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Der Autor

 

Lutz Wittmann, Prof. Dr. phil., Diplom-Psychologe, Psychotherapieausbildung am Psychoanalytischen Seminar Zürich, Professur für psychodynamische Psychotherapie und Psychotherapieforschung und Leiter der Hochschulambulanz (2015-2020) an der International Psychoanalytic University Berlin. Co-Leiter der Traumasprechstunde am UniversitätsSpital Zürich (2011-2013) und Mitglied des Vorstands der European Society for Traumatic Stress Studies (2011-2016). Seit 2014 International Editor des APA-Journals Psychoanalytic Psychology.

Lutz Wittmann

Trauma

Psychodynamik – Therapie – Empirie

Verlag W. Kohlhammer

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1. Auflage 2020

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-022691-3

E-Book-Formate:

pdf:      ISBN 978-3-17-033646-9

epub:   ISBN 978-3-17-033647-6

mobi:   ISBN 978-3-17-033648-3

 

 

Geleitwort zur Reihe

 

 

 

Die Psychoanalyse hat auch im 21. Jahrhundert nichts von ihrer Bedeutung und Faszination verloren. Sie hat sich im Laufe ihres nun mehr als einhundertjährigen Bestehens zu einer vielfältigen und durchaus auch heterogenen Wissenschaft entwickelt, mit einem reichhaltigen theoretischen Fundus sowie einer breiten Ausrichtung ihrer Anwendungen.

In dieser Buchreihe werden die grundlegenden Konzepte, Methoden und Anwendungen der modernen Psychoanalyse allgemeinverständlich dargestellt. Worin besteht die genuin psychoanalytische Sichtweise auf Forschungsgegenstände wie z. B. unbewusste Prozesse, Wahrnehmen, Denken, Affekt, Trieb/Motiv/Instinkt, Kindheit, Entwicklung, Persönlichkeit, Konflikt, Trauma, Behandlung, Interaktion, Gruppe, Kultur, Gesellschaft u. a. m.? Anders als bei psychologischen Theorien und deren Überprüfung mittels empirischer Methoden ist der Ausgangspunkt der psychoanalytischen Theoriebildung und Konzeptforschung in der Regel zunächst die analytische Situation, in der dichte Erkenntnisse gewonnen werden. In weiteren Schritten können diese methodisch trianguliert werden: durch Konzeptforschung, Grundlagenforschung, experimentelle Überprüfung, Heranziehung von Befunden aus den Nachbarwissenschaften sowie Psychotherapieforschung.

Seit ihren Anfängen hat sich die Psychoanalyse nicht nur als eine psychologische Betrachtungsweise verstanden, sondern auch kulturwissenschaftliche, sozialwissenschaftliche sowie geisteswissenschaftliche Perspektiven hinzugezogen. Bereits Freud machte ja nicht nur Anleihen bei den Metaphern der Naturwissenschaft des 19. Jahrhunderts, sondern entwickelte die Psychoanalyse im engen Austausch mit geistes- und kulturwissenschaftlichen Erkenntnissen. In den letzten Jahren sind vor allem neurowissenschaftliche und kognitionspsychologische Konzepte und Befunde hinzugekommen. Dennoch war und ist die klinische Situation mit ihren spezifischen Methoden der Ursprung psychoanalytischer Erkenntnisse. Der Blick auf die Nachbarwissenschaften kann je nach Fragestellung und Untersuchungsgegenstand bereichernd sein, ohne dabei allerdings das psychoanalytische Anliegen, mit spezifischer Methodik Aufschlüsse über unbewusste Prozesse zu gewinnen, aus den Augen zu verlieren.

Auch wenn psychoanalytische Erkenntnisse zunächst einmal in der genuin psychoanalytischen Diskursebene verbleiben, bilden implizite Konstrukte aus einschlägigen Nachbarwissenschaften einen stillschweigenden Hintergrund wie z. B. die derzeitige Unterscheidung von zwei grundlegenden Gedächtnissystemen. Eine Betrachtung über die unterschiedlichen Perspektiven kann den spezifisch psychoanalytischen Zugang jedoch noch einmal verdeutlichen.

Der interdisziplinäre Austausch wird auf verschiedene Weise erfolgen: Zum einen bei der Fragestellung, inwieweit z. B. Klinische Psychologie, Entwicklungspsychologie, Entwicklungspsychopathologie, Neurobiologie, Medizinische Anthropologie zur teilweisen Klärung von psychoanalytischen Kontroversen beitragen können, zum anderen inwieweit die psychoanalytische Perspektive bei der Beschäftigung mit den obigen Fächern, aber auch z. B. bei politischen, sozial-, kultur-, sprach-, literatur- und kunstwissenschaftlichen Themen eine wesentliche Bereicherung bringen kann.

In der Psychoanalyse fehlen derzeit gut verständliche Einführungen in die verschiedenen Themenbereiche, die den gegenwärtigen Kenntnisstand nicht nur klassisch freudianisch oder auf eine bestimmte Richtung bezogen, sondern nach Möglichkeit auch richtungsübergreifend und Gemeinsamkeiten aufzeigend darstellen. Deshalb wird in dieser Reihe auch auf einen allgemein verständlichen Stil besonderer Wert gelegt.

Wir haben die Hoffnung, dass die einzelnen Bände für den psychotherapeutischen Praktiker in gleichem Maße gewinnbringend sein können wie auch für sozial- und kulturwissenschaftlich interessierte Leser, die sich einen Überblick über Konzepte, Methoden und Anwendungen der modernen Psychoanalyse verschaffen wollen.

