John August

Arlo Finch

Im Königreich der Schatten

John August, geboren 1970 in Colorado, ist ein US-amerikanischer Drehbuchautor und Journalist. Zu seinen bekanntesten Drehbüchern gehören – teils in Zusammenarbeit mit Tim Burton – die Kinoadaption von »Big Fish«, die Neuverfilmung von »Charlie und die Schokoladenfabrik« sowie »Corpse Bride« und »Frankenweenie«. »Arlo Finch« ist John Augusts Kinderbuchdebüt.

Der Autor lebt mit Mann und Tochter in L. A.

johnaugust.com

Aus dem amerikanischen Englisch von Wieland Freund und Andrea Wandel

Mit Illustrationen von Helge Vogt

EIN TOTAL NORMALER ZELTAUSFLUG

Eigentlich war es nicht einmal gelogen.

Der Blaue Trupp wollte wirklich die neuen Campingkocher testen. Ende des Monats fand der alljährliche Kochwettbewerb der Pine-Mountain-Kompanie statt. Die letzten drei Male hatte der Grüne Trupp den Goldenen Göffel gewonnen – wollte der Blaue Trupp sich also eine Siegchance wahren, musste er seine Rezepte schon mit der richtigen Ausrüstung ausprobieren.

»Aber wieso muss es ausgerechnet am Fluss sein?«, wollte Indra wissen. »Können wir es nicht einfach bei einem von uns im Garten machen? Das fragen sie uns bestimmt zuallererst.«

Mit sie waren ihre Eltern gemeint. Der Blaue Trupp brauchte eine Ausrede, warum er einen zusätzlichen Zeltausflug einschob – einen Zeltausflug ausschließlich für ihren Trupp, Erwachsene oder andere Ranger waren nicht eingeladen.

»Wir können doch sagen, dass wir für Wettkampfbedingungen sorgen müssen«, sagte Wu. »Das klingt plausibel.«

Connor stimmte ihm zu. »Und das Feuerverbot nicht vergessen. Das müssen wir auch erwähnen. Das erklärt, warum es dieses Jahr anders läuft als sonst.« Nach einem bemerkenswert trockenen Sommer hatte die Forstverwaltung offenes Feuer in den Bergen Colorados untersagt, was bedeutete, dass den Trupps nur winzige Butangas-Kocher zur Verfügung standen. Mit begrenztem Brennstoff und nur zwei Kochplatten wurde das Kochen viel komplizierter.

»Das erklärt aber immer noch nicht, warum es unbedingt der Zeltplatz am Fluss sein muss«, sagte Julie Delgado. »Unsere Eltern werden Fragen stellen.« Jonas, ihr Zwillingsbruder, teilte ihre Sorge.

»Der Fluss ist der einzige Zeltplatz, den wir von der Stadt aus zu Fuß erreichen können«, sagte Wu. »So muss uns niemand fahren. Und wenn etwas schiefgeht, können wir einfach nach Hause laufen.«

Arlo Finch schüttelte den Kopf. »Wir sollten gar nicht erst davon anfangen, dass etwas schiefgehen könnte. So was macht sie nur nervös. Es muss wie ein total normaler Zeltausflug rüberkommen.«

In Wirklichkeit war der Ausflug alles andere als normal.

In Wirklichkeit war es unglaublich riskant, was der Blaue Trupp an diesem ersten Samstag im September vorhatte. Der Plan sah Betrug, Feilscherei, geheimnisvolle Artefakte und eine elftausend Kilometer lange Reise vor. Zum Schiefgehen gab es hundertfach Gelegenheit.

Doch Arlo Finch war sich sicher: Sie hatten nur diesen einen Versuch.

Vor über einem Jahrhundert hatte ein Hochwasser das ursprüngliche Pine Mountain zerstört und dabei nichts als Schutt und Geistergeschichten hinterlassen. Als der Blaue Trupp an diesem Samstagmorgen seine Zelte am Big Stevens River aufschlug, schien allerdings kaum vorstellbar, dass ein so kleiner Bach einen derart furchtbaren Schaden anrichten könnte. Der Wasserstand war niedriger als je zuvor, getrockneter Schlamm klebte überall an den freigelegten Felsen. Wasserläufer huschten über flache, modrige Pfützen.

»Es stinkt«, stellte Julie fest, die sich nie zu schade war, das Offenkundige zu sagen. Sie und Jonas bauten ihr Zelt in größtmöglicher Entfernung vom Wasser auf. In den drei Monaten, die seit dem Sommer-Camp vergangen waren, hatten Arlo, Wu und Indra darauf geachtet, die Zwillinge in sämtliche Pläne einzubeziehen, damit sie nicht zu sehr erschraken, wenn schon wieder eine übernatürliche Gefahr über sie alle hereinbrach. Aktuell rechneten sie zwar weder mit der nächsten Druse noch mit einem Troll, aber so ganz genau konnte man das ja nie wissen.

Vorsichtshalber zogen Connor und Indra Bannkreise um ihr Lager. Indra hatte ihr Abzeichen für Elementare Magie fast schon in der Tasche, allerdings fehlte es ihr noch an der nötigen Erfahrung, die Steine richtig auszuwählen und so zu stapeln, dass sie das Lager verlässlich vor heimtückischen Geistern schützten.

