Kapitel 19: Der Dolch von Kar’hiri

Kapitel 20: Keine Zeit

Kapitel 21: Wahrheiten

Kapitel 22: Kampf auf dem Felsen

Kapitel 23: Home Sweet Home

Impressum

Vorwort

Verehrte MitbürgerInnen draußen im Lande,

in diesen dräuenden Zeiten, wo plötzlich der Besuch einer öffentlichen Bildungseinrichtung als nicht mehr selbstverständlich zu betrachten ist, erinnere ich mich meiner eigenen Schulzeit am Königlich Preußischen Friedrich Wilhelm I. Gymnasium in Gumbinnen bei Suleyken in Ostpreußen, in der kalten Heimat. Es war nicht immer schön!

Vorher genoss ich den Hausunterricht durch meine Tante Ida, die 1890 nach der Abdankung von Bismarck aus England kam, und mir zusammen mit meinem Vater den damaligen Wissensstand einbläute. Auch dies war nicht immer schön!

Wenn auch unfreiwillig, so kommt der Hausunterricht und das Lernen unter elterlicher Aufsicht und gegebenenfalls geschwisterlicher Anteilnahme und Störungen heute zumindest zeitweise wieder in Mode. Wie schön das ist, sei dahingestellt.

Oliver Bishop, Schüler einer renommierten Bildungsanstalt, verschlägt es aus seiner gewohnten Umgebung heraus an eine neue Schule, was für jeden Schüler eine Herausforderung darstellt. Es gilt, die neue Umgebung zu erkunden, neue Freunde zu finden und sich mit diversen Herausforderungen zu plagen.

Der Umgang mit unheimlichen magischen Artefakten gehört gewöhnlich nicht dazu und die Tatsache, dass damit allerlei Ungemach bis hin zum Mord verbunden ist, erst recht nicht. Aber Oliver Bishop nimmt diese Herausforderung an und das ist nun wirklich eine schöne Geschichte.

Das Amt ordnet vergnügliche Lektüre an.

Edmund F. Dräcker,

Präsident des Bundesamtes für magische Wesen

Kapitel 1: Eine neue Heimat

In einem Flugzeug, einige Kilometer über dem britischen Wales, saß ein Junge auf Platz 23 A und starrte auf die weiße Wolkendecke vor seinem winzigen Fenster. Er schwelgte in Erinnerungen. Erinnerungen an seine alte Schule, seine Freunde, seine ehemalige Heimat Hamburg und seine Schwester.

»Olli, schnall dich bitte an. Wir landen gleich und das Wetter über Dublin ist heute echt furchtbar.«

Als hätte der Wettergott Olivers Mutter erhört, fing die Maschine an zu beben. Er nahm seinen Gurt und ließ ihn schnell einrasten. Die Familie Bishop hatte Hamburg am frühen Morgen hinter sich gelassen und ihr Ziel war Irland, genauer gesagt Dublin. Oliver und seine Mutter hatten ihr altes Leben in Hamburg-Altona aufgegeben und Deutschland den Rücken gekehrt.

Eine Art Gong erklang und über den Köpfen der Passagiere leuchtete das Zeichen zum Anschnallen auf. Oliver zog seinen Gurt noch einmal fester und lauschte der krächzende Stimme der Stewardess, die im vorderen Bereich stand und eine Art mittelalterliches Telefon in der Hand hielt.

»Meine Damen und Herren, wir befinden uns im Landeanflug auf Dublin. Bitte begeben Sie sich auf Ihre Plätze und schnallen Sie sich an. Bei unserer Landung fliegen wir durch ein Gewitter, weshalb es zu leichten Turbulenzen kommen kann.«

Mit diesen Worten hängte sie den Hörer wieder in die Vorrichtung und setzte sich auf einen Platz für die Flugbegleiter. Kurz nach der Ansprache tauchte das Flugzeug ins Wolkenmeer ein. Die Maschine begann immer stärker zu wackeln und einige Passagiere stöhnten ängstlich auf. Oliver krallte sich regelrecht in die Armlehnen seines Sitzes, während seine Mutter desinteressiert durch die Kabine blickte. Rose hatte keine Angst.