Die Herausgeberinnen und Herausgeber

Cord Benecke, Lilli Gast,

Marianne Leuzinger-Bohleber und Wolfgang Mertens

 

 

Vorwort

 

 

 

Aus dem vielstimmigen Chor der Psychotraumatologie will der vorliegende Band den psychoanalytischen Beitrag hervorheben, ohne ihm die Rolle eines Solisten zuzumuten. Eine kurze historische Einleitung (image Kap. 1) zeigt dabei auf, wie häufig in zeitgenössischen Konzerten Themen erklingen, welche an psychodynamische KomponistInnen erinnern, ohne dass ihre UrheberInnen den Programmheften in offensichtlicher Weise zu entnehmen wären. Danach (image Kap. 2) werden zentrale Dimensionen eines psychoanalytischen Traumakonzepts entwickelt und mit alternativen Erklärungsansätzen sowie empirischen Daten (image Kap. 3) verglichen. Das klinische Herzstück dieses Bandes stellen die beiden folgenden Kapitel (image Kap. 4, image Kap. 5) dar. Zunächst wird geprüft, wie groß der Bedarf an wirklich alternativen Behandlungsansätzen ist, wenn die aktuelle Forschungslage zur Traumatherapie kritisch gewürdigt wird (image Kap. 4). Im Anschluss daran werden diejenigen psychoanalytischen Behandlungsprinzipien zusammengestellt, welche sich in der Erfahrung des Autors in der Arbeit mit Menschen nach traumatischen Erfahrungen bewährt haben (image Kap. 5). Mit Dissoziation und Albtraum widmen die beiden Folgekapitel ihren Fokus zwei Symptomen, welchen eine Schlüsselrolle für das Verständnis des Traumakonzepts zukommen könnte (image Kap. 6, image Kap. 7). Im abschließenden Kapitel (image Kap. 8) wird im Zusammenhang von Bindungs- und Mentalisierungstheorie sowie dem Konstrukt des epistemischen Vertrauens die Fruchtbarkeit empirischer Forschung, aber auch die Notwendigkeit einer kritischen Distanz zu ihren Ergebnissen und Interpretationen evident. Zur über diese thematische Selektion hinausgehenden Eingrenzung liegt eine übergreifende Schwerpunktsetzung im Bereich traumatischer Ereignisse im Erwachsenenalter. Die Betrachtung der genannten psychotraumatologischen Felder erfolgt dabei unter systematischer Berücksichtigung und Integration der konzeptuell-theoretischen, praktisch-klinischen und wissenschaftlich-empirischen Perspektive.

 

 

Dank

 

 

 

Mein Dank gilt zunächst den Herausgebern dieser Reihe, welche mir mit der Einladung zu diesem Beitrag ein besonderes Vertrauen ausgesprochen haben. Für die großzügige Förderung meiner wissenschaftlichen Schritte ins Gebiet der Psychotraumatologie bin ich Prof. Dr. Ulrich Schnyder außerordentlich verbunden. Diese Schritte wären jedoch ohne die Erfahrung der klinischen Arbeit mit Menschen, welche unter den strukturzersetzenden Folgen traumatischer Erfahrungen litten, oberflächlich geblieben. Diesen Menschen, welche ich bei ihren Verarbeitungsprozessen begleiten durfte, und dem Psychoanalytischen Seminar Zürich, ganz besonders aber meinem Supervisor Heini Schwob, welche wiederum mich hierbei begleiteten, gilt mein besonderer Dank.

Inhalt

  1. Geleitwort zur Reihe
  2. Vorwort
  3. Dank
  4. 1 Psychotraumatologie und Psychoanalyse: eine bewährte Legierung wird entmischt
  5. 1.1 Psychoanalytische Beiträge zu den Traumakonzepten des späten 19. Jahrhunderts
  6. 1.2 Vom Grauen lernen: Krieg und Völkermord als Schulzimmer der Psychotraumatologie
  7. 1.3 Psychotraumatologische Konstrukte und ihre psychodynamischen Ursprünge
  8. 2 Traumatheorien
  9. 2.1 Das traumatische Ereignis im DSM-5
  10. 2.2 Drei aktuelle Traumatheorien
  11. 2.3 Traumakonzept und Psychoanalyse
  12. 2.3.1 Die psychoanalytische Begriffsinflation
  13. 2.3.2 Frühes psychoanalytisches Traumaverständnis
  14. 2.3.3 Vom objektiven Ereignis zur subjektiven Erfahrung
  15. 2.3.4 Die unmittelbare Reaktion
  16. 2.3.5 Die Ebene der Persönlichkeitsstrukturen
  17. 2.3.6 Die Repräsentation des Traumas
  18. 2.3.7 Die soziale Dimension
  19. 3 Von der konzeptuellen zur empirischen Forschung
  20. 3.1 Posttraumatische Psychopathologie
  21. 3.2 Psychoanalytisches Traumakonzept und empirische Forschung
  22. 3.2.1 Die unmittelbare Reaktion
  23. 3.2.2 Trauma ist kein objektives Ereignis, sondern eine subjektive Erfahrung
  24. 3.2.3 Persönlichkeitsstrukturen als Wirkort traumatischer Erfahrungen
  25. 3.2.4 Symbolisierungsfähigkeit und Integrierbarkeit der traumatischen Erfahrung
  26. 3.2.5 Trauma als nicht abschließbarer sozialer Prozess und das interpersonelle Vermeidungskonzept
  27. 4 Evidenzlage der psychodynamischen Traumatherapie
  28. 4.1 Zur Evidenzlage der evidenzbasierten Psychotraumatherapie
  29. 4.2 Evidenzlage der psychodynamischen Psychotraumatherapie
  30. 5 Psychodynamische Traumatherapie
  31. 5.1 Behandlungsrational
  32. 5.2 Technische Aspekte
  33. 5.2.1 Settingklärung
  34. 5.2.2 Der therapeutische Raum, Zuhören, und Widerstandsanalyse
  35. 5.2.3 Benennen, was sich ereignet
  36. 5.2.4 Abstinenz
  37. 5.2.5 Der Umgang mit der Vermeidung
  38. 5.2.6 Die Übertragungsanalyse
  39. 5.2.7 Durcharbeiten
  40. 5.2.8 Sukzession
  41. 5.2.9 Verstehen
  42. 5.2.10 Die Verwechslung von Würde und Leistung
  43. 5.2.11 Vertrauen als empirisches Konzept
  44. 5.2.12 Gegenübertragung
  45. 5.3 Sonderstatus Traumatherapie?
  46. 6 Traumaspezifische Symptome – die Rolle der Dissoziation
  47. 6.1 Peritraumatische Dissoziation
  48. 6.2 Strukturelle Dissoziation
  49. 6.3 Zur konzeptuellen Bedeutung des dissoziativen Abwehrmodus’
  50. 7 Traum und Trauma
  51. 7.1 Kategorisierung posttraumatischer Albträume
  52. 7.2 Replikative posttraumatische Albträume
  53. 7.2.1 Die Assoziation replikativer Albträume mit der PTBS
  54. 7.2.2 Ansätze zur Erklärung replikativer Albträume
  55. 7.3 Detailanalyse posttraumatischer Träume
  56. 7.4 Implikationen für die klinische Arbeit
  57. 8 Trauma, Bindung und Mentalisierung
  58. 8.1 Trauma und Bindung
  59. 8.1.1 Wirkung traumatischer Ereignisse auf die Entwicklung des Bindungssystems
  60. 8.1.2 Bindung als Risiko- und Resilienzfaktor nach traumatischen Ereignissen
  61. 8.1.3 Können traumatische Erfahrungen ein bereits stabilisiertes Bindungsmuster nachhaltig verändern?
  62. 8.2 Trauma und Mentalisierung
  63. 8.3 Trauma und epistemisches Vertrauen
  64. 9 Zusammenfassung
  65. Literaturverzeichnis
  66. Stichwortverzeichnis

