Über das Buch

Die Zauberjäger seines Volks sind hinter Kellen her. Leider lässt sowohl sein Talent für Magie als auch das für Faustkämpfe zu wünschen übrig. Seine Gefährten Reichis und Ferius stehen ihm aber immer fluchend zur Seite. Auf ihrer Flucht durch die Wüste lernen die drei Seneira kennen: ein Mädchen, das eine Augenbinde trägt – allerdings nicht, weil sie blind ist. Genau wie Kellen muss sie ihr Shadowblack-Mal verstecken. Doch das ist nicht ihr einziges Geheimnis …

 

 

 

 

Für Dr. Sukanya Leecharoen vom
Royal Angkor International Hospital,
die dank ihrer Klugheit und Freundlichkeit das,
was als qualvolle Beschwerden begann,
in eine erstaunlich unterhaltsame Erfahrung verwandelte.

DER WEG DES WASSERS

Der Weg der Argosi ist der Weg des Wassers.

Wasser trachtet nicht danach, anderen ein Hindernis zu sein, noch lässt es sich selbst durch solche aufhalten. Es bewegt sich frei, umfließt all jene, die es einfangen wollen, und nimmt sich nichts, was ihm nicht gehört. Wer das vergisst, weicht vom rechten Weg ab, denn anders, als es gewisse Gerüchte behaupten, würde ein Argosi nie und nimmer stehlen.

1

Das Amulett

»Es ist kein Diebstahl!«, wiederholte ich energisch und ein bisschen zu laut, wenn man bedachte, dass mich lediglich eine knapp sechzig Zentimeter große Baumkatze hören konnte, die obendrein gerade damit beschäftigt war, das ausgeklügelte Schloss zu knacken, das uns vom Inhalt der Vitrine in der Pfandleihe trennte.

Reichis hielt das pelzige Ohr dicht an das Schloss, während er mit seinen geschickten Pfoten an den drei kleinen Messingscheiben drehte, und keckerte ärgerlich: »Geht’s auch ein bisschen leiser? Ich muss mich nämlich konzentrieren!« Sein rundliches Hinterteil bebte vor Empörung.

Falls ihr noch nie eine Baumkatze gesehen habt, dann stellt euch einfach eine grimmig blickende Katze mit einem buschigen Schwanz und fellbewachsenen Flughäuten zwischen Vorder- und Hinterbeinen vor, mit deren Hilfe sie auf eine Weise durch die Luft segeln kann, die zugleich Furcht einflößend und lächerlich wirkt. Dazu die charakterlichen Eigenschaften eines Diebes, Erpressers und, wenn man Reichis’ wüsten Geschichten glauben durfte, eines mehrfachen Mörders.

»Ich hab’s gleich«, verkündete er.

Das behauptete er schon seit einer Stunde.

Durch die Ritzen in den hölzernen Läden vor dem Schaufenster und den Spalt unter der Tür krochen schon schmale Lichtstreifen. Bald würden draußen auf der Hauptstraße die ersten Leute auftauchen, ihre Geschäfte aufschließen oder vor der Bar herumlungern und sich den ersehnten ersten Drink des Tages hinter die Binde kippen. In den Grenzlanden lässt man sich gern schon vor dem Frühstück volllaufen – einer der Gründe dafür, dass die Leute hier Gewalt als Lösung für sämtliche Meinungsverschiedenheiten betrachten. Und auch einer der Gründe, weshalb meine Nerven blank lagen. »Wir hätten die blöde Vitrine einfach einschlagen und ihm ein bisschen Kleingeld für den zusätzlichen Schaden dalassen sollen«, sagte ich.

»Einschlagen?«. Reichis’ Knurren verriet, was er davon hielt. »Amateur.« Er konzentrierte sich wieder auf das Schloss. »Immer … mit … der … Ruhe …«

Es machte Klick!, und im nächsten Augenblick schwenkte er stolz das geknackte Schloss in der Pfote. »Siehst du? So zieht man einen Einbruch durch!«

»Es ist kein Einbruch«, sagte ich ungefähr zum zwölften Mal, seit wir in der Nacht in die Pfandleihe eingedrungen waren. »Wir haben das Amulett bezahlt, schon vergessen? Der Typ hat uns übers Ohr gehauen!«

Reichis schnaubte verächtlich. »Und was hast du dagegen unternommen, Kellen? Du hast dagestanden wie ein Trottel, während er unser sauer verdientes Geld eingesackt hat!«

Soweit ich wusste, hatte Reichis in seinem ganzen Leben noch kein Geld verdient. »Hab dir ja gesagt, dass du ihm am besten gleich die Gurgel zerfetzt!«, fuhr er fort.

Baumkatzen lösen die meisten Probleme nämlich, indem sie irgendwem ein ordentliches Stück Fleisch aus der Kehle reißen, dass das Blut nur so spritzt.

Ich ließ ihm das letzte Wort und langte an ihm vorbei, um die Vitrine zu öffnen und die kleine Silberglocke herauszunehmen, die an einer dünnen, runden Metallscheibe befestigt war. Die in den Rand geritzten Glyphen schimmerten im Halbdunkel: ein Stillezauber der Jan’Tep. Ein echter Stillezauber. Damit konnte ich Magie wirken, ohne ein Echo zu hinterlassen, anhand dessen uns die Kopfgeldjäger verfolgen konnten. Seit wir aus dem Gebiet der Jan’Tep geflohen waren, hatte ich zum ersten Mal das Gefühl, beinahe – aber nur beinahe! – aufatmen zu können.

»Sag mal, Kellen …« Reichis sprang auf den Tresen, um die Silberscheibe zu begutachten, »die Zeichen auf dem Amulett – die sind magisch, oder?«

»Sozusagen. Eigentlich sind sie eher ein Hilfsmittel, um den Zauber an das Amulett zu binden.« Misstrauisch fügte ich hinzu: »Seit wann interessierst du dich denn für Magie?«

Er hielt das Schloss wieder in die Höhe. »Seit das Ding hier angefangen hat zu leuchten.«

Drei der kunstvollen Symbole auf dem Messingzylinder schimmerten hellrot. Im nächsten Augenblick flog die Tür der Pfandleihe auf, helles Sonnenlicht flutete in den Raum und eine Gestalt, von der ich nur den Umriss erkennen konnte, stürmte herein. Sie warf mich zu Boden und bereitete unserem kühnen Raubzug, der rückblickend vielleicht doch etwas mehr Planung erfordert hätte, ein unrühmliches Ende.

Vier Monate in den Grenzlanden hatten mir eines unmissverständlich klargemacht: Als Vogelfreier war ich ein totaler Versager. Zum Jagen war ich nicht zu gebrauchen, ich verlief mich andauernd, und anscheinend war so gut wie jeder, dem ich begegnete, darauf aus, mich entweder zu bestehlen oder umzubringen.

Manchmal sogar beides.

2

Der Weg der Fäuste

So ein Schlag ins Gesicht ist schmerzhafter, als ihr euch das vielleicht vorstellt.