Nach einer gefühlten Ewigkeit durchbrach das Flugzeug die Wolkendecke und glitt nun im stetigen Sinkflug auf Dublin zu. In einiger Entfernung erahnte man bereits die schroffen Klippen der Ostküste von Irland. Hin und wieder zuckten Blitze am Horizont, die sogar die Kabine der Maschine erhellten. Vor lauter Angst bemerkte Oliver nicht einmal, wie nah sie dem Dubliner Flughafen schon gekommen waren. Alles unter ihnen sah winzig aus, wie in einer Spielzeugstadt, und doch herrschte reges Treiben.

In den Vororten Malahide, Portmarnock und Swords kurvten Autos über die Straßen und ihre Scheinwerfer bahnten sich wie leuchtende Augenpaare den Weg durch den Regen. Je näher die Maschine dem Boden kam, desto mehr Details wurden erkennbar: Ein Zug rollte über die Schienen in Richtung Irische See und überall schwirrten Menschen umher, die über Gehsteige huschten und sich vor dem Wetter mit bunten Regenschirmen schützten. Vor den Gaststätten und Pubs strahlten trotz der frühen Tageszeit bereits die Lampen und luden die Menschen ein, sich vor dem Gewitter in Sicherheit zu bringen.

Die Reifen der Maschine setzten geräuschvoll auf und eine letzte, intensive Erschütterung verkündete die erfolgreiche Landung. Einige Passagiere applaudierten frenetisch und Oliver lockerte erleichtert seinen Griff. Wozu der Applaus? Es war immerhin die Aufgabe des Piloten, sicher von einem Ort zum anderen zu fliegen. Seine Mutter bekam schließlich auch keinen Beifall, wenn sie einem Patienten eine Nadel in den Arm steckte, um Blut abzunehmen. Schnell schob Oliver die Gedanken beiseite, denn sie waren endlich angekommen. In Irland, ihrer neuen Heimat.

In der Wartehalle mit den Kofferbändern war die Hölle los. Mehrere Flugzeuge wurden zur selben Zeit abgefertigt und entsprechend viele Menschen warteten ungeduldig auf ihr Gepäck.

Rose eilte von Laufband zu Laufband, um zu schauen, wo die Koffer aus Hamburg aus dem finsteren Schlund des Flughafens kamen. Oliver trottete indessen müde hinter ihr her. Er betrachtete die Passagiere, die ebenfalls warteten. Bei der Kofferausgabe für den Flug aus Stockholm stand ein untersetzter Mann mit Schnauzer. Er wuchtete gerade einen Koffer vom Band, der so groß war wie er selbst. Auf der anderen Seite des ovalen Laufbandes wartete eine Familie mit drei Kindern, die allesamt kupferfarbenes Haar hatten. Es war vielleicht ein Klischee, doch Oliver ordnete sie gleich als Iren ein. Der Vater stand mit einem Fuß auf dem Rand des Laufbandes und lauerte auf die Koffer, während die Mutter alle Hände voll damit zu tun hatte die beiden jüngsten Kinder zu beschäftigen. Die Tochter saß von ihrer Familie abgewandt auf dem leeren Kofferwagen und bearbeitete ihr Smartphone mit beiden Händen. Oliver blieb kurz stehen, um das Mädchen genauer zu betrachten. Sie war ungefähr in seinem Alter und hatte glatte, lange Haare, die ihr Gesicht außerordentlich gut verbargen.

»Aus dem Weg!«, donnerte es in seinem Rücken.

Oliver hätte das Mädchen noch länger betrachtet, wäre er nicht von einem groß gewachsenen Mann rüde angerempelt worden. Von hinten sah er nur einen dunkelbraunen Anzug samt passendem Hut. Wundersam war nicht der unfreundliche Umgang des Mannes, sondern die Art, wie er sich bewegte. Bei jedem Schritt schien er leicht zu federn und sich abzustoßen, wie ein Tier, das über unebenes Gelände läuft. Er bewegte sich wie eine Ziege oder ein Schaf. Das schien auch der Grund zu sein, wieso der Mann so schnell lief. Ragte dort unter dem Anzug ein kleiner, buschiger Schwanz hervor? Für einen genauen Blick blieb keine Zeit, denn der Mann war bereits durch den Ausgang enteilt.

Es dauerte etwas, bis sich Oliver von dem merkwürdigen Anblick erholt hatte. Er schaute sich um, doch seine Mutter war verschwunden. Sie musste bereits zum nächsten Laufband vorgegangen sein. Mit aufmerksamen Blicken lief er weiter durch die Wartehalle und sah sie kurze Zeit später mit einem vollgepackten Kofferwagen vor dem Ausgang stehen und warten.