 

 

1          Psychotraumatologie und Psychoanalyse: eine bewährte Legierung wird entmischt

 

 

 

Einführung

Bereits in den Studien über Hysterie (Freud & Breuer, 1895/1987) stehen traumatische Erfahrungen und ihre Folgen – damals noch unter dem diagnostischen Schlagwort der traumatischen Hysterie – im Fokus der Aufmerksamkeit. Hiermit wird deutlich, dass keine andere Psychotherapieschule auf eine so lange Auseinandersetzung mit dem Konzept des Traumas zurückblickt wie die Psychoanalyse. Zentrale Phasen der Entwicklung der Psychotraumatologie seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert werden im Folgenden blitzlichtartig beleuchtet. Einerseits werden dabei jeweils zeitgenössische psychoanalytische Beiträge betont. Anderseits werden so die psychodynamischen Wurzeln zahlreicher heute gebräuchlicher Konzepte der Psychotraumatologie freigelegt. Abschließend wird die Frage nach der Signifikanz des aktuellen psychodynamischen Beitrags und ihrer Außenwahrnehmung formuliert.

Lernziele

•  Übersicht über die Phasen der Entwicklung der modernen Psychotraumatologie und des sich hierin abbildenden Wechsels von Anerkennung und Leugnung der Bedeutung traumatischer Erfahrungen seitens der scientific community.

•  Kennenlernen zentraler psychotraumatologischer Konstrukte, deren psychodynamische Ursprünge einer weitgehenden Amnesie verfallen sind.

•  Würdigung und Relativierung des psychoanalytischen Beitrags im Kanon der Psychotraumatologie.

Der Basler Psychoanalytiker Christian Kläui unterteilt die Entwicklung der Psychoanalyse in drei Phasen (Kläui, 2010). Im Zentrum der ersten Phase stehen das Symptom und seine Beseitigung. In der Behandlung der traumatischen Hysterie (Freud & Breuer, 1895/1987) strebt Freud die Auflösung des Symptoms per Wiederherstellung der Erinnerung an. Bald jedoch werden die Grenzen eines rein symptomfokussierten Ansatzes sichtbar. In der Behandlung von Dora erkennt Freud (1905) schließlich, dass sich die Symptome seiner PatientInnen nicht nur in zwischenmenschlichen Beziehungserfahrungen begründen, sondern dass sich die so geprägten Muster auch in der therapeutischen Beziehung aktualisieren. Nichtberücksichtigung dieses Übertragungsgeschehens, so erkennt Freud, gefährdet den Erfolg einer rein symptomzentrierten Behandlung. Diese zweite Phase steht also im Zeichen der Analyse der Übertragung, der Auflösung des malignen Einflusses unserer inneren, auf frühe Interaktionserfahrungen zurückgehenden Beziehungsmodelle. Die dritte Phase beginnt gemäß Kläui mit den späten Schriften Freuds (Freud, 1920, 1937) und wird vom Autor anhand von Referenzen zur Psychoanalyse Lacans präzisiert. Freud erkennt, »dass die Übertragung, indem sie die Liebeskonstellationen der Kindheit wieder aufleben lässt, auch die traumatischen Momente des Scheiterns in unseren Begegnungen mit den geliebten Anderen zur Wiederkehr bringt« (Kläui, 2010, S. 384). Seine Theoriebildung greift dies mit Konzepten wie Wiederholungszwang und negativer therapeutischer Reaktion auf. Kläui postuliert so eine Mangelanthropologie:

»Denn die Norm, die mit einer so verstandenen Psychoanalyse ins Spiel kommt, heisst eigentlich: normal ist die Kluft in uns selbst, die sich nie schliessen lässt, sondern nur in der unendlichen Reihe der Verschiebungen, die unser Begehren kennzeichnet, umkreisen lässt« (ebd., S. 387).

