Titel

3Armin Schäfer/Michael Zürn

Die demokratische Regression

Die politischen Ursachen des autoritären Populismus

Suhrkamp

71. Einleitung

Eine zwischen X- und Y-Achse eigentümlich gekrümmte Kurve hat Karriere gemacht. Die sogenannte »Elefantenkurve« (Milanović 2016, S. 31) wurde erstmals in einem Weltbankbericht aus dem Jahre 2012 abgedruckt. Sie zeigt, wie sich die Einkommen in der Weltgesellschaft zwischen 1988 und 2008 entwickelt haben. Auf der horizontalen Achse sind die Einkommensgruppen in Fünfprozentschritten abgetragen, ganz links die Allerärmsten, ganz rechts die Superreichen. Auf der vertikalen Achse ist das Einkommenswachstum der jeweiligen Gruppe festgehalten. Blickt man mit etwas Fantasie auf den Verlauf der Kurve, erinnert dieser an den Umriss eines Elefanten (siehe Abbildung 1).

Die allerallerärmsten Menschen der Welt konnten in dem betrachteten Zeitraum kaum Zuwächse verzeichnen. Ihnen ging es 2008 ähnlich miserabel wie 1988. Das ist der Schwanz des Elefanten, der im Matsch hängt. Die Kurve steigt dann jedoch entlang des Rückens – teilweise steil – an, die Gruppen am Kopf konnten bis zu 80 Prozent realer Einkommensgewinne für sich verbuchen. Erst bei drei Vierteln der Wegstrecke auf der X-Achse gibt es einen steilen Abfall. Der Rüssel reicht bis zum Boden. Nur die Spitze des Rüssels, die für das reichste Prozent aller Menschen steht, zeigt wieder scharf nach oben. Im Klartext: Die neue Mittelschicht in den Schwellenländern vor allem Ostasiens und die Allerreichsten dieser Welt profitierten massiv von der Globalisierung; die Allerärmsten in Afrika und der alte Mittelstand in den wohlhabenderen Ländern hatten dagegen ein geringes Wachstum und einen relativen Wohlstandsverlust zu beklagen. Dies führt zur »neuen Geografie« der Einkommensun8gleichheit, bei der zwar die Unterschiede zwischen Ländern geringer werden, die innerhalb (westlicher) Länder aber zunehmen (Firebaugh 2003).

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Abb. 1: Die Elefantenkurve der Einkommenszuwächse

Quelle: Branko Milanović 2016, S. 18.

Anmerkung: Dargestellt sind die prozentualen Einkommenszuwächse zwischen 1988 und 2008 für unterschiedliche Einkommensgruppen. Die ärmsten Gruppen stehen ganz links, die reichsten ganz rechts.

Dass das Einkommen der Allerärmsten bei unter einem Dollar pro Tag stehen blieb, während die Superreichen dramatisch zulegten, ist ein moralischer Skandal. Hier zeigt der globale Kapitalismus seine häßliche Seite der Ungerechtigkeit. Seine enorme Leistungsfähigkeit zeigt sich im Gegenzug daran, dass in Asien und dort insbesondere in China Hunderte Millionen Menschen aus der absoluten Armut entkommen sind.

9Uns interessieren in diesem Buch allerdings weniger gerechtigkeitstheoretische Implikationen der Elefantenkurve, als vielmehr ihre Bedeutung für die Demokratie. Mit Demokratie meinen wir dabei das Prinzip der kollektiven Selbstbestimmung und seine anspruchsvolle institutionelle Umsetzung als Regierungsform, die an die Versprechen von politischer Gleichheit, guten Gründen und Machtkontrolle gebunden ist. Für die Demokratie stellt der Elefant ein Problem dar, weil die Wohlstandszuwächse in autokratischen Ländern höher ausfielen als in konsolidierten Demokratien, wo noch dazu die Reichen am stärksten profitierten. Das steht im starken Kontrast zu den Nachkriegsjahrzehnten, in denen der Wohlstand in den Demokratien rasant stieg, während gleichzeitig die Einkommensungleichheit abnahm.