Wenn dir jemand mit der Faust voll gegen das Kinn boxt, fühlt es sich an, als wollten dir vier kleine Rammböcke die Visage zertrümmern. Deine Zähne wenden sich plötzlich gegen dich und bohren sich in deine Zunge, bis deine Mundhöhle voller Blut ist. Ach ja, und das komische Knacken, das dabei ertönt? Hört sich ziemlich genauso an, wie du dir das Geräusch brechender Knochen vorstellst – weshalb dein Kopf wahrscheinlich auch gerade eine Vierteldrehung vollführt, weil er dein Kinn einholen will, bevor es den Tatort verlässt.

Und das Allerschlimmste? Sobald du einigermaßen das Gleichgewicht wiedergefunden hast und die flatternden Augenlider aufreißt, erinnerst du dich wieder, dass der übermächtige Gegner, der dich gerade verdrischt, ja ein schmächtiger, sommersprossiger Junge von höchstens dreizehn Jahren ist.

»Hättest halt mein Amulett nicht klauen sollen!«, sagte Sommersprosse.

Er schob sich auf mich zu und ich wich instinktiv zurück. Mein Körper hatte sich offensichtlich dafür entschieden, lieber einfach zusammenzubrechen, als sich einen weiteren Hieb einzufangen. Ringsum erscholl das Gelächter der Stadtbewohner, die aus ihren Läden und Bars gekommen waren und schon Wetten auf den Sieger der Prügelei abschlossen.

Niemand setzte auf mich. Mein Volk brachte vielleicht die besten Magier auf dem Kontinent hervor, aber im Faustkampf waren wir absolute Nieten.

»Ich habe dir das Amulett bezahlt!«, entgegnete ich. »Außerdem habe ich es wieder zurückgelegt. Kein Grund, mich …«

Sommersprosses Daumen schnellte nach oben und deutete auf Reichis, der draußen auf dem hin und her schaukelnden Schild über der Tür der Pfandleihe hockte und frohgemut das Silberglöckchen an dem Amulett untersuchte. Jedes Mal, wenn mich Sommersprosse mit einem Hieb erwischte, ließ Reichis es klingeln. Baumkatzen finden so was lustig. »Glaubst du, ich hab mich die ganze Nacht mit diesem dämlichen Schloss abgeplagt, bloß damit du das Amulett zurückgibst?«, rief er mir zu.

»Du bist ein elender Dieb!«, erwiderte ich.

Sommersprosse lief noch röter an. Anscheinend dachte er, ich hätte ihn gemeint. Ich vergesse immer wieder, dass andere Leute nicht verstehen können, was Reichis sagt – für sie hört es sich bloß wie Keckern und Knurren an.

Sommersprosse stürzte sich mit Gebrüll auf mich. Im nächsten Augenblick lag ich japsend auf dem Boden und er saß auf mir drauf.

»Steh lieber wieder auf, Jungchen«, riet mir Ferius Parfax in ihrem breiten Grenzerdialekt. Sie lehnte lässig an dem Querbalken, an dem wir die Pferde angebunden hatten, ihren schwarzen Hut dabei so tief in die Stirn gezogen, als wollte sie ein Nickerchen machen. »Wenn man auf dem Rücken liegt, kann man schlecht ausweichen.«

»Quatsch nicht, hilf mir lieber!«, erwiderte ich unwirsch. Beziehungsweise hätte ich unwirsch erwidert, wenn ich noch genug Puste gehabt hätte.

Ferius war meine Mentorin in Sachen Argosi – das waren die geheimnisvollen, scharfzüngigen Kartenspieler, die durch die Lande zogen und … tja, eigentlich hatte mir noch niemand so richtig erklärt, was sie eigentlich machten. Ferius jedenfalls sollte mir beibringen, wie ich als Vogelfreier überleben und den Kopfgeldmagiern entgehen konnte, die hinter mir her waren. Meistens beschränkte sie sich allerdings auf Weisheiten wie »Man kann schlecht ausweichen, wenn man auf dem Rücken liegt«. Was mich fast genauso ärgerte wie ihre Angewohnheit, mich »Jungchen« zu nennen.

»Ich hab dir gleich gesagt, dass du die Finger von dem Amulett lassen sollst«, setzte sie hinzu.

Womöglich hätte ich ihre Warnung sogar beherzigt, wenn sie nicht danach mit irgendeinem Argosi-Quatsch über »den Weg des Wassers« angefangen hätte, was mich so genervt hatte, dass ich stattdessen auf den Rat einer Baumkatze gehört hatte, deren Lösung für alle Probleme – wenn jemandem die Kehle zu zerfetzen keine Option war – auf Diebstahl hinauslief. Soll heißen, beide waren schuld daran, dass ich jetzt unter Sommersprosse auf dem Boden lag und er sein Bestes gab, mich k. o. zu schlagen.

Zum Thema nichtmagische Auseinandersetzungen hatte ich eines gelernt, nämlich dass man sein Gesicht schützen sollte – und genau das versuchte ich jetzt. Leider schlug mir mein Gegner jedes Mal die Hände weg und haute mir wieder eine rein. Ihr Ahnen, wieso kann dieses Kind dermaßen hart zuschlagen?

Sommersprosse rutschte ein Stück nach vorn, packte mein Handgelenk und schnappte sich mit der anderen Hand meinen Zeigefinger. »Jeder weiß, welche Strafe auf Klauen steht«, sagte er und bog den Finger genüsslich nach hinten um.

Noch vor dem Schmerz überkam mich die Panik. Alle Jan’Tep-Zauber erfordern präzise Gebärden. Mit gebrochenen Fingern kriegt man das nicht hin.

Ich bäumte mich auf, und die Verzweiflung verlieh mir die nötige Kraft, Sommersprosse abzuwerfen. Er landete mit dem Gesicht im Dreck. Ich rollte mich rasch herum und sprang auf, aber er war auch schon wieder auf den Beinen. »Das wirst du bereuen!«, fauchte er.

Ich bereute jetzt schon, dass ich überhaupt einen Fuß in dieses heiße, staubtrockene Drecksloch namens Seven Sands gesetzt hatte. Ein endloser Flickenteppich aus Wüste und noch mehr Wüste mit ein paar darübergestreuten Käffern, deren grobe, hinterhältige Bewohner nicht mal so taten, als wären sie auch nur ansatzweise zivilisiert. Wahrscheinlich hatten die meisten dieses Wort noch nie im Leben gehört.

Sommersprosse schien besorgt zu sein, dass ich ihn beim ersten Mal vielleicht nicht richtig verstanden hatte, denn er wiederholte noch einmal lauter: »Das wirst du bereuen, ich schwör’s! Jetzt fließt Blut!«

Ich ließ die Hände sinken, ein Reflex aus meiner Ausbildung zum Magier. Körperliche Auseinandersetzungen sind nicht unser Ding, denn wer wie ein Barbar die Fäuste ballt, kann keinen Zauber wirken. Ich lockerte die Finger und ließ sie unauffällig in die Pulverbeutel an meinem Gürtel gleiten. Ich brauchte nur eine winzige Dosis: ein paar Krümel Rot und ein paar Körnchen Schwarz. Hochwerfen, die entsprechende Gebärde ausführen, die Einwortformel sprechen – und dann würde zur Abwechslung mal Sommersprosse einstecken müssen.