Wenn es doch nur Bannkreise gäbe, um Menschen fernzuhalten, dachte Arlo. Das war das größte Fragezeichen hinter ihrem Plan: Was machen wir, wenn plötzlich jemand auftaucht und Fragen stellt?

Wegen des trockenen Sommers und des Feuerverbots kamen deutlich weniger Touristen als sonst, um das Herbstlaub der Espen zu bestaunen, Sorgen um neugierige Außenstehende musste sich der Blaue Trupp wenigstens keine machen. Die weit größere Gefahr bestand in elterlichen Spontanbesuchen – etwa zum Zweck einer überraschenden Kekslieferung. Diana Velasquez, Marshall der Kompanie, könnte womöglich auch auf die Idee kommen, einfach mal nach dem Trupp zu sehen.

Connor hatte gesagt, sie sollten sich keine Sorgen machen. Falls jemand auftauchte, würden sie einfach improvisieren. Arlo blieb also nichts anderes übrig, als darauf zu vertrauen, dass seine Freunde das im Zweifel schon hinkriegen würden. Denn er selbst würde dann nicht da sein.

Er überprüfte noch ein letztes Mal seinen Rucksack, überzeugte sich, dass er wirklich zwei Wasserflaschen, vier Energieriegel, eine Schachtel wasserfester Streichhölzer und eine Rettungsdecke aus Aluminium enthielt – sowie eine mit Klebeband umwickelte Bowlingkugel. Dennoch war der Rucksack leichter als erwartet.

Seinen Ranger-Kompass und das Geistermesser hatte sich Arlo in die Taschen gesteckt. Ihm war klar, dass er sie nah am Körper tragen musste.

»Da kommt jemand!«, raunte Wu und deutete auf eine Gestalt, die von der Straße den Hügel runterlief. Alle hielten gespannt den Atem an, bis sie sich überzeugt hatten, dass es wirklich die Person war, die sie auch erwartet hatten.

Arlo sah auf seine Uhr. Neun Uhr neunzehn. Seine Schwester war früh dran. Sie war sonst nie früh dran.

Jaycee in Outdoor-Kleidung war ein komischer Anblick. Normalerweise trug sie Springerstiefel und einen schwarzen Pullover vom Highschool-Orchester, heute aber hatte sie die nötigen Wanderklamotten an, inklusive einer Fleecejacke.

»Was stehen wir hier noch rum?«, fragte Jaycee. »Lasst uns loslegen.«

Arlo hätte es nett gefunden, wenn sie sich dem Rest des Trupps wenigstens vorgestellt hätte, vermutete aber, dass seine Schwester genauso nervös war wie er.

»Schreib noch eine letzte Nachricht an Mom«, sagte Arlo. »Aber stell keine Frage. Du willst nicht, dass sie antwortet.«

»Wie wäre es mit einem Katzen-Meme?«, schlug Wu vor. »Alle mögen Katzen-Memes.«

Jaycee hatte die Augen zu Schlitzen verengt und starrte Wu an. Arlo hatte diesen vernichtenden Blick seiner Schwester schon Tausende Male gespürt und wusste ihn zu ignorieren, konnte aber sehen, wie er Wu verunsicherte. Ihm wurde klar, dass er sich auf Spannungen zwischen Wu und seiner Schwester einstellen musste. Vor ihnen lag eine lange Reise.

»Ich schreibe ihr, dass ich mein Ladekabel nicht finden kann«, sagte Jaycee. »Wenn ich nicht antworte, wird sie denken, mein Akku ist leer.«

Arlo musste zugeben, dass dies ein ganz schön cleverer Plan war. Seine Schwester hatte offenbar Übung in so was. Es war erstaunlich, mit welcher Leichtigkeit Jaycee ihrer Mutter weisgemacht hatte, dass sie wegen eines Klassenprojekts bei einer Freundin schlafen würde.

Wie viele solcher Märchen hat Jaycee über die Jahre wohl schon erzählt?, fragte er sich. Plötzlich hatte er ein schlechtes Gewissen, dass er seiner Mom nicht die Wahrheit über dieses Wochenende gesagt hatte. Technisch gesehen, war es keine Lüge gewesen, beruhigte er sich. Der Blaue Trupp würde ja wirklich am Fluss zelten und die neuen Kocher ausprobieren. Nur würde Arlo Finch eben nicht dabei sein, genauso wenig wie Henry Wu. Wenn alles nach Plan lief, würden sie zusammen mit seiner Schwester stattdessen die halbe Welt umrunden.

Sobald Jaycees Nachricht verschickt und angekommen war, schaltete sie das Handy aus. Arlo, Wu und Jaycee schulterten ihre Rucksäcke und verabschiedeten sich vom Trupp.

»Vergesst nicht, euch zu melden, wenn ihr wieder da seid«, sagte Indra.

»Und vergesst nicht, am Leben zu bleiben«, fügte Julie hinzu.

Arlo sah Wu an. »Du weißt, dass du nicht mitkommen musst.« Obwohl Wu bei der Planung eine entscheidende Rolle gespielt hatte, ging es bei der Mission nicht um ihn. Arlo hätte es ihm nicht übel genommen, wäre er lieber in Pine Mountain geblieben.