»’Tschuldige Mom«, verkündete Oliver, als er seine Mutter erreichte, »ich wurde von so einem Typen aufgehalten.«

»Wohl eher von einem kleinen Mädchen auf einem Kofferwagen, hm?«, fragte sie spitzfindig und lächelte.

»Wir müssen uns beeilen, Mr. Forester wartet auf uns.« Oliver blickte seine Mutter fragend an.

»Mr. Forester. Unser Vermieter«, erklärte Rose. Unter großer Anstrengung schob sie den Wagen vor sich her. »Er holt uns am Flughafen ab und fährt uns zur Wohnung.«

Als sie die Vorhalle des Flughafenterminals betraten, öffnete sich eine neue Welt für Oliver. Alles war so ungewohnt und neu. Neue Wohnung, neue Menschen und Nachbarn. An die neue Schule dacht er lieber gar nicht erst.

Kaum hatten sie die Wartehalle verlassen, da erblickten sie Mr. Forester, der hinter der Absperrung stand. In der Hand hielt er ein Schild, auf dem mit großen Buchstaben Bishop geschrieben stand. Er hatte einen schwarzen Bowler auf dem Kopf und grinste über das ganze Gesicht, als er Olivers Mutter erblickte.

»Ah, Mrs. Bishop, wie schön, Sie endlich persönlich kennenzulernen. Wie war Ihr Flug?«

Olivers Mutter blinzelte verwundert über die Begrüßung und wuchtete den Kofferwagen schnaufend zu einer freien Fläche, während ihr neuer Vermieter munter folgte. Oliver schaute sich immer wieder neugierig um und betrachtete die Menschen, die durch die riesige Halle des Flughafens liefen. Fast jeder hatte ein Handy in der Hand oder am Ohr und schien unglaublich beschäftigt. Mr. Forester bildete da so etwas wie eine Ausnahme.

»Und Sie müssen Mr. Forester sein?«, fragte Olivers Mutter etwas gehetzt. »Der Flug war gut, danke.«

Der Flug war gut? Oliver schüttelte den Kopf. Seine Mutter war offenbar in einer anderen Maschine nach Irland geflogen.

»Nennen Sie mich bitte Hecktor. Hecktor Forester, der Vermieter Ihres Vertrauens.« Er lächelte noch breiter als zuvor. Doch seine Art wirkte nicht falsch, sondern ehrlich und offenherzig. Er streckte Rose die Hand zur Begrüßung entgegen.

»Sehr erfreut. Mein Name ist Rose. Aber ich denke, das wissen Sie bereits aus den Mietunterlagen.«

Mr. Forester lachte laut auf.

»Da haben Sie nicht ganz unrecht«, bestätigte er und wandte sich schlagartig an Oliver. Dieser stand etwas abseits und beobachtete eine Ansammlung von Menschen, die sich vor dem Aufgang zur Aussichtsplattform des Flughafens versammelt hatten. Immer wieder blitzten Lichter von Kameras auf, während einige Polizisten versuchten die Menge im Zaum zu halten.

»Oliver Cornelius Bishop!«

Rose riss ihren Sohn aus den Gedanken. Als er sich umblickte, sah er Mr. Forester direkt neben sich stehen, der ihm ebenfalls die Hand entgegenstreckte.

»Und du musst Oliver sein, nehme ich an?« Hecktor erhielt als Antwort nur ein schweigsames Kopfnicken und einen vorsichtigen Händedruck. Er folgte dem Blick des Jungen und sah ebenfalls die Schar an Polizisten, die neugierige Menschen sowie die Presse zurückdrängte.

»Auf der Aussichtsplattform wurde eine Leiche gefunden«, erklärte Mr. Forester trocken. »Aber keine Sorge, die irische Garda hat alles im Griff.«

Aufmunternd klopfte er dem Jungen auf die Schulter und ging wieder hinüber zu Rose. Sie setzte die Koffer ab und verschnaufte kurz, bevor es weiterging.

»Spricht Ihr Sohn Englisch?«, fragte er beiläufig.

»Natürlich!«, versicherte sie.