Den meisten Jan’Tep-Magiern stehen wirkungsvollere Zauber zur Verfügung als mir, aber diesen Mangel mache ich durch Geschicklichkeit wett. Ich bin das, was mein Volk abfällig einen Spellslinger nennt – ein Magier, der banale Küchenmagie mit allen möglichen Tricks kombiniert, um am Leben zu bleiben. In meinem Fall heißt das ein bisschen Atemmagie plus eine Prise Sprengpulver. Jedes für sich allein bewirkt nicht viel, bringt man jedoch beides zum richtigen Zeitpunkt zusammen, gibt es einen Rums, der eine dicke Eichentür wie nasses Papier zerreißt. Sommersprosse konnte sich also auf etwas gefasst machen.

»Keine Magie, Jungchen. Schon vergessen?«, meldete sich Ferius wieder zu Wort.

Ach so. Stimmt.

Deswegen war ich ja so scharf auf das Amulett gewesen – weil jedes Mal, wenn ich einen Zauber wirkte, eine Art übernatürliches Echo hervorgerufen wurde, das die Zauberjäger, also jene Magier, die sich darauf spezialisiert hatten, andere Magier aufzuspüren, auf unsere Fährte brachte. Ferius hatte darauf bestanden, dass ich das Zaubern bleiben ließ, damit ich nicht noch größeren Ärger bekam. Dummerweise ging Sommersprosse aber schon wieder mit erhobenen Fäusten auf mich los, fest entschlossen, mich zu meinen Ahnen zu schicken.

»Du hast gewonnen«, sagte ich rasch, hob die Hände und wich zurück. »Ich gebe dir das Amulett zurück, und das Geld kannst du auch behalten.« Wohl nicht mein ruhmreichster Moment.

»Ich nehm das Amulett und das Geld nehm ich auch«, entgegnete Sommersprosse und zeigte wieder zu Reichis hoch. »Und deinem Vieh da zieh ich das Fell über die Ohren und mach mir ’ne Mütze draus. Oder ich zünd es an und seh zu, wie es Luftsprünge macht.«

Bei dieser Ankündigung zog sich mein Magen zu einem kalten Knoten zusammen. Es war noch nicht lange her, dass ein Magier Reichis’ Artgenossen mittels Glutmagie in Brand gesteckt hatte. Dieser grausige Anblick hatte sich mir unauslöschlich eingeprägt, ebenso wie das hämische Vergnügen des Mörders. Sommersprosses Gesichtsausdruck war ganz ähnlich.

Ferius behauptete immer, Furcht und Zorn seien zwei Seiten derselben Münze. Sommersprosse hatte meine Münze soeben umgedreht.

In meinem linken Auge braute sich ein bohrender Schmerz zusammen – wie Kopfweh, nur viel stärker. Ich wollte ihn wegblinzeln, aber er wurde immer heftiger. Die Morgensonne verblasste, nur die Schatten blieben und dehnten sich aus, während sich die Welt um mich herum verdunkelte, so wie wenn sich Träume in Albträume verwandeln. Nur dass ich hellwach war.

»Reiß dich zusammen, Jungchen!«, mahnte Ferius. Sie hatte mich schon so erlebt, doch ihre Warnung kam zu spät, denn ihre Stimme klang jetzt weit entfernt, wie die Erinnerung an jemanden, den ich einst gekannt hatte.

Im Gegensatz dazu dröhnte Sommersprosses Lachen in meinen Ohren immer lauter, auch sein Grinsen wurde breiter und verzerrte seine ganze Erscheinung. Wenn ich in diesem Zustand bin, sehe ich nur noch das Hässliche an den Leuten. Die miesen Seiten. Als würde ich Sommersprosse dabei zusehen, wie er sich in die schlimmste Version seiner selbst verwandelte – ein Mensch, dem es Freude bereitete, anderen wehzutun, der laut lachen würde, wenn er Reichis anzündete.

Mein Zorn wurde so überwältigend, dass ich den Schmerz in meinem Auge nicht mehr spürte und erst merkte, dass ich wieder in die Pulverbeutel an meinem Gürtel gegriffen hatte, als ich die roten und schwarzen Körnchen vor mir durch die Luft schweben sah. Kurz bevor sie aufeinandertrafen, vollführte ich die entsprechende Gebärde. Ich grub die kleinen Finger und Ringfinger beider Hände in die Handfläche, um den Zauber zu bändigen. Meine Zeige- und Mittelfinger zeigten nach vorn und gaben die Richtung an, und die Daumen wiesen himmelwärts, zum Zeichen für: »Bitte, liebe Ahnen, lasst nicht zu, dass ich mir die Hände wegsprenge!«

»Carath!«, sagte ich und artikulierte beide Silben klar und deutlich. Ein Feuerblitz entlud sich. Er war nicht tödlich, aber doch heftig genug, um meinem Gegner ordentlich eins überzubraten. Die roten und schwarzen Flammen umwanden sich in der Luft wie zwei wütende Schlangen, schossen um Haaresbreite an Sommersprosses Schulter vorbei und versengten die Außenwand der Pfandleihe. Hätte ich das Ganze so beabsichtigt, wäre es eine eindrucksvolle Demonstration meiner Macht gewesen. Aber wie sich herausstellte, waren wiederholte Schläge gegen den Kopf der Treffsicherheit nicht gerade zuträglich.

Der Schmerz in meinem Auge verschwand sofort, und die finstere Vision, die mich heimgesucht hatte, verblasste. Nur die staubige Straße und die bestürzten Gesichter der Gaffer blieben. Die Anfälle kommen und gehen immer sehr schnell und lassen mich zittrig und benommen zurück – nicht unbedingt die beste Verfassung, um sich zu verteidigen.

Sommersprosse schien seinen Schreck schnell weggesteckt zu haben. Noch ehe ich die Arme schützend vors Gesicht reißen konnte, verpasste er mir eine harte Rechte auf die linke Wange. Als er die Faust zurückzog, war sie ein bisschen blutig, und seine selbstgefällige Miene verwandelte sich in blankes Erstaunen, als er Reste der hellbeigen Mesdet-Paste auf seinen Knöcheln entdeckte. Er musterte mich argwöhnisch. Offenbar fielen ihm jetzt auch die schwarzen Male auf, die sich wie Strudel aus reiner Finsternis um mein linkes Auge rankten.

»Schwarzschatten!«, entfuhr es ihm.

Das Wort breitete sich unter den Zuschauern aus wie ein Lauffeuer.

»Die Dämonenseuche!«, rief jemand.