Die Verteilung der weltwirtschaftlichen Zuwächse verweist auf zwei zentrale Herausforderungen für die demokratische Regierungsform. Zum einen illustriert sie die enorme Erfolgsgeschichte eines autokratischen politischen Systems wie China. Spätestens seit der Finanzkrise erwächst der liberalen Demokratie westlicher Provenienz eine ordnungspolitische Konkurrenz, die im Gegensatz zum real existierenden Sozialismus beides ist: anders und erfolgreich. Sie ist anders, weil sie die Entfaltung ökonomischer Marktdynamiken explizit nicht an die Institutionen der liberalen Demokratie koppelt und damit die scheinbar unauflösbare Verbindung von Markt und Demokratie infrage stellt. Sie ist erfolgreich, weil sich die autoritär regierenden Eliten in Ländern wie China und Singapur nicht ohne Weiteres als eigensüchtige Despoten abtun lassen. Ihre Politik hat eine erkennbare Gemeinwohlkomponente und kann dabei auf erhebliche Fortschritte insbesondere bei der Armutsbekämpfung verweisen. Diese Staaten zeigen, dass gesellschaftlicher Fortschritt möglich ist, ohne dass die Machthabenden demokratischer Kontrolle un10terliegen und ohne dass Individualrechte garantiert werden. Damit wird die insbesondere nach 1989 vertretene Vorstellung von der Alternativlosigkeit der liberalen Demokratie untergraben. Wenn China heute in Teilen des globalen Südens als ordnungspolitische Alternative gesehen wird, dann ist die Frage nach der richtigen politischen Ordnung wieder auf der Tagesordnung.

Zum anderen weist der steil nach oben zeigende Rüssel der Elefantenkurve erbarmungslos auf eine weitere Schwäche der Demokratie hin: die wachsende Ungleichheit in den reichen Ländern des Westens. Die materielle Basis für die Unterstützung der Demokratie weicht auf. Die Attraktivität der politischen Systeme Europas, Nordamerikas und Japans speiste sich seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs nicht ausschließlich aus der normativen Logik der Freiheit und Selbstbestimmung – das war der Irrglauben der rein normativ argumentierenden Feuilletonisten und Denkerinnen –, sondern auch aus der empirischen Beobachtung, dass individuelle Wohlfahrt und die Bereitstellung wichtiger Kollektivgüter langfristig am besten im Rahmen einer liberalen Demokratie erreicht werden können. Die Lehre der Geschichte schien lange Zeit eindeutig: ein materiell reichhaltiges Leben, innovative und komfortable Produkte, ein leistungsfähiges politisches System – all das gibt es nur in westlichen Demokratien. Dieses Versprechen hat durch die von der Elefantenkurve beschriebene Einkommensentwicklung an Glaubwürdigkeit verloren.

1.1 Die doppelte Entfremdung

Führen diese weltgesellschaftlichen Verschiebungen zu einer demokratischen Regression? Von einer demokratischen Re11gression kann aus unserer Sicht gesprochen werden, wenn sich zwei Veränderungen gleichzeitig abzeichnen: Zum einen geht es um die zunehmende Distanz der demokratischen Praxis vom Ideal der kollektiven Selbstbestimmung, weil Entscheidungen in nicht durch Wahlen legitimierte und kaum durch die Bürgerinnen kontrollierte Gremien verlagert werden. Zum anderen beinhaltet die demokratische Regression in unserem Verständnis die Abwendung von (Teilen der) Bürgerinnen von der Demokratie, weil sie sich nicht länger repräsentiert fühlen. Von einer demokratischen Regression wollen wir also dann sprechen, wenn wir eine doppelte Entfremdung beobachten: die abstrakte Entfremdung der Praxis vom demokratischen Ideal und die konkrete Entfremdung der Bürgerinnen von den demokratischen Institutionen. Rainer Forst (2020) spricht in diesem Zusammenhang von der »Verwahrlosung der Demokratie«. Im Ergebnis führt die doppelte Entfremdung dazu, dass die Demokratie an Strahlkraft verliert.