Oliver achtete nicht auf die Beiden. Er wusste selbst, dass er sich ab jetzt in einer fremden Sprache verständigen musste. Neben dem Unterricht in der Schule unterhielt sich die Familie ebenfalls des Öfteren auf Englisch, immerhin kamen seine Eltern beide ursprünglich aus Irland. Sie wanderten nach Deutschland aus, als sein Vater Jonathan von seinem Arbeitgeber nach Hamburg versetzt wurde. Doch das war alles einige Jahre vor Olivers Geburt und sein Vater hatte die Familie schon vor langer Zeit im Stich gelassen.

»Kommst du?«, fragte Mr. Forester in einem freundschaftlichen Ton. Er wartete auf den Jungen, während Rose den Kofferwagen schon zum Ausgang des Terminals steuerte. Seine Mutter hatte einen Job als Krankenschwester bei einer Blutbank angenommen, obwohl sie zuvor in Hamburg als Oberschwester arbeitete. Vor dem Ausgang auf einem Parkplatz stand ein leicht demolierter, mintgrüner Opel Rekord aus dem vergangenen Jahrhundert. Der Wagen brachte sie nach Stepaside, einem Vorort von Dublin. Dieser war zum Glück nur einige Fahrminuten vom Zentrum entfernt. Ob der Opel dort jemals ankommen würde? Oliver hatte da so seine Zweifel.

Hecktor Forester war ein emsiger Mann – schon immer gewesen. Und Vermieter und Grundbesitzer war er bereits solange er zurückdachte. Die meisten Immobilien in seinem Besitz lagen im südlichen Teil von Dublin und auch einige Ländereien außerhalb der Stadt nannte er sein Eigen. So gut wie alle Flächen und Gebäude waren natürlich vermietet oder verpachtet.

Und seine Mieter wussten, was sie an ihm hatten. Jede Aufgabe, jede Arbeit erledigte er im Handumdrehen. Gab es Probleme im Haus, etwa eine undichte Decke oder Schimmel in den Wänden, so war Hecktor Forester innerhalb eines Tages vor Ort, um die Schäden selbst zu begutachten – und nur wenige Stunden später standen bereits Experten und Bauunternehmen auf der Matte, um zu helfen. Bei dringlichen Anliegen wie einem Rohrbruch, was im Süden der irischen Hauptstadt erschreckend oft vorkam, war die Hilfe sogar noch schneller zugegen. Dafür sorgte er höchstpersönlich!

Aber das war nicht alles: Wenn es Probleme mit der Mietzahlung gab, war Hecktor Forester immer zu Gesprächen bereit, ja, gelegentlich gewährte er sogar Mietaufschub. Es ging ihm nicht um das Geld. Nie. Denn Geld hatte der naturverbundene Vermieter zur Genüge. Es ging ihm einzig darum, Menschen zu kostendeckenden Preisen eine Unterkunft zu bieten. Wer Hilfe benötigte, der bekam sie auch. Nach diesem Motto lebte er sein Leben lang. Deshalb war es auch nicht weiter verwunderlich, dass er Rose Bishop und ihren Sohn am Flughafen höchstpersönlich mit seinem Wagen abholte und quer durch die ganze Stadt fuhr, um sie zu ihrem neuen Heim zu bringen.

Der alte Opel Rekord rumpelte gemächlich über die Swords Road Richtung Innenstadt. Seine Mutter unterhielt sich mit Mr. Forester über die Flüchtlingspolitik und das Wetter. Oliver interessierten die Themen nicht, weshalb er vor seinem Fenster die Häuser betrachtete, die eng wie Bücher im Regal zusammenstanden. Im Radio spielte leise Musik. Trompeten- und Klaviertöne lagen in der Luft und untermalten die unvergleichliche Stimme von Ella Fitzgerald und ihrer Version von Lullaby of Birdland. Für Oliver klang es eher nach Fahrstuhlmusik aus längst vergessenen Tagen.

Nach einiger Zeit bogen sie in Richtung O’Connell Street ab. Der ohnehin zähe Verkehr kam nun gänzlich zum Erliegen und es ging nur noch etappenweise vorwärts, wie bei einer Diashow. Oliver kannte weder Irland noch Dublin, aber dank der Reisemagazine seiner Mutter wusste er ein wenig über die grüne Insel. Ganz freiwillig hatte er sie allerdings nicht gelesen. Wie ein Experte erkannte er etwa, dass die O’Connell Street durch das Zentrum von Dublin führte, samt Fußgängerzone, James-Joyce-Statue, altem Postamt und dem modernen Wahrzeichen in Form einer riesigen Nadel aus Edelstahl. Zufrieden nickte er, wenn er ein Bild aus dem Magazin erkannte. Er kam sich vor wie ein Tourist. Ein Tourist in seiner eigenen, neuen Heimat.

