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BERND IMGRUND

EINE KLEINE

GESCHICHTE DER KNEIPE

BERND IMGRUND

EINE KLEINE

GESCHICHTE DER KNEIPE

VOM FASZINIERENDEN TREIBEN RUND UM DEN TRESEN

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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://d-nb.de abrufbar.

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1. Auflage 2020

© 2020 by riva Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH

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Redaktion: Sebastian Brück, Düsseldorf

Umschlaggestaltung: Karina Braun, München

Umschlagabbildung: shutterstock.com/kArkade, shutterstock.com/ Melok (auch Bildteil)

Satz: abavo GmbH, Buchloe

Druck: CPI books GmbH, Leck

eBook: ePubMATIC.com

ISBN Print 978-3-7423-1434-5

ISBN E-Book (PDF) 978-3-7453-1092-4

ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-7453-1093-1

Weitere Informationen zum Verlag finden Sie unter

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INHALT

Vorwort

Was ist das eigentlich, eine Kneipe?

1. Teil: Kneipen von der Antike bis heute – eine Zeitreise

Symposion und Sumbel – die Antike

»Wol in! Wol in! Eyn guet Bier!« – das Mittelalter

Schnapsleichen und Arbeitskampf – die Neuzeit

Vom Wirtschaftswunder zum Wirtschaftssterben – Gegenwart und Zukunft

2. Teil: Zwischen Tisch und Tresen – die Kneipe als sozialer Ort

Frauen und Kneipen – eine eigene Geschichte

Zu mir oder zu dir?

Musik und Tanz

Spiel, Sport und Spannung

Von Zechprellern, Strolchen, Dieben und Mördern

Die Stammkneipe, der Stammgast und sein Stammtisch

Nachwort

Literaturauswahl

VORWORT

Es war die bleierne Zeit der Corona-Krise, Frühjahr 2020. Etwa eine Woche nach dem Shutdown bekam ich Entzugserscheinungen. Sie blieben zunächst diffus, ich wusste nicht, was mir fehlte. Irgendwann schleppte ich den Hochtisch aus dem Keller, den wir sonst nur bei Gartenpartys einsetzen. Zusammen mit einem Barhocker platzierte ich ihn im Wohnzimmer. Bald schon saß ich dort lieber als auf dem Sofa. Und die Phantomschmerzen ließen nach …

Ich telefonierte mit meinem Kumpel Jürgen. Ihm ging es ähnlich, irgendein Scharnier seines Organismus schien schlecht geschmiert. Weil wir beide hin und wieder in unserer Stammkneipe kellnern, besitzen wir den Schlüssel. Also zogen wir eines Nachmittags los und betraten die verwaiste Schänke. Einer zapfte, einer saß am Tresen. Vertraute Situation. Draußen vor dem Fenster zog die Welt an uns vorüber. Was wir taten, war ein bisschen verboten, es war ein bisschen verwegen und hochgradig kindisch. Es war herrlich.

Mir wurde klar, dass es nicht der Alkohol war, den ich vermisst hatte (oder sagen wir: nicht primär). Trinken kann man schließlich überall, im Park zum Beispiel. Nein, der Entzug betraf stattdessen die Kneipe, diesen Raum, in dem man sich zum Trinken trifft. Sobald ich am Tresen saß, mich darüber beugte und die Ellbogen aufstützte, fühlte ich mich wohl.

Die Erkenntnis erstaunte mich. Offenbar besitzt ein Kneipenraum einen kulturellen, sozialen, gar medizinischen Mehrwert gegenüber anderen Orten der Zusammenkunft. Ich versuchte zu ergründen, worin er bestand. Was macht diesen Ort aus? Welche magnetisch-magischen Kräfte ziehen Menschen seit Jahrtausenden in seinen Bann?

Der Kumpel und ich gingen noch einige weitere Male in unser Speakeasy. Der Zauber verflog nicht. Hm, dachte ich mir: Die Kneipe an sich! Müsste man mal ein Buch drüber schreiben …

WAS IST DAS EIGENTLICH, EINE KNEIPE?