Ausgangspunkt unserer Beschäftigung mit demokratischer Regression ist im zweiten Kapitel die große Zuversicht nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Die Demokratie schien sich endgültig aller Rivalen entledigt zu haben und the only game in town zu sein. Früher oder später, so nahmen es viele Zeitdiagnosen an, würde ihr Licht auch die dunkelsten Ecken der Welt erhellen. Dieser Optimismus hat die vergangenen Jahrzehnte freilich nicht unbeschadet überstanden. Zum einen haben sich einige autoritäre Regime dauerhaft gewehrt, auch nur ein kleines bisschen demokratischer zu werden; zum anderen geht die Anzahl der Demokratien seit einigen Jahren wieder zurück. Wenn sich das Tempo der Demokratisierung lediglich verlangsamt oder sie zeitweise zum Stillstand kommt, könnte man noch annehmen, es handle sich lediglich um eine Delle in einem unaufhaltsamen his12torischen Trend. Doch wenn demokratische Staaten zu elektoralen Autokratien werden, also zu Autokratien mit mehr oder weniger freien Wahlen, und gleichzeitig die Qualität der Demokratie in ihren Kernländern sinkt, lässt sich die Hoffnung auf linearen Fortschritt mit kleineren Aussetzern nur noch mit großer Mühe aufrechterhalten.

Von democratic backsliding ist im Moment vor allem deshalb häufig die Rede, weil sich die Qualität der demokratischen Regierungsform auch in vermeintlich konsolidierten Demokratien verschlechtert hat. War der Verfall der Demokratie lange Zeit etwas, das aus der Perspektive von Westeuropäerinnen nur in fernen Ländern stattfand, kommen die Einschläge nun näher. Nicht allein in Venezuela oder Brasilien, sondern auch in den USA und Polen hat sich die Demokratie in den letzten zehn Jahren deutlich verschlechtert. In manchen dieser Länder besteht die Hoffnung, dass ein Regierungswechsel eine Trendumkehr bringen wird, aber wo die Demokratie bereits durch eine elektorale Autokratie ersetzt worden ist, wird auch die Abwahl der Regierung immer unwahrscheinlicher.

Der gegenwärtige Rückzug der Demokratie scheint mehr als nur eine vorübergehende Delle. Die optimistische Erzählung, wonach sich die Demokratie in Wellen ausbreitet, zwischen denen lediglich kurze Perioden partieller Rückschritte liegen, deckt sich kaum mit der tatsächlichen Entwicklung. Vielmehr hat sich im Nachhinein vor allem die Zeit von 1945 bis zum Ende des 20. Jahrhunderts als eine Phase der weltweiten Demokratisierung erwiesen. Dieses halbe Jahrhundert war allerdings durch positive Rahmenbedingungen gekennzeichnet, die heute nicht in derselben Weise bestehen. Die demokratische Progression war weniger das Resultat einer unausweichlichen Fortschrittslogik, sondern vielmehr einer spezifischen historischen Konstellation geschuldet. Die 13Veränderung dieser historischen Konstellation, die wir im zweiten Kapitel nachzeichnen, ermöglicht nun die demokratische Regression. Gesellschaften gleiten nicht auf einer vorgezeichneten Trasse auf das Ziel der liberalen Demokratie zu, sondern entwickeln sich durch politische Konflikte und Kämpfe um die Ausweitung sozialer und demokratischer Rechte – und diese Konflikte können die Fahrt nicht nur verlangsamen, sondern auch zu einem Wechsel des Zielbahnhofs führen.

1.2 Der neue Populismus

Der neue Populismus steht im Zentrum der gegenwärtigen Debatten um die Demokratie. Insbesondere mit ihm beschäftigen wir uns in diesem Buch. In fast allen Ländern haben sich populistische Parteien gebildet, die für sich reklamieren, die Demokratie retten zu wollen, indem sie »dem Volk« wieder eine Stimme verleihen. Anders als bei den alten rechtsextremen Parteien steht in den Wahl- und Parteiprogrammen der Populisten nicht, dass die Demokratie durch eine andere Herrschaftsform ersetzt werden soll. Im Gegenteil, sie plädieren für eine Ausweitung der direkten Demokratie und beanspruchen, diejenigen zu repräsentieren, die von den etablierten Parteien übersehen werden. Der Anspruch, die wahre Stimme des Volks zu sein, ist anmaßend, aber er verfängt bei einem nicht unerheblichen Teil der Bürgerinnen. Wir wollen in diesem Buch erklären, weshalb dies so ist. Dazu ist es in Kapitel 3 zunächst notwendig, den ideellen Gehalt des autoritären Populismus zu verstehen und ihn definitorisch einzugrenzen.

