Angelika Feichtner, Bettina Pußwald

Angehörige in der Palliative Care

Unterstützung, Begleitung und Beratung

2., überarbeitete und erweiterte Auflage

Angelika Feichtner, MSc

Diplom in Palliative Care der International School of Cancer Care in Oxford, langjährige Pflege- und Lehrpraxis im Bereich von Palliative Care und Hospizarbeit.

Bettina Pußwald, DSA, MSM

Master of Social Management, Diplomsozialarbeiterin im mobilen Palliativteam Fürstenfeld/Feldbach.

Im Vorstand der Österreichischen Palliativgesellschaft, Vorsitzende der AG Palliativsozialarbeit.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

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2. Auflage 2020

Copyright © 2017 Facultas Verlags- und Buchhandels AG

facultas Verlag, 1050 Wien, Österreich

Umschlagfoto: © nerudol, istockphoto.com

Satz: Florian Spielauer, Wien

Druck: Facultas Verlags- und Buchhandels AG

Printed in Austria

ISBN 978-3-7089-1873-0

e-ISBN 978-3-99030-999-5

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

TEIL IAngehörigenarbeit in der Pflege

Die Situation der Angehörigen von schwerkranken und sterbenden Menschen

Die Bedeutung einer sicheren Bindung in der Unterstützung Angehöriger

Unterstützung durch ein sicheres Bindungsangebot

Notrufklingel als Bindungssignal

Lösen von Bindungen

Angehörige in der häuslichen Pflege

Motivation zur Übernahme häuslicher Pflege

Pflegende Angehörige als LeistungserbringerInnen für das Sozial- und Gesundheitssystem

Vorteile häuslicher Betreuung für die Angehörigen

Angehörige in der stationären Betreuung

TEIL IIAngehörigenarbeit aus der Sicht der Palliativsozialarbeit

Pflegebedürftige Menschen und ihre Angehörigen

Exkurs Sozialarbeit

Palliativsozialarbeit

Beratung, Unterstützung und Information in sozialrechtlichen Fragen sowie über finanzielle Unterstützungsmöglichkeiten

Gewählte Erwachsenenschutzvertretung

Gerichtliche Erwachsenenschutzvertretung

TEIL IIISpezielle pflegerische Aspekte

Wenn das Essen zum Problem wird

Kinder als Angehörige

Unterstützung der Angehörigen in der Zeit des Sterbens

Mögliche Symptome im Sterbeprozess

Sterben zu Hause

Eintritt des Todes

Pflege des Verstorbenen und Abschied

Wenn ein Abschied nicht möglich ist

Schlusswort

Literaturverzeichnis

Anhang

Hilfreiche Internet-Links:

Krisen- und Notfallplan

Register

Vorwort

Laut Statistik Austria sterben in Österreich pro Jahr über 80.000 Menschen (2019 waren es rund 82.300)1 – die meisten von ihnen nach der längeren Phase einer chronischen oder terminalen Erkrankung, verbunden mit Pflegebedürftigkeit, mit Einschränkungen der Lebensqualität und mit Leiderfahrungen. Die Diagnose einer lebensbegrenzenden Erkrankung bedeutet immer eine Zäsur, eine dramatische Veränderung des Lebens. Dies trifft nicht nur auf die PatientInnen zu, sondern auch auf die ihnen nahestehenden Personen.

Die An- und Zugehörigen der PatientInnen und ganz besonders jene, die die häusliche Betreuung eines Schwerkranken leisten, sehen sich mit vielfältigen Herausforderungen konfrontiert. Eine schwere Erkrankung und das Sterben eines Menschen betreffen damit nicht nur ihn selbst, sondern immer auch seine An- und Zugehörigen. Sie erleben den Prozess mit, er löst auch bei ihnen Trauer, Verzweiflung und Ängste aus. Sie kommen mit existenzieller Bedrohung in Berührung, sie erleben das Leid eines geliebten Menschen und sie erleben Hilflosigkeit und Trennungsängste. Angehörige sind damit stets auch Mitbetroffene: Sie werden von der Erkrankung und ihren Folgen existenziell miterfasst und bedürfen meist, ähnlich wie die PatientInnen, der Fürsorge und Betreuung. Das Ziel palliativer Betreuung ist daher auch, nicht nur die Kranken, sondern ebenso auch deren Angehörige zu betreuen und zu begleiten, ihnen beizustehen in der doppelten Aufgabe, das eigene Leid zu bewältigen und zugleich den Patienten, die Patientin zu unterstützen.

„Palliative Care ist ein Ansatz zur Verbesserung der Lebensqualität von PatientInnen und ihren Familien, die mit jenen Problemen konfrontiert sind, welche mit einer lebensbedrohlichen Erkrankung einhergehen (…)“ (WHO, 2002).