Vielleicht fängt man besser andersherum an und fragt sich, was eine Kneipe nicht ist. Sie ist zum Beispiel kein Restaurant. In der Kneipe bekommt man eher eine Frikadelle als ein Frikassee und Schnaps statt Schampus. Kneipen sind auch keine Bars oder Clubs. Der raffinierteste Cocktail heißt hier Gedeck, und getanzt wird in der Wirtschaft recht selten. Aber wenn, dann auf den Tischen.

Oft erkennt man sie schon am Namen. Eine Kneipe heißt normalerweise nicht »Zum Roten Ochsen« oder »Großer Kurfürst«. Sondern eher »Hansa-Eck« oder »Bürgerstübchen«. Oder direkt: »Bei Ellie«. Etymologisch kommt Kneipe von »Kneipschänke«. Das Verb »kneipen«/»knipen« meinte einst so etwas wie »zusammendrücken«. Man entdeckt es noch in unserem heutigen »kneifen«. Die Österreicher sagen lieber Beisl, die Bayern Boazn, und wieder andere sprechen von Kretscham, Quetsche oder Stampe. Aber sie meinen alle das gleiche: diesen zum Kneifen engen Raum, in dem man zusammenrückt.

Umfragen zum Thema fördern wiederkehrende Merkmale zu Tage: Kneipen erkennt man äußerlich am Wirtshausschild, an der Leuchtreklame fürs Bier, den Bleiglasfenstern und dem Getränkekasten neben dem Eingang. Innen dominieren Brauntöne: Thekenschrank, Tresen, Hocker, Tische und Stühle bestehen zumeist ebenso aus Holz wie die Paneelen an den Wänden. Zur typischen Dekoration zählen Werbeschilder, historische Stiche und Stadtansichten, ausgediente Musikinstrumente, Werkzeuge und Wirtshausaccessoires – kurzum alles, was die Patina des Lokals verstärkt. Eine Fotopinnwand zeugt von vergangenen Festivitäten und betont das Familiäre ebenso wie das Sparkästchen, die Urlaubspostkarten der Stammgäste und die Pokale der Thekenmannschaft.

Nicht alle Requisiten stehen heutzutage noch hoch im Kurs. Butzenscheiben etwa werden zunehmend durch Klarglas ersetzt. Allmählich aussterbend auch: die Wand mit den Geldscheinen aus aller Welt. Aber ob der Wirt nun auf alten Nippes oder Purismus schwört: Am spannendsten ist stets die Wandlung, die der Kneipenraum durchmacht, sobald sich dort Gäste tummeln. Dann wird er nämlich von einem rein physikalischen zu einem sozialen Ort. Erst die Menschen machen die Kneipe zur Kneipe.

EIN PUBLIC HOUSE

Wesentlicher Zweck eines Kneipenbesuchs ist das gemeinsame Trinken. Mit Betonung auf »gemeinsam«! In der Kirche kommt man zusammen, um gemeinsam zu beten. Im Rathaus, um miteinander zu debattieren. Im Stadion, um unter Fans Fußball zu schauen. Und in der Kneipe, um mit den anderen dort einen zu heben. Der englische Ausdruck »Pub« bringt es auf den Punkt: Die Wirtschaft ist ein Public House, ein Ort für alle.

Kneipen reizen die Sinne auf ihre ganz eigene Art. Denken wir an das Licht: gelblich, warm, lieber ein wenig schummrig als zu hell. Im Kneipenlicht schwimmt man mehr, als dass man geht. Oder die Gerüche: das alte Holz, ein feuchter Bierfilz, die Hefe aus dem Weizenglas nebenan; ein offener Senftopf, die Zwiebeln auf dem Mettbrötchen, ein Kümmelschnaps; oder auch: die Spülbürste, regennasse Kleider, rauchgeschwängerte Vorhänge – klar, in Kneipen riecht es nicht wie im Drogeriemarkt.

Aber dafür kann der Griff an ein frisch gefülltes, feucht beschlagenes Glas ein haptischer Genuss sein. Ebenso das Streichen über den uralten, welligen Thekenbelag oder die kalt-glatte, verchromte Zapfanlage. Und wie die Augen, so trinken auch die Ohren mit. Kneipen belebt eine spezifische Geräuschkulisse. Dazu gehört das Klirren von Gläsern genauso wie das Ploppen eines Kronkorkens, das Rollen der Würfel, die Serie im Spielautomaten, das Klackern der Kickerbälle und Flipperkugeln. Aber vor allem: das Reden, Lachen und Singen der Gäste. Nirgendwo wird so viel palavert wie in der Kneipe.