Die meisten wichen entsetzt zurück, nur Sommersprosse war aus härterem Holz geschnitzt. Er hörte sich nicht mal ängstlich an, als er sagte: »Passt ja gut, dass ein Dieb den Teufelsfluch hat.«

Hätten sie mir Gelegenheit dazu gegeben, hätte ich die Leute darüber aufgeklärt, dass der Schwarzschatten weder eine Seuche noch ein Fluch war, sondern eine rätselhafte Erkrankung, die nur selten und nur bei meinem Volk auftrat und, soviel ich wusste, nicht ansteckend war. Ich hätte allerdings nicht erwähnt, dass sie einen nach und nach mit irren Visionen in den Wahnsinn treibt, bis die eigene Magie zur Gefahr für alle anderen wird, und dass jeder Jan’Tep-Magier, dessen Weg ich kreuzte, verpflichtet war, mich zu töten.

Doch das alles spielte sowieso keine Rolle mehr, denn Sommersprosse hatte mich schon mit beiden Händen am Hals gepackt. Ich zerrte verzweifelt an seinen Handgelenken, aber er war zu stark. Meine Kehle verkrampfte sich, ich rang nach Luft. Die Welt um mich herum schrumpfte zusammen. Mir schoss noch durch den Kopf, dass es bestimmt einen genialen Trick gab, mit dem man sich aus einem Würgegriff befreien konnte.

Diesen Trick sollte ich bei Gelegenheit mal lernen.

3

Der rote Preis

Ich war höchstens eine Sekunde weg, denn bevor mein Kopf auf dem Boden aufschlug, riss ich die Augen auf und bekam mit, wie Sommersprosse rücklings von mir wegflog. Erst dachte ich, ich hätte per Zufall einen neuartigen Zauber gewirkt, dann sah ich, dass Ferius meinen Gegner am Kragen gepackt hielt, und mir wurde klar, dass sie ihn von mir wegzerrte.

Schade eigentlich. Ich hätte ein bisschen zusätzliche Magie gut gebrauchen können.

Ich hustete röchelnd, dann lag mein Gegner ein paar Meter von mir entfernt auf dem Rücken, und Ferius stand zwischen mir und einem breitschultrigen Schlägertypen – wahrscheinlich einem nahen Verwandten von Sommersprosse, denn beide hatten denselben Teint und dieselben unhöflichen Umgangsformen.

»Verzieh dich, Weib!«, knurrte der Typ und kniff drohend die kleinen Augen zusammen. »Die Seele dieses Jungen gehört einem Teufel und ich werde ihn jetzt an den Dunklen Ort befördern.«

Der Dunkle Ort. In den Grenzlanden gibt es jede Menge solcher geschmackvollen spirituellen Ausdrücke.

»Hör mal, Freundchen«, gab Ferius zurück, »wir wollen uns doch wegen einem harmlosen Muttermal nicht gleich so aufregen.« Ihren folgenden Worten verlieh sie die perfekte Mischung aus Belustigung und ätzender Ironie. »Aufgeklärte und gebildete Leute wie ihr fallt doch nicht auf so einen abgedroschenen Aberglauben rein, oder?«

Die Schaulustigen als »aufgeklärt und gebildet« zu bezeichnen, war ausgesprochen optimistisch, aber ein paar von ihnen hörten es nicht ungern. Eine Frau wagte sich einen Schritt vor und schaute auf mich herab. »Wenn es bloß ein Muttermal ist, warum versteckt er es dann?«

Ferius bückte sich und wischte ein wenig Paste von meinem Gesicht, sodass die Male besser zu erkennen waren. »Weil es nicht hübsch ist, deshalb. Der Junge will schließlich gut aussehen!« Sie lachte laut und herzlich.

Ihre Heiterkeit wirkte ansteckend. Ich weiß nicht, wie sie es anstellt, aber Ferius schafft es immer, die Leute auf ihre Seite zu ziehen.

Die meisten Leute jedenfalls.

Kneifauge zeigte anklagend mit dem Finger auf mich. »Ich sag, er hat die Dämonenseuche! Und wenn er sie nicht hat, dann hat dieser hochnäsige kleine Jan’Tep immer noch einen von uns beklauen wollen. Und dafür zahlt man den roten Preis!«

»Der rote Preis« bedeutet in Seven Sands in etwa das Gleiche wie: »Jetzt fließt Blut!«

»Ich finde, Kellen hat schon genug für das Ding bezahlt«, erwiderte Ferius und deutete mit dem Kinn auf Reichis, der immer noch auf dem Ladenschild hockte und hingebungsvoll sein Silberglöckchen untersuchte. »Aber dein Junge wollte auf einmal mehr dafür haben.«

»Egal. Dieb bleibt Dieb, und der rote Preis verlangt, dass er die Finger verliert.«

Ferius schenkte ihm ein unbekümmertes Lächeln. »Sinn und Verstand verlangen, dass wir es jetzt gut sein lassen. Hauptsache ist doch, dass dein Junge einen Burschen besiegt hat, der doppelt so groß ist wie er. Eine prima Geschichte. Die kannst du deinen Kumpels erzählen, wenn ihr euch in der Bar einen hinter die Binde gießt.«

Kneifauge grinste. »Die Geschichte wird aber noch besser, wenn ich ihnen die abgehackten Finger von deinem Jungen zeige.«

Mir stieg ein säuerlicher Geschmack in den Mund. Ich hatte schon Schiss bekommen, als Sommersprosse mir die Finger brechen wollte. Wenn man sie mir abhackte, konnte ich nie wieder einen Zauber wirken!

Ferius senkte die Stimme, sodass nur noch Kneifauge und ich sie verstehen konnten. »Schätze mal, die Geschichte ist nicht mehr so toll, wenn deine Kumpels mitkriegen, dass dir bei dem Versuch, einen Unschuldigen zu verstümmeln, eine Frau den Hintern versohlt hat, die kaum größer als dein linker Arm ist.«

Ganz kurz sah es aus, als würde Kneifauge ernsthaft darüber nachdenken, aber dann krempelte er die Ärmel hoch und ballte die fleischigen Pranken zu Fäusten, dass die Knöchel nur so knackten. »Macht mir nix aus, dass du ’ne Dame bist.«

»Keine Bange, ich bin keine Dame«, konterte Ferius, nahm den schwarzen Grenzerhut ab und legte ihn auf den Boden. Die rote Lockenpracht fiel ihr auf die Schultern. »Na, wollen wir ein Tänzchen wagen? Ich mach dir einen Vorschlag.« Sie tippte sich mit dem behandschuhten Finger aufs Kinn. »Du probierst deinen besten Schlag genau hier aus. Wenn du danach immer noch der Meinung bist, dass die Sache noch nicht erledigt ist, tja, dann bin ich an der Reihe, und dann sehen wir mal …«

Ein Raunen ging durch die Menge, noch mehr Münzen wurden gezückt, aber die Schaulustigen wetteten nicht darauf, ob Ferius verlieren würde, sondern nur darauf, wie schnell und wie übel Kneifauge sie zurichten würde.

Ich kannte Ferius Parfax noch nicht lange, aber in dieser Zeit hatte ich kein einziges Mal erlebt, dass sie vor irgendwem oder irgendwas gekniffen hätte. Es mochte daran liegen, dass sie eine Argosi war, aber ich hatte den Verdacht, dass sie schlicht und einfach verrückt war. Allerdings war Kneifauge auch ganz schön durchgeknallt, und ich traute ihm durchaus zu, dass er ihr den Kopf abriss.