»Glaubst du ernsthaft, ich würde mir das entgehen lassen?« Wu wies mit seinem Wanderstock in den Wald. »Los geht’s.«

DIE STADT DER VERLORENEN DINGE

Die Long Woods führen überallhin. Das war eine der ersten Lektionen, die Arlo vor fast einem Jahr bei seiner Ankunft in Pine Mountain gelernt hatte.

Indra und Wu hatten ihm erklärt, dass die Long Woods nicht zur normalen Welt gehörten, sondern vielmehr an abertausend verschiedenen Orten rund um den Globus mit ihr verbunden waren. Arlo hatte erfahren, wie Connor und seine Cousine als Kinder in die Woods gelockt worden waren. Die Cousine – Rielle – war schließlich bei den geheimnisvollen Magus geblieben, während Connor Hunderte von Meilen entfernt in Kanada wieder aufgetaucht war. Die seltsame Geografie der Long Woods war der Grund, warum Entfernungen dort anders funktionierten. Man konnte nur ein paar Stunden wandern und dennoch am anderen Ende der Welt landen.

Das war es, worauf Arlo hoffte. Aber zuerst musste er herausfinden, wo genau es langging.

Als Arlo, Wu und Jaycee den Trupp am Flussufer zurückließen, stand ihm klar vor Augen, wohin sie sich zunächst wenden mussten: zur zerbrochenen Brücke. Von allen Orten, die er in den Woods besucht hatte, war dieser ihm der vertrauteste. Er hatte in diesem Sommer (und in einem anderen Sommer vor dreißig Jahren) viele Stunden dort verbracht.

Sie hatten sich den Zeltplatz in Old Pine Mountain unter anderem deshalb ausgesucht, weil er nur zehn Minuten entfernt von einem zuverlässigen Eingang in die Long Woods lag. Um dorthin zu gelangen, mussten sie zunächst einmal den Fluss überqueren – und ihn dann ein zweites Mal überqueren.

»Warum bleiben wir nicht einfach auf der einen Seite?«, fragte Jaycee. Sie schien genervt, weil ihre Wanderschuhe schon durchnässt waren.

»So funktioniert das nicht«, sagte Wu.

»Aber wir sind wieder da, wo wir losgelaufen sind!«

»Wir sind auf dem richtigen Weg«, sagte Arlo. »Du musst mir einfach vertrauen.«

Obwohl die Long Woods überall waren, war es nicht leicht, sich in ihnen von A nach B zu bewegen. Orte in den Woods ließen sich nicht kartieren und ebenso wenig die Durchgänge, die hinein- und herausführten. Man musste sich von seinem Gefühl leiten lassen.

Ursprünglich hatte Arlo sich bei der Suche nach einem Weg auf die zarten Vibrationen seines Ranger-Kompasses verlassen, aber mit wachsender Erfahrung vertraute er auf seinen Instinkt. Arlo konnte sich, ganz egal, wo in den Long Woods er sich gerade befand, einen vertrauten Ort wie ihr Haus oder die Goldene Pfanne vorstellen und spüren, wo er war. Danach war es ein Leichtes, in diese Richtung zu gehen.

Nun ja, leicht für ihn. Tatsächlich war Arlos Gabe, Wege in den Long Woods zu finden und ihnen zu folgen, erstaunlich. Wie Rielle war er ein Tooble mit verschiedenfarbigen Augen und einem Geist, der in ihm gefangen war. Diese Doppelnatur machte es ihm möglich, sich wie kein anderer Ranger, den er kannte, in den Long Woods zurechtzufinden – abgesehen vom schurkischen Hadryn. Und Hadryn war nun ein Gefangener der Magus.

Vor ihnen ruhte ein gewaltiger Findling in der Sonne. Er sah aus wie ein steinerner, von Flechten überwucherter Wal. Arlo griff in einen Spalt auf Höhe seines Gesichts und zog sich, mit den Füßen nach Tritten suchend, an ihm hoch.

»Können wir nicht einfach drum herumgehen?«, fragte Jaycee.

»So funktioniert das n…« Wu brach im Satz ab, Jaycees Blick hatte ihn zum Schweigen gebracht.

Arlo verstand, warum Jaycee verwirrt und genervt war. Sie kam aus einer normalen Welt voller Orchesterauftritte und Standardtests. In den Long Woods machte nichts Sinn, bis man es mit eigenen Augen sah.

»Wir gehen hier hoch«, sagte er bloß.

Jaycee klemmte ihren Fuß in die Spalte und stemmte sich hoch. Arlo griff nach ihrer Hand und half ihr das letzte Stück. Als sie oben auf dem Findling standen, ließ seine Schwester ein leises Wow hören.

Wow traf es gut. Sie standen keineswegs auf einem Findling, sondern auf einem der herabgestürzten Steine unterhalb der zerbrochenen Brücke, eines riesigen Bauwerks, das sich zur Hälfte über einen steil abfallenden Abgrund erstreckte, den Arlo für bodenlos hielt.

Hinter ihnen kam Wu geklettert. Er war schon zuvor hier gewesen, doch der Anblick beeindruckte einen immer wieder neu.