Das liegt unter anderem daran, dass das Wirtshaus größere Freiheiten offeriert als der Alltag. Zwar herrschen auch dort ungeschriebene Gesetze, es gibt Tabus, an denen man besser nicht kratzt. Aber der Kneipenkosmos bietet eine gewisse Sicherheit vor dem Einbruch der Realität ins Gesagte. »Die tausend Straßen von Romantik und Abenteuer liefen in der Kneipe zusammen und führten von dort über die ganze Erde«, schrieb Jack London (1876–1916) in König Alkohol. Der Alkohol lockert die Zungen und öffnet die Herzen – bis zu einem gewissen Punkt jedenfalls, ab dem er erstere lähmt und zweitere verhärmt. Und der beginnende Rausch beflügelt zudem die Fantasie. Kneipengespräche können Utopien entwickeln, die im Alltag keiner noch so laxen Prüfung standhielten. »Das müssen wir unbedingt demnächst mal machen …« – nirgends hört man den Satz häufiger als beim Bier. Dass von den hochfliegenden Plänen am nächsten Morgen nichts mehr übrig sein wird – geschenkt! Ist doch ohnehin niemand davon ausgegangen.

KNEIPENENSEMBLE STATT KNEIPENPUBLIKUM

Ebenfalls dem magischen Ort geschuldet: die Nivellierung der Meinungen. »Kneipengespräche leben zu einem guten Teil von einem kollektivspontanen Situationskonsens«, schreibt der Schweizer Volkskundler Ueli Gyr. In der Kneipenrunde ist man sich lieber einig, anstatt zu streiten – wiederum in Abhängigkeit von der Menge des Konsumierten. Der Augenkontakt, das Kopfnicken, die Zustimmung per Schulterklaps gehören zum Ritualschatz der Kneipengestik. Sie schließen allerdings keineswegs aus, dass der Nachredner dann das komplette Gegenteil behauptet …

Viel lieber als gegeneinander wendet man sich gegen andere, am besten gegen »die da oben«. Frotzelei, Spott und humorige Häme schweißen zusammen. Die Laune steigt, man lacht sich einen, oha, ich wollte doch gehen, aber Quatsch, hab’ dich nicht so, ich bestell noch ein Ründchen … Und weiter geht’s.

Auch in der Kneipe existieren Hackordnungen. Es gibt den Aufschneider, der sich für den Größten hält; den Klugscheißer, der zu allem eine Meinung und sowieso immer recht hat; den Krakeeler, den Dampfplauderer und den Witzbold, der sich seine Stellung übers Clowneske erarbeitet. Denen gegenüber stehen die Stillen, die Bedachten und die Schüchternen, die es nicht nur in der Kneipe schwerer haben, zu Wort zu kommen. Aber auch der schweigende Trinker ganz hinten am Tresen nimmt Einfluss auf die Atmosphäre.

Einen bedeutenden Unterschied zwischen Kneipenbesuch und sonstigen Freizeitaktivitäten haben die Soziologen Franz Dröge und Thomas Krämer-Badoni herausgearbeitet. Nirgendwo sei man mehr Subjekt als im Wirtshaus, heißt es in ihrer Studie Die Kneipe. Zur Soziologie einer Kulturform: Ins Museum, Kino und Theater begibt man sich hingegen lediglich als Beobachter. Man bekommt etwas vorgesetzt, auf das man keinen Einfluss hat, und lässt es auf sich wirken. Jeder sitzt für sich allein, Interaktion ist nicht vorgesehen – wer in der Oper tuschelt, erntet erzürnte »Psts!«. Besonders deutlich wird die Passivität der Zuschauerrolle vor dem Fernseher, der im Gegensatz zur Live-Situation nicht einmal spontane Äußerungen (Szenenapplaus) in den Ablauf integriert. Nicht viel anders ist es aber auch im Fußballstadion, obwohl der Fan durch seine Gesänge und Anfeuerung eine gewisse Aktivität entwickelt. Aber spielen tun die da unten auf dem Rasen.