Diese Definition der Weltgesundheitsorganisation macht deutlich, dass die PatientInnen und ihre Angehörigen gleichsam als eine „Unit of Care“ (Davies, 2001, S. 363) zu betrachten sind, als eine Behandlungseinheit. Und es wird kaum gelingen, einen Patienten, eine Patientin umfassend zu betreuen, wenn die Bedürfnisse der Angehörigen nicht ebenso im Fokus des multiprofessionellen Betreuungsteams stehen wie jene der Kranken.

Neben der Pflege leistet auch die Palliativ-Sozialarbeit einen wesentlichen Beitrag zur Entlastung der An- und Zugehörigen von schwerkranken und sterbenden Menschen. Daher ist der Beitrag von DSA Bettina Pußwald zu diesem Buch eine besonders wertvolle und praktische Ergänzung.

Das Wohlbefinden der PatientInnen und das ihrer Angehörigen sind eng miteinander verbunden. Häufig zeigt sich, dass sich die Situation der PatientInnen stabilisiert, sobald es gelingt, ihren Bezugspersonen die erforderliche Unterstützung und den nötigen Beistand zu bieten. Daher stehen die Angehörigen der Kranken ganz im Zentrum des Bemühens, zugleich sind sie wichtige PartnerInnen in der Betreuung des Patienten, der Patientin. Angehörige können ganz entscheidend zu einer gelingenden Betreuung beitragen. Sie können die Interessen der PatientInnen vertreten, wenn diese nicht mehr in der Lage sind, ihre Wünsche zu artikulieren, und nicht zuletzt kennen sie den Patienten, die Patientin sehr viel besser als die professionell Betreuenden.

Die An- und Zugehörigen sind die wichtigsten BegleiterInnen, die bedeutsamsten Bezugspersonen und die engsten Vertrauten schwerkranker und sterbender Menschen. Im Bewusstsein, dass die gemeinsame Zeit begrenzt ist, wollen Angehörige diese wertvolle Zeit mitgestalten können, und sie möchten – trotz eigener Belastung – die PatientInnen in der oft leidvollen letzten Lebensphase unterstützen. Mit Respekt vor den individuellen Bewältigungsstrategien der Angehörigen und mit grundsätzlicher Achtung vor ihrem Bemühen, ihren Beitrag zur Betreuung der PatientInnen zu leisten, liegt es am professionellen Betreuungssystem, sie darin zu unterstützen.

Dieses Büchlein soll Pflegenden Anregungen für eine gelingende Zusammenarbeit mit Angehörigen von PatientInnen in palliativen Betreuungssituationen bieten. Die besonderen Bedürfnisse Angehöriger in der häuslichen Betreuung werden ebenso berücksichtigt wie jene der Angehörigen im Kontext stationärer Betreuung.

Der Wert einer engen Zusammenarbeit zwischen Pflege und Sozialarbeit zeigt sich nicht nur in der täglichen Praxis – auch als ich dieses Buch gemeinsam mit Bettina Pußwald schrieb, hat diese sich als sehr bereichernd und fruchtbar erwiesen.

Angelika Feichtner

TEIL IAngehörigenarbeit in der Pflege

Die Situation der Angehörigen von schwerkranken und sterbenden Menschen

Die Diagnose einer unheilbaren, lebensbedrohenden Erkrankung bedeutet eine tiefe Erschütterung, nicht nur für die PatientInnen selbst, sondern auch für ihre An- und Zugehörigen. Auch wenn zunächst noch die Hoffnung auf Heilung oder zumindest auf eine Stabilisierung der Erkrankung aufrecht bleibt, ist die Tatsache der Diagnose bereits mit zahlreichen schmerzhaften Verlusten für die Betroffenen verbunden.

Als Angehörige oder Zugehörige im Sinne von „zum Patienten, zur Patientin gehörend“ gelten all jene Personen, die sich in einer vertrauten, häufig auch verpflichtenden Nähe zum Patienten befinden und somit neben Familienangehörigen auch Freunde, Lebensgefährten, Nachbarn oder Kollegen sein können (George, George, 2003, S. 16). Entscheidend dabei ist nicht die Art der Beziehung – ob Ehe, Partnerschaft, Freundschaft oder Verwandtschaft –, sondern die individuelle Nähe und die Vertrautheit. Daher werden im weiteren Text die Begriffe Angehörige, An- und Zugehörige und Bezugspersonen synonym verwendet. Sie umfassen all jene Personen, die mit dem Patienten, der Patientin verwandt oder familiär verbunden sind oder sich ihm/ihr in anderer Weise verbunden fühlen.