Nachdem der klapprige Wagen das Trinity College im Schneckentempo passierte, leerten sich die Straßen langsam. Oliver kam es so vor, als würden die vielen Autos nur durch die Innenstadt fahren, um die anderen Menschen auszubremsen. Dieser Gedanke beschäftigte ihn noch, als sie in die Straße einbogen, in der sich ihr neues Haus befand.

Das Heim der Familie Bishop stand am Belarmine Park. Die Häuser in der Nachbarschaft sahen alle ähnlich aus und unterschieden sich hauptsächlich durch die Vorgärten. Die Straße endete in einer Sackgasse und ihr Haus war das Vorletzte in der Reihe. Nummer 17.

Über einen Grünstreifen kam man auf die Hauptstraße und dahinter lag nur noch die Natur. Und von Natur gab es in Irland reichlich. Auf Wunsch streifte man tagelang durch Wälder und über Berge, durch Nationalparks und über saftig-grüne Wiesen; am Ende würde man vermutlich in Cork rauskommen oder irgendwo in den Atlantischen Ozean stürzen.

»Da wären wir!«, verkündete Mr. Forester mit überschwänglicher Freude. Er steuerte den Wagen auf die kleine Auffahrt vor dem Haus. Eine Garage gab es nicht.

Nachdem der Wagen zum Stehen gekommen war, zog er den Schlüssel und sprang federnd aus dem Wagen. Oliver dachte an den ruppigen Mann in der Wartehalle am Flughafen. Die Iren bewegten sich merkwürdig.

»Sehr schön«, bestätigte Rose und stieg ebenfalls aus. Sie lief vor dem Haus auf und ab wie eine Löwin im Zoo, die auf Futter wartete. Oliver war hingegen eher der Zoobesucher, der lieber auf Abstand ging und der Löwin verständnisvoll zunickte.

Nur langsam mühte er sich aus dem Wagen und begutachtete erst einmal die Umgebung. Alles um ihn herum wirkte sehr ländlich. Der Wald lag nur einige Meter von ihrem Haus entfernt und neben der Auffahrt befanden sich große Rasenflächen.

»Sie waren ja bereits vor einigen Monaten hier und haben das Haus von außen betrachtet«, erklärte ihr Vermieter nüchtern.

»Woher wissen Sie …?«, begann Rose verwundert, doch beschloss nicht weiter zu fragen. »Ja, sie haben recht. Und die Bilder der Einrichtung und der Zimmer haben Sie mir ja bereits per E-Mail geschickt.«

Hecktor betrachtete die Fassade des Hauses mit Wehmut. Einige seiner ältesten Freunde waren beim Bau der Siedlung ums Leben gekommen.

»Es kommt nicht oft vor, dass Leute ein Haus mieten wollen, ohne es vorher selbst zu besichtigen. Ab und zu passiert das natürlich, vor allem wenn die Mieter aus einem anderen Land kommen. Aber es ist doch eher die Ausnahme. Sie hatten in den letzten Wochen bestimmt auch Besseres zu tun, als jede Woche nach Irland zu fliegen.«

Oliver schaute nun ebenfalls auf das Haus. Es war groß, hatte zwei Etagen, einen Dachboden und offenbar sogar einen Keller mit rundlichen Fenstern. Die Fassade leuchtete in hellen Pastelltönen, während schwarze Dachschindeln wie Fischschuppen auf dem Haus lagen. Die Eingangstür war nach hinten versetzt und bestand, wie auch alle Fensterrahmen, aus massivem Eichenholz.

»Hallo! Hallo! Haaaallo!«

Eine laute Stimme zerstörte die einträchtige Ruhe der irischen Vorstadt. Rose und Oliver sahen sich verwundert um, während ihr Vermieter resignierend den Kopf senkte. Er wusste, wer zu Besuch kam, denn er kannte die Stimme nur zu gut. Mildred Montgomery, der Nachbarschreck vom Belarmine Park.