Die Rolle des Kneipengastes ist demgegenüber eine aktive, teilnehmende. Im Wirtshaus bringt man sich als prinzipiell gleichberechtigter Akteur ein. Man steht sozusagen selbst auf der Bühne beziehungsweise auf dem Platz. Tatsächlich verhalten sich manche Gäste im Schankraum ja auch recht theatralisch (Selbstdarsteller), andere ausgesprochen sportlich (Einarmiges Drücken!). Weil es kein festes Drehbuch gibt, entsteht im Kneipentheater jeden Tag ein anderes Stück. Die Darsteller agieren freihändig, improvisierend. Deshalb ist es gemäß Dröge und Krämer-Badoni auch falsch, von einem »Kneipenpublikum« zu sprechen. Richtiger wäre wohl: Kneipenensemble.

»ALKOHOLIKER, HEIMATLOSE UND GESTÖRTE«

Sehen wir uns die üblichen Vorurteile an. Ueli Gyr zählt sie auf: »Die Kneipe zieht demnach insbesondere Angehörige von sozialen Unterschichten oder Subkulturen an, darunter Alkoholiker, Heimatlose, unverheiratete Erwachsene, Vereinsamte, Randseiter und Gestörte.« Dieser Raum voller »Lärm, Gestank und Schmutz« diene einzig dazu, »Existenzängste, Alltagsfrust, Sorgen und Probleme im Schutz der Kneipengesellschaft wirksam und regelmäßig wegzuspülen.«

Nun ja, so kann man das sehen. Aber man könnte auch erwidern, dass Alkohol den Menschen entspannter, witziger, aufnahmebereiter und toleranter macht. Richtig ist, dass man in der Kneipe nicht nichts trinken kann. Und dass die Getränke dort in der Regel Alkohol enthalten. Der Konsum von Flüssigem definiere die Schänke sozial und ökonomisch, schreiben Dröge und Krämer-Badoni, aber zwischen dem Konsum von Alkohol um seiner selbst willen und dem in der Kneipe bestehe ein Unterschied wie Tag und Nacht. »Lass uns einen trinken gehen« – der Spruch hat wenig mit Alkohol zu tun, meint er doch eigentlich: »Lass uns Zeit miteinander verbringen, lass uns miteinander reden und unsere Freundschaft feiern.« Warum sonst trinken wir in der Schänke statt zuhause?! Der Heimzecher spart Geld, den Hin- und den Rückweg, er kann sich anziehen und benehmen wie’s beliebt und jederzeit ins Bett sinken, wenn die Stimmung umschlägt. Aber darum geht es eben nicht. Kein Küchentisch und keine Kellerbar können den Zauber einer echten Kneipe entfalten.

Jack London schwärmt von der Taverne als dieser »herrlichen Stätte«, in der man auch als Fremder immer weiß, was einen erwartet. Für seinen englischen Kollegen Samuel Johnson ist »der Kneipenhocker der Thron menschlicher Glückseligkeit.« Sobald er ein Wirtshaus betrete, sei er »aller Sorgen ledig. Man versorgt mich mit Wein, der meine Sinne beschwingt und die Gespräche mit den Freunden trägt.« Und daraus folgt sein Schluss: »Nichts hat der Mensch geschaffen, das so viel Freude beschert wie eine gute Kneipe.«

Auch diese Jungs müssen ihre Gründe haben, so etwas zu sagen. Und ich kenne sogar mindestens einen, der ihnen Recht gibt.

1. TEIL: KNEIPEN VON DER ANTIKE BIS HEUTE – EINE ZEITREISE

SYMPOSION UND SUMBEL – DIE ANTIKE

VOM GARTEN EDEN ZUM BIERGARTEN

Die erste Kneipe lag im Schatten eines Apfelbaums. Jeden Abend nach der schweren Feldarbeit kamen Adam und Eva dort zusammen, um vom Fallobst zu naschen. Gott, der Herr, hatte sie aus dem Paradies vertrieben. Allerdings irren sämtliche biblischen Darstellungen in einem Punkt: Es war kein frischer Apfel, der zum Sündenfall wurde. Sondern ein wurmstichiger vom Boden des Garten Eden.