Damit stellt sich dem Menschen eine Aufgabe, die sicherlich nicht zeitgemäß ist:

»Ans Ende kommt die Analyse erst, wenn wir quer durch all unser Verlangen nach Anerkennung und Liebe anerkennen können, dass wir hier auf etwas ausgerichtet bleiben, das wir nie restlos beantworten können und das unser unbewusstes Wünschen immer wieder antreibt, so dass es in keinem noch so gut zufrieden gestellten Anspruch aufgehen und Erfüllung finden kann« (ebd., S. 386).

So kann die Akzeptanz der nicht abschließend auflösbaren Fragen, die sich dem Einzelnen vor dem Hintergrund seiner Entwicklungsgeschichte stellen, eine Kreativität bei der Suche nach neuen, ihm besser entsprechenden Antworten öffnen.

Wie die Entwicklungsgeschichte der Psychoanalyse, so ist auch diejenige der Psychotraumatologie oft beschrieben worden (Bohleber, 2000; Lehmacher, 2013; Van der Kolk, 2007; Venzlaff, Dulz & Sachsse, 2009). An dieser Stelle soll deshalb nur flüchtig an einige Phasen erinnert werden, in welchen die wesentlichen Wachstumsschübe dieser Disziplin erfolgten. Gemeinsam ist all diesen Phasen, dass große zeitgeschichtliche Ereignisse eine breite fachliche wie allgemeingesellschaftliche Aufmerksamkeit sicherstellten. Im Zusammenhang mit den sensationellen Eisenbahnunfällen des 19. Jahrhunderts entwickelte sich so erstmals ein wissenschaftlicher Disput um die Bedeutung organischer und psychischer Korrelate traumatischer Unfallfolgen. Der Begriff railway spine stand dabei exemplarisch für die Annahme, dass Erschütterungen des Rückenmarks für die beobachteten dissoziativen oder somatoformen Symptome nach Unfällen verantwortlich sein sollten. In ihrer sorgfältigen Übersicht arbeitet Lehmacher (2013) die Ironie heraus, dass der englische Chirurg John Eric Erichsen, welcher bis heute mit dem Syndrom des railway spine in Verbindung gebracht wird, sich gerade dagegen wehrte, durch Verwendung eines solchen Begriffs unsinnigerweise die Annahme einer »neue[n], spezifische[n] Krankheit« (Lehmacher, 2013, S. 35) zu etablieren. Im Begriff der traumatischen Neurose (Oppenheim, 1889) interagierten dann bereits angenommene organische Verletzungen mit einem Schreckaffekt, wie er noch bis 2012 in der vierten Version des Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM-IV; APA, 2001) anzutreffen war:

»Für die Entstehung der Krankheit ist das physische Trauma nur z. T. verantwortlich zu machen. Die Hauptrolle spielt das psychische: der Schreck, die Gemüthserschütterung. Die Verletzung schafft allerdings directe Folgezustände, die aber in der Regel keine wesentliche Bedeutung gewinnen würden, wenn nicht die krankhaft alterierte Psyche in ihrer abnormen Reaction auf diese körperlichen Beschwerden die dauernde Krankheit schüfe« (Oppenheim, 1889, S. 123–124).

Eine erste Blütezeit eines psychischen Traumabegriffs lässt sich in den Arbeiten zur traumatischen Hysterie von Charcot und seinen Schülern erkennen. Hierbei sind insbesondere die Beiträge Pierre Janets als Vorläufer der heutigen Dissoziationstheorie (vgl. van der Hart & Horst, 1989) sowie diejenigen von Freud (z. B. Freud & Breuer, 1895/1987) zu nennen. Freuds unheilvolles Schwanken zwischen Anerkennung der äußeren traumatisierenden Realität und ihrer ebenso schädlichen wie unnötigen Infragestellung wird detailliert von Venzlaff et al. (2009) nachgezeichnet. Die beiden Weltkriege und der Bedarf an Soldaten, deren Funktionsfähigkeit nicht vom Horror der Schlachtfelder beeinträchtigt sein sollte, boten traurige Gelegenheit zur Präzisierung phänomenologischer Beobachtungen und zur Entwicklung der unterschiedlichsten Interventionsstrategien. Die in unverantwortlicher Weise verzögerte Anerkennung der psychischen Folgen der Extremereignisse (Bettelheim, 1943) im Zuge des deutschen Genozids an der jüdischen und vielen anderen Bevölkerungsgruppen zeitigt schließlich ebenso erschütternde wie tiefgreifende Erkenntnisse über die Wirkungsweise eines realisierten psychotischen Kosmos’ (Grubrich-Simitis, 1979). Schließlich sind es der Vietnamkrieg und die amerikanische Frauenrechtsbewegung, welche das Bewusstsein für die Folgen traumatischer Ereignisse in solcher Weise schärfen, dass diese 1980 erstmals in Form der Diagnose der Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) ins DSM-III (APA, 1980) aufgenommen wird.

1.1       Psychoanalytische Beiträge zu den Traumakonzepten des späten 19. Jahrhunderts

Zur Beantwortung der Frage, welche Rolle die Psychoanalyse für die Entwicklung der heutigen Psychotraumatologie spielte, werden in diesem und dem folgenden Abschnitt einige selektiv ausgewählte Beiträge psychodynamisch orientierter ForscherInnen und KlinikerInnen zu den genannten Entwicklungsphasen aufgelistet. Dabei werden auffallende Parallelen zwischen den fast schon historischen psychoanalytischen Beiträgen und aktuellen psychotraumatologischen Positionen herausgearbeitet.