Im Verlauf der Erkrankung werden jene Menschen, die den PatientInnen nahestehen, mit zahlreichen Verlusten konfrontiert; sie erleben ein schrittweises Abschiednehmen, Trauer und oft auch verschiedene Krisensituationen. Eine terminale Erkrankung wird insgesamt als existenzielle Krise erlebt, sie stürzt nicht nur den Patienten oder die Patientin in eine tiefe, existenzielle Krise, sie bedroht auch das Gleichgewicht des ganzen Familiensystems. Damit wird die Krise kollektiv erlebt. Die Bezugspersonen von terminal kranken PatientInnen haben, ebenso wie die PatientInnen selbst, meist bereits einen langen und leidvollen Weg hinter sich, wenn eine Änderung des Therapieziels im Sinne einer palliativen Betreuung erfolgt. Von der Diagnosestellung an bangen und hoffen sie mit dem Patienten, der Patientin. Sie erleben die Hoffnung, die Enttäuschung, die belastenden Therapien und das angstvolle Warten auf Befunde mit. Wiederholte Krankenhausaufenthalte, die verzweifelte Hoffnung auf Besserung und die Enttäuschung, wenn die Erkrankung weiter fortschreitet, bedeuten eine enorme emotionale Belastung, auch für die Angehörigen.

Eine lebensbedrohende Erkrankung erschüttert die Stabilität einer Familie und anderer sozialer Beziehungen, macht sie verletzlich und gefährdet ihre Funktion. Durch die Behandlungserfordernisse kann die Erfüllung der Alltagspflichten so stark beeinträchtigt sein, dass das gesamte System aus dem Gleichgewicht gerät. Im Vordergrund stehen die Sorge um den erkrankten Menschen und die Angst vor den Folgen der Krankheit. Nicht nur die PatientInnen werden auf diese Weise mit einer ungewohnten und bedrohlichen Situation konfrontiert, sondern auch ihre Bezugspersonen.

Anders als eine kurz andauernde Krankheitsperiode, an deren Ende die Heilung steht, löst eine chronische und ganz besonders eine terminale Erkrankung einen radikalen Rollenwechsel innerhalb des sozialen Systems aus. Das Gleichgewicht der gesamten Familie ist bedroht. Die Angehörigen müssen „sich als Familie oder nahe stehende Person mit den (…) Herausforderungen auseinandersetzen und diese mittragen helfen“ (Kesselring, Panchaud, 1999, S. 17). Die lebensbedrohende Erkrankung eines Angehörigen mitzuerleben, bedeutet für die Angehörigen immer eine Grenzerfahrung. Auch Yalom (1980) beschreibt, dass die Konfrontation mit dem (drohenden) Tod eines Familienmitgliedes eine Zeit existenzieller Verzweiflung für die Angehörigen bedeuten kann. Die Furcht vor dem drohenden Verlust und das Gefühl von Hilflosigkeit können alle bisher tragenden Strukturen zusammenbrechen lassen.

Durch die schwerwiegende Erkrankung eines Menschen ergeben sich zusätzlich zur bisherigen Grundbelastung durch Beruf und Alltagsroutine vielfältige Aufgaben, die übernommen werden müssen. Häufig verändern sich die bisherigen Rollenverteilungen innerhalb der Familie und des sozialen Umfeldes. Langerprobte und eingespielte Rollen und Beziehungen verändern sich. Die Bezugspersonen sehen sich auf diese Weise mit der Erfordernis einer Neukonstruktion ihrer Rolle und Identität konfrontiert. Diese zusätzliche Belastung wirkt sich erschwerend auf bestehende Verpflichtungen aus, und Rollenfunktionen, die der/die Erkrankte ausübte, müssen von anderen teilweise oder ganz übernommen werden. Damit entsteht eine Asymmetrie in den Verantwortungsbereichen, und je mehr sich die Rollen mit dem Fortschreiten der Erkrankung verändern, umso belastender werden sie für die gesunden Familienmitglieder (Meuret, 2008, S. 42).

Die reduzierte Belastbarkeit der PatientInnen zwingt die Bezugspersonen, zusätzliche Aufgaben und vermehrt Verantwortung zu übernehmen. Durch die Mehrfachbelastung besteht die Gefahr, dass Angehörige Erschöpfungszustände erleben und an ihre Belastungsgrenze geraten. Die An- und Zugehörigen leisten, vor allem im fortgeschrittenen Stadium der Erkrankung, meist einen Balanceakt zwischen Da-Sein für den Patienten, die Patientin und den eigenen Lebensaufgaben. Eigene Bedürfnisse bleiben oft unberücksichtigt. Verschiedene Untersuchungen belegen, dass An- und Zugehörige schwerkranker PatientInnen hohe Belastungswerte erfahren, die mit jenen der Erkrankten vergleichbar sind (Funk et al., 2010). Dabei können die emotionalen und psychischen Belastungen für die Bezugspersonen durchaus auch stärker sein als für die PatientInnen selbst. Wenn im Verlauf des Krankheitsprozesses die Hoffnung auf Heilung zunehmend schwindet, löst dies bei den An- und Zugehörigen der PatientInnen Gefühle von tiefer Trauer, von Enttäuschung, von Verzweiflung, Resignation, Wut und der Angst vor Überforderung aus. Angehörige berichten, dass sie in manchen Momenten von derartigen, oft auch widersprüchlichen Gefühlen regelrecht überschwemmt werden. Von einer schweren Erkrankung ist damit die gesamte Familie betroffen, und die damit verbundenen Belastungen werden ebenfalls vom gesamten sozialen System getragen.