»Du musst leise sprechen«, flüsterte Arlo Jaycee zu. »Unter der Brücke lebt ein Troll.«

»Und der ist nicht das einzige gefräßige Wesen hier«, sagte eine Stimme am Fuß des Steins. Sie sahen hinab und entdeckten einen kleinen Mann mit einem Zwirbelbart, der in einem Flecken Sonnenlicht saß und gerade den letzten Bissen Fleisch vom Kadaver eines frisch getöteten Vogels nagte.

Es war Fox.

»Dachte mir, ich sollte noch schnell was essen«, sagte er und leckte sich die Finger, »für den Fall, dass es das letzte Mal ist.«

Fox ging so schnell, dass sie Mühe hatten, ihm zu folgen – ihm und seinen komplizierten Sätzen, die immer irgendwo kehrtzumachen schienen.

»Nicht ein Geist in diesen Woods würde euch dorthin mitnehmen, wohin ich euch mitnehme, es sei denn, er würde auch mitgenommen«, sagte er. »Hier wimmelt es nur so von Fallenstellern, Händlern und Schlimmerem, was der Grund dafür ist, dass ich euch nur ein kleines bisschen zu weit mitnehme – aber nah genug, dass es für mich viel zu nah ist.«

Vor sechs Wochen, nachdem Jaycee von einem Besuch bei ihrem Vater zurückgekehrt war, hatte Arlo Fox gebeten, ihm zu helfen, einen Weg durch die Long Woods zu finden. Das Ziel: ein Wald mitten in Guangzhou, China.

Das war die Stadt, in der Arlos Vater die letzten Jahre gelebt hatte, nachdem ihn die Bundesbehörden wegen diverser Computerverbrechen angeklagt hatten und er aus den Vereinigten Staaten geflohen war. Jetzt war ihr Vater ein Flüchtling. Sollte er versuchen, per Flugzeug oder Schiff wieder ins Land zu kommen, würde er sofort verhaftet werden.

Aber Arlo vermutete, dass er seinen Vater durch die Long Woods schmuggeln konnte – immerhin waren die Long Woods überall. Das Problem bestand darin, dass Arlo noch nie in diesem Wald in Guangzhou gewesen war und deshalb keine Verbindung zu ihm hatte. Keine Verbindung, kein Gefühl. Kein Gefühl, kein Weg.

Fox hatte gesagt, dass auch er sie nicht nach Guangzhou bringen konnte – sein Wissen über die normale Welt war gering. »Aber ich kenne einen Ort, der alle Orte kennt. Ich höre, sie haben dort einen Atlas, der euch alle Wege weist, raus aus den Woods und rein.«

Das schien unmöglich. Arlo war sich sicher, dass die Long Woods nicht kartiert werden konnten. Fox wusste auch nicht, wie der Atlas funktionierte, war aber überzeugt, dass es ihn gab. »Irgendwie zeigt er den Fallenstellern und Händlern den richtigen Weg.«

Wenn es also einen Weg durch die Long Woods nach Guangzhou gab, dann war dieser Atlas ihre größte Hoffnung.

»Wie weit ist es noch?«, fragte Wu, der ein bisschen aus der Puste war.

Fox blieb abrupt stehen, seine Nase zuckte. Dann warf er sich plötzlich flach auf den Boden und bedeutete ihnen, es ihm gleichzutun. Selbst in seiner menschlichen Gestalt bewegte Fox sich wie das Raubtier, das er in Wirklichkeit war.

Arlos Blick folgte Fox’ Zeigefinger zu den beiden Silhouetten in der Ferne, die sich parallel zu ihnen bewegten. Er sah zu Wu hinüber, der schon sein Fernglas hervorgeholt hatte.

»Es sind zwei Typen«, flüsterte Wu. »Jäger vielleicht?« Er gab Arlo das Fernglas.

Auf jeden Fall sahen sie menschlich aus – zwei stämmige Männer in Tarnfarben, jeder mit einem großen Rucksack. Sie unterhielten sich, waren aber zu weit entfernt, als dass Arlo sie hätte verstehen oder auch nur die Sprache hätte erkennen können, die sie benutzten.

»Sind das Fallensteller?«, raunte er Fox zu. Fallensteller fingen Waldgeister und verkauften sie für Gold und andere Schätze an die Magus.

»Wenn es Fallensteller wären, hätten sie Käfige bei sich«, flüsterte Fox. »Eher sind es Händler, die etwas schmuggeln – Drogen, Geld, Gold. Gefährliche Arbeit für gefährliche Männer. Der, den du Hadryn nennst, hat so was auch gemacht, da bin ich mir sicher. Wer das Risiko nicht scheut, kann damit ein Vermögen verdienen.«

Die zwei Männer waren mittlerweile fast außer Sichtweite. Arlo und seine Freunde waren unbemerkt geblieben. Sie krochen aus der Deckung und setzten ihren Weg fort.

»Sind wir eigentlich auch Schmuggler?«, fragte Wu. »Immerhin versuchen wir, euren Dad zurück ins Land zu schmuggeln.«

»Wir haben einen guten Grund«, sagte Arlo. »Das ist der Unterschied.«

Fox lächelte und schüttelte den Kopf. »Menschen! Immer sehen sie gute Gründe!«

Nach einer weiteren Wegstunde roch Arlo Rauch. Es war kein Lagerfeuer. Was der Wind herantrug, roch nach Öl und Schwefel, so wie der Dieselgenerator hinter Mitchs Garage.