Werfen wir einen Blick in die Studien über Hysterie (Freud & Breuer, 1895/1987), wo wir – wie von Kuster (2008) beschrieben – in der Behandlung »hysterische[r] Symptome traumatischen Ursprungs« (Freud & Breuer, 1895/1987, S. 168, Hervorhebung im Original) Freuds Schritt vom suggestiv arbeitenden Psychotherapeuten zum zuhörenden Psychoanalytiker beobachten können. Hier lesen wir:

»Wir fanden nämlich, anfangs zu unserer grössten Überraschung, dass die einzelnen hysterischen Symptome sogleich und ohne Wiederkehr verschwanden, wenn es gelungen war, die Erinnerung an den veranlassenden Vorgang zu voller Helligkeit zu erwecken, damit auch den begleitenden Affekt wachzurufen, und wenn dann der Kranke den Vorgang in möglichst ausführlicher Weise schilderte und dem Affekt Worte gab. Affektloses Erinnern ist fast immer wirkungslos […]« (S. 9–10, Hervorhebung im Original).

Dieser Traumakonfrontation bei angenommenem Wirkfaktor des kathartischen Abreagierens stellen die Autoren einen weiteren Aspekt zur Seite:

»Die Erinnerung daran tritt, auch wenn sie nicht abreagiert wurde, in den großen Komplex der Assoziation ein, sie rangiert dann neben anderen, vielleicht ihr widersprechenden Erlebnissen, erleidet eine Korrektur durch andere Vorstellungen. Nach einem Unfalle z. B. gesellt sich zu der Erinnerung an die Gefahr und zu der (abgeschwächten) Wiederholung des Schreckens die Erinnerung des weiteren Verlaufes, der Rettung, das Bewußtsein der jetzigen Sicherheit« (S. 21).

Das heißt, heilende Kraft wird der Verknüpfung der isolierten episodischen Gedächtnisspur vom traumatischen Ereignis mit dem erweiterten und heutigen Lebenskontext zugesprochen, worin sich das Konzept des Kontextlernens erkennen lässt. Vergleichen wir diese Ausführungen mit dem Vorgehen bei der Narrativen Expositionstherapie (NET; Schauer, Neuner & Elbert, 2005), einem manualisierten, kognitiv-verhaltenstherapeutischen Behandlungsansatz, welcher auch Elemente der Testimony Therapy integriert:

»In der NET spricht der Patient wiederholt detailliert über das schlimmste traumatische Ereignis und erlebt dabei die Emotionen, die mit diesem assoziiert sind, erneut. In diesem Prozess konstruiert der Patient eine Erzählung seines Lebens, bei welcher er auf die detaillierte Schilderung der traumatischen Erfahrungen fokussiert. Die Mehrheit der Personen habituiert und verliert ihre emotionale Reaktion auf die traumatische Erinnerung, was in der Folge zu einem Nachlassen der PTBS-Symptome führt« (S. 24, eigene Übersetzung).

Auf Seite 36 (eigene Übersetzung) des Manuals erfahren wir dann:

»Es ist wichtig, dem Prozess der Habituation zu vertrauen. Dieser kontinuierliche Prozess der Erfahrung heisser Erinnerungen (›hot memory‹), während Elemente in Worte und in eine kohärente Erzählung umgewandelt werden, führt zu Habituation. Hierdurch werden die emotionale Wucht der Empfindungen und die psychophysiologische Erregung abnehmen. Anfangs mögen einige Gefühle schwierig auszuhalten sein, wie Wut, Sprachlosigkeit, und Schuld. Der Moment der Exposition ist jedoch der Moment, die Furcht intensiv zu spüren«.

Es ist offensichtlich, dass diese AutorInnen zur Erklärung der Wirkung von NET auf andere Wirkfaktoren rekurrieren, als Freud und Breuer dies taten. Habituation klingt sicher sehr viel moderner und wissenschaftlicher als Katharsis. Gedenken wir aber der Mahnung von Venzlaff et al. (2009): »Lachen wir nicht: Unsere heutigen Theoriegebäude werden künftigen Generationen sicher auch eine Quelle der Heiterkeit sein« (S 10.)1. Und tatsächlich, schon unterwirft einer der Autoren des NET-Manuals diese Aussagen einer kritischen Prüfung:

»Die ursprüngliche Annahme für die Wirkung dieses Vorgehens geht, in Analogie zur Behandlung von Phobien, zurück auf die Annahme der Habituation der Furcht. […] Neuere Theorien gehen dagegen davon aus, dass die ursprünglichen assoziativen Furchtstrukturen von der Exposition weitgehend unberührt bleiben. Dagegen etabliert sich durch die geleitete Erinnerung eine neue Erfahrung, die inkompatibel ist mit dem ursprünglichen traumatischen Erlebnis. […] Zu den neuen, traumainkompatiblen Erfahrungen gehört beispielsweise die Vervollständigung des autobiografischen Gedächtnisses, die Kontextualisierung der Erinnerung in Zeit und Raum, die Aufarbeitung von Schuldgefühlen sowie die Widerlegung von schambesetzten Grundannahmen durch die therapeutische Beziehung« (Neuner, 2015, S. 5).

Auch hier lässt sich also das Konzept des Kontextlernens erkennen. Dass es Unterschiede zwischen den Beschreibungen des technischen Vorgehens in der Traumakonfrontation zwischen beiden Ansätze gibt, ist offensichtlich: die Entwicklung immer raffinierterer Expositionstechniken durch die kognitive Verhaltenstherapie (KVT) sei an dieser Stelle ausdrücklich begrüßt und anerkannt. Nichtsdestoweniger überraschen die großen Überschneidungen in Bezug auf theoretische Erklärungsmodelle (Notwendigkeit therapeutisch begleiteten Durcharbeitens und Wiedererlebens der traumatischen Eindrücke und Gefühle sowie Kontextlernen) sowie auf Seiten des praktischen Vorgehens zwischen den Ausführungen des voranalytischen Freuds und Breuers und einem 110 Jahre später veröffentlichten Therapiemanual.