In zahlreichen Studien wurde die Belastung von Angehörigen von PatientInnen in palliativen Betreuungssituationen untersucht. So weist Bausewein mehrfach auf die bei Bezugspersonen häufigen Symptome der Erschöpfung, der Angst und der Depression hin (Bausewein, 2005, S. 67). An- und Zugehörige von schwerkranken Menschen sorgen sich auch darum, ob ihre vorhandenen Kraftreserven reichen werden, um die Mehrfachbelastungen zu meistern (Kulbe, 2008, S. 92).

Unter der äußeren Belastung durch eine lebensbedrohende Erkrankung verändern sich die Beziehungen und werden stark von den unterschiedlichen Bewältigungsstrategien der einzelnen Personen geprägt. In der Konfrontation mit einer terminalen Erkrankung entwickelt jede Familie, jedes soziale System und jeder Einzelne individuelle Strategien der Bewältigung. So kann es durchaus sein, dass innerhalb einer Familie ganz unterschiedliche Umgangsweisen mit der Erkrankung und auch mit dem Kranken entstehen. Allen gemeinsam ist aber die Tatsache, dass die Gespräche innerhalb der Familie und des Freundeskreises an Unbeschwertheit verlieren. Das Einfühlungsvermögen in die Situation des anderen wird durch die eigene emotionale Belastung zusätzlich erschwert. Missverständnisse entstehen durch das Bestreben, die Nächsten zu schonen, durch Gefühlsschwankungen und durch eine ungewohnte Sensibilität für „Zwischentöne“ (Dietrich, 2006). Damit wird aber auch deutlich, dass An- und Zugehörige stets auch Mitbetroffene sind; sie fühlen sich – ähnlich wie der Patient, die Patientin – einer bedrohlichen Situation hilflos ausgeliefert. Der Alltag ist geprägt von der Sorge um den Kranken, von der Angst vor dem nächsten auftretenden Symptom, vor einer weiteren Verschlechterung des Zustandes und vor allem vor dem drohenden Tod.

Die Erkrankung des Patienten, der Patientin betrifft die gesamte Familie und alle ihm/ihr nahestehenden Personen, und umgekehrt werden die PatientInnen vom Verhalten der Angehörigen beeinflusst. Das Wohlbefinden der Angehörigen und das der Kranken sind damit aufs Engste verknüpft. Die wichtigste Grundlage für die Betreuung ist die Erkenntnis, dass die Familie die wichtigste Vernetzung für den Patienten, die Patientin bedeutet (Friedemann, Köhlen, 2003).

Die Beziehungen der PatientInnen zu ihren An-und Zugehörigen sind bei einer schweren Erkrankung von ganz besonderer Bedeutung. Die Angehörigen haben einen entscheidenden Anteil an der Lebensqualität, die der Patient, die Patientin erfährt, und letztlich auch an der Bewältigung dieser für PatientIn und Angehörige oft gleichermaßen schwierigen Zeit. Vielfach ermöglichen es erst die Angehörigen, dass Bedürfnisse des Kranken befriedigt werden können, und je stärker die Selbstständigkeit durch die Krankheit beeinträchtigt wird, desto bedeutsamer und wichtiger wird die Unterstützung der Angehörigen (George, 2005).

Damit befinden sich die Angehörigen jedoch oft in einem Dilemma: Sie sind in der Position, dass sie Unterstützung geben sollen, zugleich sind sie aber selbst belastet und bedürftig. Häufig leiden sie unter der Situation ebenso wie der Patient, die Patientin. Die veränderte Familiensituation, die Sorge um den Kranken und die Angst vor dem drohenden Verlust führen dazu, dass sich die Angehörigen in einer anhaltenden Ausnahmesituation befinden. In angstbesetzten Ausnahmesituationen ist die Amygdala (Corpus amygdaloideum) als Teil des limbischen Systems im Gehirn hoch aktiv. Dort werden Gefahren analysiert und bei Angstreaktionen kommt es zur Ausschüttung von Stresshormonen wie Adrenalin und Noradrenalin. Das kann dazu führen, dass belastete An- und Zugehörige von terminal erkrankten PatientInnen sich in einem permanenten Stresszustand befinden. Die Sorge um den Kranken und das Erfordernis, den Alltag mit familiären und beruflichen Anforderungen aufrechtzuerhalten, führen oft zu einem verzweifelten Ringen der Angehörigen um Stabilität und Normalität – in einer Situation, die von Instabilität und oft auch von einer permanenten Veränderung der Anforderungen geprägt ist.