Das heute in der Politikwissenschaft vorherrschende Verständnis von Populismus ist durch die Arbeiten von Cas 14Mudde geprägt, der ihn als eine Ideologie versteht, die die Gesellschaft in zwei homogene und antagonistische Gruppen einteilt: »das reine Volk« und »die korrupte Elite« (Mudde 2004, S. 543). Damit sei der Populismus eine »dünne« Ideologie, die sich mit beliebigen anderen, gehaltvolleren Ideologien verbinden lasse. Wir werden im dritten Kapitel argumentieren, dass beide Elemente dieser gängigen Definition zu kurz greifen. Erstens produziert sie zu viele »falsche Positive«, etwa die friedliche Revolution in der späten Deutschen Demokratischen Republik (DDR). Auch in diesem Fall richtete sich die Bewegung gegen ein Elitenkartell, dem man die homogenisierende Formel »Wir sind das Volk« entgegenhielt. Bewegungen, die sich gegen autoritäre Machthaber durchsetzen wollen, müssen sich notgedrungen gegen das Establishment richten und sich selbst als einigermaßen homogen darstellen. Das alleine macht sie aber noch nicht zu Populisten.

Zweitens ist Populismus keine leere Form, die beliebig mit anderen Inhalten gefüllt werden kann. Sein ideologischer Gehalt ist weniger dünn, als die bloße Gegenüberstellung von Establishment und einem als homogen vorgestellten Volk insinuiert. Wir argumentieren, dass der gegenwärtige Populismus vorrangig ein autoritärer Populismus ist, der als eigenständige Ideologie fungiert. Er ist eine politische Ideologie, die auf eine nichtmediatisierte Form der Mehrheitsrepräsentation baut und sich nationalistisch gegen »liberale kosmopolitische Eliten« wendet.

Der gegenwärtige Populismus ist nationalistisch, weil er in doppelter Hinsicht ausschließt. Er negiert zum einen die legitimen Interessen anderer Länder durch die strikte Orientierung an dem Topos our nation first. Zum anderen steht von vornherein fest, wer zum eigenen Volk gehören darf. Die »Wir gegen sie«-Logik richtet sich nicht nur gegen die15jenigen, die andere Ziele anstreben, sondern enthält immer auch Aussagen darüber, wer nicht dazugehört. Aus der Vorstellung eines homogenen Volkes mit einheitlichen politischen Zielen erwächst der Antipluralismus des autoritären Populismus. Wer für sich in Anspruch nimmt, den Volkswillen zu kennen und ihn zu repräsentieren, kann nicht dulden, dass es legitime andere Meinungen gibt. Deshalb werden politische Gegnerinnen von autoritären Populisten als »Volksverräterinnen« oder »korrupte Machtclique« bezeichnet. Sie können gar keine anderen als moralisch verdorbene Gründe dafür haben, etwas anderes zu wollen als die Populistinnen selbst.