»Wir sind dicht dran, oder?«, fragte Arlo Fox.

»Ich glaube«, sagte Fox. »An diesem Ort stellen sich mir die Haare auf. Als ich das letzte Mal hier war, war ich noch ein Welpe.«

»Du wurdest gefangen?«

Fox nickte. »Sie haben Eichhörnchen als Köder genommen. Die waren schon immer meine Schwäche.«

»Wie bist du entkommen?«, fragte Wu.

»Scharfe Zähne und fette Finger. Ich biss zu. Sie haben den Käfig fallen lassen. Er ging auf und ich bin gerannt. Hab mir geschworen, nie wieder herzukommen.«

Sie erreichten eine Anhöhe, fanden sich auf einem Felsvorsprung wieder und sahen die Quelle des Rauchs.

Im Tal zu ihren Füßen lag eine heruntergekommene Stadt, aus Hunderten Schloten stiegen Rauchsäulen auf. Diese Stadt war anders als alles, was Arlo bisher gesehen hatte, eine willkürliche Ansammlung von Häusern aus jeder erdenklichen Kultur und Epoche. Bröckelnde Pagoden lehnten sich gegen plumpe Backsteinhütten mit Dächern aus Wellblech. An einem gewaltigen schwarzen Obelisken vertäute Hanfseile stützten ein verschlissenes rot-weißes Zirkuszelt. Nicht weit vom Stadtzentrum stand ein komplettes Passagierflugzeug, dessen riesige Tragflächen zum Dach kleiner Gebäude umfunktioniert waren.

»Wo kommt das alles her?«, fragte Wu.

»Von überall«, sagte Fox. »Manchmal fallen Dinge durch die Risse in eurer Welt. Schlüssel und Socken, aber auch größere Sachen. Schiffe. Flugzeuge. Menschen. Bisweilen sind ganze Städte durchgerutscht. Und wenn das passiert, landen sie hier.«

Jaycee bückte sich und hob eine schwarze Fernbedienung auf. Sie war dreckig und feucht, wirkte aber einigermaßen modern. Die Dioden leuchteten noch, als sie die Tasten drückte. Arlo konnte sich vorstellen, wie der Eigentümer genervt zwischen den Sofakissen suchte, fest davon überzeugt, dass sie irgendwo sein musste.

Aber das war sie nicht. Sie war in den Long Woods.

»Das ist Fallbach«, sagte Fox. »Die Stadt der verlorenen Dinge.«

DIE EULE UND DIE SCHLANGE

Wo findet man einen Atlas? Es war wie eines dieser sich um sich selbst drehenden Rätsel von Dad, so als würde man Wörterbuch in einem Wörterbuch nachschlagen.

Fox’ Quellen zufolge war der Atlas irgendwo in Fallbach. Darüber hinaus wusste Fox nur zu berichten, dass der Atlas angeblich von einer Eule und einer Schlange bewacht wurde. Aber handelte es sich dabei um Eule und Schlange im eigentlichen Sinn oder war damit eine Art Geist gemeint? Fox war sich nicht sicher.

»Vielleicht ist es eine Chimäre«, sagte Wu. »Ein Wesen, das halb Eule und halb Schlange ist.« Das brachte ihn auf eine Idee. »Die fressen beide Ratten, vielleicht können wir ihr also eine zu fressen geben und so an ihr vorbeikommen. Eine Ratte treiben wir schon irgendwo auf, wetten?«

Jaycee fehlte die Geduld für Wus Ideen. »Was redest du da? Wir fragen einfach. Irgendjemand wird schon wissen, wo er ist.«

»Und was, wenn sie es uns nicht verraten wollen?«, fragte Arlo.

Jaycee zuckte mit den Schultern. »Darum kümmern wir uns dann. Wir können nicht einfach rumstehen und uns über Sachen den Kopf zerbrechen, die noch gar nicht passiert sind.« Mit diesen Worten marschierte sie den Hügel hinab in Richtung Fallbach.

Bei der Planung dieser Expedition hatte sich Arlo gefragt, wie Jaycee wohl mit den Herausforderungen der Long Woods umgehen würde. Würden die Woods sie überwältigen? Würde sie durchhalten? Dabei hatte er nicht bedacht, wie gut seine Schwester auf solche Situationen vorbereitet war. Wie er war sie immer die Neue in der Schule gewesen, hatte sich immer schnell auf neue Regeln eingestellt. Sie war vielleicht noch nie in diesem verzauberten Wald gewesen, aber sie hatte sich in Philadelphia und Chicago zurechtgefunden. Sie war alleine nach China geflogen. Sie hatte mehr von der richtigen Welt gesehen als Arlo.

»Sie hat recht«, sagte Arlo zu Wu. »Das sehen wir dann.«

Arlo und Wu bedankten sich bei Fox und folgten dann Jaycee den Weg hinab in die Stadt. Als Arlo sich umdrehte, war Fox schon verschwunden.

Fallbachs Hauptstraße war nicht mehr als ein schmaler Streifen Matsch. Wackelige Häuser mit zwei oder drei Stockwerken beugten sich über die Straße, da und dort von Bohlenbrücken miteinander verbunden. Elektrische Kabel führten zu quietschenden Windrädern und zu mit Klebeband zusammengehaltenen Sonnenkollektoren auf den Dächern. Beidseits der Straße standen Karren und Tische, auf denen sich Essen, Waffen und Fundgut türmten. Arlo sah mechanische Schreibmaschinen, Eisenkreuze, Spanferkel, Zaubertrankgläser, mittelalterliche Lauten, ein Rechenbrett, Puppen, Handkreisel und ein Videospiel von Atari: E.T. – Das Spiel.