Palliative Care und Palliativpflege im Besonderen müssen daher familienzentriert betreuen, denn es wird kaum gelingen, einen Patienten, eine Patientin umfassend zu betreuen, wenn sein/ihr soziales Umfeld nicht einbezogen wird. Von einer schweren Erkrankung ist die gesamte Familie betroffen, und diese Erkrankung wird in der Familie bewältigt, wie Wright et al. schreiben (Wright et al., 2009). Damit ist der Einfluss des primären Bezugssystems der PatientInnen nicht zu unterschätzen, und deshalb muss – vor allem im Kontext von Palliative Care -konsequent von einer familienorientierten Pflege ausgegangen werden. Im englischen Sprachraum ist der Begriff „Family Nursing“ gebräuchlich. Dabei handelt es sich um einen systemischen Ansatz von Pflege, der davon ausgeht, dass eine Verschlechterung des Zustands des Kranken sich immer auf das gesamte Familien- und Bezugssystem auswirkt.

Auch in der familien- und umweltbezogenen Pflege nach der Theorie des systemischen Gleichgewichts von Friedemann und Köhlen (2010) stehen die Familie (im weitesten Sinne) und die verschiedenen Formen des Zusammenlebens im Vordergrund. Im systemischen Ansatz von Friedemann wird der einzelne Mensch nicht nur als Individuum, sondern immer auch in Beziehung zu seinem Umfeld gesehen. Familienorientierte Pflege betrachtet daher nicht nur den Patienten, die Patientin, sondern das gesamte Familiensystem als Bezugspunkt der Pflege.

In Friedemanns Theorie des systemischen Gleichgewichts ist die Kongruenz, das Systemgleichgewicht, die Basis für Gesundheit. Diese „Gesundheit“ ist auch bei schwerer Krankheit und selbst im Sterben möglich. Gesundheit basiert laut Friedemann auf Systemkongruenz, auf dem vom Individuum definierten Gleichgewicht der Ziele, und zeigt sich durch ein „allgemeines Wohlgefühl“, das Kraft und Motivation gibt, sowie durch die Reduktion bzw. Abwesenheit von Angst.

Abb. 1: Das Systemgleichgewicht (Friedemann, Köhlen, 2010)

Befindet sich das (Familien-)System im Ungleichgewicht (Inkongruenz), entsteht Angst. Daher gilt das Bestreben eines Familiensystems stets dem Erhalt des Gleichgewichtes und damit auch der Reduktion von Angst. Es werden vier Ziele angestrebt:

Stabilität

Regulation/Kontrolle

Wachstum

Spiritualität

Wie der einzelne Mensch, so verfolgt auch das Familiensystem diese Ziele durch verschiedene Verhaltensweisen zur Systemerhaltung, Systemänderung, Kohärenz und Individuation. Eine detailliertere Darstellung der Theorie des systemischen Gleichgewichtes nach Friedemann würde den Rahmen dieses Büchleins sprengen, daher sei an dieser Stelle nur darauf hingewiesen, dass alle Verhaltensweisen der Angehörigen diese Ziele anstreben. Es geht also stets um das oft verzweifelte Bemühen, das systemische Gleichgewicht zu erhalten oder wieder herzustellen.

Für Pflegepersonen kann die Begegnung mit belasteten, vielleicht auch fordernden Angehörigen eine Herausforderung darstellen. Dabei ist jedoch stets zu bedenken, dass An- und Zugehörige oft im selben Maße von der Erkrankung betroffen sind wie der Patient, die Patientin. Sie bedürfen oft ebenso der Unterstützung wie die Erkrankten. Nach Friedemann tragen Pflegende die Verantwortung für die professionelle Gestaltung der pflegerischen Beziehung. Dabei ist es wichtig, die Stärken der Familie bzw. des sozialen Systems zu betonen und den Einzelnen und die Familie als ExpertInnen anzuerkennen (Friedemann, 1995; Friedemann, Köhlen, 2010).