»Hallo, meine Liebe!«, flötete Mildred aus vollem Halse, als sie das Grundstück betrat und Rose herzlich umarmte. »Sie sind eine so starke Frau, nach allem, was ich über Sie gehört habe.«

Rose war sichtlich irritiert. Scheinbar kannte man sie hier bereits sehr gut, obwohl sie die Frau noch nie gesehen hatte.

»Und du musst der kleine Oliver sein. Niedlich.« Sie tätschelte seine Wange, doch Oliver sprang mit einem Satz nach hinten. Er war fünfzehn Jahre alt und vieles, aber nicht niedlich!

Als Letztes wandte sich Mildred an Hecktor, der am liebsten schreiend davongerannt wäre.

»Hallo, Mr. Forester. Sie sehen heute wieder blendend aus. Wenn ich etwas jünger und Sie etwas älter … Naja, Sie wissen schon!« Aufreizend zwinkerte sie dem Vermieter zu.

»Ja, Ms. Montgomery, ich weiß«, seufzte Mr. Forester. »Sie lassen ja keine Chance ungenutzt, um es mir zu sagen.«

Ihr Gesicht erstarrte, als wäre sie verzaubert worden. Dann schaute sie verlegen auf den Boden.

»Ich habe mich ja noch gar nicht vorgestellt«, entschuldigte sich die rüstige Dame und räusperte sich.

»Mein Name ist Mildred Montgomery, Vorsitzende des Seniorenvereins von Stepaside, Anführerin der Stepping Ladys – einem Steppverein für ältere Damen – und die Leiterin der Initiative zur Erhaltung der Grünflächen von Dublin. Und ganz nebenbei bin ich noch ihre direkte Nachbarin.«

Zähnefletschend grinste sie Rose an, die ihre Freude offenbar gut verbergen konnte.

»Kommen Sie, meine Liebe, wir sollten uns unterhalten«, verkündete Mildred, packte Rose an der Schulter und führte sie vor die Auffahrt. Scheinbar hatten die beiden Frauen jede Menge zu besprechen, noch bevor die Familie Bishop überhaupt einen Fuß ins Haus setzte. Aber genau das änderte Oliver jetzt.

Unter den Augen von Hecktor stiefelte Oliver hinüber zur Haustür. Der Griff fühlte sich überraschend warm an, und als Oliver den Knauf drehte, schwang die Tür geräuschlos nach innen auf. Ein starker Luftzug wehte ihm entgegen, aber Oliver ignorierte diesen einfach und schlüpfte hinein in die Wohnung. Auf der Suche nach seinem neuen Zimmer sah er nicht mehr, was hinter seinem Rücken geschah. Er sah nicht, wie Mildred Montgomery seine Mutter mit allen möglichen Informationen bombardierte und ihr bereits Flyer über Aktivitäten und Ämter in Stepaside zusteckte. Und er sah auch nicht, wie Hecktor Forester mit offenem Mund und verwunderter Miene auf die Tür starrte.

»Aber, wenn ich es dir doch sage! Er hat sie einfach geöffnet. Ohne Probleme!«

»Vielleicht hast du einfach vergessen abzuschließen, oder hast den Schutz nicht aufrecht erhalten?«

Hecktor massierte sich die Schläfen, während sein Bruder Scott an seiner Seite lief. Gemeinsam schlenderten sie durch den Three Rock Forest, einem Wald nahe dem Haus der Familie Bishop.

»Bei allem, was recht ist, Scott!« Hecktor erhob mahnend die Stimme. »Ich bin doch kein Anfänger! Ich bin ein Hirte und nebenbei noch ein verdammt guter Vermieter. Und ich werde nicht so fahrlässig mit einer Wohnung umgehen, die nur wenige Schritte von meinem und deinem Wald entfernt ist.«

»Ist ja gut, ist ja gut.« Beschwichtigend hob Scott die Hände, um seinen Bruder zu beruhigen. »Was für Abwehrzauber waren denn aktiv?«

»Nun, alle üblichen Zauber halt«, erklärte der Waldhirte.

»Allein auf der Tür lag ein Schutz gegen Einbruch und Diebstahl, auch bei massiver Beschädigung.«

Scott nickte nachdenklich. »Den hat mittlerweile ja sogar jeder gemeine Mensch auf seiner Tür. Zumindest wenn er einen Magier kennt.«

»Das war ja auch noch nicht alles«, erläuterte Hecktor.