Ich rollte mich auf die Seite, schob die Hände unter mich und bereitete mich darauf vor aufzuspringen.

Ferius gab mir ein unauffälliges Zeichen, dass ich mich nicht einmischen sollte. »Na, wollen wir?«, wandte sie sich wieder an Kneifauge. Sie nahm erst einen Fuß nach hinten, beugte sich dann vor und reckte dem bulligen Rüpel ihr Kinn entgegen.

Er sah sich um, als wollte er etwas Lustiges zu seinen Freunden sagen, dann wirbelte er urplötzlich herum und schlug mit einer Wucht zu, die einen drei Meter hohen Tamariskenbaum umgenietet hätte.

Ich hatte damit gerechnet, dass Ferius sich ducken oder dem Schlag sonst wie ausweichen würde – oder dass sie vorhatte, ihn zu unterlaufen und Kneifauge kräftig zwischen die Beine zu treten oder ihm an die Gurgel zu gehen, aber er war zu schnell. Der Kinnhaken saß. Ihr Kopf flog nach rechts, die Schultern und der übrige Körper folgten, bis sie sich so weit gedreht hatte, dass sie schwankend mit dem Gesicht zu mir dastand.

Sie stand einfach da und sah so verwirrt aus, ganz als wäre sie schon bewusstlos und ihr Körper hätte es nur noch nicht richtig mitgekriegt. Ich tastete nach meinen Pulverbeuteln. Wenn Kneifauge Anstalten machte, noch einmal zum Schlag auszuholen, würde ich ihn mit einer Sprengladung ins Jenseits befördern und mich hinterher mit den Konsequenzen befassen. Allerdings würde das wohl nicht nötig sein, denn ich hatte noch nie einen derartig brutalen Faustschlag erlebt wie den, den Ferius gerade weggesteckt hatte.

Auf einmal kräuselte sich ihr Mundwinkel und sie zwinkerte mir zu.

Ich wollte schon aufatmen, doch da drehte sich Ferius wieder zu ihrem Gegner um und sagte seelenruhig: »Lassen wir das mal als Übungsrunde durchgehen. Willst du’s noch mal probieren, bevor ich an der Reihe bin?«

Kneifauge sah aus, als hätte er gerade seine Zunge verschluckt. »Hä …? Wie hast du …?«

Ferius hob ihren Hut auf. »Auch gut. Nett von dir, dass du so rücksichtsvoll mit mir umgehst. Und wo du gerade in einer so großmütigen Stimmung bist – wie wär’s, wenn du uns jetzt einfach gehen lässt?«

Beklommene Stille senkte sich über die Straße. Die Menge wartete darauf, dass einer von beiden den nächsten Zug machte. Noch ein paar Wetten wurden abgeschlossen, und mehr als ein Gaffer lockerte sein Messer in der Scheide. Kneifauge hatte Freunde, die ihm jederzeit beispringen würden – wir leider nicht. Dabei sah der bullige Typ Ferius immer noch ungläubig an. Sie erwiderte den Blick, und Reichis keckerte von seinem luftigen Ausguck herab: »Wieso glotzen sich die beiden so an? Wollen sie sich gleich paaren?«

In so einer Situation will man auf gar keinen Fall wie ein Schwachsinniger losprusten, aber genau das tat ich. Daraufhin sahen alle mich an, mit Ausnahme der beiden Gegner. Ich konnte nicht in Ferius’ Augen lesen, aber offenbar brachte etwas in ihrem Blick Kneifauge dazu, seine Ansichten zum Thema Fingerabhacken noch einmal zu überdenken. »Meinetwegen«, brummte er mürrisch. »Schätze mal, ihr habt eure Lektion gelernt. Wenn ihr das Amulett zurückgebt, könnt ihr abhauen.«

»Abgemacht.« Ferius kam zu mir herüber und band unsere Reittiere los. »Kellen, sag doch bitte der Baumkatze, dass sie runterkommen und dem Mann sein Spielzeug wiedergeben soll.« Damit drehte sie sich um und führte die Pferde die Hauptstraße hinunter in Richtung Stadtrand.

Ich hatte immer noch Mühe zu begreifen, was eben geschehen war, doch da machte Reichis einen Satz und streckte alle viere von sich, sodass sich seine Flughäute spannten. Die Zuschauer schnappten erschrocken nach Luft oder tuschelten ängstlich. Manche hielten auch die Hände vor die Brust und legten die Finger zu kleinen Dächern zusammen, wahrscheinlich ein traditionelles Abwehrzeichen gegen das Böse. Bei Reichis’ Anblick wird so mancher abergläubisch.

Die Baumkatze segelte anmutig zu Boden. Nur der wütende Blick, den Reichis mir zuwarf, während seine geschickten Pfoten das Silberamulett von der kleinen Glocke hakten, passte nicht recht dazu. »Hättest du auf mich gehört und dem Kerl die Kehle zerfetzt, könnten wir jetzt in aller Ruhe seine Augen fressen!« Er warf das Amulett achtlos über die Schulter und klingelte mir mit dem Glöckchen zu. »Das behalte ich!«

Schon flitzte er hinter Ferius her. Ich hockte immer noch auf dem staubigen Boden, umringt von einem Haufen Leute, die zweifellos darüber nachdachten, ob sie mir nicht vielleicht doch die Finger abhacken sollten.

»Lass dich hier nie wieder blicken, Schwarzschatten«, sagte jemand.

Zustimmendes Raunen.

Ich nickte und rappelte mich schwerfällig hoch.

Sechzehn Jahre alt – und schon war in der Hälfte aller Orte, in denen ich gewesen war, ein Preis auf meinen Kopf ausgesetzt. Ich besaß weder Geld noch irgendwelche besonderen Fähigkeiten, und den einzigen Zauber, den ich einigermaßen beherrschte, durfte ich nicht anwenden, weil ich damit jedem Magier in den Grenzlanden meinen Aufenthaltsort verraten würde.

Ach ja, und meine Reisegefährten waren eine Argosi-Glücksspielerin, die mir nie eine vernünftige Antwort auf meine Fragen gab, und eine mörderische Baumkatze, deren Leibspeise Menschenaugen waren.

Willkommen im Leben eines vogelfreien Tricksers!

4

Wie man einen Kampf gewinnt

Den restlichen Tag ritten wir auf einer uralten Pflasterstraße dahin, die sich durch die hügelige Wüste wand. Eine steife Brise trieb den Sand links und rechts vor uns her wie Wellen auf einem endlosen Ozean.

Laut Ferius kommt der Name »Seven Sands« daher, dass die verschiedenen Mineralien den Boden unterschiedlich färben. Als wir vor vier Monaten aus meiner Heimatstadt aufgebrochen waren, war der Sand im Gebiet der Jan’Tep aufgrund der Mischung aus Eisen und Quarz überwiegend goldgelb gewesen. Weiter nördlich hatten die olivinhaltigen Körner in einem hellen Smaragdgrün geleuchtet, und jetzt kamen wir weiter nach Osten, wo große Ablagerungen von Lasurit den Sand dunkelblau färbten. Wenn die Bewohner dieser Gegend nicht ständig versucht hätten, mich umzubringen, hätte ich den Anblick bestimmt genossen.