Die Bezugspersonen stellen also eine bedeutsame Ressource für die Pflege von schwerkranken und sterbenden PatientInnen dar. Sie sind tatsächlich ExpertInnen, sie kennen den Patienten, die Patientin meist sehr gut und sie können ganz entscheidend zum Wohlbefinden der Erkrankten beitragen. Dabei spielt nicht nur die Nähe der Beziehung eine wesentliche Rolle, sondern auch die Art der Verbundenheit zwischen PatientIn und An- und Zugehörigen. Die Unterstützung durch die Bezugspersonen wird auch durch die Qualität der jeweiligen Beziehung beeinflusst. Die jeweilige Bindung und die verschiedenen Bindungsstile haben ebenfalls einen wesentlichen Einfluss auf die Beziehung der Angehörigen zu den PatientInnen.

Die Bedeutung einer sicheren Bindung in der Unterstützung Angehöriger

Bei der Bindung handelt es sich um ein biologisch determiniertes Grundbedürfnis, das über die gesamte Lebenszeit hinweg von zentraler Bedeutung für die Bewältigung von Herausforderungen und Krisen ist (Mauer et al., 2014). Das Bindungssystem entwickelt sich im Laufe des ersten Lebensjahres, es bleibt jedoch auch im Erwachsenenalter aktiv. In Situationen, die als bedrohlich erlebt werden, wird die Nähe zu anderen Personen gesucht, die Hilfe und emotionale Unterstützung bieten können. Daher sind für die Palliativbetreuung und insbesondere für die Unterstützung der Angehörigen die jeweiligen Bindungsmuster von Bedeutung, denn die Bedrohlichkeit der Situation triggert das Bindungssystem und frühkindliche Bindungserfahrungen werden wieder aktiviert. Darüber hinaus hat die Art des Bindungsmusters einen wesentlichen Einfluss auf das Fürsorgeverhalten der Angehörigen und auch auf ihre Fähigkeit Hilfe zu suchen und anzunehmen.

Ausgehend von der Angewiesenheit eines Neugeborenen und der Beziehung zwischen dem Kind und seiner Mutter entwickelten John Bowlby (1973) und Mary Ainsworth ihre Bindungstheorie. Sie beschreibt die besondere Qualität zwischenmenschlicher Beziehungen, die von den frühkindlichen Erfahrungen ausgeht: die Neigung, in Situationen hoher Belastung, Hilflosigkeit oder Angst, Schutz und das Gefühl von Sicherheit bei einem fürsorglichen Gegenüber zu suchen (Mikulincer et al., 2002, S. 882). Bei den Bindungsmustern bzw. Bindungsrepräsentationen2 handelt es sich also um Sedimente früherer Beziehungserfahrungen, die späteres Beziehungsverhalten und -erwartungen in belastenden Situationen maßgeblich beeinflussen und entsprechend der individuellen Ausformung seelisches oder spirituelles Leiden lindern oder verstärken können (Müller 2018, S. 17). Daher sind die bindungstheoretischen Konzepte nicht nur für die Gestaltung der Beziehungen zwischen PatientInnen, Angehörigen und Pflegepersonen relevant, sondern auch für die psychosoziale Unterstützung in der Palliativbetreuung. Dabei ist zu betonen, dass der jeweilige Bindungsstil keinesfalls ein Persönlichkeitsmerkmal darstellt, sondern das Resultat der bindungsspezifischen Entwicklung ist.

Das Bindungsverhalten beschreibt Bowlby (2010) als die Absicht von Menschen, in angsteinflößenden und bedrohlichen Situationen die Nähe von vermeintlich kompetenteren Menschen zu suchen.

Die Bindungstheorie unterscheidet zwischen sicheren und unsicheren Bindungsmustern. Bei einem sicheren Bindungstyp kann sich das Kind auf die schützende Präsenz der Mutter verlassen, die Mutter (oder eine andere Bezugsperson) reagiert mitfühlend und liebevoll auf die Bedürfnisse des Kindes. Ein zentrales Konzept der Bindungstheorie ist die „sichere Basis“. Der zuverlässige Kontakt zu einer Bindungsperson (meist zu den Eltern) gewährleistet eine sichere Basis für das Kind, die ihm in bedrohlich erscheinenden Situationen Schutz und Unterstützung gewährt.

Exkurs: Bis vor wenigen Jahrzehnten galt die Empfehlung, dass ein Säugling keinesfalls „verwöhnt“ werden dürfe und dass es sogar „gesund“ sei, den Bedürfnissen des Kindes nicht gleich nachzukommen. Eltern wurde geraten, das Kind schreien/weinen zu lassen, um es nicht zu „verwöhnen“. Es ist leicht nachvollziehbar, dass ein Säugling, dessen einzige Ausdrucksmöglichkeit das Weinen ist, in diesem Fall erlebt, dass er sich auf seine Bezugspersonen nicht verlassen kann und dass seine Bedürfnisse nicht zuverlässig erfüllt werden. Das Kind wird kaum eine sichere Basis erfahren können und mit hoher Wahrscheinlichkeit ein unsicheres Bindungsmuster entwickeln. Dieser frühkindliche Bindungsstil wird sich im Laufe des Lebens weiterentwickeln und verändern, allerdings werden diese ersten, frühkindlichen Bindungserfahrungen in späteren, krisenhaften Situationen wieder aktiviert. Daher besteht die Vermutung, dass viele der heute alten Menschen in ihren ersten Lebensjahren aufgrund der damaligen pädagogischen Empfehlungen kaum eine sichere Bindung entwickeln konnten.