Aus diesem spezifischen Verständnis von Politik ergibt sich auch die Ablehnung etablierter Verfahren der Willensbildung. Im Gegensatz zu einem deliberativen und partizipatorischen Demokratieverständnis muss nicht im demokratischen Streit ausgehandelt werden, was das Richtige ist, da es ohnehin feststeht. Die Vorstellung, dass sich politische Einstellungen weiterentwickeln und durch die Teilnahme am öffentlichen Diskurs verändern, ist autoritären Populisten fremd. Deswegen werden Parlamente als Schwatzbuden verunglimpft, die reden, statt zu entscheiden. Und deswegen dienen Informationen, die von ihrem Bezug zum Wahrheitsanspruch befreit werden können, exklusiv als Waffen in der politischen Auseinandersetzung. Die eigenen Äußerungen zielen eher darauf, Politik als Ganzes verächtlich zu machen, als darauf, die eigene inhaltliche Position zu konkreten Sachfragen zu erläutern. Nicht die Liebe zum Detail ist typisch für Populisten, sondern die grobe Vereinfachung. Das entprozeduralisierte Demokratieverständnis geht schließlich mit einer sehr spezifischen Vorstellung davon einher, was Repräsentieren bedeutet. Auch hier steht nicht der ständige Austausch zwischen Repräsentantinnen und Repräsentierten im 16Mittelpunkt, sondern der Vollzug des (gegebenen) Mehrheitswillens. Kurz, der autoritäre Populismus baut auf ein spezifisches Politikverständnis, das nicht mit allen Inhalten gleichermaßen kompatibel ist und weit mehr darstellt als nur eine dünne Ideologie.

1.3 Ursachen des Populismus

Im dritten Kapitel entwickeln wir den Kern einer politischen Theorie des autoritären Populismus. Dabei gehen wir davon aus, dass weder sozioökonomische noch soziokulturelle Erklärungen für sich genommen ausreichen, um dessen Aufstieg zu erklären. Sozioökonomische Erklärungen setzen an der wirtschaftlichen Lage und insbesondere an (befürchteten) sozialen Abstiegen an. Die Verliererinnen der Globalisierung, so die Kurzfassung, seien besonders anfällig für die Lockrufe des Populismus. Doch es bleibt rätselhaft, wieso sich diese Gruppe an autoritär-populistische und nicht etwa an linke Parteien wendet, deren Markenkern der Kampf gegen Ungleichheit und für sozialen Schutz ist. Wieso sollten Wählerinnen, die sich ökonomisch benachteiligt fühlen und mehr staatliche Unterstützung erwarten, für Steuersenker par excellence wie Silvio Berlusconi, Donald Trump oder Boris Johnson stimmen, die zudem zum obersten Zehntelprozent der Einkommensverteilung gehören? Weiterhin fällt auf, dass die Niederlande, Österreich und Frankreich – also genau die Länder, in denen autoritär-populistische Parteien die ersten Erfolge feierten – verhältnismäßig wenig von wachsender Ungleichheit geplagt sind. Schließlich bleibt aus sozioökonomischer Perspektive unklar, warum sich in Ländern, die zumindest phasenweise besonders stark von der Globalisierung profitiert haben – man denke etwa an die Tür17kei oder auch an Indien –, autoritäre politische Kräfte durchgesetzt haben.

Die soziokulturelle Erklärung des autoritären Populismus, die ihn als Reaktion auf kulturelle Liberalisierungsprozesse deutet, reicht für sich genommen ebenfalls nicht aus. Zum einen scheint es wenig hilfreich, den autoritären Populismus auf das Kulturelle zu beschränken. So geht es beispielsweise in den Auseinandersetzungen über die Aufnahme von Flüchtlingen nicht nur um kulturelle (die »deutsche Leitkultur«), sondern auch um ökonomische Aspekte, etwa Folgen für den Arbeitsmarkt (Hartmann 2020). Außerdem läuft die kulturalistische Lesart Gefahr, Ursache und Wirkung durcheinanderzubringen. Die soziokulturellen Gegensätze intensivieren sich nämlich häufig erst, nachdem eine autoritär-populistische Partei Wahlerfolge einfahren konnte (Manow 2019). Schließlich bleibt unklar, weshalb der autoritäre Populismus gerade in Ländern mit, gemessen am Wohlstand, vergleichsweise geringer soziokultureller Liberalisierung besonders stark ist, also beispielsweise in Russland und in der Türkei.