Nachdem ich das Amulett, das Geld und den Großteil meiner Würde eingebüßt hatte, plagten mich ernste Zweifel hinsichtlich meiner Zukunft als Gesetzloser. »Ich schaff das nicht. Über kurz oder lang geh ich hier drauf.« In Gedanken hatten sich diese Worte dramatisch angehört, aber mit malträtiertem Kinn und geschwollener Zunge brachte ich nur so was wie: »Ieh arhg hah hie. Hüh … ieh … auu.« heraus.

Ferius schien mich trotzdem halbwegs zu verstehen. »Momentan ist es mit deinem Schwarzschatten in den Grenzlanden für uns am sichersten, Jungchen. Hier gibt es weniger Magier als in der Arkanokratie der Jan’Tep, weniger Meuchelmörder als im Reich der Daroman, und von den Wesiren der Berabesk will ich gar nicht erst anfangen. Die würden nämlich keine Sekunde zögern und dich bei lebendigem Leib anzünden.«

»Wogegen mir die hiesigen Barbaren bloß die Finger abhacken wollen. Toll.«

Ich rieb mir die schmerzende Wange und wünschte, ich wäre wieder zu Hause. Dort hätte meine Mutter meine Blessuren mit Heilsalben behandelt. Stattdessen saß ich hier draußen in einer Gegend fest, wo man eine rostige Knochensäge und die Ermahnung, sich nicht so anzustellen, für moderne Medizin hielt.

Andererseits hätte sich zu Hause garantiert meine kleine Schwester Shalla über mich lustig gemacht. Ich sah sie direkt vor mir, wie sie mich mit verschränkten Armen und missbilligend hochgezogenen Augenbrauen musterte. »Ein Jan’Tep-Magier aus dem Hause Ke lässt sich nicht von irgendwelchen Hinterwäldlern oder erbärmlichen Zauberjägern einschüchtern, Kellen!«

Trotzdem fehlte mir Shalla. Auch wenn wir uns über alles und jeden gestritten hatten, war sie doch ein Teil meiner Familie. Manchmal fehlten mir sogar meine Eltern, obwohl sie die magischen Bänder an meinen Unterarmen versiegelt hatten, nachdem sie festgestellt hatten, dass ich vom Schwarzschatten befallen war. Am allermeisten aber fehlte mir Nephenia. Ihr dunkles Haar und ihr scheues Lächeln – und wie sie mir jedes Mal, wenn ich glaubte, sie durchschaut zu haben, aufs Neue bewies, dass ich mich getäuscht hatte. Wir hatten uns nur ein einziges Mal geküsst, aber ich schwöre, dass ich die sanfte, zaghafte Berührung ihrer Lippen irgendwo unter den Schwellungen und Kratzern auf meinem Gesicht noch immer spüren konnte.

Ihr Ahnen, ich wollte wirklich wieder nach Hause!

Leider gab es dort noch mehr Leute, die mich lieber tot als lebendig sehen wollten, als in den ganzen weiten Grenzlanden. Wie sollte ich mich gegen die Kriegsmagier und Zauberjäger zur Wehr setzen, wenn ich mich nicht mal gegen einen schmächtigen Dreizehnjährigen behaupten konnte?

Reichis, der auf meiner Schulter hockte, fauchte vernehmlich. Obwohl er eigentlich zu groß und zu schwer dafür war, ließ er sich manchmal dort nieder. Es war kein Ausdruck von Zuneigung – der kleine Racker saß einfach gern möglichst weit oben. »Du hättest auf mich hören sollen«, sagte er leicht lallend. Manchmal vergreift er sich an der Schnapsflasche, die Ferius in ihrer Satteltasche aufbewahrt.

Ich musste den Mund erst ein paarmal auf- und zumachen, ehe ich einigermaßen verständlich, wenn auch unter Schmerzen, sprechen konnte. »Was meinst du damit?«

Reichis schnaubte mir ins Ohr, was bei ihm so etwas wie ein Seufzen war. »Als Erstes bohrst du die Zähne in die Kehle deines Gegners.« Er klappte das Maul weit auf, sodass man seine spitzen Reißzähne sah, und schob den Unterkiefer vor. »Dann schüttelst du ihn so lange, bis du ein Stück Fleisch rausgerissen hat. Ganz einfach.«

»Ach so. Nächstes Mal versuche ich, daran zu denken.«

Wenn es um Nahkampf geht, bringt es nichts, sich mit einer Baumkatze zu streiten. Jedes Mal, wenn ich es versuchte, zwickte er mich und höhnte: »Da hast du’s! Wer ist jetzt das dumme Tier?«

»Du kannst ihm natürlich auch die Augäpfel rausreißen«, setzte er hinzu. »Das funktioniert genauso gut.«

»Verstanden.«

»Ohren sind auch eine Möglichkeit. Würde man gar nicht denken, aber es tut ganz schön weh, wenn einem die Ohren abgerissen werden. Also dem Gegner.«

Ferius lachte. »Hat er’s wieder mit seinen Augäpfeln?«

Sie hat keinen Anteil an meiner Verbindung mit Reichis, wo auch immer die herkommen mag. Ferius konnte sein Keckern, Knurren und Schnauben zwar nicht in Worte übersetzen, kannte sich aber offenbar gut genug mit Baumkatzen aus, um zu wissen, dass sie sich für die Könige der Raubtierwelt hielten. »Gerade hat er es eher mit Ohren«, antwortete ich.

Ferius schüttelte den Kopf, dass die roten Locken flogen. »Immer dasselbe mit den kleinen Biestern. Augen, Ohren, Zungen … Ab und zu könnten sie sich wirklich mal was Neues einfallen lassen.«

»Isch sag immer, bleib bei dem, waschich bewährt hat.«

Ich musterte Reichis argwöhnisch. »Bist du betrunken? Du klingst so komisch.«

»Er ist nicht betrunken, Jungchen«, kicherte Ferius.

»Was hat er dann?« Ein selbstzufriedenes Grinsen huschte über das pelzige Gesicht der Baumkatze. »Was hast du angestellt, Reichis?«

Erst wollte er nicht antworten, aber ich ließ ihn nicht aus den Augen und starrte ihn ausdauernd an. Das war ihm immer unangenehm. Schließlich öffnete er das Maul und rollte die Zunge hoch, sodass ich die drei Münzen sehen konnte, die er darunter versteckte.

»Du elender … Hast du dich etwa zurückgeschlichen? Während ich verprügelt wurde, bist du wieder in den Laden und hast ein zweites Mal geklaut?«

Reichis sprang von meiner Schulter auf den Sattel vor mich, griff sich mit der Pfote ins Maul und holte die Münzen heraus. »Diese Stadtdeppen haben uns beklaut!«, nuschelte er. »Jemand musste unser sauer verdientes Geld doch wiederholen.« Dann stopfte er die Münzen in einen kleinen, unter dem Sattelknauf versteckten Beutel. Er hatte mich gebeten, ihm den Beutel zu kaufen, damit er seine privaten Schätze irgendwo unterbringen konnte, und er hatte auch klargestellt, was mit diebischen Fingern passieren würde, die sich daran zu schaffen machten. So viel zum Thema »unser« Geld.