Das biologisch angelegte Bindungssystem entwickelt sich aber nicht nur in Eltern-Kind-Beziehungen, wie ursprünglich von Bowlby (1973) erforscht, auch die Behandlungsbeziehungen im Gesundheitssystem weisen Merkmale einer Bindungsbeziehung auf (Hloucal et al., 2012, S. 143). Es ist davon auszugehen, dass eine schwere und/oder terminale Erkrankung und Pflegebedürftigkeit als bedrohlich und krisenhaft erlebt wird, nicht nur von den betroffenen PatientInnen, sondern auch von ihren Bezugspersonen. Daher ist die palliative Situation, besonders auch durch die Auseinandersetzung mit der drohenden endgültigen Trennung, potenziell eine bindungsrelevante Situation für PatientInnen und Angehörige (Vgl. Peterson 2005, S. 277-292.).

Die jeweiligen Bindungsmuster haben Einfluss auf die Gestaltung von (Pflege-)Beziehungen und auf das Mobilisieren von Unterstützung. Die Pflegebeziehung zwischen den PatientInnen, ihren Angehörigen und den Pflegepersonen stellt eine bindungsrelevante Beziehung dar, in der auch die Pflegenden als Bindungspersonen fungieren. Damit können sie nicht nur den PatientInnen, sondern vor allem auch deren Angehörigen eine sichere Basis bieten (Spetz et al., 2008). Wie gut es gelingt, den Angehörigen Sicherheit zu vermitteln, wird jedoch unter anderem auch von den jeweiligen früheren Bindungserfahrungen und dem Bindungsstil der Angehörigen abhängen.

Bei einer sicheren Bindung reagiert die Bindungsperson (z. B. die Mutter bzw. die Pflegeperson) zuverlässig und ihr Verhalten ist (für das Kind bzw. für die PatientInnen/für die Angehörigen) vorhersehbar und unterstützend. Das Angebot einer sicheren Basis bzw. einer sicheren Bindung trägt entscheidend dazu bei, dass sich PatientInnen und auch deren Angehörige sicher fühlen können. In Anlehnung an die Bedürfnispyramide nach Maslow (Zalenski, Raspa, 2006) kann das Erleben von Sicherheit als wesentlicher Faktor, vor allem auch in der häuslichen Palliativbetreuung, gelten. Zugleich hängt auch die erlebte Lebensqualität betreuender Angehöriger ganz entscheidend vom Ausmaß ihrer Sicherheit ab (Axelsson, Sjoden, 1998).

In der Gewährleistung einer sicheren Basis für pflegende Angehörige sind die Erreichbarkeit und die Kontinuität des Versorgungsteams, das Gefühl, über ihre Handlungen informiert zu sein und die Art der Kommunikation mit dem Team wichtige Faktoren. Die Erfahrung einer sicheren Basis durch das betreuende Team bedeutet für die Angehörigen eine ganz wesentliche Unterstützung; sie vermittelt ihnen ein Gefühl von Kontrolle über die oft als bedrohlich empfundene Situation. Und eine sichere Basis ermöglicht den Angehörigen und ihren PatientInnen auch entspannte Phasen, in denen die Sorge und die Angst vor der Zukunft in den Hintergrund treten können.

In der Praxis erweist sich die Betreuung von PatientInnen und Angehörigen mit sicherem Bindungsmuster meist als unkompliziert. Die Angehörigen sind zuverlässig und präsent und sowohl die PatientInnen als auch ihre Angehörigen können offen über die Situation sprechen und auch ihre Gefühle ausdrücken. Wünsche und Bedürfnisse können geäußert und angebotene Unterstützung kann angenommen werden. Die Beziehung zwischen den PatientInnen und ihren Angehörigen ist von Empathie und Zuneigung geprägt. Die An- und Zugehörigen zeigen sich offen und kooperativ und sie erweisen sich als sehr unterstützend für die PatientInnen. Ängste und Sorgen können besprochen und auftretende Probleme können gemeinsam gelöst werden (Petersen, 2007). Angehörige mit sicherem Bindungsstil brauchen meist wenig Unterstützung, Angebote werden gerne angenommen und die Betreuung gestaltet sich problemlos.