Beide gängigen Erklärungen müssen ergänzt werden, weil sie die politische Sphäre ausblenden. Sie beobachten makrogesellschaftliche Veränderungen – Globalisierung und Modernisierung – und sehen im Populismus eine mehr oder weniger irrationale Revolte dagegen (Norris/Inglehart 2019). Wie auf diese Veränderungen politisch reagiert wird, steht allerdings nicht von vornherein fest. Unsere These lautet, dass erst der politisch selektive Umgang mit gesellschaftlichen Veränderungen eine populistische Abwehrreaktion provoziert. Eine genuin politische Erklärung des Populismus setzt an realen Repräsentationsdefiziten der liberalen Demokratie an. Nicht alle gesellschaftlichen Gruppen werden gleich gut repräsentiert, und die Interessen der Ressourcenreichen wer18den stärker berücksichtigt. Wer Populismus erklären möchte, darf die Augen vor den Schwächen der Demokratie nicht verschließen.

Insbesondere zwei Mechanismen sorgen dafür, dass politische Entscheidungen eine Schieflage zugunsten der Bessergestellten aufweisen. Zum einen, die Politikwissenschaft hat schon früh darauf aufmerksam gemacht, singt der Chor der demokratischen Repräsentantinnen »mit einem heftigen Oberklassenakzent« (Schattschneider 1960, S. 35). Die mangelnde Responsivität der Parlamente in liberal-demokratischen politischen Systemen hat seitdem kaum abgenommen. Vielmehr lässt sich zeigen, dass der Akzent im Zuge der Globalisierung noch stärker geworden ist. Genau das ist es auch, was die autoritär-populistischen Parteien lauthals beklagen. Im Zentrum ihrer Kritik steht, dass die repräsentative Demokratie, die »Systemparteien« und die Medien kein Ohr für den einfachen Mann (!) von der Straße haben. Die Rhetorik der Gegenüberstellung von einfacher Bevölkerung und korrupten Eliten erfolgt genau vor diesem Hintergrund.

Zum anderen sind in den letzten drei Jahrzehnten in beachtlichem Ausmaß Entscheidungskompetenzen von Mehrheitsinstitutionen (MIs) wie Parteien und Parlamenten hin zu nichtmajoritären Institutionen (NMIs) wie Zentralbanken, Verfassungsgerichten und internationalen Institutionen verlagert worden. Entscheidungen werden zunehmend von Institutionen getroffen, die weder dem Mehrheitsprinzip noch den Rechenschaftspflichten repräsentativer Gremien unterliegen. Der Zweck vieler NMIs besteht darin, den dreifachen Liberalismus aus individuellen Rechten, internationalen Regeln und freien Märkten durchzusetzen. Je mächtiger diese Institutionen werden, desto schwieriger wird es, eine illiberale oder auch protektionistische Politik zu machen – selbst wenn eine Bevölkerungsmehrheit dies wünschen sollte. Es 19sind also insbesondere Veränderungen in den politischen Systemen, die der demokratischen Regression zugrunde liegen (Kapitel 4).

Vor dem Hintergrund dieser beider Mechanismen entsteht bei vielen Menschen der Eindruck, sie würden von der Politik nicht länger wahrgenommen – und dieser Eindruck hat eine reale Grundlage. Nicht alle Gruppen haben die gleiche Chance, dass ihre Anliegen gehört und politisch umgesetzt werden. Das ist der Hintergrund, vor dem sich die Vorstellung ausbreiten konnte, es gebe eine homogene politische Klasse, die, abgehoben von der Bevölkerung, ihr Ding macht und dabei den Interessen einer verwöhnten und tendenziell korrupten kosmopolitischen Schicht dient. Dementsprechend scheinen die Zielscheibe der allermeisten autoritär-populistischen Kampagnen auch gar nicht bestimmte ökonomische oder kulturelle Politiken zu sein, sondern das System, das sie hervorbringt.