Wir ritten weiter. Als die Sonne schon tief am Horizont stand, fragte Ferius: »Bist du jetzt so weit, dass wir über das reden können, was vorhin passiert ist?«

»Du meinst, als ich fast erwürgt wurde?«

»Ich meine, als du den Jungen mit deinem Zauber beinahe umgebracht hast.«

Für jemanden, der mir angeblich beibringen wollte, wie man am Leben blieb, sorgte sich Ferius ziemlich oft um das Wohlergehen anderer Leute. »Das Pulver hätte ihn nicht umgebracht«, verteidigte ich mich. »Es war gerade genug, um …«

»Um was? Ihn anzuzünden? Ihn für sein restliches Leben zu entstellen?«

»Es war der Schwarzschatten«, versuchte ich ihr zu erklären. »Manchmal …«

»Der Schwarzschatten zeigt dir eine hässliche Welt, Kellen«, fiel sie mir ins Wort. »Er ist keine Entschuldigung dafür, dass du genauso hässlich handelst. Das ist nicht der Weg der Argosi.«

Der Weg der Argosi – was auch immer das bedeuten mag.

Ich wollte mich schon abwenden, da beugte sie sich im Sattel zu mir herüber und packte mich am Kinn. »Deine Male wachsen jedes Mal ein bisschen, wenn du Magie einsetzt. Das ist dir klar, oder?«

Ich riss mich los. »Das bildest du dir bloß ein. Wie soll ich mich denn sonst verteidigen, wenn du mir keine Argosi-Kampftechniken beibringst?«

»Ich hab’s dir doch schon gesagt: So etwas gibt es nicht.« Sie griff in ihre schwarze Lederweste und holte einen ihrer langen, dünnen Rauchstängel hervor. »Ein Argosi kloppt sich nicht.«

Kloppen nennt Ferius es, wenn ich mal wieder in Schwierigkeiten gerate. »Ich habe doch selber gesehen, wie du den Mistkerl besiegt hast!«, widersprach ich. »Er war ein Riese!«

»Ja, ein ziemlicher Brocken«, räumte sie ein. »Aber ich hab mich nicht mit ihm gekloppt. Ich hab nur ein bisschen mit ihm getanzt.«

»Sein Schlag hätte jedem anderen den Kopf abgerissen. Dein Kinn muss aus Eisen sein!«

Sie schmunzelte, als hätte ich etwas Lustiges gesagt, dann zündete sie den Rauchstängel mit einem Streichholz an, das sie aus der Manschette ihres Leinenhemds zutage gefördert hatte. Nach einem langen, genüsslichen Zug stieß sie eine Rauchwolke aus, die uns in bläulichen Nebel hüllte. »Mein Kinn ist nicht härter als deins oder sonst irgendeins. Überleg noch mal, was du wirklich gesehen hast, und nicht, was du erwartet hast zu sehen.«

Ich habe ein gutes visuelles Gedächtnis – was daran liegt, dass man sich einen Zauber, bevor man ihn ausführt, immer erst detailliert vorstellen muss. Also rief ich mir den Zweikampf wieder in Erinnerung und sah Ferius vor mir, wie sie sich vorbeugte und dem Gegner das Kinn darbot. Einen Fuß hatte sie dabei nach hinten gestellt. Kneifauges Faust kam mit der geballten Kraft seiner Hüften und Schultern auf sie zu und dann … An diesem Punkt wurde meine Erinnerung ein bisschen undeutlich. Alles war viel zu schnell gegangen, um es richtig verfolgen zu können, trotzdem hätte ich schwören können, dass Ferius sich im selben Augenblick, in dem der Kinnhaken sie erwischte, nicht nur zur Seite gedreht hatte, sondern auch nach hinten ausgewichen war. Was bedeutete, dass sie der Richtung des Schlages gefolgt war und ihm so die Wucht genommen hatte. »Du hast ihn ausgetrickst!«, entfuhr es mir. »Es sah nur so aus, als hätte er dich erwischt, dabei hat dich sein Schlag eigentlich gar nicht getroffen, stimmt’s?«

Ferius rieb sich das Kinn. »O doch, und zwar heftig genug. Sonst hätte er gemerkt, dass ich das meiste nicht abgekriegt habe.«

»Aber sich so schnell zu bewegen, das ist …«

»Tanzen.«

Ein Magier lernt vor allem, präzise zu sein. Zauberei ist eine exakte Wissenschaft. Jede Silbe, jede kleinste Gebärde und auch das Bild, das man sich vor Augen ruft, muss stimmen. Aber nichts, was ich als Magierschüler gelernt hatte, war damit zu vergleichen, wie geschickt Ferius den Schlag abgewehrt hatte. »Der Trick ist es, den richtigen Zeitpunkt zu erwischen, oder?«

»Ja, das gehört zum Tanzen dazu«, entgegnete sie, als erklärte das alles.

Ich hatte es immer noch nicht richtig kapiert. »Du musst doch aber genau wissen, wo dich der Schlag trifft, und das ist unmöglich, es sei denn …?« Dann ging mir ein Licht auf. Sie hatte sich aufs Kinn getippt und sich so weit vorgebeugt, dass die Stelle das ideale Ziel bot. Trotzdem musste alles – die Bewegung, der Winkel – perfekt passen. »Der Schlag hätte dir das Genick brechen können.«

»Gut möglich.«

Ich spürte, wie mir vor Scham das Blut in die Wangen schoss. »Du hast dein Leben aufs Spiel gesetzt, um meines zu retten. Schon wieder.«

Ferius rückte ihren Hut zurecht und schob die losen Locken darunter. »Ganz schön edelmütig, was?« Ehe ich etwas erwidern konnte, hatte sie ihr Pferd zu einem leichten Trab angetrieben, und meines trabte hinterher. »Komm schon«, sagte sie über die Schulter. »Wir wollen noch ein bisschen Land zwischen uns und diese Stadt bringen, sonst muss ich am Ende noch zweimal an einem Tag edelmütig sein.«

5

Lagerfeuergeschichten

An diesem Abend schlugen wir unser Lager wie üblich auf: Ferius schickte mich Holz sammeln und sicherte währenddessen den Lagerplatz mit Fallen. Diese Fallen durfte ich nie sehen, was mich ganz schön nervte. Reichis dagegen ging auf die Jagd und steuerte die leicht zermatschten Überreste eines Kaninchens zum gemeinsamen Abendessen bei. Sein Fell hatte eine grünbraune Farbe angenommen, die Streifen tarnten ihn im Unterholz perfekt.