Die Anbieter und Käufer sahen allesamt menschlich aus, sämtliche Ethnien waren vertreten. Viele hatten Tiere bei sich: Hunde, Hühner, zweiköpfige Eidechsen an Leinen. Der größte Teil der Feilscherei fand auf Englisch statt, aber die Akzente ließen darauf schließen, dass nicht alle Muttersprachler waren.

»Wohnen diese Menschen hier?«, fragte Wu.

»Einige schon, denke ich«, sagte Arlo. Mithilfe der wenigen auffindbaren Schriftstücke über die Long Woods hatte er zwischen den Longborns – Leuten, die in den Long Woods geboren waren – und jenen unterscheiden gelernt, die erst später im Leben hergekommen waren, den Streichern. Fallbach war offensichtlich die einzige dauerhafte Niederlassung in den Long Woods, sodass es zu einem Zentrum für den Handel geworden war – dem legalen und dem anderen.

Allmählich wurde das Gedränge so groß, dass Arlo kaum noch seine Wanderschuhe sehen konnte.

»Hütet euch vor Taschendieben«, warnte Jaycee.

Arlo spürte, dass etwas an seinem Rucksack zerrte. Er wirbelte herum und sah eine weißhaarige Frau mit braunen Zähnen, die in neun Richtungen zeigten. Sie stürzte sich auf ihn und schnupperte an seiner Jacke.

»Du bist in der Nähe eines Geists gewesen!«, zischte sie. »Einem mit Pelz. Ich kann ihn an dir riechen.« Ihre Augen hatten unterschiedliche Farben, Grün und Braun, so wie seine. Sie ist auch ein Tooble, wurde Arlo klar.

Jaycee drängte sich zwischen sie. »Hau ab! Weg!«

Das alte Weib wich nicht zurück. »An dir ist er auch. Immer noch warm! Muss ganz nah sein. Wo ist er?«

Arlo sah schnell die Straße entlang zur Anhöhe hinauf, wo sie Fox zurückgelassen hatten. Die alte Frau folgte seinem Blick. Sie lächelte und pfiff dann durch die Zähne. Plötzlich waren zwei jüngere Frauen in schmuddeligen Kapuzenpullis bei ihr. Ihre Töchter?, fragte sich Arlo.

»Holt eure Käfige, Mädchen. Es gibt Beute.« Damit bahnten sich die drei Frauen ihren Weg durch die Menge aus der Stadt.

»Sollen wir Fox warnen?«, fragte Wu.

»Er hat gesagt, dass er nicht bleiben würde«, antwortete Arlo. »Er kommt klar.« Arlo sagte das mit einer Zuversicht, die er eigentlich nicht hatte. »Kommt schon. Wir müssen die Eule und die Schlange finden.«

»Ich kann euch hinbringen«, erklang es hinter ihnen mit schwacher Stimme. »Die Eule und die Schlange. Ich bringe euch hin.«

Die Stimme gehörte zu einem jungen Mädchen, das so winzig war, dass Arlo es zuerst gar nicht bemerkt hatte. Sie konnte nicht älter als fünf sein. Sie trug einen Schlafanzug mit Zeichentrickautos, rosafarbene Regenstiefel und eine Strickmütze der Cleveland Browns, die den größten Teil ihres glatten schwarzen Haares bedeckte.

»Du weißt, wo sie sind?«, fragte Arlo. »Die Eule und die Schlange?«

Bevor das Mädchen antworten konnte, fragte Wu: »Ist es eine Chimäre? Halb Eule und halb Schlange?«

Das Mädchen wirkte auf einmal verwirrt.

»Hör zu«, sagte Jaycee. »Du kriegst von uns einen Schokoriegel, wenn du uns zu ihnen bringst.« Die Augen des Mädchens leuchteten.

»Es ist mehr ein Protein- als ein Schokoriegel«, sagte Wu.

Jaycee warf ihm einen wütenden Blick zu und er fuhr eilig fort: »Aber sie sind gut. Sie schmecken echt wie Schokoriegel.«

Arlo richtete seine Aufmerksamkeit ganz auf das Mädchen. »Kannst du uns zu der Eule und der Schlange bringen?«

Das Mädchen griff nach Arlos Hand und zog ihn voran. Sie war flink und schlängelte sich mühelos durch die Menge. Arlo sah sich mehrere Male um, um sicherzugehen, dass Jaycee und Wu auch Schritt hielten.

Sie verließen die Hauptstraße und tauchten in eine schmale Gasse ein. Es roch nach Kochfett und der Rauch brannte in seinen Augen. Plötzlich hielt das Mädchen vor einer schief in den Angeln hängenden Tür. Sie waren keine fünfzig Meter weit gegangen.

»Hier«, sagte sie und deutete auf die Tür.