Der Apfel hatte sie das Himmelreich gekostet, also schufen sie sich einen Himmel auf Erden: Sie pflanzten einen Apfelbaum, um sich an seinen Früchten im Sinne des Wortes zu berauschen. Je fauliger der Apfel, desto besser. Denn dann zeitigte er jene seltsame Wirkung, die der gestrenge Herrgott unter allen Umständen hatte unterdrücken wollen. Adam und Eva wurde es so leicht ums Herz, dass sie sich zu herzen begannen. Vom Garten Eden in den Garten der Lüste: Im Rausch des Apfelmosts »erkannten sie sich«, wie es in der Bibel so schön heißt.

Zugegeben, die Schöpfungsgeschichte wurde soeben ein wenig umgeschrieben. Aber so ganz abwegig ist es nicht, den Rausch mit dem Sündenfall zu koppeln. Denn Alkohol spielte eine bedeutende Rolle bei der Entstehung des Lebens und der Entwicklung der Menschheit, da sind sich die Wissenschaftler weitgehend einig. Schon die Ursuppe enthielt Methan (von altgriechisch méthy = berauschendes Getränk). Die ersten Einzeller, Beginn allen Lebens, entstanden in einer Blase aus Faulgasen und Alkohol. Und offenbar gefiel ihnen diese Umgebung so gut, dass sie sich darin fröhlich zweiteilten. Und vierteilten. Und so weiter, mit den bekannten Ergebnissen: Fische, Amphibien, Säugetiere.

Aus Letzteren entwickelte sich irgendwann der Mensch. Das rund 4000 Jahre alte Gilgamesch-Epos knüpft die entscheidende Transformation an den Genuss von Alkohol. Gilgameschs Freund Enkidu vegetierte zunächst als animalisches Steppenwesen durchs Zweistromland. »Er weiß nicht, wie man Brot isst; er versteht nicht, Bier zu trinken«, heißt es in der Schrift. Dann jedoch sandte Gilgamesch ihm eine Frau, und die Verwandlung begann: »Enkidu aß das Brot, trank das Bier, sieben Krüge voll. Sein Herz frohlockte. Er wusch sich den zottigen Bart, salbte sich mit Öl – und ward ein Mensch!«

Evolutionsbiologen bringen die Menschwerdung eher mit der Bipedie, dem aufrechten Gang in Verbindung. Entscheidend sei der Wechsel der Affen von den Bäumen auf den Boden gewesen. Die afrikanischen Wälder seien während einer Trockenzeit verdorrt, demzufolge seien die Tiere gezwungen gewesen, zur Nahrungsaufnahme herabzusteigen. Dort auf Erden hätten sie das Gehen auf zwei Beinen und bald darauf auch ein größeres Gehirn entwickelt, das dazu berechtigt, sie als Menschen zu bezeichnen.

Aber auch unter diesen Wissenschaftlern gibt es ... nennen wir sie »Alkohologen«. Ihre Argumentation lehnt sich eher an die biblische Geschichte in ihrer oben beschriebenen Fassung an. Demnach hatten Orang und Utan dasselbe Ziel wie Adam und Eva: vergorene Früchte, die zur Erde gefallen waren. Ihr hochsensibler Geruchssinn befähigte sie dazu, diese »Boden-Schätze« zu wittern. Und ihr elaboriertes Belohnungszentrum im Gehirn schickte Glückshormone aus. Die Affenbande merkte: Dieses Zeug macht lustig! So ein ethanolhaltiger Obstsalat vertreibt zudem die Angst – soll er doch kommen, der Säbelzahntiger! Und Orang sprach zu Utan: »Vielleicht sollte man direkt hier unten am Quell der Freude bleiben. Wenn wir aufrecht gehen, erspähen wir die Feinde früh genug. Und wenn wir müde sind, beschwipst vom Zaubertrank, betten wir uns bequem auf Mutter Erde statt in eine piksende Astgabel.«

So könnte es gewesen sein. Und da käme man auch direkt der Kneipe auf die Spur. Denn gemeinsam zu trinken macht nicht nur mehr Spaß, sondern ist auch sicherer. Allein mit dem Vergorenen gehört man zu den Verlorenen: Ein betrunkener Hominide ist eine leichte Beute. Also trinkt man am besten im Verbund und stellt ein paar Wachen auf – vulgo »Wirte«. Und während Adam und Eva noch im offenen Biergarten dem Laster frönten, errichteten ihre Nachfahren ein paar Wände, installierten eine Theke und nannten das Ganze »Zum Wilden Mammut«. Oder so ähnlich.