Baumkatzen können ihre Fellfarbe der Umgebung anpassen, was sie zu besonders erfolgreichen Jägern macht. Reichis’ Lieblingstaktik besteht darin, sich hinter irgendeinem Busch zu verstecken. Wenn ein Kaninchen oder ein anderes kleineres Tier nahe genug herankommt, um zu erkennen, dass er keineswegs ein rundliches Gestrüpp ist, ist es schon zu spät.

Eigentlich gehören Kaninchen nicht auf den Speiseplan der Jan’Tep, aber ich fand, dass sie gar nicht so übel schmeckten. Allerdings vergeht einem der Appetit ziemlich rasch, wenn man mit anhören muss, wie Reichis das jeweilige Tier tötet. Dabei geht es weniger um die Gier, mit der er die Zähne in sein Opfer schlägt, sondern darum, dass er auch noch mit ihm redet, wenn es schon tot ist.

»Ganz genau, du dummer Nager! Wer hat dich erwischt? Ich hab dich erwischt!« Dabei stand er mit blutverschmiertem, noch tropfendem Gesicht über dem Kadaver. »Wenn du ins Jenseits kommst, richte deinem blöden Kaninchengott aus, dass ich dir die Kehle zerfetzt hab und jetzt mächtig Appetit auf göttliches Kaninchenfleisch habe.«

Manchmal wird er richtig poetisch. Vor allem, wenn es um Gewalt geht.

Eine Stunde später, nachdem das Kaninchen gebraten war und wir es schon fast verspeist hatten, prahlte Reichis immer noch mit seiner Ruhmestat, beschrieb uns jede Einzelheit haarklein und schmückte das Ganze bei jeder Wiederholung noch großartiger aus.

»Habt ihr seine Zähne gesehen?«, fragte er zum Beispiel. »Gewaltige Dinger. Richtige Löwenzähne hatte das Vieh! Bin mir nicht sicher, ob es überhaupt ein Kaninchen war. Wahrscheinlich eher eine Kreuzung – halb Kaninchen, halb Bär.«

Am besten verhält man sich dann einfach still, lässt es sich schmecken und ihn reden. Dabei hilft es, wenn man ihn sich nicht als Baumkatze von einem guten halben Meter Länge, sondern als drei Meter großen, stinksauren Löwen vorstellt.

Meistens macht es mir nichts aus, wenn er so prahlt, denn abends gibt es in der freien Natur sowieso nicht viel zu tun, wenn die Pferde versorgt sind und das Feuer ordentlich brennt. Ich sah dann in die Flammen und versuchte, nicht zu zittern, wenn ich an diese oder jene Katastrophe dachte. Früher hatte ich viel öfter gezittert, aber wahrscheinlich hatte ich mich inzwischen daran gewöhnt, in ständiger Furcht zu leben.

Ferius saß meistens im Schneidersitz am Feuer, klimperte auf der kleinen Gitarre, die sie immer dabeihatte, und erzählte uns Geschichten. Sie hat unzählige auf Lager. Ich bin fast sicher, dass die meisten frei erfunden sind, vor allem die tollkühnen, schier unglaublichen Abenteuer, die sie angeblich mit ganz außergewöhnlichen Gefährten an irgendwelchen exotischen Orten erlebt hat, von denen ich noch nie gehört hatte. Ich hatte in Erdkunde eigentlich immer gut aufgepasst und zweifelte nicht daran, dass sie sich auch die Schauplätze einfach ausdachte.

Weil Reichis von Natur aus sehr ehrgeizig ist, versucht er immer, Ferius mit seinen eigenen Geschichten zu übertrumpfen. Er gibt sie in zwei Variationen zum Besten: Mal geht es um unglaublich große Tiere, die er erbeutet hat, mal um unglaublich wertvolle Schätze, die er gestohlen hat. Für beides gibt es kaum Beweise, trotzdem lässt er mich seine heldenhaften Baumkatzenabenteuer wortgetreu für Ferius übersetzen, wobei ich stets betonen muss, dass »dieser Vorfall, der, nebenbei gesagt, hundertprozentig wahr ist …« und so weiter und so fort. Ferius tut dann immer so, als würde sie ihm glauben, was ihr erstaunlich gut gelingt. Nachdem ich selbst ein paarmal empfindlich in den Unterarm gezwickt wurde, habe ich gelernt, es genauso zu machen.

An diesem Abend war Reichis gerade mitten in einer besonders grausigen Schilderung, wie er ein gefährliches Untier gerissen und verschlungen hatte (ich vermutete allerdings, dass es sich bloß um eine große Maus gehandelt hatte), als Ferius ihre Gitarre plötzlich wieder in der Stoffhülle verstaute und ihn unterbrach: »Ich glaube, wir haben heute Abend genug Geschichten gehört.«

»Echt jetzt?«, fragte Reichis patzig. »Wie wär’s mit der Geschichte von der Argosi, der das Gesicht zerfetzt wurde, weil sie dazwischengequatscht hat?«

Sie ging nicht auf sein empörtes Keckern ein, sondern stand auf und holte etwas aus ihrer Satteltasche. Es war ein Kartendeck, das ich sofort wiedererkannte: Die Karten bestanden aus dünnem Stahl, hatten messerscharfe Kanten und verwandelten sich in ihren Händen in tödliche Waffen. Sie teilte den Satz in zwei Hälften und gab mir eine.

»Üben wir wieder Kartenwerfen?«, fragte ich. An dem Abend, an dem wir uns zum ersten Mal begegnet waren, hatte sie mir die Grundlagen beigebracht, und inzwischen hatte ich es schon ziemlich gut drauf.

»Sozusagen.« Sie blickte zur Straße hinüber, die sich den Hügel hinunter in Richtung Stadt schlängelte. »Aber jetzt kein Wort mehr, verstanden?«

»Was hast …«

Sie schüttelte nur den Kopf. Irgendetwas war da im Gange. Ich schloss die Augen und spitzte die Ohren. Was hatte Ferius gehört? Draußen in der Natur scheint es immer still zu sein, aber wenn man genau hinhört, gibt es viele Geräusche: kleine Tiere, die durchs Gebüsch huschen, zirpende Insekten, den Wind, der im Laub und im Sand raschelt. Es dauerte eine Weile, bis ich das Getrappel von Pferdehufen heraushörte. Ich nahm an, dass es sich um einen einzelnen Reiter handelte, aber in solchen Dingen war ich nicht besonders gut. Ich suchte Ferius’ Blick. Warum war sie so beunruhigt? Selbst wenn uns jemand aus der Stadt verfolgt hatte, glaubte ich nicht, dass wir viel zu befürchten hatten.

Dann hörte ich ein dumpfes Knurren. Reichis sträubte das jetzt schwarze Nackenfell und hob witternd die Nase. »Verdammter Mist!«, fluchte er.

Ich flüsterte kaum hörbar: »Was ist denn los?«

»Es stinkt nach Magie. Nach Jan’Tep-Magie.«

Ich musste aufpassen, dass ich die Karten nicht so fest umklammerte, dass ich mir an den scharfen Kanten die Handflächen aufschlitzte. Es gab nur eine Erklärung dafür, dass jemand von meinem Volk mitten in der Nacht hier draußen unterwegs war: Ein Zauberjäger hatte mich aufgespürt.