Einem unsicheren Bindungsmuster liegt die Erfahrung zugrunde, dass selbst in Notsituationen Hilfe nicht zuverlässig verfügbar ist. Ein kleines Kind, das sich naturgemäß in völliger Angewiesenheit auf die Zuwendung seiner Bezugspersonen befindet, wird in derartigen Situationen Strategien entwickeln müssen, mit diesem existenziell bedrohlichen Mangel zurecht zu kommen. Diese Strategien können bis ins Erwachsenenalter wirksam bleiben und die in der frühen Kindheit entwickelten Muster werden besonders in Krisensituationen reaktiviert.

Vereinfacht dargestellt, kann unsicheres Bindungsverhalten in drei Kategorien unterteilt werden:

unsicher-distanziert/vermeidend

unsicher-ambivalent/verstrickt

unsicher-desorganisiert/desorientiert

Unsicher-distanziert/vermeidende Bindung: Menschen mit unsicherdistanziertem oder vermeidendem Bindungsverhalten erleben Beziehungen, in denen sie von anderen abhängig sind, mit großer Unsicherheit oder sehr angstvoll, weshalb sie alle Situationen, in denen sie auf fremde Hilfe angewiesen sind, zu vermeiden suchen (Müller 2018, S. 36). Die eigene Bedürftigkeit wird abgewehrt und nicht bewusst wahrgenommen, zugleich besteht jedoch eine besondere Fähigkeit, unbekannte und belastende Situationen zu bewältigen. Diese Fähigkeit kann jedoch nur aufrechterhalten werden, solange keine Angewiesenheit auf die Hilfe anderer besteht. Und da diese Personen sich grundsätzlich scheuen, Schwäche und Hilfebedürftigkeit zu zeigen, wird die Not in der sie sich befinden, von den Betreuenden häufig übersehen.

In der Betreuung von Menschen mit unsicher-vermeidendem Bindungsstil scheint oft eine deutliche Distanz zu herrschen, und es findet relativ wenig Austausch zwischen Angehörigen und dem Team statt. In den Gesprächen mit den Angehörigen geht es oft um Administratives, um das Pflegegeld oder um die Beschaffung von Pflegehilfsmitteln. Auch der Kontakt zwischen Angehörigen und PatientInnen wirkt emotionslos, eher distanziert, funktional und neutral. Es gibt kaum körperliche Berührungen, Angehörige stehen oft am Ende des Bettes oder sie setzen sich in einigem Abstand zum Bett (Petersen 2007, S. 5).

Von den PatientInnen und besonders auch von ihren Angehörigen wird die Schwere der Erkrankung oft verleugnet und Gefühle wie Trauer oder Angst werden selten gezeigt. Wenn überhaupt, so finden Angst und Unruhe nur im Mimischen Ausdruck, wie Petersen (2007) beschreibt. Auch das familiäre Umfeld erscheint distanziert und passiv. Die Betreuungspersonen werden auf Abstand gehalten und müssen Widerstände überwinden, um eine angemessene Betreuung leisten zu können. Aussagen wie „Das müssen wir alleine schaffen“ oder „Nur nie auf andere angewiesen sein!“ sind typisch für ein unsicher-distanziertes oder vermeidendes Bindungsverhalten.

Unsicher-ambivalent/verstrickte Bindung: Aufgrund früherer instabiler und unsicherer Beziehungserfahrungen bleiben diese Menschen stets auf die äußere Versicherung anderer angewiesen, von denen sie sich auch abhängig fühlen (Müller 2018, S. 39). Anders als bei einem unsicher-distanzierten oder vermeidenden Bindungsverhalten, sind diese PatientInnen/Angehörigen durch ihren oft überhöhten Anspruch auf Aufmerksamkeit kaum zu übersehen.

Personen mit unsicher-ambivalenten/verstrickten Bindungsrepräsentationen fällt es außerordentlich schwer, mit Trennungen und Verlusten umzugehen. Auch können sie Situationen, in denen sie alleine und auf autonome Entscheidungen angewiesen sind, nur schwer bewältigen (Müller 2018, S. 41). Sie verfügen jedoch über die ausgeprägte Fähigkeit, in derartigen Situationen die Unterstützung anderer Menschen zu mobilisieren.

In der Betreuung von Menschen mit unsicher-ambivalentem Bindungsmuster lässt sich zwischen den PatientInnen und ihren Angehörigen oft eine überbetonte Nähe mit übertriebenen Gefühlsäußerungen beobachten. Die PatientInnen kommen oft kaum dazu, sich zu artikulieren, weil die Angehörigen sie unterbrechen. Wird zum Beispiel die Patientin gefragt, wie sie sich heute fühlt, antworten die Angehörigen an ihrer Stelle.