Der Alkohol als sozialer Leim, die Kneipe als sein Ort: So war es von Anbeginn an. Auch die Sesshaftigkeit hängt womöglich mit dem Alkohol zusammen. Die Frühmenschen merkten, dass sie mit Bier besser fuhren, sprich: gesünder lebten als mit Wasser. Bier und Wein sind haltbarer als das Wasser im Tonkrug. Das Kochen beziehungsweise der Gärprozess tötet Keime ab, die Sippe leidet nicht alle naslang unter Durchfall. Grundnahrungsmittel und Medizin zugleich – ein tolles Zeug! Aber zu seiner Herstellung benötigte man verschiedene Hilfsmittel, die nicht so leicht zu transportieren waren. Einen möglichst großen Gärbottich zum Beispiel. Und Zeit kostete das auch, Tage, die man an einem Ort verbringen musste. Die ersten Brauer mögen sich ihren Emmer oder die wilde Gerste auf einer Lichtung im Wald gepflückt haben, um sie im nächsten Lager zu verarbeiten. Aber irgendwann vor rund 12 000 Jahren begann man, ökonomischer zu denken: Wie wäre es, wenn wir dieses Getreide selbst anpflanzten und direkt daneben wohnen blieben?, mag sich die steinzeitliche Brauerin (denn Brauen ist weiblich, dazu später mehr) gedacht haben. Um dann fortzufahren: Dann könnten wir viel größere Vorräte anlegen als bisher. Wir könnten Bier brauen und Brot backen und in Ruhe diese ganzen Viecher großziehen, denen die Männer mühselig mit ihren Speeren und Knüppeln hinterherjagen. Lasst uns ein Dorf gründen!

Und so wurden aus Jägern Viehzüchter, aus streunenden Sammlern sesshafte Bauern.

Natürlich kann es auch andersherum gewesen sein. Die Menschen wurden sesshaft, um sich künftig von ihrer Ernte (Getreide, Gemüse, Obst, Fleisch) zu ernähren. Erst der Überschuss an Getreide hätte dann auch das Bier – oder was immer damals gebraut wurde – populärer gemacht. Aber sei’s drum. Mit der Sesshaftigkeit begann die Einrichtung von Kultstätten. Und diese wiederum dürfen uns als die ersten Kneipen gelten.

DER BIERFLUSS IM ZWEISTROMLAND

Auf alten Dorfplätzen liegen sie bis heute nebeneinander: die Kirche und die Kneipe. In grauer Vorzeit waren sie sogar eins. Die Kirche war die Kultstätte, in der Alkohol getrunken wurde. Die Verbindung von Rausch und Religion ist vermutlich so alt wie die Menschheit selbst. In den 1990ern gerieten die Grabungen in Göbekli Tepe in den Fokus der Gastro-Historiker. Genutzt wurden die Anlagen im Südosten Anatoliens ab dem 10. vorchristlichen Jahrtausend, um 7000 vor Christus gab man sie aus unbekannten Gründen auf. Unter anderem legten die Archäologen dort einige große, steinerne Gefäße frei, in denen man eine ganz besondere Ablagerung fand: Oxalat, auch Bierstein genannt. Wurde hier also gebraut? Experten des Forschungszentrums Weihenstephan der TU München bestätigten, dass dies möglich sei. Unter günstigen Bedingungen könne es reichen, keimendes Korn und ein paar Brotreste in Wasser zu geben und dem Einfluss der Sonne auszusetzen, um ein schwaches Bier zu erhalten. Die Rede vom Bier als »flüssigem Brot« hat hier womöglich ihren Anfang genommen.