Diese politische Erklärung des Aufstiegs der autoritär-populistischen Parteien nimmt insbesondere zwei Entwicklungen in modernen Demokratien in den Blick: die Professionalisierung oder Kartellierung der Parteipolitik (Mair 2013) und die Beobachtung, dass NMIs ein Hauptziel des gegenwärtigen Populismus sind (Mounk/Kyle 2018). Die Kartellierung der Parteipolitik hat die selektive Responsivität des Gesetzgebers verschärft. Dabei zeigt sich, dass die unteren Schichten wenig Einfluss auf die vom Parlament verabschiedeten Gesetze haben. In der Folge sinkt das Vertrauen in die sozialdemokratischen und konservativen Volksparteien bzw. in die »Kartellparteien«. Die subsidiäre Übertragung des Vertrauens auf NMIs hat nur vorübergehend funktioniert. Die zunehmende Kritik an den NMIs zeugt von deren Entzauberung. Damit gerät nun das politische System als Ganzes in den Fokus. Im Ergebnis kommt es zum Aufstieg auto20ritär-populistischer Parteien, die insbesondere das politische System, die »Systemparteien« und die politische Klasse angreifen.

Die demokratische Regression ist in dieser Lesart die Folge der angesprochenen doppelten Entfremdung: der abstrakten Entfremdung der politischen Prozesse vom demokratischen Ideal und der konkreten Entfremdung von Teilen der Bevölkerung von den demokratischen Institutionen. Deshalb greifen wir die gegen das politische System gerichtete Rhetorik der autoritär-populistischen Parteien auf und fragen weiter, ob diese Rhetorik zu den Motivationslagen der Wählerinnen solcher Parteien spricht und ob sich systematische Veränderungen in den betroffenen politischen Systemen beobachten lassen, die die relative Stärke der autoritär-populistischen Parteien erklären. Wir zeigen, dass die Unzufriedenheit mit der mangelnden Offenheit politischer Institutionen hohe Zustimmungswerte zu autoritär-populistischen Parteien nach sich zieht – nicht weil deren Wählerinnen mehr Demokratie wagen wollen, sondern weil sie sich durch das politische System vernachlässigt fühlen. Die mangelnde Repräsentativität der wichtigsten Entscheidungsorgane der Demokratie hat auf diesem Weg zur Entfremdung von der Demokratie beigetragen.

Warum aber haben diese Veränderungen erst in den letzten Jahren zu einem Aufstieg des autoritären Populismus geführt und die Demokratie geschwächt? Warum sind diese strukturellen Veränderungen als Problem aufgegriffen und skandalisiert worden? In unserer Erklärung kommt den großen Krisen, die in den letzten fünfzehn Jahren die demokratisch verfassten Gesellschaften geplagt haben, die Rolle des Auslösers zu, wie wir in Kapitel 5 zeigen. Es sind diese Krisen, die die schon länger stattfindenden strukturellen Veränderungen in der Funktionsweise der Demokratien in einen 21Aufstieg der autoritär-populistischen Parteien übersetzt haben. Besonders interessant sind für uns Krisen, die sich zu einem erheblichen Ausmaß in den konsolidierten Demokratien abspielten und nicht nur von außen auf sie einwirkten. Das sind die Finanz- und Eurokrise, die Krise bei der Aufnahme von Flüchtlingen und die Coronakrise. Diese Krisen wirkten wie ein Brennglas, zugleich aber auch wie eine Lupe auf die Demokratie (Gosepath 2020): Sie machen die Veränderungen der politischen Prozesse in Demokratien deutlicher sichtbar – das ist der Lupeneffekt. In Krisenzeiten werden wesentliche Entscheidungen nicht mehr von gewählten Parlamenten, sondern von anderen politischen Institutionen getroffen. Dabei erweisen sich die Krisen nicht nur als »Stunden der Exekutive«, sondern vor allem auch als eine Stunde der Experten. NMIs entscheiden dann erheblich über die Ausrichtung der Politik mit. NMIs sind aber nicht neutral. Sie bevorzugen kosmopolitische Präferenzen. Im Zweifel stehen NMIs für Individualrechte, offene Märkte und internationale Regeln. International vereinbarte Austeritätspolitiken setzen sich gegen nationale Volksabstimmungen durch, und den Zumutungen der offenen Gesellschaft kann nicht einfach durch nationale Grenzschließungen begegnet werden. In dem Maße, wie Menschen die Erfahrung machen, dass nicht nur unpopuläre Entscheidungen getroffen werden, sondern dass diese Entscheidungen in Gremien erfolgen, die sich gegenüber Menschen mit anderen Einstellungen weitgehend abgekapselt haben, gerät das politische System als solches ins Blickfeld. Wenn das System gemäß der TINA-Logik (»There is no alternative«) keine Alternativen zulässt, dann bräuchte es ein anderes System.