»Hier wohnen die Eule und die Schlange?«, fragte Arlo. »Dadrin finden wir sie?«

Das konnte nicht stimmen. Selbst für Fallbach-Verhältnisse sah das Gebäude heruntergekommen aus. Ein stark tätowierter Mann mit Erbrochenem im Bart lehnte bewusstlos an der Wand, neben ihm lagen menschliche Zähne im Dreck. Hinter der Tür hörte Arlo Musik und Männer randalieren und streiten.

Er hatte erwartet, die Eule und die Schlange in einer Art Kultstätte oder Tempel oder einer geheimnisvollen Bibliothek zu finden, aber doch nicht in einer Hinterwäldlerkneipe. Als Wu und Jaycee aufgeschlossen hatten, teilte Arlo ihnen die schlechte Nachricht mit: »Ich fürchte, sie weiß nicht, was sie tut.«

»Das weiß sie sehr gut«, sagte Jaycee. Sie deutete auf ein handgemaltes Schild über der Tür:

DIE EULE UND DIE SCHLANGE

Keine Tiere oder Geister, dachte Arlo. Es ist der Name eines Orts.

Jaycee händigte den Energieriegel aus. Arlo erwartete, dass das Mädchen gleich die Verpackung aufreißen und ihn runterschlingen würde, doch stattdessen steckte sie ihn unter ihre Mütze. Dann schob sie die Tür auf und trat ein.

Arlo, Jaycee und Wu beugten sich ein Stück vor, um einen kurzen Blick zu erhaschen, bevor die Tür wieder zufiel. Es war definitiv eine Kneipe, komplett mit Zapfhähnen, Neonreklame und Sägemehl auf dem Boden. Eine Jukebox spielte die Art Country Rock, die Mitch, der Mechaniker, mochte.

»Warum sollte der Atlas in einer Kneipe sein?«, fragte Wu.

»Lasst es uns rausfinden«, sagte Jaycee und schob sich an ihnen vorbei. Arlo und Wu tauschten einen Blick und folgten ihr.

Obwohl es noch nicht einmal Mittagszeit war, hatten die Gäste der Eule und der Schlange offenbar schon seit Stunden getrunken und gespielt. Statt Geld oder Pokerchips schien ihr Einsatz etwas Wertvolleres zu sein: Geister. Arlo erkannte die laternengroßen Geräte wieder, die er die Magus hatte verwenden sehen, als sie über Sommerland hereingebrochen waren.

»Das sind Fallensteller«, flüsterte er Wu zu. »Diese Dinger da sind Käfige.«

Ein Mann zeigte seine Karten, offensichtlich hatte er mit seinem Blatt gewonnen. Als er seinen Gewinn einsammelte, stieß sein Gegenüber plötzlich den Tisch um. Arlo, Wu und Jaycee drückten sich gegen die Wand. Es kam zu einem handfesten Kampf, in den nicht nur die beiden Männer verwickelt waren, sondern die Hälfte der Kundschaft.

»Ihr da!«, brüllte eine weibliche Stimme durch den Laden. Arlo sah hinüber und bemerkte eine asiatische Frau in den Vierzigern, die eine Lederhose und eine militärgrüne Leinenjacke trug. Sie stand bei dem kleinen Mädchen und hielt den Energieriegel in der Hand. »Warum gebt ihr meinem Kind Süßigkeiten?«

Ohne die Kämpfenden groß zu beachten, kam sie auf sie zu. Als ein stämmiger Mann ihr vor die Füße stolperte, wirbelte sie ihn geschickt herum und schickte ihn zurück ins Handgemenge. Dann wandte sie sich wieder dem Trio zu.

»Eigentlich ist das ein Energieriegel«, sagte Wu.

Die Frau hatte sich unmittelbar vor ihnen aufgebaut. In ihren hochhackigen Stiefeln war sie kaum größer als Arlo, dafür unglaublich einschüchternd. »Meine Tochter hat eine Sojaallergie.«

»Habe ich auch«, sagte Arlo. »Da ist kein Soja drin. Sie können die Inhaltsstoffe überprüfen.«

Die Frau sah Arlo eindringlich an. So wie seine waren auch ihre Augen verschiedenfarbig: Das eine war blau, das andere braun. Dann prüfte sie den Energieriegel und fand die Liste mit den Inhaltsstoffen. Einer der betrunkenen Kämpfer knallte gegen die Jukebox. Sie zersplitterte und sprühte Funken. Die Musik hörte zu spielen auf. Jetzt schien der Frau der Geduldsfaden zu reißen.

»Genug!«, schrie sie. Dann wirbelte sie mit einem ausgestreckten Finger über ihrem Kopf herum. Mit einem Mal kam ein gewaltiger Wind in der Kneipe auf und hob alle Unruhestifter vom Boden. Die Tür öffnete sich und ein Raufbold nach dem anderen flog auf die Straße hinaus. Als der letzte aus der Tür war, ließ die Frau ihre Hand sinken. Der Wind flaute ab. In der Kneipe herrschte plötzlich eine gespenstische Stille.

Die Frau warf dem kleinen Mädchen, das auf der anderen Seite des Raumes gewartet hatte, den Energieriegel zu. Sie sagte etwas auf Chinesisch zu ihr. Arlo riet, es könnte eine Hälfte jetzt, eine nach dem Abendessen heißen.