Die Wissenschaftler sind sich zugleich einig, dass Göbekli Tepe nicht permanent besiedelt wurde. Eher handelte es sich wohl um eine religiöse Ritualstätte, die man zu bestimmten Anlässen aufsuchte. Die Kneipentempel/Tempelkneipen von Göbekli Tepe ähnelten damit eher Wallfahrtsorten als Dorfgaststätten. Hier trank man nicht das alltägliche Feierabendbier, sondern die gelegentliche Klostermaß. Dass frühantike Feste einen massiv orgiastischen Charakter hatten, legen Berichte über die altägyptischen Feierlichkeiten zu Ehren der Göttin Hathor nahe. Sie galt als Herrin der Liebe und des Friedens, aber auch als Schutzheilige der Trunkenheit. Wenn alljährlich der Nil anschwoll und die Felder wässerte, traf man sich im Hathor-Tempel zu einem wilden, tagelangen Gelage. Man solle »trinken, essen und vögeln«, beteten die Priester vor. Die ägyptische »Wiesn« stand dem bayrischen Oktoberfest vermutlich in nichts nach. Und auch damals wird es sicherlich schon den ein oder anderen Besucher gegeben haben, dem der religiöse Anlass herzlich egal war. Der also vor allem zum Picheln nach Göbekli Tepe, Theben oder anderswo pilgerte.

Richtige Wirtshäuser statt Kirchen konnten die Sumerer besuchen. Die erste bekannte Hochkultur, angesiedelt im Zweistromland zwischen Euphrat und Tigris, scheint Kneipe und Kult bereits voneinander getrennt zu haben. Dafür spricht unter anderem, dass es Priesterinnen laut dem Codex Hammurabi strengstens verboten war, Gastwirtschaften aufzusuchen. Erwischte man sie dort, endete ihr Leben auf dem Scheiterhaufen.

Spätestens ab dem 4. Jahrtausend vor Christus gehörte Bier zum Alltag der Sumerer. Sie brauten helles, rot-braunes und schwarzes Bier, schwaches und stärkeres. Es wurde mit Honig gesüßt, mit Gewürzen wie Zimt oder Ingwer versetzt oder auch mit Wein gemischt. Bier entwickelte sich zum Volksgetränk und Zahlungsmittel, fungierte als Arznei und Opfergabe. Kein Wunder, dass ein so bedeutender Trunk alsbald auch Eingang in die Gesetzestexte fand. König Hammurabi regierte von 1792 bis 1750 vor Christus, vier der insgesamt 282 Paragrafen seines Codex beschäftigen sich mit dem Bierausschank. Unter anderem wird bestimmt, dass dieses Lebensmittel jedem Untertanen in gewissen Mengen zusteht. Ein normaler Arbeiter solle 2 Liter pro Tag erhalten, Beamte drei und Oberpriester gar fünf. Auch Frauen kamen nicht zu kurz, den Tempel- und Hofdamen standen täglich 3 Liter Sud zu. Während ihre männlichen Kollegen mit Vollbier versorgt wurden, zogen die Frauen allerdings süßliches Emmerbier vor, schreibt Maurice Hofmann in 5000 Jahre Bier.

Paläste und Tempelpriester unterhielten ebenso eigene Braustätten wie Privathaushalte. Ebenso wie in späteren Kulturen war das Brauen bei den Sumerern vor allem Frauensache, und dementsprechend waren die ersten Wirte weiblich. Auch sie unterlagen strengen Vorschriften. Betrog eine Wirtin bei der Bezahlung, sah das Gesetz vor, sie mit ihrem eigenen Gebräu abzufüllen, bis sie daran erstickte. Vorsicht war ebenso für die Kneipengäste geboten: Schwang jemand im Suff staatsgefährdende Reden, drohte die Todesstrafe – schon damals waren Stammtischparolen den Mächtigen ein Dorn im Auge. Zumindest in einer Hinsicht müssen wir Heutigen dem gestrengen Hammurabi allerdings dankbar sein für sein erbarmungsloses Rechtswerk: Weil auch das Panschen verboten war, verbesserte sich die Qualität des babylonischen Bieres stetig. Hammurabi hatte Standards festgelegt, an denen nicht gerüttelt werden durfte – ganz analog zum dreieinhalb Jahrtausende jüngeren Deutschen Reinheitsgebot (1516).

Im Gilgamesch-Epos wird die Göttin Ninkasi als Erfinderin des Bieres und Mutter aller Wirtinnen vorgestellt. Als der Held schlussendlich ihre Kneipe besucht, ist er niedergeschlagen. Er hat erkennen müssen, dass er nicht unsterblich ist. Aber die Wirtin spendet ihm Trost: »Fülle deinen Magen und erquicke dich«, gibt sie ihm mit auf den Weg, »tanze und spiele bei Tag und bei Nacht. Nur das ist die Bestimmung des Menschen.«

Wahrlich ein weiser Ratschlag! Und ganz nebenbei erfüllt Ninkasi damit einige bis heute wirtspezifische Aufgaben: auf die Gäste einzugehen, sich ihre Sorgen anzuhören und sie notfalls aufzumuntern.