1.2       Vom Grauen lernen: Krieg und Völkermord als Schulzimmer der Psychotraumatologie

Auch wenn sich diese Kostprobe aus dem Reichtum der ersten psychotraumatologischen Blütezeit Ende des 19. Jahrhunderts einseitig auf ein Autorenpaar und zwei kurze Textstellen beschränkt, erschiene die Hypothese plausibel, dass die psychiatrischen Ärzte der ab 1914 kriegsführenden Nationen von substantiellen Vorarbeiten profitiert haben dürften. Am Beispiel der Kaufmannschen Überrumpelungs-Methode erfahren wir jedoch, dass das deutsche Militär Methoden, welche wir dem Bereich der Folter zuordnen müssen, für effektiver hielt. Diese wird von Raether (1917, S. 490) wie folgt beschrieben:

»1. Suggestive Vorbereitung, die sich über mehrere Tage erstreckt und den Patienten voll und ganz darauf einstellt, dass die bevorstehende elektrische Sitzung zwar Schmerzen, aber unbedingt die Heilung bringt. 2. Die eigentliche Sitzung, in der sich Kaufmann sehr kräftiger elektrischer Ströme bedient […]. Grundbedingung: nur eine Sitzung bis zur völligen Heilung des Falls, auch wenn diese mehrere Stunden dauern sollte. 3. Energische Übungen in dieser Sitzung, die […] gegen die zu beseitigende funktionelle Störung gerichtet sind, wie […] Gang- und Marschübungen bei Gangstörungen usw. Diese Übungen führt Kaufmann nach militärischen Kommandos aus unter Betonung des militärischen Vorgesetztenverhältnisses«.

Ethische Vorbehalte von Kollegen konnte Kaufmann durch Verwendung von lediglich »mässig starkem Strom« und Verkürzung der Sitzungsdauer auf »selten länger als ¼ Stunde« auflösen (S. 491). Der Blick wendet sich entsetzt ab und sei auf das Geschehen auf dem V. Internationalen Psychoanalytischen Kongress im September 1918 in Budapest gelenkt. Hier tauschen sich frühe PsychoanalytikerInnen wie z. B. Ferenczi, Abraham und Simmel über ihre Erfahrungen bei der Behandlung traumatisierter Soldaten aus. Simmel (1919, S. 42) distanziert sich von »der Verwerflichkeit aller Gewalts- und Beeinträchtigungsmethoden«. In Anerkennung der den Umständen geschuldeten Notwendigkeit einer Behandlungsbeschleunigung, deren Grenzen er kritisch diskutiert, beschreibt er den Einsatz einer »Kombination von analytisch-kathartischer Hypnose mit wachanalytischer Aussprache und Traumdeutung – letztere sowohl im Wachen wie in tiefer Hypnose ausgeübt« (S. 43).

»In der Hypnose erzählt oder rückerlebt der Soldat noch einmal all die Dinge, die er in jenen Zuständen nur unbewußt aufgenommen hat. Wir erfahren von qualvollen Schmerzen, die im Zustande der Verschüttung niemals zur bewußten Apperception gelangten. Wir sehen in solchen Hypnosen seine Angst, seinen Schrecken sich lösen, seine Wut sich aufbäumen, die im Moment der Erregung erstarrt blitzartig ins Unbewusste hinabgerissen wurden« (S. 48).

Abraham (1919, S. 36) beschreibt, wie das Zusammenbrechen einer »mit ihrem Narzißmus zusammenhängende[n] Illusion«, […], nämlich durch den Glauben an ihre Unsterblichkeit und Unverletzlichkeit« zur Krankheitsentstehung beiträgt: »Die narzisstische Sicherheit weicht einem Gefühl der Ohnmacht, und die Neurose setzt ein«. Der Psychoanalytiker Mardi Horowitz (1976, S. 177, eigene Übersetzung) greift dies am Fallbeispiel eines Patienten mit narzisstischem Persönlichkeitsstil nach Verkehrsunfall auf: »Das Konzept der Möglichkeit, selber sterben zu können, ist stark inkongruent mit dem andauernden Konzept persönlicher Unverletzlichkeit und diese Diskrepanz löst Angst aus«. Janoff-Bulman (1992, S. 19, eigene Übersetzung) schreibt später in ihrem Buch Shattered Assumptions, welches den schönen Untertitel Towards a New Psychology of Trauma trägt: »Es gibt erhebliche Forschungsbelege, dass Menschen die Wahrscheinlichkeit, dass ihnen negative Ereignisse widerfahren könnten, unterschätzen, während sie die Wahrscheinlichkeit positiver Ereignisse überschätzen; sie scheinen auf der Basis einer »Illusion der Unverletzlichkeit« zu operieren« – freilich ohne ihre psychoanalytischen Vorgänger zu referenzieren. Die Rigidität solcher vorbestehenden Annahmen über sich selbst und die Welt gilt im Rahmen der kognitiven Traumatheorien heute als wichtiger Risikofaktor für die Entwicklung von Traumafolgestörungen (Foa, Hembree & Rothbaum, 2007). Auch zur bereits damals hochaktuellen, unter dem Schlagwort »Rentenneurose« geführten Kontroverse (vgl. Lehmacher, 2013) wurden in Budapest tendenziöse Vorurteile geradegerückt. Diese Kontroverse ging und geht der Frage nach, ob PatientenInnen mit Traumafolgestörungen als zivile SozialversicherungsschmarotzerInnen bzw. desertierende VaterlandszersetzerInnen zu entlarven sind oder als schwer geschädigte Opfer anerkannt werden sollten. Simmel (1919, S. 56) spricht hier von »vielfach fälschlich angeschuldigten bewußten ›Begehrlichkeitsvorstellungen‹«. In Bezug auf Fälle der »echten Rentenneurose« (ebd.) erarbeitet er ein Verständnis des intrapsychischen Geschehens, welches solchen Fällen zugrundeliegen mag, anstelle sich ihrer Verurteilung anzuschließen. Zum heutigen Umgang mit Menschen, deren traumabedingte Arbeitsunfähigkeit in vielen Fällen eine ebenso existenz- wie identitätsbedrohende Schädigung darstellt, sei auf die aktuelle Situation in der Schweiz hingewiesen, wo wir den Missbrauch spektakulärer Einzelfälle von Versicherungsbetrug zur Kriminalisierung ganzer gesellschaftlicher Gruppen von Schutzbedürftigen beobachten müssen2. Die Fortschrittlichkeit all dieser vor 100 Jahren dargelegten Ausführungen vor ihrem historischen Kontext, sei es aus behandlungstechnischer, theoretischer oder ethischer Perspektive, ist ebenso offensichtlich wie ihre unveränderte Aktualität.