Ein Brennglas wiederum bündelt das Licht und droht, die Verhältnisse, auf die es geworfen wird, zu verbrennen. Die dichte Abfolge der Krisen hat demnach die doppelte Ent22fremdung von der Demokratie beschleunigt. Sie hat die abnehmende Repräsentativität der konsolidierten Demokratien offengelegt und gleichzeitig zur Stärkung antidemokratischer Kräfte geführt.

1.4 Der autoritäre Populismus und die Zukunft der Demokratie

Der autoritäre Populismus verweist auf reale Schwächen der demokratischen Praxis und nutzt den institutionellen Kontext der Demokratie. Und die Schwächen der Demokratie motivieren viele, ihre Stimme den autoritär-populistischen Parteien zu geben. Diese Parteien behaupten, dass sie den Interessen der einfachen Menschen und stillen Mehrheiten wieder Geltung verschaffen werden. Unsere Analysen der Ursachen für den Aufstieg solcher Parteien zeigen, dass dieser Appell tatsächlich hilft, ihre Erfolge zu erklären. Demnach geben diesen Parteien unter anderem jene Menschen eine Stimme, die sich nicht durch die politische Elite repräsentiert fühlen. Könnte der Populismus dadurch als eine »produktive Kraft [wirken], als Katalysator für eine tiefgreifende Neuorientierung des westeuropäischen Parteiensystems – eine Neuorientierung«, die dazu führt, dass dieses System die »transformierten Konfliktstrukturen westeuropäischer Gesellschaften« besser abbildet (Kriesi 2014, S. 361f.)? Kann der Populismus womöglich sogar eine positive Wirkung auf die Demokratie entfalten? Wir zweifeln daran.

In Kapitel 6 untersuchen wir die Effekte der autoritär-populistischen Parteien auf die Entwicklung der Demokratiequalität. Das Ergebnis ist eindeutig: Wenn autoritäre Populisten alleine die Regierung stellen, beschleunigen sie die demokratische Regression und greifen die liberale Demokra23tie sogar an ihren institutionellen Fundamenten an. Besonders bemerkenswert ist, dass in Ländern wie beispielsweise den USA, Indien, Polen und Ungarn alle Aspekte der Demokratiequalität unter Beschuss geraten. Autoritär-populistische Parteien an der Regierung sorgen also nicht für die Stärkung der elektoralen Komponente zulasten der liberalen Komponente der Demokratie, wie das die Rede von der illiberalen Demokratie nahelegt. Regieren autoritäre Populisten, tragen sie nichts Gutes zur Demokratie bei, unabhängig davon, welchen Aspekt der Demokratie man betrachtet. Sie streben keine illiberale Demokratie an – was ohnehin ein Widerspruch in sich ist –, sondern einen elektoralen Autoritarismus (Levitsky/Way 2002). Autoritäre Populisten vermeiden zwar die Zerstörung der Fassade der Demokratie, entstellen aber deren normativen Kern bis zur Unkenntlichkeit.

Der Aufstieg des autoritären Populismus verweist auf tatsächliche Probleme in der Funktionsweise der liberalen Demokratie. Er ist aber nicht die Rettung, sondern eine Gefahr für diese Regierungsform. Im Ergebnis ergibt sich ein demokratisches Dilemma: Während die wachsende Komplexität der Entscheidungsverfahren in globalisierten und pluralisierten Kontexten zu einer doppelten Entfremdung von der Demokratie führt, untergräbt die Antwort der Vereinfachung durch Renationalisierung und Homogenisierung die institutionellen Grundlagen der Demokratie. Was also tun? Im Schlusskapitel argumentieren wir, dass man die Demokratie letztlich nur durch mehr Demokratie verteidigen kann.