DIE GRIECHEN UND »DAS BLUT DER ERDE«

Eine Folge der Sesshaftigkeit war der Handel. Die Siedler unten am Meer hatten Fische und Muscheln zu bieten, die Siedler im Wald Pilze und Kräuter. Kaum niedergelassen, waren die Menschen schon wieder unterwegs. Diesmal nicht als permanente Nomaden, sondern als Handlungsreisende.

Damit sie ihre Zeit nicht wieder mit der Jagd nach Essbarem oder der Suche nach einem trockenen Schlafplatz vergeudeten, benötigten sie Unterkünfte. So entwickelte sich bereits im dritten vorchristlichen Jahrtausend eine erste Form organisierter Gastronomie. Entlang der Hauptverkehrswege entstanden primitive Herbergen. Die antiken Autobahnraststätten boten Speise, Trank und eine Bettstatt. Und statt Benzin für das Auto gab es Stroh für die Last- und Reittiere der Reisenden.

Die Hochkulturen wanderten allmählich nach Nordwesten: vom Persischen Golf über Ägypten und Griechenland nach Rom. Von assyrischen Händlern ist bekannt, dass sie ihr »Lagerbier« bis zu 1000 Kilometer weit nach Ägypten exportierten. Mit den Ägyptern kam das Bier dann auch zu den Griechen, aber die Reaktion war reserviert. Bier galt in Athen als prollig. Äschylos, der Dichter, bezeichnete die Ägypter spöttisch als »Leute, die Met aus Getreide trinken«. Wer in Athen etwas auf sich hielt, trank keinen Gersten-, sondern Rebensaft – das »Blut der Erde«, wie Udo Jürgens einst sang. Und zwar am besten solches aus Lesbos, wo nach allgemeiner Auffassung die süßesten Trauben gediehen.

Die Präferenz erstaunt insofern, als einer ihrer größten Denker den Griechen eher zum Bier riet als zum Wein. Laut Aristoteles besitzt »Bier die Eigentümlichkeit, den Menschen, der zu viel davon getrunken hat, nach rückwärts fallen zu lassen, während allzu reichlicher Weingenuss ein Niederstürzen nach allen Seiten verursacht.« Zugegeben, der Satz klingt ein wenig wirr, mehr nach Metaxa als Syntax. Aber wenn man ihn ein Weilchen wirken lässt, scheint da Folgendes zu stehen: Im Bierrausch fällst du unweigerlich auf den Hinterkopf, davor kann man sich schützen. Maßloser Weingenuss hingegen macht dein Stürzen unvorhersehbar, schlimmstenfalls landest du frontal auf der Nase und siehst nie mehr aus wie zuvor.

Dann doch lieber Bier, oder?

Mögen sie auch den Wein bevorzugt haben, so waren die Griechen doch offen für Experimente. Ihren Wein verdünnten sie mit heißem Wasser, eine Tradition, die auf deutschen Weihnachtsmärkten bis heute unter dem Label »Glühwein« fortlebt. Auf Kreta wiederum sollen findige Barmänner Wein, Met und Bier vermischt haben – der vielleicht erste Cocktail der Menschheitsgeschichte. Zu gehobenen Anlässen wie der Olympiade schließlich wurde ein bierähnliches Getränk aus Poltos (lateinisch polenta) gewonnen. Der flüssige Gerstenbrei sollte die Akkus der Athleten aufladen. Das »Mark der Männer«, wie er auch genannt wurde, bildet somit den Prototyp aller Fitnessgetränke. Kredenzt wurde er sicherlich auch im Leonidaion, dem größten Gebäudekomplex des antiken Olympia. Das Hotel und Wirtshaus entstand um 350 vor Christus und war dem Göttervater Zeus geweiht. Bis heute erhalten haben sich die Thermen der noblen Wellnessanlage. Dort konnte man das Mark der Männer dann wieder ausschwitzen.

Politeia