»Ich hatte noch einen Zauber gegen Naturgewalt auf die Tür gelegt.«

»Worunter der Junge ja wahrscheinlich nicht fällt«, fiel ihm sein Bruder ins Wort, »oder?«

»Nein. Und nun lass mich endlich ausreden!«

Plötzlich tauchten Wildschweine im Unterholz auf. Die Familie mit drei kleinen Frischlingen rannte jedoch nicht panisch davon, sondern trottete langsam über den schmalen Pfad. Der Wächter des Waldes nickte dem Keiler respektvoll zu, was dieser wiederum mit einem Grunzer quittierte. Niemand, weder Scott noch Hecktor oder die Schweine, schien das merkwürdig zu finden.

»Auf der Tür wirkte außerdem noch ein Schutz gegen jegliche magische Türöffner, also verzauberte Dietriche, Zauberkugeln, Schlossfresser und der ganzen Kram.«

Er machte eine Pause und atmete tief durch. Die Luft im Wald war um einiges besser als in der Stadt, so frisch und kühl. Scott nutzte diese Atempause, um weitere Zweifel anzumelden.

»Die Tür konnte also, solange die Zauber noch aktiv waren, weder von einem Menschen, noch einem Magier geöffnet werden, richtig? Auch der Zufall konnte dem Jungen nicht helfen, keine Naturkatastrophen, kein Windzug, kein zufälliger Gebrauch von magischen Hilfsmitteln. Soweit stimmt alles?«

»Ja, stimmt alles«, bestätigte sein Bruder.

»Wenn du die Tür wirklich verschlossen und die Zauber nicht aus Versehen gelöst hast, dann gibt es nur eine logische Erklärung.«

»Und die wäre?«

»Der Junge muss noch vor der Tür stehen«, verkündete Scott trocken.

Hecktor blieb schlagartig stehen und schaute seinem Bruder wütend in die Augen.

»Scott Forework! Willst du mich auf den Arm nehmen? Wenn ich wüsste, wie der Junge in die Wohnung gelangt ist, dann würde ich mit dir jetzt nicht darüber sprechen! Ich würde dir von den neuen Parks im Norden von Dublin berichten, oder dir erzählen, dass meine Anally eine neue Stelle in einer Schule gefunden hat.« Er nahm seinen schwarzen Bowler vom Kopf und fuhr sich durch die struppigen Haare. »Aber darüber will ich nicht reden. Das Wichtigste habe ich dir außerdem noch nicht sagen können, weil du mir andauernd ins Wort fällst!«

Scott schaute betreten zu Boden, doch sein Bruder fuhr bereits fort.

»Es gab noch einen weiteren Zauber auf der Tür. Den Schutz gegen magische Einwirkung und Gewalt aller Art. Also gegen Magie, die Schlösser aufspringen lässt, gegen Druckwellen und magische Explosionen. Ja, sogar gegen Feuerbälle war dieser Eingang geschützt! Das ganze Haus hätte einstürzen können, aber die Tür wäre ganz geblieben.«

Sie setzten ihren Weg durch den Wald fort. Das Wetter hatte sich im Vergleich zum Morgen deutlich gebessert – zumindest für irische Verhältnisse. Es war trocken. Kleine Rinnsale flossen neben dem Weg hinab und führten das Wasser zu einem riesigen See, der menschlichen Augen jedoch verborgen war. Wie so vieles in diesem Wald.

»Übergibst du den Jungen an Inspektor Pinewood?«, fragte Scott seinen Bruder, nachdem sich dieser beruhigt hatte.

»Hör mir auf mit Pinewood! Nein«, sagte Hecktor knapp. q»Erst einmal nicht.«

Behände zog er seine Schuhe während des Laufens aus und nahm sie unter die Arme. Sein Bruder tat es ihm gleich. Anstatt nackter Zehen oder schmutziger Socken kamen Hufe zum Vorschein. Mit ihnen konnte man einfach besser durch den Wald laufen. Oder galoppieren, je nach Belieben.

»Was hast du dann vor?«, erkundigte sich Scott, bevor er sich wie ein nasser Hund schüttelte und zwischen die Bäume in den dicht bewachsenen Wald sprang.

»Ich kenne da einen alten Magier und guten Freund in Dublin«, antwortete der Waldhirte und schnellte seinem Bruder hinterher. »Er freut sich bestimmt über eine neue Aufgabe.«