Im zweiten Weltkrieg nähert sich die Beschreibung der posttraumatischen Stresssymptome bereits weitgehend dem aus dem DSM-III bekannten Bild an. Zentrale Protagonisten sind dabei Psychoanalytiker wie Abram Kardiner mit seinem epochalen Werk The traumatic neuroses of war (1941), von dem van der Kolk (2007, S. 26) schreibt, dass er die PTBS für das verbleibende 20. Jahrhundert mehr als irgendjemand sonst definierte, oder Roy R. Grinker (Grinker & Spiegel, 1945). In den erneut oft unter großem Zeitdruck durchgeführten Behandlungen werden unterschiedliche Schwerpunkte gesetzt: »Manche fokussierten auf Narkose, manche auf körperliche Rehabilitation und Training, manche auf Abreaktion, und manche auf anhaltende Kontakte zwischen Patienten und Ärzten oder zwischen Patient und einer sorgfältig ausgesuchten Pflegekraft« (Bartheimer, Kubie, Menninger, Romano & Whitehorn, 1946, S. 493, eigene Übersetzung). Einerseits wird versucht, durch mehrtägige Gabe von Betäubungsmitteln (wie Amobarbital in Kombination mit Insulin) die Stresssymptome zu unterdrücken und auf Ruhe, Unterstützung und Resozialisierung zu setzten.

»Die Patienten wurden […] ermutigt, zu infantilen Handlungen und Einstellungen zu regredieren. Sie wurden gefüttert, wann immer sie dies zu wollen schienen, mit ihren Köpfen auf den Schultern der Krankenschwestern. Wenn Saugbewegungen auftraten wurde ihnen erlaubt, Milch aus einer Flasche zu trinken. […] Auf Wunsch wurden den Patienten Kinderlieder rezitiert oder gesungen« (ebd., S. 496, eigene Übersetzung).

Auf der anderen Seite stand die katharsisfördernde Belebung des Traumas, welche z. T. mithilfe von Hypnose oder unter dem Namen der Narkoanalyse in Kombination mit Betäubungsmitteln durchgeführt wurde. Diese ergänzenden Maßnahmen sollten die Belastung durch die Erinnerung reduzieren oder die Erinnerung an das traumatische Ereignis verbessern. Ihre eindrücklichen Beschreibungen ergänzen Bartheimer et al. (1946) um eine überaus sorgfältige Diskussion von Fragen wie Dosierung der unterschiedlichen Behandlungskomponenten oder Gegenübertragung auf Seiten der Behandelnden.

Nach Kriegsende ist in der Verweigerung der Anerkennung der Folgen der in den Konzentrationslagern erlittenen Extremtraumatisierungen bzw. ihrer Ursachen eine besonders beschämende Episode der jungen deutschen Bundesrepublik zu beobachten. Eine äußerst detaillierte Darstellung, wie diese gesellschaftlich-politische Misshandlung das im Zuge des Völkermords an der jüdischen und an anderen Bevölkerungsgruppen erlittene Leid der Überlebenden fortsetzte, findet sich bei Lehmacher (2013; s. auch Venzlaff et al., 2009). Der große Reichtum an psychoanalytisch orientierten Beiträgen auf dem langen Weg zur Anerkennung dieses Leids verbietet eine eingehende Darstellung an dieser Stelle (z. B. Bastiaans & van der Horst, 1957; de Wind, 1968; Eissler, 1963; Eitinger, 1972; Krystal, 1968)3. Dies gilt auch für die große Zahl der psychoanalytischen AutorInnen, welche seither versucht haben, einen Beitrag zum Verständnis der Wirkung solcher Extremereignisse (Bettelheim, 1943) zu leisten (z. B. Grubrich-Simitis, 1979).

In der Nach-Vietnam-Ära sind es dann PsychoanalytikerInnen wie z. B. Henry Krystal (1968), Robert J. Lifton (1973 ), Chaim F. Shatan (1972), oder Mardi J. Horowitz (1976), die mit ihrem Schaffen erfolgreich zur Aufnahme der PTBS-Diagnose ins DSM-III beitragen. Werfen wir in dieser Entwicklungsphase noch einen abschließenden Blick auf die 1985 gegründete International Society for Traumatic Stress Studies, deren Anspruch auf Internationalität 1990 ergänzend in ihren Namen aufgenommen wurde. Bis auf wenige Ausnahmen waren die ISTSS-PräsidentInnen während der ersten 10 Jahre WissenschaftlerInnen und KlinikerInnen mit psychodynamischem Hintergrund.