Die Frau begutachtete den in der Kneipe angerichteten Schaden. Neben der zerstörten Jukebox waren Tische und Stühle umgestürzt, überall lagen zertrümmerte Bierkrüge.

»Sollen wir Ihnen beim Aufräumen helfen?«, fragte Arlo, der hoffte, sich so vielleicht beliebt machen zu können.

»Nein«, sagte sie abweisend. »Das passiert ständig.« Die Frau klopfte dreimal auf den Tresen. Arlo sah, wie die Tische und Stühle in Bewegung gerieten und sich selbst wieder aufzustellen begannen wie Tiere, die sich nach einem Sturz wieder erhoben. Unsichtbare Hände kehrten die Scherben der zerbrochenen Bierkrüge zusammen und die setzten sich mitten in der Luft einfach wieder zusammen. Dann schwebten die wiederhergestellten Krüge in ein Regal hinter dem Tresen und stellten sich ordentlich in einer Reihe auf. In weniger als dreißig Sekunden sah die Kneipe im Großen und Ganzen wieder aus wie zuvor.

Selbst Jaycee war beeindruckt von dieser Vorstellung praktischer Magie. »Kannst du das?«, fragte sie Arlo.

Arlo konnte es nicht, war sich aber ziemlich sicher, dass er wusste, was dahintersteckte. »Ist an alles ein Geist gebunden?«

»Nicht an alles«, antwortete die Frau und deutete auf die Jukebox. »Das wird ein ganz schöner Aufwand, das zu reparieren. Vielleicht muss ich sie ersetzen.« Dann sah sie Arlo neugierig an. »Ich bin Zhang. Wie heißt du?«

Vom ersten Planungsstadium an war im Trupp darüber diskutiert worden, ob Arlo seinen richtigen Namen verwenden sollte. Gut möglich, dass Hadryn und andere ihn erwähnt hatten. Du weißt nicht, wem du trauen kannst, hatte Indra gewarnt.

»Daniel«, sagte Arlo also. (Tatsächlich war Daniel sein zweiter Vorname.)

»Was bist du für einer, Daniel?«, fragte Zhang. »Du bist ein Tooble, aber eindeutig kein Longborn.«

»Woher wissen Sie das?«

»Weil dich Dinge verwundern, die du sonst schon dein ganzes Leben kennen würdest. Ihr seid ganz offensichtlich Touristen.«

Jaycee verlor die Geduld. »Wir suchen einen Atlas.«

Zhang gab vor, überrascht zu sein. »Und warum glaubt ihr, dass hier ein Atlas ist?«

»Ein Freund hat gesagt, dass Sie einen haben«, sagte Wu.

»Hat euer Freund auch gesagt, wie teuer es ist, den Atlas zu benutzen? Die Gebühr für Neulinge beträgt fünfzigtausend Dollar in bar.«

»Wir haben kein Geld«, sagte Arlo.

»Dann haben wir nichts weiter zu besprechen.« Zhang hakte einen Lappen von ihrem Gürtel und begann, die Tische zu wischen.

»Wir haben etwas, das besser ist als Geld«, sagte Wu.

»Sag nicht Bitcoin.«

Arlo nahm seinen Rucksack ab. »Es ist eine Hochschuppe. Eine große.«

Das weckte ihre Aufmerksamkeit. »Echt? Lass mal sehen.«

Arlo öffnete den Reißverschluss des Rucksacks und holte umständlich die mit Klebeband umwickelte Bowlingkugel hervor. Obwohl massiv, war sie bemerkenswert leicht, so als würde es sich lediglich um eine Plastikschale handeln. Arlo konnte sie locker mit einer Hand halten, während er das Klebeband abzog und den Rand einer glitzernden goldroten Coatl-Schuppe offenbarte. Sie riss am Klebeband und strebte unerbittlich nach oben.

Er zog noch ein bisschen mehr ab. Plötzlich stürzte die Kugel jäh zu Boden und verfehlte nur knapp Arlos Füße. Da Arlo immer noch das eine Ende des Klebebandes in der Hand hielt, wurde ihm fast der Arm ausgerissen, als die Schuppe nach oben schoss. Hochschuppen waren wie Heliumballons, nur viel stärker. Ihretwegen konnten Coatls fliegen.

»Wo habt ihr sie gefunden?«, fragte Zhang.

Fox hatte Arlo und dem Blauen Trupp die Richtung gewiesen, aber der Beschaffung der Coatl-Schuppe war eine anstrengende Wanderung durch die Long Woods vorausgegangen, bis zu einer Höhle auf halber Höhe eines zerklüfteten Berggipfels. Drinnen hatte es Stunden gebraucht, die Schuppe vom Dach der Höhle zu bergen, wobei Arlo auf eine menschliche Pyramide geklettert war. Nur ein paar Sekunden, bevor die riesige fliegende Schlange zurückgekehrt war, hatten sie das Coatl-Nest verlassen.

Arlo wollte nicht, dass Zhang davon erfuhr. »In einer Höhle«, sagte er bloß.

»Also, können wir den Atlas sehen?«, fragte Jaycee.

Zhang griff nach der Schuppe und bewunderte ihr perlmuttartiges Schillern. Anhand ihrer Reaktion war klar, dass die Hochschuppe mehr als die fünfzigtausend Dollar wert war, die sie gefordert hatte.

»Wir sind im Geschäft.«