1.3       Psychotraumatologische Konstrukte und ihre psychodynamischen Ursprünge

Die Liste an psychodynamisch geprägten Konstrukten, welche heute als Allgemeinplätze in der modernen Mainstream Psychotraumatologie bezeichnet werden können, ist lang. Khan führte 1963 seine Vorstellungen vom kumulativen Trauma aus, ein Begriff, der heute bei leichter Bedeutungsverschiebung viel verwendet wird. Ein weiterer Beitrag einer psychodynamisch orientierten Forscherin zur Klassifikation potenziell traumatischer Ereignisse, welcher Eingang in vermutlich jedes psychotraumatologische Lehrbuch gefunden hat, ist die Unterscheidung von einmaligen und sich wiederholenden, andauernden Ereignissen als Typ-I- und Typ-II-Traumata durch Leonore C. Terr (1991). Heute erleben wir die Aufnahme des vor gut 25 Jahren von Judith L. Herman (1992) ausgearbeiteten Konzepts der komplexen posttraumatischen Belastungsstörung ins ICD-11 (Maercker et al., 2013). Die Bedeutung der psychoanalytischen Übertragungs-Gegenübertragungs-Konzeption für das Verständnis der Phänomene der sekundären Traumatisierung (z. B. Figley, 1995) braucht hier nur angedeutet zu werden. Straker und das Sanctuaries Counselling Team (1987) entwickeln aus ihrer klinischen Arbeit mit Opfern der Gewalt in den Townships Südafrikas das Konzept der kontinuierlichen PTBS. Dies beschreibt die Wirkung traumatischer Erfahrungen in einer Gesellschaft, in welcher solche Ereignisse in Abwesenheit schützender Instanzen zu einer alltäglichen Realität werden. Für die Möglichkeit einer Verarbeitung ist dabei des Weiteren wesentlich, dass das persönliche Umfeld ebenfalls betroffenen ist und traumatische Vorfälle nicht mehr als Verletzung der Normalität, sondern als normal wahrgenommen werden. Das Konzept wird heute insbesondere von Kaminer und ihren KollegInnen propagiert (Eagle & Kaminer, 2013). Als letztes Beispiel eines psychodynamischen Konstrukts sei das Stichwort Bindung aufgeworfen, welches sich als äußerst fruchtbar für die aktuelle empirische psychotraumatologische Forschung erwiesen hat (z. B. Bryant & Chan, 2017).

Diese selektive Auflistung einiger psychoanalytischer Beiträge, welche Verständnis und Behandlung von Traumafolgestörungen bis heute prägen, ließe sich beliebig fortsetzen. 130 Jahre lang entwickelten psychoanalytische ProtagonistInnen in engem und fruchtbarem Austausch mit VertreterInnen anderer Ausrichtungen die Psychotraumatologie, wie wir sie heute kennen. Nichts wäre also naheliegender, als anzunehmen, dass die Psychoanalyse eine geschätzte Stimme im Chor der aktuellen Psychotraumatologie ist. In scharfem Kontrast hierzu steht die weitgehend vollständige Marginalisierung des psychoanalytischen Beitrags durch die heutige Mainstream Psychotraumatologie. Neuere Ausabarbeitungen von Konstrukten, welche von PsychoanalytikerInnen entwickelt wurden, verzichten entweder vollständig auf Referenzierungen ihrer psychodynamisch orientierten Vorläufer, oder sie entkontextualisieren diese, so dass den jüngeren Generationen psychotraumatologischer ForscherInnen und KlinikerInnen eine Verbindung zur Psychoanalyse nicht mehr bekannt ist. Behandlungsrichtlinien sind auffallend bemüht, Ausdrücke wie psychodynamisch oder psychoanalytisch zu vermeiden (APA, 2017, Zugriff am 26.10.2018). An den großen Konferenzen der internationalen Fachgesellschaften finden sich bestenfalls vereinzelte psychodynamische Beiträge. Dass eine Gesellschaft wie die ISTSS heutzutage wie in ihrer Gründungszeit über eine Dekade hinweg mehrheitlich von psychoanalytischen PräsidentInnen geleitet würde, ist geradezu unvorstellbar geworden – ganz unabhängig davon, dass Schuldendominanz natürlich grundsätzlich als wenig wünschenswert einzuordnen ist.

Anhand seiner Übersicht über die Geschichte des Störungskonzepts schlussfolgert Van der Kolk (2007, S. 19, eigene Übersetzung):

»Die Disziplin der Psychiatrie hatte eine bewegte Geschichte mit der Vorstellung, dass die Realität die menschliche Psychologie und Biologie tief und nachhaltig verändern kann. Die Psychiatrie litt wiederholt unter ausgeprägten Amnesien, in welchen gut etabliertes Wissen plötzlich verloren ging, und der psychologische Effekt überwältigender Erfahrungen konstitutionellen oder intrapsychischen Faktoren allein zugeschrieben wurde. In Parallele zu den Intrusionen, der Verwirrung und dem Unglauben von Betroffenen, deren Leben urplötzlich von traumatischen Erfahrungen erschüttert werden, war die psychiatrische Disziplin wiederkehrend fasziniert vom Trauma, gefolgt von dickköpfigem Unglauben gegenüber der Relevanz der Geschichten unserer Patienten«.

Eine vergleichbare Amnesie gegenüber dem psychoanalytischen Beitrag zu ihrer Entwicklung – ergänzt um das weitgehende Desinteresse aktuellen Beiträgen gegenüber – ist der heutigen Mainstream Psychotraumatologie zu attestieren. Nach Einschätzung von Küchenhoff (2004, S. 822–823) ist dieser Beitrag in mindestens vier Bereichen zu suchen:

»1. Sie kann die Reaktionen der traumatisierten Person auf das Trauma in Abhängigkeit von der Lebenssituation und dem Alter als Schritte in seiner Verarbeitung kenntlich machen […]. 2. Sie kann aus den Verarbeitungsprozessen die Mittel für die psychotherapeutische und auch psychoanalytische Begleitung traumatisierter Menschen herausarbeiten. 3. Sie kann Beziehungserfahrungen vor dem Trauma und nach der Traumatisierung miteinander vergleichen und die Auswirkungen des Traumas auf die Beziehungsfähigkeit untersuchen. 4. Sie kann die zerstörerischen affektiv-kognitiven Effekte des Traumas und die Formen der Verarbeitung des Traumas auf die traumatisch veränderten Beziehungserfahrungen beziehen und so ein integrierendes Verständnis der Traumafolgen erarbeiten.«